Michael Buttgereit (Hg.) LEBENSVERLAUF UND BIOGRAFIE Wissenschailtliches Z e n t m für Benifs und I-lochschulf o&ng Gecamthochschule Kaseel -rai (0661) 804-24 15 Henschelstraßb 4 D - 3500 Kassel WERKSTATTBERICHTE - BAND 18 Wissenschaftliches Zentrum für Berufs- und Hochschulforschung der Gesamthochscl-iule Kassel Kassel 1987 WERKSTATTBERICHTE Herausgeber: Wissenschaftliches Zentrum für Berufs- und Hochschulforschung Gesamthochschule Kassel Redaktion: Gabriele Gorzka C Alle Rechte vorbehalten 1987 Wissenschaftliches Zentrum für Berufs- und I-Iochschulforschung Henschelstraße 4, 3500 Kassel Reihe WERKSTATTBERICHTE I N H A L T 1. Einleitende Bemerkungen zur Biografie- forschung Michael Buttgereit 2. Zum Verhäl tnis von erlebter und erzählter Geschichte Harry Hermaiztls 3. Erwerbsbiografien a l s Konstrukte aus Zwang und Möglichkeit Hans-Rol f Vetter 4. Weibliche Biografien - Z u r Normalität von Widersprüclien Ilorra Ost~rer 5. Biografisclie Konstruktion und Verarbeitung von Leberisereignissen Erika M. Hoeri~ing 6. Wisseiischaftssprache und Lernen: Symbolisierung und Desymbolisierung als wissenschaftsdidaktisches Problem Klaus Heipcke 7. Zum Biografie-Problem in der Erziehungspraxis Hairs Rausche~zberger 8. Ein Refugium fü r das Unerledigte - Zum Zusarnmeiiliang von Lesen und Lebensgescliichte Jugendlicher iii kultureller S ich t Rudolf Messriei uiid Coriielin Rosebrock 9. Die Reintegration von Hochscliulabsolventeri aus Eiitwicklungsländern als Aiilaß und Problem biografischer Analyse Helntuf IVirikler Die Autoriiiiieii und Autoren Seite 7 25 4 1 7 7 9 5 EINLEITENDE BEMERKUNGEN - i ZUR BIOGRAFIEFORSCHUNG Michael Buttgereit "... if oire quite clearly sees sonzethiiig happeri orrce. i f is alnrost cet.tairl f o halle happerled agairz atld agaiiz. The bui.deii o f proof is on those ivho clainl a thitig oiice seeii is aii exceptiori; if they look hai.d, fhey nzay find it everyivhere, allthough ivith sonze iriferestiiig differeizces iii euch case". (HUGHES, E. C . 1971, S. XIX) "IYe coitstaiztly rleed to be shakerl out o f a false serzse of fanziliai.ify ivith fhe past, to be udntiriisfered doses o f cu1tur.e shock" (DARNTON, R. 1984; S. 4). Forschung über Lebensverläufe allgemein sowie über und im Medium von Biografien haben eine lange Tradition in der Geschichtsschreibung: aber auch in der Padagogik, Psycliologie, Soziologie und Ethnologie war sie schon früh vertreten. Besonders als Biografien und Autobiografien "großer Männer" haben sie eine die Geschichtsschreibung mitkonstituierende Rolle gespielt. Faszination geht von diesen Beschreibungen bis heute aus, wenn- gleich kaum noch iemand die Meinung vertritt, daß "große Männer" die Geschichte ~ ~ e r n a c h t " hätten (noch nich; einmal die der-sieger) oder daß - L& Für kritische Anmerkungen danke ich Harry Hermanns, Christoph Oehler und IIelrnut Winkler. 8 Michael Buttgereit wie noch Carlyle behauptete - Gescliichtsschreibung nichts anderes sei als die Beschreibung ihres Lebens und ihrer Taten (Carlyle 1841). Längst haben sich demgegenüber Wirtschafts-, Sozial- sowie Technikge- schichte als Geschichte des Handelns vieler Menschen und dessen Resulta- ten profiliert, und wenn das biografische Moment in der Geschichtsschrei- bung wieder wichtig geworden ist, so deshalb, weil nunmehr der italieni- sche Feldzug nicht nur aus der Sicht des General Bonaparte relevant wurde, sondern auch in seiner Relevanz für die Biografie seines Kochs.' Die Erinnerungen und Lebenserzählungen von Zeitzeugen aus entscheiden- den historischen Abschnitten, nicht zuletzt dem Abschnitt zwischen 1871 und 1945 in Deutschland, sind längst zu unverzichtbaren Zeugnissen einer "Gescliiclite von unten" und zu Zeichen eines Anspruchs auch der bislang Namenlosen auf einen Platz in der Historie und auf ihre Geschichte ge- worden, während sie bis dato historische Großereignisse wie militärische Siege und Niederlagen, Regimewechsel und Revolution, Tyrannis, Seuchen und ökonomische Krisen vor allem erlitten und irgendwie bewältigt, kaum aber sichtbar gestaltet haben. Diese zuerst in Arbeiterbiografien stilisierten Erzählungen erlebten bereits vor und nach dem Ersten Weltkrieg ihre Blüte, urn dann in jüngerer Zeit als "oral history" auch ihre fachwissen- schaftlicli-methodische Dignität als Zeugnisse einer Geschichte des Alltags zu erhalten (Niethammer 1980). Die Psychologie hat sich sclion früh mit Fragen der Entwicklung von Per- sonen befaßt, schließlich ist die Alltagserfahrung nur zu vertraut (und wurde durch die Pädagogik konkretisiert), daß Motive, motorische und ko- gnitive Fähigkeiten im Zusammenhang mit dem körperlichen Wachstum, letztlich mit der biologischen Entwicklung von Individuen sclilechthin sich ausbilden. Daß diese Verläufe sich bei den meisten Menschen in den Grundzügen als sehr ähnlich darstellen, erlaubt die Konstruktion von in- terindividuell belangvollen Stadienkonstruktionen, welche dann durch wei- tere Forschungen überprüft und in ihrer Reichweite bezüglich individueller Variationen revidiert werden konnten. Gegenüber der psychometrisclien Forscliung vor und nach dem Ersten Weltkrieg, die die Entwicklung der Intelligenz - als einen der wiclitigsten Aspekte individueller Entwicklung noch vor dem 20. Lebensjahr - als abgeschlossen betrachtete, vertrat i i i der Entwicklungspsychologie z.B. Cliarlotte Bühler die These einer mehr oder weniger lebenslangen Entwicklung der Person (Büliler 1933). Auch die Ar- beit von Psychoanalytikern richtete sich auf Entwicklungen der Person im Erwacliseiienalter, ohne diese noch gänzlich von Entwicklungen in der Kindheit und deren Verarbeitung determiniert zu sehen (vgl. Vaillant 1977). Am bekanntesten und einflußreichsten sind hier die Arbeiten von Eriksoii geworden, der außertierri, unter Uerufurig auf Freud uiid dessen 1 Ober den weiteren Werdegang des Erfinders des 'poulet Marengo' ist mir leider nichts be- kannt. Einleitung 9 eigene Versuche über historisch bedeutsame Personen, der historischen Biografie neue Impulse gab (Erikson 1950, 1977). Wenngleich die Anwendung des Entwicklungsbegriffs auf das mittlere und höhere Erwachsenenalter bis in die siebziger Jahre umstritten geblieben ist (Thomae 1978), so zeigen doch die Arbeiten zu einer das ganze Leben umfassenden Entwicklungspsychologie (Baltes 1978, 1979) die Fruchtbar- keit dieser Konzeption auf, wobei eben nicht maturistische Modelle ent- wickelt wurden bzw. Modelle, in denen Altern vor allem als Kumulation von Defiziten in direkter Parallele zu den physischen Veränderungen und Beeinträchtigungen (die natürlich zu berücksichtigen sind) mit zunehmen- dem Alter erscheint, sondern kumulierte Erfahrungen der individuellen Geschichte bei annähernd gleichbleibender Wahrnehmungs- und Lernfä- higkeit generell berücksichtigt werden. Damit wird der mehr oder weniger aktiven Auseinandersetzung der Person mit gesellscliaftlicher und natürli- cher Umwelt (eingeschlossen die der eigenen Physis) im Sinne einer Be- wältigung von, dem Ausweichen vor, aber auch dem Scheitern an Le- bensproblemen breiter Raum gegeben (vgl. Tliomae und Lelir 1973; Lehr 1978; Oerter 1978). Soziologie und Ethnologie haben den Verlauf des Lebens zunächst als einen instruktiven Weg zur Entschlüsselung der Kultur anderer, meist niclit- westlicher Gesellschaften genutzt. Van Genneps Les rites de Passage ist ein früher Klassiker dieser Forschungsrichtung (Van Gennep 1904), die in der Folgezeit mit zahlreichen Feldstudien, nicht zuletzt solchen der "culture und personalityU-Forschung fortgesetzt wurde (Mead 1928; Benedict 1934; Lewis 1961; Kluckliohn und Murray 1962; Le Vine 1982). Sozialisation ist nur begreifbar als Prozeß einer mehr oder weniger ausge- dehnten Zeitspanne des Lebens einer Person, und es liegt auf der Hand, daß Soziologen zunächst einmal danach suchen, inwieweit der Verlauf des Lebens gesellschaftlich reguliert bzw. in seinen "Bahnen" bestimmten Be- grenzungen unterliegt, wieweit diese wiederum beeinflußbar sind u.ä. Aus- gehend von alltäglicher Lebensanschauung und eigener Lebenserfahrung wird individuelle und gesellscliaftliche Bedeutung von Lebensbeginn und - ende, werden Definitioneii von Reife oder Fähigkeit zuin Ausfüllen ver- schiedener Rollen, zur Erlangung von Rechten und dein Erfüllen von Pflichten wie eine Art Klettergerüst definiert, in welchem sich die einzelne Person unmittelbar nach der Zeugung (und vielleicht auch sclion davor) und bis zu ihrem Tode (und häufig auch noch danach im Sinne einer postmortalen Identität, vgl. Weigert, Teitge und Teitge 1986) eiitlanglian- gelt, wobei häufig auch noch die mittlere Geschwindigkeit des Erreichens bestimmter Sprossen vorgegeben ist. Rollen uiid Positioiieii mit den ihnen inhärenten Handlungsgebotcn und -verboten sind z.T. altcrsspezifiscli defi- niert und auch sequentiell einander derart zugeordnet, da0 I:rfalii.iirigen und Fäliigkeiten/Fertigkeiten, die auf einer Stufe gewonnen werden kiiii- 10 Michael Buttgereit Eiizleiturlg 11 nen, zu teilweise notwendigen Bedingungen des Übergangs und des Ver- we i l en~ auf einer als nächstfolgend definierten Stufe erklärt werden. Sinn- fällig verwirklicht ist diese soziobiografische Klettertour in der Schüler- und Studentenrolle mit ihren internen Sequentialisierungen und ihrem großen Terminus, dessen Erreichen jeweils den Übergang in einen neuen Status und eine oder mehrere (mehr oder weniger synchron zueinander verlaufende) Lebenssequenzen bzw. "Karrieren" markiert. Die Soziblogie der modernen Gesellschaften, um deren Zugang zum Le- bensverlauf von Personen es im folgenden vor allem geht, kann über man- nigfaches Material zu den Rahmenbedingungen und Voraussetzungen von Biografien verfügen: Entsprechend der gewachsenen Komplexität und Or- ganisiertheit gesellschaftlichen Lebens bestehen zum einen rechtliche Nor- n~eii für die altersspezifische Teilhabe und Teilnahme in den großen gesell- schaftlichen Bereichen Bildung, Ökonomie, Politik, Recht und Religion sowie für die Eheschließung; zum zweiten bestehen mehr oder weniger iiaturwüchsig vorliandene, historisch und auch sozial variierende Aiischau- urlgeil über die Altersspezifik von Handlungsweisen, welche mit den ge- eigneten Methoden erhoben werden können; zum dritten gibt es maiinig- fache massenstn~istischee Iilforn~atioileii über alle möglichen altersbezogenen bzw. altersrelevanten Ereignisse und Nicht-Ereignisse (dramatisch z.B. im Hinblick auf aktuelle Geburtenhäufigkeiten, Eheschließungen bei be- stimmten Altersjahrgängen und bei der Bildungsbeteiligung). Gerade diese quantitativen Informationen geben häufig genug Anlässe zu öffentlichen Diskussionen über altersangemessene Handlungsweisen und für sozialpoliti- sche Regelungen, wie die Variationen der Altersgrenze für Versorgungs- ansprüche bzw. die Ausgliederung von Personen aus der Erwerbstätigkeit belegen. Andere Beispiele sind etwa das Phänomen des zunehmend höheren Alters der Erstgebärenden, das hohe Alter von Hochschulabsolventen und die voraussehbaren Veränderungen im Altersaufbau im Zusammenhang mit gegebenen Alterserwartungen und GeburtenliYufigkeiten, welche zu Tlie- nien öffentlicher Diskussion und zu Anlässen parlamentarischer Initiativen geworden sind. Alle diese sozialen Tatbestände sind geeignet, nachdrück- lich auf die Vielfalt, die Dichte und die gesellschaftspolitische Relevanz eines lebenslauforieritierten 'people processing' aufmerksam zu machen. Es kanii keine Rede davon sein, daß es sozialer Regelungen für altersspe- zifisclie Rechte, Pflichten, Ansprüche und Scliickliclikeit ermangele, vermutlich gibt es davon sogar mehr als i i i antlcren Iiistorisclien Perioden, obwohl es iiiclit gcrcclitfcrtigt ersclieiiit, einer Altersscliiclitung moderner Gesellschaften gischcri Therrinlisieriingsschienen nur formal berilcksichtigt ist. Anderseits haben gerade die o l~jrkl iven I.;rkllriiiigsnnsltz~, die in den siebziger Jahren gestartet worden sind, meines Erackileris darin Erfolg gchnbt, da8 eiigl~ich aiich die erwerbsbiografische Bedeutung von Be- riifseinl~riichen, Arbeitsplntzverliisten, Formen der Abgruppierung lind Deqtialifieierung, von Arbeitslosigkeit, Weiterbildunganfordi.riingen, Delantiingsverschieh~ingen lind Veränderung der Kollegialitälsstandards sowie der Veränderung der gewerkschnftliclien Iiiteressenstruktu- 3.3 Zur Thematisierung von Erwerbsbiografien als "Konstrukten" Der Zusammenhang von Ökonomie und Biografie unter der Bedingung ei- ner extremen gesellschaftlichen Ausdifferenzierung Iäßt sich mit Hilfe des nachfolgenden Beobachtungsrasters in der Genese seiner Strukturen und Tendenzen darstellen. Hier zeigt sich, daß sich erwerbsbiografische Ent- wicklungen als von jeweils zwei entscheidenden Konstitutionssphären ge- prägt rekonstruieren lassen: dem technizistisch, ökonomisch und rationali- stisch organisierten Produktionsprozeß einerseits und dem durch soziale Zyklen und Lebenswelten organisierten Reproduktionsprozeß andererseits. I strukturelle I 4 ZEITDIMENSION "PRODUKTIONS- \ , Y * \ , \ I I "LEBENS- PROZESSn I E ~ E R / B B S B I O G R ~ ~ I E FWHRUNG" .- L 1 Mögliche . \ I objektive Vor- objektive Vor- gaben der öko- gaben der kul- nomischen turell-sozialen Ternporalisierung Sphäre "Ar- Sphäre "soziale beitskraft Exisl.eiizW Erwerbsbiografie 1 Dimensionen Differeneierung Ent-Differeneierung * VERGANGENHEIT Z E ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ f eingegangene Verbindlich keiten: beruflich U. sozial Fortsetzung Fußnote 1 ren bis hin eu den Reaktionen der einzelnen Betroffenen sehr genaii beschrieben und inter- pretiert worden sind. Solche Erklärungsansätze scheinen nber gerade durch diesen Erfolg weitestgehend auch "auagereict", wohingegen ihre Fokussieriing irn subjektiv-aoeialen und biografischen Kontext notwendige analytische Ergäneungen liefern und weiteren Er- kenntnisgewinn produzieren könnte. 5 4 Hans-Rol f Velter Das Beobachtungsraster informiert daruber, warum wir bei Erwerbsbiogra- fien insbesondere aus der soziologischen Perspektive heraus im strengen Sinne nurmehr von "Konstrukten" sprechen können. Da es sich sowohl in der Struktur und Zeitdimension auf der makrosoziologischen Ebene als auch in der biografischen Zeit- und sozialen Verortungsdimension (kul- turell-soziale Sphäre der existentiellen Fokussierung) immer nur um dyna- mische Koordinaten handelt, auf denen erwerbsbiografische Entwicklungen aufgebaut sind, können subjektive Arrangements "materiell", sozial und zeitlich immer nur befristet stabilisiert werden. Für die Dynamik dieser Koordinaten sind nicht nur die ökonomischen und technischen Entwick- lungen verantwortlich: Auch handelt es sich nicht nur um die zwingende Folge aus der generellen Instabilität des Lohnarbeitsverhältnisses (vgl. Geissler 1983); es sind auch die Modifizierungen des epochalen "Zeitgei- stes", die z.B. aus Kräfteverschiebungen auf der wertrationalen Ebene und/oder aus der Verlagerung von Kristallisationszeiitren in der jeweiligen Lebensfuhrung resultieren. Diese grundsätzliche Problematik, die sich bereits aus der gesellschaftlicli entfalteten "Subjektivität als Prozeß" (vgl. Leu 1985) ergibt, verschärft sich noch einmal über die je besondere Zeitachse, die in jeder erwerbsbiogra- fischen Entwicklung enthalten ist: Als langfristige Verlaufsformen haben erwerbsbiografische Raster nur in offener Anbindung an den hochdyna- mischen Bereich gesellschaftlicher Ökonomie Bestand, was zugleich bedeu- tet, daß die jeweils individuell empirischen Faktoren der momentanen wie zukünftig angestrebten Bestimmungen der Lebensführung keine hinrei- chende Kontrollmacht und kein hinreichendes Gestaltungspotential gegen- über den gesellschaftlich gegebenen Existenzangeboten entfalten können; sie lassen sich allenfalls als Lebensphasen stabilisieren. Zwischen der Universalität der gesellschaftlichen Entwicklung und der biografischen Praxis in dieser Gesellschaft besteht also eine weitreichende Asyiniiietrie. Diese Asymmetrie läßt sich als "Individualisierungsgefälle" verstehen: d.11. die Individuen leben - sofern sie ihren Lebensunterhalt und ihreii Lebensstandard immer von neueni nur auf ihre Erwerbstätigkeit zu- rückführen köiinen/müssen - quasi "von der Hand in den Mund". So sorgen interne Mechanismen zwischen dem Anpassungsdruck an externe Zwange einerseits und den iiidividuell jeweils angestrebten und als persönlich be- deutsam identifizierten Entwicklungsii~öglicI1keiten und Lebensansprüclieii andererseits dafür, daß sich nicht niir die Koordinaten und Faktoren der aktuelle11 Lebensführung jeweils von neuem verscliiebeii, sondern auch die private und soziale Reproduktion als entscheidende Ressource fü r den langfristigen Erhalt der eigenen Erwerbsttitigkeit (Verknufbarkeit der eige- nen Arbeitskraft als Ware) entdeckt und für die Beiiifsausübung entspre- chend "instrumentalisiert" werden iiiuß. Ei.~vei.bsbiografieli als Konsfrukte aus Zwawg uild Möglzchkeit 5 5 Das dialektische Verhältnis von Zwang und Mögliclikeit läßt sich also auch dahingehend deuten, daß sich erwerbsbiografische Entwicklungen im Rah- men von zwei sich diametral unterscheidenden Instrumentalismusformen vollziehen. Dabei haben wir es nicht nur mit dem Instrumentalismus zu tun, der die Grundzüge der von Habermas beschriebenen "Kolonialisierung der Lebenswelt abdeckt (also der Import von Ökonomie- und Rationalisie- rungszwängen in die sozial strukturierten Lebenswelten und individuellen Lebenskontexte). In modernen Industriegesellschaften lassen sich verstärkt Versuche von Individuen beobachten, solche direkten Anforderungen aus der Erwerbstätigkeit als Stabilisator fü r biografische und soziale Kontinui- tät einzusetzen. (Sicherlich handelt es sich hierbei um die reelle Subsump- tion von durchschnittlichen gesellschaftlichen Bewußtseinslagen unter die Warenförmigkeit: Die "Ware" durchsetzt in diesem Sinne bereits wesentliche Denk- und Gefühlsstrukturen.) Der Terminus "Konstrukt" sucht die oben aufgeworfene Problematik einer widersprüchlichen gesellschaftlichen Regieführung von Erwerbsbiografien im Rahmen moderner Industrialisierungsprozesse auszudrucken. Der ICon- struktionscharakter verweist einerseits auf die Vorlaufigkeit und die Fragi- lität der objektiven Raster (exemplarisch im Lohnarbeitsverhhltnis), von der sich auch moderne Existenzformen in Abhjiigigkeit von Erwerbsarbeit offenbar nicht haben grundsätzlich befreien konnen; in1 Gegenteil: wie das gesellschaftliche Faktum "Massenarbeitslosigkeit" zeigt, scheint Arbeitslo- sigkeit paradoxerweise mit einer erhöhten Dominanz von Beruf, Arbeit, Weiterbildung im Lebenskontext der Betroffenen einherzugehen. Anderer- seits richtet der Terminus "Konstrukt" das Augenmerk auf die in den gleichen Prozessen enthaltenen Möglichkeiten, makrosoziologische und so- ziale Bestimmungen alq fur das eigene Lebenskonzept "tragfähig" zu iden- tifizieren und auf der empirischen Ebene des Alltags zu operationalisieren. Das drucken z.B. die vielfältigen Versuche aus, niit seiner eigenen "Ar- beitsmarktfähigkeit" zu experimentieren und/oder solche Qualifikations- bündel ausfindig zu machen, die eine laitgfrlstlge Gebraucliswertfähigkeit des eigenen Berufszuschnitts in Aussicht stellen. Der "Freiheitsraum", den moderne Tndustriegesellschaften gegenüber ihren klassischen Phasen dazu anbieten, ist niinnielir i i i seinen Diri-iensionen zu lokalisieren: Gegenüber klassischen Forriicri des Industrialisieruiigsprozesses ist er - zumindest forriial - historisch dadurcli aiigereicliert worden, daß zuneliiiicnd auch stiii-ker biografisierte, voiii kollektiven Druck der Arbeits- und ReprocliiktioiisspIiiire relativ unabhtiiigige und somit auch von unmit- telbaren sozialcii iirid iiiaterialen Zwängen, Notlagen etc. entlastete Arran- gements gegciiiibcr der Erwerbsarbeit in ihrer möglichen Bedeutung als Stabilisieruiigsf:iktoren zugenommen haben und daß zugleich die Arrange- nienls (sozio-)kultiirell weitlnufigen Motiven Rechnung tragen können. Die biografisclieii Autoiioiiiiespielräume bestelieii also darin, iiiclit nur einem von direkten ökonoiiiisclien und sozialen "%w!ingcnl' geleiteten Existenzmu- 56 - Hulzs-Rol f Vetter Ster folgen zu müssen, sondern Lebenswege über die "prognostische" Strukturierung des eigenen erwerbsbiografischen Verlaufsmusters zumindest ansatzweise konstruieren zu können. Jedoch gilt gleiches auch in einer ne- gativen Polarisierung des Freiheitsraums: Hier können sich mehr als bisher weitreichende Destabilisierungstendenzen und damit auch dekursorische Verläufe einstellen. Erwerbsbiografien als Konstrukte drücken also einerseits aus, daß Frei- heitsgrade in der Gestaltung von berufsabhängigen Lebenswegen insbeson- dere durcli die Expansion gesellschaftlicher Ökonomie, durch den Fortfall traditioneller Wertmuster und durch sozial möglich gewordene Vernetzun- gen angestiegen sind, dafür aber individuelle Sicherheiten entsprechend dadurch abgenommen haben, daß nunmehr alle Lebensbedingungen einer bewußten individuellen Bearbeitung zufallen. Die somit ökonomisch, kul- turell und vor allem auch politisch freigesetzte Individualität drückt zwei- fellos aufgrund dieser Rationalisierung der Lebensführung einen höheren Vergesellschaftungsgrad aus, der über den Mechanismus einer im Laufe des Industrialisierungsprozesses entstandenen "Individualisierungsschubs" von Arbeitskraft transportiert wird. Andererseits wird die Individualität da- durch unter Umsttinden konterkariert, daß aufgrund der gleichen Trans- formationsprozesse eine - entsprechend der gesellschaftlichen Möglichkei- ten notwendige - weitreichende Kontrolle des gesellschaftlicheil Umfeldes nicht gelingen kann (vgl. Münch 1980). Das hieße zugleich, daß die Selbstsuggestion der gesellschaftlichen Ideologie .und der individuellen Ex- perimentierräume darin läge, daß die selbstemergenten Konstruktionen von eigener Lebensrealität gegenüber den von der industriellen Moderne ange- boteneii Entwicklungsrastern tendenziell nunmehr in Forrii von Illusionen und Selbsttäuschungen projiziert werden könnten. Denkbar wäre es also, daß diese Selbsttäuschung über den selbstgesteuerten Anteil an der eigenen Erwcrbsbiografie umgekehrt der gesellschaftlichen Ökonomie die für die Iieutigen Zeiten notwendigen sozialen und psychischen Ressourcen bereit- stellt. Auf diese Problematik hin wollen wir uns einige erwerbsbiografische Konstruktionsversuclie in ihrer empirischen Moclellbildiing anschauen. 4. Ziir Empirie beriifliclier uiid sozialer Reprodiiktioiisinuster iii erwerbs- biografisclieii Eiit~vickliiiigeii - Das lleispiel inoderiier Ratioiialisie- riiiigsprozesse Daß erwerbsbiografisclie Eiitwickluiigcii liislosiscli ininiei- iiiir a l s licsullate relaliver Autoriomic gcgeiiiil)ci- tlcii tccliriisclieii und iiisl,csondere ö k o n o - mischen Dynainikeii eiitwickel(er lndustriegesellschafteii fixiert werdeii, die Individuen sicli i i i ilirern I3eruTsverlauf tendenziell iniriier wieder i n eine Er,verbsbiografiert als Koustrukte aus Zivalig und Möglichkeit 57 quasi prinzipielle Entscheidungssituation gedrängt sehen, zeigt sich beson- ders exemplarisch an der Einführung neuer, elektronisch gesteuerter Tech- nologien in die Produktions- und Verwaltungsprozesse. Anhand des insbesondere zusammen mit D. Brock in den letzten Jahren er- hobenen, ausgewerteten und interpretierten ~ a t e r i a l s l assen sich Erwerbs- biografien gerade in ihrem empirischen Aufbau direkt als Konstrukte aus relativ unvermittelten ökonomischen Zwängen und diffusen Zukunftsoptio- nen charakterisieren. Als eines der zentralsten Ergebnisse stellten wir fest, daß sich empirische Verarbeitungsmuster, aggregiert man sie auf einem höheren interpretativen Niveau der in ihnen zum Ausdruck kommenden erwerbsbiografischen Ten- denzen, zu sechs Typen ordnen lassen. Im einzelnen sind dies die folgen- den: Der beruflich-aktive Typ; der sozial-aktive Typ; der instrumentell- resignative Typ; der klassische Facharbeiter-Typus; der Abspaltungstyp und schließlich das für Ungelernte typische Verarbeitungsmuster als beson- dere Form berufliclier Gleichgültigkeit und sozialer Beharrung (vgl. Brock und Vetter 1 9 8 6 ) . ~ Diese Typologie ist unter zwei Einschränkungen konstruiert worden: I (1) Es handelt sich um Idealtypen. Dabei interessiert die spezifische Quali- tät und Gerichtetheit derjenigen Tendenzen, die sich in bezug auf das Binnenverhältnis von Beruf, Arbeit und Sozialität als quasi gemeinsame - I intersubjektiv rekonstruierbare - Orientierungs- und Handlungsmuster technisch-ökonon~ischen und soziokulturellen Wandels erkennen lassen. Zwischen diesen (soziologischen) Mustern und den biografischen Realver- läufen (der Eirizelpersoiien) besteht also nicht immer Deckungsgleichheit. 1 (2) In der Darstellung der wesentlichen Bausteine dieser Muster wird hier von besonderen beruflichen, branchentypischen, arbeitsniarktspezifischen, altersbedingten, kohortenspezifischen, geschlechtlichen und regionalen Un- terschieden abstrahiert; obwohl diese Variablen und Faktoren natürlich eine ganz erhebliche Rolle in den wirklichen erwerbsbiografischen Verläufen spielen. Von dieser Typologie will ich die beiden Verarbeitungsinuster skizzieren, die die jeweiligen Polarisierungstendenzen am drastischsteii ausdrücken und zugleich den höchsten "Modernisierungsgrad" andeuten: den beruflich-akti- Siehe die Obersicht iiber die voin Teilprojekt B3 des Soiitlerforschiingsbereichs 101 in Miinclien durchgefiilirteii Erhebungen 1978-84. I Griiiii.ozesaen Jugendlicher vor. am besten die empirisch diffusen Stadien moderner biografischer Ent- wicklungen auf, die sich in der Zerissenheit struktureller Ambiguitäten (vgl. Becker-Schmidt 1983) und in der "Selbstemergenz" als (noch) offenem Konstrukt zwischen Zwang und Möglichkeit niederschlagen. Ein neues berufliches bzw. ein neues erwerbsbiografisches Konzept scheint historisch insofern vorzuliegen, als gesellschaftliche Anforderungen und gesellschaft- liche Angebote gleichermaßen dem Primat einer hinreichenden Biografi- sierurzgscha?ice der Lebensführung nachgeordnet werden. Im Sinne der bereits bei anderen Typen festgestellten prinzipiellen Deffi- zienz der biografischen Bearbeitung von gesellscliaftlicli differentiellen Strukturen kann bei diesem Typus allerdings nicht ohne weiteres von ei- nem in sich kontinuierlich durchhaltbaren Selbstbewußtsein in der Konsti- tution der eigenen Erwerbsbiografie ausgegangen werden. Vielmehr sieht sich dieser Typus aufgrund seiner ambivalenten Binnenstruktur erheblichen Risiken ausgesetzt, auch wenn er andererseits den überzeugenden Versuch darstellt, den eigenen Existenzzuschnitt und Entwürfe einer in sich sozial, beruflich und persönlich harmonisierten Lebensführung gegen die unmit- telbaren Zwänge aus der ökonomischen Sphäre durchzuhalten. In diesem Sinne wäre er auch als Versuch zu werten, die gesellscliaftlicli zugewiese- nen iiormalbiografischen und status-biografischen Entwicklungen zu durchbrechen. Worin liegt nun das spezifische Risiko dieses Typus? Es läßt sich relativ leicht bestimmen: ist die zentrale empirische Leitthese des erwerbsbiogra- fischen Musters "Abspaltung", persönliche und soziale Möglichkeiten ge- genuher der und für die Vielfalt der Gesellschaft offenzuhalten, so wird zur Kernfrage, wie elastisch sich derartige Optionen gegciiiiber den ebenso vielfachen ökonomischen und reproduktiven Zwängen iiiid IJiiübersicht- lichkeiten moderner Gesellschaftlichkeit erweisen; d.h. inwieweit das "narrowing of choice" biografisch relativiert werden kann. So ist ja bereits weiter oben darauf hingewiesen worden, daß an diesem entscheidenden Sclinittpunkt die diesem Verarbeitungsmuster zugeordneten Realent- wicklungen und empirischen Verarbeitungsmuster in sehr starke soziale Heterogenitäten zerfallen. Die Akkommodierung zu der nach wie vor kapitalistisch geprägten Arbeits- und Berufssphäre hiingt aber nicht nur von dem Elastizitätsgrad ab, sondern auch von der Bauweise des Akzep- tanzniveaus: Hier stehen sich sicherlicli die tcilzcitbescliiiftigte Eliefrau oder die modernistisch aiisgericlitete junge Frau einerseits uiitl die selir be- wußt an der Aufrecliterlinlt~iiig ilirer pcrsoiialen un(l sozialen ldentitiit ar- beitende, unter LJnistRiitlcn ziisiitzlicli politiscli, gewerkscliaftlicli, sich al- ternativ engagici-ende I'rnii aiidet.ci.seits gegenüber. Allerdings erweiseii sich diese Subtypen des Abspaltungstypes bei aller sonstiger realer lleterogenittit i n einen1 vierten Merkmal als äußerst homo- gen: Die entsprechenden erwerbsbiografisclieii Verläufe sind in selir holieiii Ei.ivci.bsbiogi.a fiert als Korlstrukte aus Z~varlg und Möglichkeit 6 5 Maße von Zufällen und insgesamt weitgehenden Diskontinuitäten geprägt, ein Effekt, der das angestrebte Offenhalten von Möglichkeiten gegenüber Zwängen sehr leicht konterkarieren kann. Da von den Gesetzmäßigkeiten des gesellschaftlichen Reproduktions- und Distributionsprozesses her die Koordinaten der Lebensführung insgesamt als nachgeordnet gegenüber den Koordinaten der Arbeits- und Produktionssphäre angesetzt sind, stellen sich nämlich diese Diskontinuitäten mit fortlaufendem Lebensalter und ei- ner faktisch ausgebildeten - und in diesem Sinne sich "verkrustenden" - Erwerbsbiografie unter Umständen als immer problematischer ein: sowohl bei der Möglichkeit, beruflich-inhaltliche Interessen gegenüber der Öko- nomie durchzusetzen als auch Berufs- und Lebensphasen überhaupt noch sinnvoll miteinander integrieren zu können. Ein Rückfall in das Netz der gesellschaftlich zugesicherten und traditionell organisierten Statusbiografien (sozial-normativ; materiell; rechtlich) oder die Suche nach Sicherheit in so- zialstaatlichen Versorgungsangeboten sind daher ebenso gut möglich wie die (negative) Chance, daß sich im Lebensverlauf ein biografischer Fix- punkt einstellt, ab dem dann die aufgeladene Diffusität zum Generalnenner der weiteren erwerbsbiografischen Entwicklung wird, situative, sich über mangelnde oder Fehlqualifizierungen und Alterungsprozesse durchsetzende Zwänge also immer deutlicher den gesamten Lebenskontext dominieren.' 5. "Fluktuierende Ide~it i tät" - Problem erwerbsbiografisclier Verläufe? Das Interesse an dem historischen und strukturellen Verl-iältnis zwischen Arbeitsmarkt, beruflicher ~ i f f e r e n z i e r u n ~ , Sozialstatus und erwerbsbiogra- fischen Realverläufen ist sichtbar angewachsen (vgl. stellvertretend: Bloss- feld 1985; Meulernann 1985; Teckenberg 1985). Angesichts der Tatsache, daß einerseits die abhängige Erwerbsarbeit (Lohnarbeit) sich heute als die dominante Grundlage der Lebensführung, als vorherrschende Form der Existenzsicherung etabliert hat (vgl. Berger 1984, S. 63; Maier 1985, S. 8) und Beruf/Arbeit nach wie vor zentrale Strukturierungsmuster moderner Industriegesellschaft geblieben sind (vgl. Stooss 1985, S. 198), andererseits aber eine Verknappung nicht nur von Arbeitsangeboten, sondern damit zugleich auch an entsprechenden Lebensmustern und Existenzsiclierungen eingetreten ist (siehe wiederum Berger 1984), nimmt dies nicht wunder. 111 diesem Beitrag wurde clas eingetretene Dileriinia einer partiellen Desin- tegration zwischen ökonomischem und sozialem Prozeß am Beispiel er- werbsbiografischer Perspektiven und Strukturieruiigsii i i ister aufgegriffen und als Problem von Koiistruktionsversuclieii zwisclieii den Polen "Zwang" und "Möglichkeit" diskutiert. Dabei führt die Argun~entatiori eine zusätzli- Dienen Effekt aiiclien bereits einige neuere Jugendstiidieii mii helegeii; vgl. Friebel 1985 6 6 Hans-Rol f Vetter che Dimension als strukturierungsrelevant ein: Die zunehmend beobacht- bare Differenzierung des sozialen Prozesses - und darin noch einmal die Diversifizierung individueller Dispositionen gegenüber Beruf und Arbeit als tragfähigen Lebensmustern, die zudem mit genügend materiellen und vor allem auch ideellen "Transferzahlungen" ausgestattet sein müssen. Angesichts dieser Thematisierungsinteressen mußten andere wichtige Be- stimmungen erwerbsbiografischer Verläufe vernachlässigt werden. So ent- scheiden natürlich andere objektive wie subjektive Effekte den jeweiligen "Spielraum" zwischen Zwang und Möglichkeit ebenso entscheidend mit: Erwerbs- und Marktchancen, Kohorteneffekte, intergenerationelle Mobili- t%t, die Durchlässigkeit der Qualifikations- und Statusmuster, die Präroga- tive professionellen Wissens, die finanziellen, gesundheitlichen und sozialen Ergebnisse der Erwerbsarbeit und schließlich die askriptiven Merkmale "Alter" und "Geschlecht". Ganz offensichtlich maximieren, minimieren und modifizieren diese Faktoren jeweils die beiden Pole Zwang und Möglich- keit jm erwerbsbiografischen Verlauf und konkretisieren sie inhaltlich in Entscheidungssituationen (vgl. Blossfeld 1985; Hand1 1982; Hermanns 1984; Hügel und Schmid 1984; Tully 1984; ähnlich: Kärtner u.a. 1983, Schumnl 1983). Eine soziologisch verfahrende Biografieanalyse hätte sich deshalb auch dezidiert auf diese Faktoren und Variablenbündel zu beziehen und sie gegenüber den konstatierten Biografieeffekten "durchzuspielen". In der hier vorgeführten Argumentation interessierte aber vor allem, wie die übereinstimmend als stukturierungsrelevant eingestufte gesellschaftliche Flexibilitatsanforderung auf allen Ebenen von den Individuen bearbeitet und in erwerbsbiografische Muster übersetzt wird; und wie und mit wel- cher Folge entsprechende Ressourcen gebildet werden können. Als Fazit dieser gewählten Thematisierungsstrategie lassen sich insbeson- dere zwei problematische Komponenten fixieren, die für das Verhältnis von Industriegesellschaft und biografischem Prozeß in der Moderne als konstitutiv anzusehen sind: (1) Es überlagern sich der strukturell ausgelöste Individualisierungsdruck und der als Individualisierungsgefälle beschriebene Effekt asymmetrischer Handlungschancen für die Akteure gegenüber den koexistcnten gesell- schaftlichen Entwicklungen. Einerseits müßten aufgrund der vorgegebenen ökonomischen und sozialen Rationalität moderner Industriegesellschaften von den Individuen gegen- über "Jetzt" und "Zukiinft" immer komfortablere Handlungsketten aufge- baut, generiert und kontrolliert werden, andererseits niiiirnt die Realisie- rungschance der Praxisformen strndig ab. Hier sind sowohl der ökonomi- sche und technische Vorlauf zu nennen (Lebenscliancen und soziale Ungleichheiten entscheiden sich in sehr hohem Maße überindividuell; vgl. Er)verbsbiogiafien als Kotisti.ukte aus Z)varig uild Möglichkeit 67 Mayer 1985, Blossfeld 1985) als auch die eigenlogischen Entwicklungen biografischer Bedürfnisse und der sozialen Prozesse, deren potentielle Realisierungshorizonte sich ständig ausweiten (vgl. etwa Bell 1979).' (2) Für die Individuen stellt sich, sofern sie bewußt auf biografisch- selbstemergenten Entwicklungen bestehen, zugleich mit der Stabilisierung der erwerbsbiografischen Muster die Frage hinreichender Identitätsproduk- I tion. Sie sehen sich ständig vor das Ambiguitätsproblem, vor das Problem des "Kampfes zweier Linien" (Hermanns), vor den Verzicht (bzw. die Chance) eigenaktualisierter "Wahlbiografien" gestellt (vgl. Ley 1984 sowie bereits Beck und Brater 1977). Das heißt, daß nicht nur einzelne Phasen und Punkte im Lebenskonzept auf ihre Konsistenz und ihre Stützungs- funktion fü r die Identitätsbildung hin überprüft werden müssen, sondern die explosive Kraft in der Gesamtheit der strukturellen Veränderungen (vgl. Nunner-Winkler 1985, Schimank 1985) zumindest soweit ausbalanciert werden muß, daß "Arbeitsfähigkeit" als individuelle Ressource und als "Tauschwert" erhalten bleibt. Zwei Effekte verdienen dabei besondere Be- achtung: - Im iildri~iducllcri Repi~odulilioilspi~ozeß führen die Disparität der in- haltlichen Anforderungen und die DiskontinuitSt der ökonomischen und biografischen Zeitstrukturen offenbar zu einer Einengung des Zeiterle- bens im Sinne einer "Digitalisierung" (vgl. Brose 1984); d.h. durch eine "bloße" Verlängerung des Status quo wird beruflicher und sozialer Iden- titätserhalt zu erzeugen gesucht.2 - Unter den obengenannten Bedingungen raschen, teclinischen, beruflichen I und sozialen Wandels stellen sich psychische, interaktive, qualifi- katorische und kulturelle Migrationen ein, die mehr und mehr von Pro- zessen der (internen) I d e ~ ~ t i t i i t s i ~ e i ~ s c h i e b u ~ wie auch altei.rliereilder. (ex- tern vorgenommener) IdetllilAtszuiveisu11gett begleitet sind.3 Die sich empirisch anbietenden "Lösungen" dieses Dilemmas scheinen immer noch traditio- nellen Kriterien zu folgen und verraten einen relativ engen Praginatismus. So weist Mayer (1985) nach, daß die Vergesellschaftung der Biografien, ihre Status- und Positionseuweisun- gen, ihre Schichtzugeliörigkeit und insbesondere ihre sozialen Umweltbezüge indirekt nach I wie vor über ArbeitIBeruf erfolgen; jedoch konzediert auch er trote dieser Klassifikation einen wachsenden Anteil an individuellen Modifikationschancen gesellschaftlicher Lagen. l Diese diirften sich mit der technologischen Zäsur im Umbruch EU den achtziger Jahren ak- I tuell drastisch erhöht haben - so jedenfalls die hier durchgezogene These. Außerdem rnuß hierbei die formale Analyse durch eine Analyse, die nach der Veränderung historischer In- halte iii der Lebensfiiliriiiig fragt, ergänzt werden. 1 Auch in iiiisereri Uiitersiicliuiigen IäRt sich ein draatisclieri Absenken i i i Tabelle 1: Kontinuierliche Lebensverläufe Ubernommen und verändert von: 1 ELDER, G. H. jr. und LIKER, J. K. (1982): "Hard Timea in Womens'a Lives: Historical Influences across Forty Years". In: American Journal of Sociology I, 8, S. 241-269. 100 Erika Hoer?zinz Biografische Korzstrukfiorr und Verarbeitung von Lebensereignissen 101 Zu diesen strukturellen Ressourcen gehören auch die gesellschaftlich eta- blierten Bearbeitungsmuster, die zur Bewältigung eingesetzt werden kön- nen. Für die Bewältigung von kritischen Lebensereignissen, die erwartbar sind, die eine hohe Wahrscheinlichkeit des Auftretens haben und deren Erfahrung von vielen Menschen gemacht wird, stehen antizipatorische So- zialisationschancen (Brim und Ryff 1980) und/oder 'vorfabrizierte Inter- pretationsmuster' (Berger und Luckmann 1966) bereit. Sie können indivi- duell genutzt werden, und die Bearbeitung des Ereignisses ist sozial er- wünscht. Sozial verbreitete, normative Vorstellungen über Aufgaben, Tä- tigkeiten, Rollen in bestimmten Lebensaltern und in bestimmten Lebenssi- tuationen helfen dem Individuum und seinen 'signifikanten Anderen', sich zu orientieren. Hierbei hat das Lebensalter nicht nur eine gesellschaftliche Selektions-, sondern auch eine Orientierungsfunktion. Daß diese institutio- nalisierten Übergänge auch krisenhaft verlaufen können, soll nicht uner- wähnt bleiben, kann aber an dieser Stelle nicht weiter thematisiert werden (vgl. dazu Benedict 1978: kulturell und sozial vorgeprägte Diskontinuitäten im Lebenslauf). Neben diesen institutionalisierten, am Lebensalter orientierten Übergängen im Lebenslauf treten Ereignisse auf, deren Verlauf und Bewältigung nur zum Teil oder gar keinen institutionalisierten Regelungen folgen. Hier wird unterschieden nach Ereignissen, die einzelne Individuen erfahren (Krank- heit, Scheidung usw.), und nach Ereignissen, die zu einem bestimmten hi- storischen Zeitpunkt auftreten und die gesamte lebende Bevölkerung tref- fen (ökonomische Krisen, Kriege usw.). Für die Betrachtung des Verzahnungsprozesses historischer und biografi- scher Verläufe sind neben den strukturellen Ressourcen und den sich hi- storisch dynamisierenden Sozialdaten der Person (2.B. historische und le- bensgeschichtliche Bewertungen von Bildungszertifikaten) unseres Erach- tens zwei Dimensionen von Bedeutung, die weiter oben schon erwähnt wurden. Diese Dimensionen bilden den Hintergrund für die Konzeptuali- sierung des Begriffs der Lebenserfahrung als biografische Ressource. Es handelt sich um: (1) biografische Ereignisverkettungen und (2) biografische Commitments (Verpflichtungen, Bindungen) ( 1 ) Biografische Ereignisverketturlgerr bilden den strukturellen Hintergrund der miteinander verbundenen Lebenslaufdimensionen ab, die durch das Ereignis berührt werden. Bei der Rekonstruktion der Biografie zeigt sich, welche Dimensionen von dem Ereignis in Mitleidenschaft gezogen werden (Verkettungen), und gleichzeitig zeigt sich, welche neuen Verkettungen aufgrund des Einbruchs des historischen Ereignisses sich herausbilden. I Schaubild 2: Typologie sozialer Lebensereignisse Abhängigkeit ERFAHRUNGEN, DIE VIELE MENSCHEN MACHEN vom Lebensalter Hohe Wahrscheinlichkeit Niedrige Wahrscheinlichkeit des Auftretens des Auftretens (1) Normalbiografie - schulische Ausbildung, (3) - Kinderlahmungsepedemie - Berufseintritt - Berufskarriere starke - Militardienst Abhängigkeit - Heirat - Elternschaft - empty nest - Berufskrankheiten - Großelternschaft - Pensionierung - Tod eines Ehepartners (2) - Tod der/s MutterIVaters (4) - Krieg - Tod des Ehegatten - wirtschaftliche Krisen schwache - zu frühe/zu späte - Massenarbeitslosigkeit Abhängigkeit Heirat der Kinder - Auswanderung - Scheidung - ungewollte Schwangerschaften - Rationalisierung/Zwangsum- seteungen am Arbeitsplatz Abhängigkeit vom ERFAHRUNGEN, DIE WENIG E MENSCHEN MACHEN Lebensalter Hohe Wahrscheinlichkeit Niedrige Wahrscheinlichkeit des Auftretens des Auftretens ( 5 ) - Obernahme des elterlichen (7) - Kinder mussen die Schule ~ c h w a c h e Geschafts in einem bestimmten verlassen Abhangigkeit Alter - Kriegsdienstverweigerung - Thronbesteigung mit - geplante Kinderlosigkeit, 18 Jahren - Hausmannrolle (6) (8) - Generative Weitergabe des - Unfall und Unfallfolgen Geschäfts ohne Altersangabe - schwere Krankheit schwache - Tod eines Kindes Abhängigkeit - Arbeits-/Erwerbsunfähigkeit - fristlose Kündigung - Berufswechsel - Kinder kommen ins Elternhaus zurück - Straffälligkeit - Ausstieg Obernommen und verändert von: Brim/Ryff (l980), S. 375. 102 Erika Hoerniizg (2) Biografische Commitn~eilts (Verpflichtungen, Bindungen) beziehen sich auf lebensgeschichtlich frühere Handlungen, die weitere Handlungsmög- lichkeiten einengen beziehungsweise vorschreiben (2.B. Familiengründun- gen). Biografische Commitments haben den Charakter eines Einsatzes (Becker 1979); Einsätze, die bestimmte Verlaufskurven 'vorstrukturieren'. Resümee: Für die Betrachtung des Verzahnungsprozesses historischer und biografischer Verläufe ist die analytische Trennung zwischen strukturellen und biografischen Ressourcen erforderlich. Bei den strukturellen Ressour- cen wurden zwei Dimensionen eingeführt: die Angebots- und Nachfrage- seite des Marktes und die sozial akzeptierten und verbreiteten Bewälti- gungsmuster. Für die biografischen Ressourcen wurden ebenfalls zwei Di- mensionen eingeführt, die die Revitalisierung und Aktualisierung der bio- grafischen Ressourcen in den Vordergrund stellen: einmal handelt es sich um die zugeschriebenen und erworbenen individuellen Kapitalien, zum an- deren um die Be- und Verwertung von Lebenserfahrungen unter dem Ge- sichtspunkt der Ereignisverkettungen und Commitments zum Zeitpunkt des Ereignisses. 3. Untersuchungsgruppe und Untersuchungshintergrund Die Untersuchungsgruppe bildeten 39 Frauen und Männer, die den Grup- pen der Grenzgänger und Grenzhändler angehörten; Gruppen die aufgrund der politischen Teilung Berlins 1948/49 entstanden waren und bis zum 13. August 1961 offiziell existierten. Die ausgewählten Personen gehören den Jahrgängen 1903-1941 an. Am 13. August 1961, durch die Schließung der innerstädtischen Grenzen, bedingt aber auch durch politische Ereignisse zwischen 1948 und 1961, kamen der gesamte Arbeitskräfteaustausch zwi- schen den beiden Teilen der Stadt und dem Hinterland und auch der Grenzhandel entlang des sowjetischen Sektors Berlins zum Erliegen. Von diesem Ereignis wurden - nach Schrtzungen - 60.000 Arbeitnehmer und fünf Prozent des Berliner Einzelhandels betroffen. Grenzgänger waren diejenigen, die im Ostteil (DDR) der Stadt und im Hinterland arbeiteten, aber im Westteil Berlins wohnten und umgekehrt. Untersuchurlgshitztergruizd: Die Entstehung des sozialen Typus (Grenzgän- ger/Grenzhändler) hängt mit der Teilung Berlins zusammen. Ich spreche jetzt von der Teilung. die sich in den Jahren 1948 und 1949 vollzogen hat. Vorgeschichte dazu ist das Ende des Zweiten Weltkrieges, die Aufteilung Deutschlands in vier Besatzungszonen und die Aufteilung Berlins in eine Vier-Sektoren-Stadt. Am 20. Juni 1948 fand die Währungsreform in den drei Westzonen statt; am 22.6.1948 war die sowjetische Seite kompromißlos entschlossen, die Einführung der östlichen Währung für ganz Berlin unter allen Umständen durchzusetzen; am 23. Juni 1948 ordnete Marschall I I I Biografische Koizstruktion und Verarbeitung von Lebensereignissen 103 I I I Sokolowski die Währungsreform für Groß-Berlin, die Einführung der öst- lichen Währung, an; auf der Stadtverordnetensitzung am 23. Juni 1948 wei- gerten sich die Vertreter der West-Sektoren, diesem Befehl Folge zu lei- sten, und mit Zustimmung der westlichen Besatzungsmächte wurde am 24. Juni 1948 in den drei West-Sektoren der Stadt die Westwährung eingeführt. Bis März 1949 gab es in Gesamt-Berlin den Zustand der Doppelwährung: 25 Prozent aller Gehälter wurden in Westmark gezahlt, der Rest in Ost- währung. Die Ostmark blieb in allen Teilen der Stadt gültiges Zah- lungsmittel. Als Reaktion auf die westliche Absicht und schließlich auf die Durchführung der Währungsreform begann die Blockierung der Zufahrts- Wege von und nach West-Berlin. Die Blockade West-Berlins durch die sow- jetische Besatzungsmacht begann am 26. Juni 1948 und endete am 12. Mai 1949. Am 6. September 1948 zog die Berliner Stadtverordnetenversammlung nach West-Berlin um; am 30.11.1948 wurde die administrative Spaltung Berlins vollzogen; am 4. Dezember 1948 zog ein großer Teil der Studenten, Assistenten und Professoren aus der Humboldt-Universität, im sowje- tischen Sektor der Stadt gelegen, aus. Sie gingen in den amerikanischen Sektor, und es kam zur Gründung der Freien Universität. Am 5.12.1948 , fanden in den West-Sektoren separate Kommunalwahlen statt, und damit war die Teilung der Stadt vollzogen. Am 23. Mai 1949 wurde für die west- lichen Besatzungszonen das Grundgesetz verkündet. Am 7. Oktober 1949, 1 fünf Monate später, wurde die DDR gegründet. Das sind die äußeren Daten zur Teilung Berlins. Diese Teilung war jedoch schon im Bewußtsein und im Alltagsverhalten der Berliner Bevölkerung in beiden Teilen der Stadt verankert. Nach dem Zusammenbruch 1945 war es einer Anzahl von Menschen geglückt, ihre alten Arbeitsplätze wieder ein- zunehmen beziehungsweise irgendwo in Groß-Berlin Arbeit zu finden. Ein großer Teil traditioneller Industriebetriebe, Theater, Kliniken, Presseagen- turen, Zeitungsbüros usw. lagen im Ostteil der Stadt, und jeder war froh, überhaupt einen Arbeitsplatz zu finden. Wenig wurde hier nach Ost und West gefragt, denn insgesamt herrschte große Arbeitslosigkeit. Durch die in den Jahren 1948/49 vorgenommene Trennung der Sektoren standen nun viele vor der Situation, daß sich ihr Alltagsleben in zwei ver- schiedenen politischen Welten vollzog: Sie wohnten entweder in Ost-Berlin und arbeiteten in West-Berlin, oder aber sie lebten in West-Berlin und ar- beiteten in Ost-Berlin. Da nun ab März 1949 in allen West-Sektoren die westliche Währung galt und im Ost-Sektor nur die östliche Währung, und diese beiden WShrungen nicht im Verhrltnis 1:l bewertet wurden, sondern 1:4 oder 1:5, wurde für viele diese Teilung ein nicht nur materielles, son- dern auch ein persönliches Problem. Diejenigen, die in Ost-Berlin arbeite- ten, jedoch in West-Berlin lebten, konnten aufgrund des ungünstigen Wechselkurses häufig ihre allgemeinen Kosten wie Miete, Strom usw. nicht mehr bezahlen, und diejenigen, die im Westen arbeiteten, verfügten über sehr günstige Bedingungen. Am 20.3.1949 richtete die West-Berliner Ver- 104 Erika Hoerning I Biografische Konstruktion und Verarbeitung von Lebensereignissen 105 waltung mit Billigung der Alliierten die Lohnausgleichskassen ein. Den Ost-West-Grenzgängern wurde der Lohn in 40 Prozent Westmark und 60 Prozent Ostmark ausgezahlt, die in Ost-Berlin Arbeitenden erhielten an den Lohnausgleichskassen zunächst 10 Prozent ihres Ost-Lohnes in Westmark umgetauscht, später bis zu 60 Prozent. Täglich wurden 75.000 Fahrscheine 1:l an Ostler verkauft, darin sind nicht die S-Bahn-Fahrscheine enthalten; 600.000 Menschen aus dem Osten be- suchten jährlich die West-Berliner Theater; die großen Ausstellungen (Grüne Woche, Industrieausstellung) zogen fast 400.000 Besucher aus der DDR an; 10 Millionen Kinokarten wurden jährlich an Ostler verkauft; 20 Prozent der Museumsbesucher kamen aus dem Osten, und zwischen 20 und 30 Prozent der Studierenden waren aus dem Ostteil. Zahlen für die umge- kehrte Richtung, also West-Berliner in Ost-Berlin, liegen mir noch nicht vor. Nach West-Berlin strömten jeden Tag - ungefähr ab 1955 - 60.000 Grenz- gänger. Von Ost nach West kamen qualifizierte Facharbeiter, Büro- und Hausangestellte. Von West nach Ost gingen Eisenbahner (60 Prozent der Grenzgänger), Künstler, künstlerisches Fachpersonal, Ärzte, Wissenschaft- ler. Die Zahl der Ost-West-Grenzgänger ist eher unterschätzt, denn darin sind nicht die zahlreichen Schwarzarbeiter/innen enthalten, die insbeson- dere in Privathaushalten in West-Berlin für billiges Geld gearbeitet haben. Eine 'Perle' aus dem Osten war insbesondere nach 1955 etwas, was zur Restaurationsperiode gehörte. 6,4 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung, die in West-Berlin arbeiteten, waren Ost-West-Grenzgänger. Neben den Grenzgängern machte das Verkaufsvolumen der West-Berliner Grenzhändler (Handelsgeschäfte mit DDR-Bewohnern) rund fünf Prozent des West-Berliner Einzelhandels aus. Als Folge des regen Ost-West-Aus- tausches hatten sich entlang der Sektorengrenze Ost, aber in den West- Sektoren, spezielle Einkaufsviertel/Märkte für die Arbeitskräfte aus Ost- Berlin und für die Kundschaft aus dem Ost-Sektor und der DDR ent- wickelt. Diese Schwerpunkte lagen an den Verkehrsumsteigepunkten der S- und U-Bahnen. Die Struktur dieser Verkaufsviertel setzte sich zusammen aus alteingesessenen Geschäftsleuten dieser Gegend und aus von diesem Ost-West-Boom angezogenen Händlern. Beide Gruppen hielten spezielle Angebote für den oben geschilderten Kundenkreis bereit: Kleidung, Schu- he, Seife, Obst, Gemüse, Gewürze usw. Neben diesen Händlern gab es dort zahlreiche Kinos, die fast rund um die Uhr spezielle Filme für die '~s t l e r" spielten, ebenso Unterhaltungsetablissements, Kneipen, Apotheken, Ärzte, Wechselstuben. In allen diesen Einrichtungen konnte in zwei Währungen gezahlt werden. Bis 1955 drehten beide deutsche Staaten Spielfilme in den DEFA-Studios in Berlin-Adlershof (DDR). Der wissenschaftliche Austausch zwischen den Kliniken der Charite und den in der Gründung befindlichen Kliniken der Freien Universität fand statt. Namhafte Künstler (Schauspieler, Sänger, Musiker) zogen es vor, an den großen Bühnen in Berlin-Ost zu arbeiten, die von jeher ein besonderes Weltrenommee hatten, der Aufbau der West- berliner Bühnen wurde bis 1961 nur zögernd betrieben. Zwischen den beiden Teilen der Stadt donnerte der Medienkrieg. Westber- liner Boulevardblätter berichteten täglich auf den Titelseiten über zwei Ereignisse: die Anzahl der Flüchtlinge, als die 'Abstimmung mit den Füßen', und die Wechselkursdaten. Es verging nicht ein Tag, an dem nicht über die mangelhafte Versor- gungslage in der DDR und über die politische Knebelung der 'einfachen' Menschen (Schauprozesse usw.) berichtet wurde. Umgekehrt standen die Ostberliner Boulevardblätter dem in nichts nach: sie redeten von Spionage, Verschleppungen, Warenschmuggel und menschlichen Mißhandlungen ihrer Leute im Westen der Stadt. Die Rundfunkanstalten in beiden Teilen der Stadt beteiligten sich an dem Ost-West-Medienkrieg. Während die Rundfunkanstalten im Ostteil der Stadt in Originalinterviews ihre Bewohner über freiwillige und dienstliche Leistungen zum Aufbau des Staates im Kampf für den Kommunismus und gegen den Kapitalismus berichten ließen, berichtete der RIAS Berlin (Rundfunk im amerikanischen Sektor) taglich über Zwischenfälle und Übergriffe an den noch nicht befestigten Grenzen, wie Zugkontrollen, Festnahmen, Behinderungen, Flüchtlingsschicksale usw. Nahezu in jedem von uns durchgeführten Interview finden wir Verweise und Zitate aus der wöchentlichen Kabarettsendung "Die Insulaner", einer von Günther Neumann geschriebenen und durchgeführten Sendereihe des RIAS. Origi- nalzitate der Hauptakteure: Herr Kummer und Herr Pollowetzer, des Hierzu gab es eine alliierte Regelung vom 28.4.1949 zum Kartenverkauf an Bewohner aus dem Ostsektor und aus der SBZ (sowjetisch besetzte Zone), die das Währungsungleichge- wicht berllcksichtigte. Am 22.5.1951 setzte der Senator für Finanzen im Einvernehmen mit der HICOG (Filmsektion der US-Militärregierung) eine weitere Regelung durch: Täglich konnten in den Grenzkinos zwei Vorstellungen durchgeführt werden, die nur für den oben genannten Personenkreis bestimmt waren. Personen aus den sowjetisch besetzten Gebieten erhielten zu diesen Vorstellungen Eintrittskarten zu ermäßigten Preiaen. Statt DM 1,00 zahlten sie nach Vorlage ihres Personalausweises DM 0,25 106 Erika Hoerni?tg Funktionärs, der die Genossin Frieda und den Genossen Dieter zu schulen versucht, und des Genossen Professor tauchen heute noch wörtlich in den Interviews auf. Im Bewußtsein der Westberliner Bevölkerung war der west- liche Teil der Stadt nicht nur das Tor zum Westen, sondern der Goldeile Westen. Die West-Berliner verstanden sich in ihrem politischen Alltag als "Frontkämpfer" gegen den Kommunismus, die entlang der vordersten Linie täglich ihren Kleinkrieg führten. Am 13. August 1961 schloß ein 'eiserner Vorhang' die Grenzen, alle beste- henden Verbindungen wurden abgebrochen. In West-Berliner Betrieben fehlten 47.000 Arbeitskräfte;, in Ost-Berliner Betrieben 13.000; den Grenz- händlern fehlten ihre Kunden. Die Erwartung der West-Berliner, daß die westlichen Alliierten mit ihrem Kriegsgerät die Mauer niederwalzen wür- den, erfüllte sich nicht; ohnmächtig mußten sie erleben, daß sie im Auf- trag der westlichen Alliierten durch die Berliner Schutzpolizei davon abge- halten wurden, mit eigenen Händen die Mauer niederzureißen. Sie erleb- ten, daß die westlichen Alliierten an den Brennpunkten mit Panzern auf- fuhren und nur darauf achteten, daß die Grenzpfähle exakt auf den Grenzlienien, die 1945 bei der Aufteilung in eine Vier-Sektoren-Stadt aus- gehandelt worden waren, errichtet wurden. Über die politischen Verhand- lungen in den ersten 12 Tagen nach dem Mauerbau werde ich hier nicht berichten, sie tauchen in der offiziellen Geschichtssreibung als 'Zwölf Tage zwischen Krieg und Frieden' auf (Petschull 198 1). Mit dem Bau der Mauer verschwand der Typus Grenzgänger und Grenz- händler aus der Geschichte Berlins. Die ArbeitsverhäItnisse der Ost-West- Grenzgänger endeten dadurch, daß ihnen die Grenzpassierung verwehrt wurde; jedoch haben die Arbeitsverhältnisse 'bürokratisch' bis heute Be- stand. Am 3.11.1961 verabschiedete der West-Berliner Senat das "Gesetz zum Schutze der Rechte aus Arbeitsverhältnissen von Arbeitnehmern mit Wohnsitz im Sowjetsektor von Berlin oder in der Sowjetischen Besat- zungszone", das besagt, daß bis zur Aufhebung des Mauerbaus Grenzgänger nicht entlassen werden dürfen und nach der Aufhebung diese Grenzgänger unverzüglich an ihre Arbeitsplätze zurückkehren sollen. Dieses Gesetz hat bis heute Bestand. Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland stellte als Soforthilfe umfangreiche Wirtschaftshilfen bereit und veranlaßte damit eine Neustrukturierung von West-Berlin (Anreize für wirtschaftliche Inve- stition; Arbeitskräfte nach Berlin; umfangreiche Wohnungsbau- und Sa- I nierungsprogramme; Erweiterung der wissenschaftlichen und kulturellen r Einrichtungen; Einrichtung von Bundesbehörden in Berlin usw.). Entschä- digung für entgangenen Umsatz wurde an die ehemaligen Grenzhändler nicht gezahlt. Nur dann, wenn sie ihre Zukunftsplanungen in den nach 1961 entwickelten neuen Strukturplan für West-Berlin integrieren konnten, erhielten sie günstige Kredite, keine Subventionen. Die Verkaufszentren im I ! ehemaligen Berlin-Mitte verödeten durch den ausbleibenden Menschen- strom; ab 1963 zogen in die verlassenen Geschäfte und Wohnungen auslän- Biografische Konstruktion-und Verarbeitung von Lebensereignissen 107 dische Arbeitnehmer ein. Nicht mehr erhaltenswerte Bausubstanz wurde kahlschlagsaniert und durch lieblosen Beton-Wohnungsbau ersetzt. Erst ab Mitte der siebziger Jahre besann sich eine kleine Gruppe von Architekten, Künstlern, Stadtplanern, Politikern und Anwohnern auf den alten Mittel- punkt Berlins; die planerischen Dokumente und Modellversuche der Inter- nationalen Bauausstellung (IBA) 1984 zeigen einen kleinen Anfang der Neubelebung. Die bürokratisch-politische Lösung des Grenzgängerproblems scheint abgeschlossen, was aber wurde aus den Lebensgeschichten der Be- troff enen? 4. Gewinnung der Untersuchungsgruppe, Untersuchungsmethode, Aus- wertung und erste Ergebnisse 4.1 Gewinnung der Untersuchungsgruppe Im April 1983 wurde in den Morgensendungen des RIAS (Rundfunk im amerikanischen Sektor) und im SFB (Sender Freies Berlin) über dieses Un- tersuchungsvorhaben berichtet. Gleichzeitig erschien auf der Seite 3 einer großen Boulevardzeitung eine Beschreibung des Arbeitsvorhabens. Die Hörer/innen und Leser/innen wurden gebeten, sich telefonisch zu melden. Wir erhielten etwa 130 Anrufe und machten mit den Anrufern/innen ein telefonisches Kurzinterview. Danach wurde die Stichprobe quotiert: Alle zu befragenden Personen mußten mindestens ab 1947 in Berlin gelebt haben. "Grenzgänger" waren diejenigen, die nach dem Lohnumtauschgesetz von 1949 im Sinne dieses Gesetzes umtauschberechtigt waren. "Grenzhändler" mußten ebenfalls mindestens ab 1947 in Berlin gelebt und ihr Geschäft an folgenden Schwerpunkten gehabt haben: Berlin Mitte: Potsdamer Platz Brunnenstraße im Stadtteil Berlin-Wedding oder Oberbaumbrücke in Berlin-Kreuzberg. 4.2 Untersuchungsmethode Ab Mitte Mai 1983 haben wir themenzentrierte biografisch-narrative In- terviews mit diesem Personenkreis durchgeführt. Vor dem Interview er- hielten die zu befragenden Personen postalisch einen Fragebogen, um ge- trennt vom Interview Eckdaten zum Familien- und Berufsverlauf zu erhe- ben. Fünf Interviews wurden in einem zeitlichen Abstand von vier bis zwölf Monaten wiederholt, um die Zuverlässigkeit der erhobenen Daten zu überprüfen. Die für diese Untersuchung ausgewählte Methode der Erhebung testet keine vorhandene Theorie zu Langzeitwirkungen historischer Ereignisse im 108 Erika Hoerning Lebenslauf, sondern die erhobenen Daten bilden die Grundlage für eine Theoriegenerierung zum Konzept der Revitalisierung und Aktualisierung von Lebenserfahrung zum Entwurf einer Theorie zu lebenslangen Wirkun- gen historischer Ereignisse. 4.3 Auswertung Bei der Auswertung der vorhandenen Text-Daten wird in zwei Schritten vorgegangen: (1) die vorhandenen Biografien werden nach vorgegebenen Kriterien klas- sifiziert; (2) die Interpretation des Einzelfalls und der interbiografische Vergleich sind als nächste Auswertungsschritte geplant. Die Klassifikation der Verläufe wurde nicht aufgrund von sogenannten objektiven Sozialdaten - zum Beispiel: Verbleib im alten Beruf nach dem historischen Ereignis und/oder Verdienst nach dem Ereignis usw. - vorge- nommen, sondern aufgrund der von den Befragten gegebenen Selbstein- schätzung im Laufe des Interviews. Wir orientieren uns daran, ob die Be- fragten davon ausgingen, dieses in ihren Lebenslauf eingreifende histori- sche Ereignis als ein intentionales Lebensereignis zu sehen, das heißt, ob sie davon ausgingen, daß sie selbst steuernd in den Verlauf, zum Beispiel durch die Revitalisierung von Lebenserfahrung, positiv eingreifen konnten, oder aber, ob sie das historische Ereignis als konditiottales Lebensereignis erlebten, das von 'außen' in ihre Biografie eindrang und dem sie machtlos gegenüberstanden. Dazu wurden alle Textstellen paraphrasiert, die folgen- des zum Inhalt hatten: - Wie wäre das Leben verlaufen, wenn dieses Ereignis nicht aufgetreten wäre? - Wie stellt die befragte Person die Lebenszeit nach dem Ereignis in Rela- tion zum Ereignis dar? Die Auswertung hat folgende Verlaufsmuster ergeben: (1) Biografien, die nicht beeinträchtigt wurden, die kontinuierlichen Bio- graf ien; (2) Biografien, die negativ beeinträchtigt wurden (Verlierer mit absteigen- den oder mit nach erheblicher Zeitverzögerung sich wieder einpen- delnden Verläufen); (3) Biografien, die positiv beeinträchtigt wurden (Gewinner mit aufstei- genden Verläufen). I Biografische Konstruktion und Verarbeitung von Lebensereignissen 109 I I I I Innerhalb der vorgenommenen Klassifikationen lassen sich aufgrund der Ausbildung, der beruflichen Laufbahn vor und nach dem Ereignis, des Le- bensalters, des Geschlechts und anderer Sozialdaten der Person keine be- friedigenden Hinweise finden, die einzelne Verlaufsmuster erklären. I (1) D i e k o n t i n u i e r l i c h e n B i o g r a f i e n In der Gruppe der befragten Personen mit kontinuierlichen Biografien fin- den wir Berufsverläufe, die nach dem historischen Eingriff in die Biogra- fiel, in den bestehenden und/oder neustrukturierten Arbeitsmarkt transfor- mierbar waren: Büroarbeit, Kellner, fachärztliche Helferin, Friseur, Maurer usw. Von allen Befragten wurden die Chancen auf dem Arbeitsmarkt zum Zeitpunkt des Ereignisses als positiv eingeschätzt. Belastende Ereignisver- kettungen durch die Beeinträchtigung im beruflichen und Auswirkungen auf den familiären Bereich lagen nicht vor. Lebensgeschichtliche Commit- ments an berufliche Karrieren lagen vor, jedoch ohne Ortsbindung. I I Scheinbar gewaltsame Herauslösungen aus Berufsumgebungen wirkten sich I eher als Befreiung von eigenen Entscheidungen, denn als Belastungen aus (2/318; 3/31 5; 4/324), wie das folgende Beispiel zeigt: Herr Müller (4/324) wird 1912 geboren. Der Vater stirbt 1922. Die Mutter I heiratet 1930 zum zweiten Mal. 1937 zieht die Familie nach Berlin. 1918 wird Herr Müller eingeschult, 1926 aus der Schule entlassen. Gegen Kost und Logis arbeitet er danach ein Jahr als Hilfskraft bei einem Bauern. 1927 bekommt er eine Lehrstelle als Friseur, 1931 schließt er diese Lehre ab. Er wechselt nach dem Lehrabschluß den Betrieb, wird aber in dem gleichen Jahr arbeitslos. 1932 findet er eine neue Stellung in dem Friseur- geschäft von Frau Ruske in Berlin-Ost. 1943 wird er eingezogen, 1945 ge- rät er in amerikanische Gefangenschaft und kehrt 1946 heim. 1945 wird sein erstes Kind geboren. Er heiratet 1948, und 1949 wird das zweite Kind geboren. Nach seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft 1946 arbeitet er wieder im Friseursalon Ruske im Ostsektor Berlins. Seine Familie und er leben im Westsektor Berlins. Diese Arbeit endet 1961 nach 26 Jahren mit dem Bau der Mauer. Im Westteil Berlins findet er sofort wieder eine Stelle, die er bis zu seiner Verrentung im Jahre 1975 innehat. "Ich war ein Idealist. (19)32 fing ich in der Firnta an, (19)43 wurde ich Soldat, und da hab ich ntir gedacht, weiiii Du zuriickkoninlst aus den1 Krieg und kontnlst wieder heil zuriick, darlri fiirigst Du da wieder an, nich. Und so war es datltl auch. Ich wollte ja gar nicht nichr wrchse1)i; ich hatte in ntei- ttenz garizeri Leberz drei Arbeitsstelleii / 191- I97/. Es war ein Milieu i~z den1 Laden (Salon Ruske vor 1961). Großer Laden vor allen Dingen. Das Publi- kum denterltsprechend, u ~ i d wo ich dann hier in1 IVeddiiig (CVestsektor nach i 1 1961) anfirig. ach Gottes ivillett. hab ich niir gedacht, wo bist Du den71 hier I hingeraten. Da kanien dann die alten Herren rin auf Lat.rcheri bei Regeii- Tabelle 1: Kon tinuierliclie Biografien Fall-Nr. Alters- Geschlecht Jahr des Alter Soziale Schicht, a ~ e i n i s v e k e t t u n e n Persönliche Antizipation des gruPPe historischen Bildung b Commitments Ereignisses Ereignisses (a) Beschäftigung vor (Bindungen) (a) konditionelles Ereignis = historischem Ereignis (C) strukturelle Chancen von außen an die Biografie (b) Beschäftigung herangetragenes Ereignis nach dem historischen (b) intentionales Ereignis = Ereignis von der Person selbst gesteu- erte Ereignisstruktur 11305 1929 weiblich 1961 32 Unterschicht Hauptschule ( 4 ohne Lehre a) ungelernte Bdroarbeit b) ungelernte Büroarbeit 21318 1926 männlich 1951 35 Unterschicht Hauptschule b ohne Angehörige ( 4 Lehre C positiv Zweite Ausbildung a Kellner b] Filialleiter, - später Angestellter im öffentlichen Dienst 31315 1926 weiblich 1961 35 Mittelschicht Gymnasium [E] iamilie, positive ( 4 a MTA Unterstützung b] MT* (C) positiv 31324 1912 weiblich 1961 37 Unterschicht ( 4 Lehre M Pamilie, positive Unterstützung (C) positiv 9 % n 2 Q (D Y X. % 00 51332 1911 männlich 1951 50 Unterschicht Hauptschule ( 4 Lehre a Maurer b] Maurer -. b Q 2 0 = 37,8 Jahre 112 Erika Hoerning Biografische Koilstruktion und Verarbeitung von Lebensereignissen 113 wetter ... Und da (Salon Ruske vor 1961) gings, Herr Doktor, bitte schön, und so weiter, telefonisch alles atzmelden, und hier (Westsektor) war das so richtig normal. Ja, aber trotzdem, ich hab es gut verkraftet (diesen IVech- sel). Ist eine Umstellung. Hier gings darziz nur ums Überleben, vor allerz Dingen /205-219/. Es gab Vorteile. Es gab erstmal die finanziellen Vor- teile, ich hatte mehr verdient, und bei dem wenigen Lohn, was überhaupt Friseure damals verdient haben, spielte ja das Trinkgeld eine ernorme Rol- le, und vor allen Dingen ich hatte ja mehr Freizeit (Arbeitsstelle ohne An- fahrtsweg) /308-339/. Wissen Sie, an2 Ende war's daiaz auch egal, wark ja doch alles Köppe /422/."l (2) D i e G e w i n n e r Die Gewinner schätzen die strukturellen Chancen für sich positiv ein. Der erzwungene Abschied von einem lebensgeschichtlichen Projekt wird als Herausforderung gesehen. Der Weg zum 'Ziel' ist zwar hart, aber aus dem subjektiven Verständnis heraus machbar, wie das folgende Beispiel zeigt: Herr Schein (5/324) wird 1922 geboren. Er hat keine Geschwister. Sein Vater stirbt 1929. 1929 wird er eingeschult; 1937 wird er aus der Volks- schule entlassen und beginnt eine kaufmännische Lehre, die er 1940 ab- bricht. Der Grund für den Abbruch der Lehre ist seine Einberufung zur Wehrmacht. Bis 1945 ist er Soldat, gerät in amerikanische Gefangenschaft, aus der er 1948 entlassen wird. Nach seiner Entlassung aus der Gefangen- schaft lebt er im Ostsektor Berlins, 1949 lernt er seine Frau kennen und heiratet. In den Jahren 1953, 1954 und 1959 werden seine Kinder geboren. 1948 beginnt er bei der Ostberliner Volkspolizei, kündigt aber 1951 dieses Arbeitsverhältnis auf, weil er nicht in die Partei eintreten will. 1952 ar- beitet er als angelernter Schlosser im Ostsektor, kündigt dort 1953 und ar- beitet als angelernter Sattler, wiederum im Ostsektor der Stadt. Dort wird ihm nach dem 17.6.1953 gekündigt, weil er am Aufstand in Berlin teilge- nommen hat. Er findet jedoch im Ostsektor eine neue Arbeit als angelern- ter Sattler bis 1959, dann sucht er sich eine Arbeit im Westsektor als ange- lernter Schlosser. Einen Tag vor der Errichtung der Mauer flieht er mit seiner Familie in den Westteil Berlins. Er bleibt erst einmal an seinem alten Arbeitsplatz, erkrankt dann aber Ende 1961 schwer und ist bis einschließ- lich 1963 arbeitsunfähig. Nach seiner Genesung 1963 findet er eine neue Arbeit in den öffentlichen Verkehrsbetrieben, in denen er heute noch tätig ist. "Die schlechteste Zeit war der Atifang hier (1961 nach der Flucht in der1 Jiestteil Berlins) /2126/. Aber ich habe o f t den Eitidt,uck, wir sind ewtrve- Zahlen in Schrägstrichen in den Interviewausschnitten verweisen auf die Zeilennummern aus den Transkripten; Ergänzungen zum Text- und lebensgeschichtlichen Verständnis wurden in Klammern gesetzt. der zu friih oder zu spät geboren, um eine wirklzch gute Zeit zu haben. Denn die hatten wir wirklich nicht /1992-1955/. Aber vor allen Dingen ist das ein schönes Gefiihl, d a ß niatz trotz allenz, trotz Not und E~ztbehrung, das so weit geschaf f t hat - ohne fremde Hi l fe . Das ist ein schönes Gefühl /2058-2062/. Und ich stehe auf dem Standpunkt, man m u ß halt versuchen, das Beste aus allenz zu machen. Und wer helfen IÄßt, kann selber nichts /2077-2079/." Die Chancen auf dem Arbeitsmarkt für die Gruppe der Gewinner unter- scheiden sich wenig von denen der Gruppe mit kontinuierlichen Biogra- fien, jedoch ist hervorzuheben, daß bei vier von sechs Fällen (1/346; 2/345; 31339; 6/342) allein der Wechsel von Ost nach West schon ein Ge- winn ist (Commitments). Bei vier von sechs Fällen (1/346; 4/329; 5/334; 6/342) konnten keine bio- graphischen Ereignisverkettungen ermittelt werden, die den weiteren Le- bensweg nach dem Ereignis behindert beziehungsweise gefördert hätten. Politische Commitments an den Westen - wie bereits oben erwähnt - schei- i nen die Handlungspläne der Gewinner beeinflußt zu haben. 6 (3) D i e V e r l i e r e r Bei den Verlierern zeigen sich zwei Verlaufsmuster: i - positive strukturelle Ressourcen können aufgrund einer negativen Über- ! macht von Ereignisverkettungen und Commitments nicht wahrgenommen werden (1/319; 4/310; 8;320) oder aber I - aufgrund negativer struktureller Ressourcen wandeln sich vormals posi- ! tive Ereignisverkettungen und Commitments in das Gegenteil um (2/321; 31338; 51304; 7/325; 9/316). Für den nachfolgenden Fall trifft das zweite Verlaufsmuster zu; vormals positive strukturelle Chancen werden zu negativen und wirken sich negativ auf Ereignisverkettungen und Commitments aus: Herr Kladow (3/321) wird 1920 geboren, sein Bruder 1921. Die Ehe seiner Eltern wird 1922 geschieden. Die Mutter bringt die Familie mit Näharbei- ten durch; 1926 bekommt die Mutter eine feste Arbeit in der Garderobe eines Theaters, muß aber weiterhin diverse Nebentätigkeiten für den Erhalt I der kleinen Familie machen. 1933 verliert die Mutter die Arbeit, denn das I Theater, in dem sie arbeitet, wird geschlossen, weil der Besitzer Jude ist. 1934 heiratet die Mutter zum zweiten Mal, der Familie geht es jetzt öko- nomisch besser. 1938 kommt der Stiefvater, der aktiver Kommunist ist, in das KZ Oranienburg; ein Jahr später wird er entlassen. 1940 kommt der Stiefvater durch einen Arbeitsunfall in der Gießerei zu Tode. Dieser Unfall stellt sich im nachhinein als politischer Mord heraus. 114 Erika Hoerning Biografische Konstruktion und Verarbeitu~tg von Lebensereig~iissen 115 i Y .- I I f Jac i ,= 2 2 % C E * P U -r a G ,. C% E ; Y 222 es$ ~ ~ C X X m w w c t. 2.2 L,, 5 U 2 . O - 4 ,, y 'a ' t$ ;4 X ' -~ .O .5 .5 U .:C Yp": .z ; r ' I 2 2 2 8 ~ " - .. u u ,.so E 3 , G 5 2:gg s a j j ;jss;2 .- XQS- E W ~ ~ ~ &J= 3x;';se g s, a a u Y E " J .L: >%;aZ = p w o - > > .- .- 1 .- .- Y , tgj 5; a .- # ' P B - - 1 ' a m n U W - TZT - z i 7 - Tabelle 3: Die Verlierer Fall-Nr. Alters- Geschlecht Jah r des A t Soziale Schicht, [a] ~ re ign i sve rke t tungen~ Persönliche Antizipation des VUPPe historischen Bildung b Commitments Ereignisses Ereignisses (a) Beschäftigung vor (Bindungen) (a) konditionelles Ereignis = historischem Ereignis (C) strukturelle Chancen von außen an die Biografie (b) Beschäftigung herangetragenes Ereignis nach dem historischen (b) intentionales Ereignis = Ereignis von der Person selbst gesteu- erte Ereignisstruktur 11319 1932 weiblich 1961 29 Unterschicht Hauptschule ( 4 Lehre a Verkäuferin b] Kellnerin 21321 1920 männlich 1952 32 Unterschicht (a) negativ nach Hauptschule dem Ereignis Lehre als Elektriker (b) positive Bindung a Chefbeleuchter an die Familie b) Technischer Ober- (C) negativ leiter am Theater mit Zeitvereö e rung von 10 gahren 31338 1915 weiblich 1950 35 Unterschicht Gymnasium terin Lehre als Sameneiich- (C) negativ a Sameneiichterin b] un~e le rn te B"rotä- tigkeit 41310 1916 weiblich 1955 39 Unterschicht (a) negative Ver- Hauptschule kettungen ( 4 ohne Lehre (b) Bindungen und Ver- a ungelernt. Arbeiter pflichtungen an b) ungelernt. Arbeiter die F'amibe (C) negativ männlich 1961 46 Oberschicht Universitätsabschl. a) Orchesterchef, Fernsehregisseur b) ungelernte Tätig- keiten in der Gastronomie [E] ;o.iale Bindung an die Arbeit (C) negativ männlich 1961 47 Unterschicht Hauptschule Lehre a) Manager in der pharmazeuti- schen Industrie b) arbeitslos, Tod 1967 71325 1909 männlich 1958 (a) negative Verkettun- (a) gen in der Familie starke Bindung an (b) die Arbeit (C) negativ Mittelschicht Hochschulabschluß [i] i tarke Bindung a) Orchesterchef und an die Arbeit Chorleiter (C) negativ b) Chorleiter mit wenig Einkommen; 10 Jahre später: eigene Chorgrundung h 0 ..., 5 5 81320 1910 weiblich 1961 Mittelschicht (a) positive Verket- Hauptschule tungen mit der keine Lehre Familie a) un elernte (b) Bindungen an die ~ ä f e r i n Familie b) Putzfrau. Alten- (C) neuativ 5. 91316 1903 männlich 1955 52 Mittelschicht (a) ......( b) Lehre 2 -. a Beamter bis 1945 L, b] 1941-1955 Hotel- L, CD Pförtner (131er) 3 1965 Beamter - 0 = 42,2 Jahre 1 Ereignisverkettungen bedeuten in der Regel eine sukeessive Einschränkung von Handlungsmöglichkeiten, insbesondere dann, weiin die Verkettungen in oder mit verschiedenen Lebensbereichen vorliegen Ci r -4 118 Erika Hoeriiing Herr Kladow wird 1934 aus der Schule entlassen und absolviert eine Lehre als Elektriker, die er 1938 beendet. 1940 wird er zur Wehrmacht eingezo- gen; 1942 verwundet und 1943 als schwerkriegsbeschädigt aus der Wehr- macht entlassen. Er wird umgeschult als technischer Zeichner und dienst- verpflichtet bis 1945. 1944 heiratet er. Sein Sohn wird 1944 geboren. Wäh- rend der letzten Kriegstage stirbt sein einjähriger Sohn, 1946 stirbt seine Frau an Magenkrebs. Nach der Kapitulation 1945 bekommt er Arbeit an einem Revuetheater im Ostsektor Berlins. Dort arbeitet er als Elektromonteur und Beleuchter. 1947 wird er zum Oberbeleuchter ernannt, 1950 macht er seine Meisterprüfung und wird Chefbeleuchter. 1948 heiratet er zum zweiten Mal. 1953 erhält er in diesem Theater überraschend eine politische Kündigung. Als Kündigungsgründe werden die Aufrüstungspolitik Adenauers und die westlichen Angriffe auf die DDR-Politik genannt. Er ist nur einer in einer Massenkündigungswelle, die an Theatern, Kliniken, in der Schwerindustrie, in Verlagen im Ostsektor Berlins gegen West-Berliner Grenzgänger stattfin- den. 1954 wird eine Tochter geboren. 1952-1955 ist er arbeitslos und hält die Familie mit Gelegenheitsjobs an westdeutschen Theatern über Wasser. Die Familie und er leiden unter den Trennungen und unter Geldnot. 1955 erhält er in Westdeutschland eine feste Anstellung, die Familie siedelt um. "...wir nzußten dafür bluten, uizs hat keiner geholfeii. Latigsam biii ich wie- der auf die Beine gefallen, aber unz eiii Jahrzehnt hat niich das in nieiiiei. Laufbahrz - und auch alle anderew, die Fuß ge faß t habeil - zririickgeworferi. Ich war hier zuletzt Iiispektor utid wfire atz diesenz Theater, das war 1952, saget1 wir nzindesteris 1960, da iviire ich techriischer D~rehtor gewesen. Und das habe ich also alles erst zehii Jahre spiiter erreicht ... Uizd anz nzeisterz hat nzeiiie Frau unter der ganzer1 Sache gelitten. Seit 1952 hat sre Migrälie, hat sie's a m Magert, eigentlich war sie darzach izie rrchtrg gesutid, auch heute tiicht /1933-1937/." Betrachten wir nun die Berufskarrieren derjenigen etwas näher, die auf- grund negativer struktureller Ressourcen zu Verlierern wurden. - Bestimmte Karrieren wurden auf dem West-Berliner Arbeitsmarkt nicht mehr fortgesetzt. Diesen Karrieren war entweder durch die politische Teilung ihre Existenzmöglichkeit entzogen worden (2.B. Gartenbauberufe (3/338), Feinindustrie), oder aus politischen Gründen war zu diesem Zeitpunkt eine Fortsetzung nicht opportun (künstlerische Berufe, Büh- nenpersonal (3/321)). - Andere Betroffene mündeten mit einer Berufsbiografie ein, deren Wei- terverwertung durch politische Neuorientierungen nicht mehr möglich war (61301; 61316). Der sogenannte Selfmademan hatte insbesondere in Biografische Koilstruktion und Verarbeitung von Leberisereignissen 119 der Wiederaufbauphase die Mdglichkeit, mit ldeeni-eichtum, Tatkraft und Einfühlungsvermögen in der 'freien' Marktwirtschaft gelegentlich hervorragende Positionen zu erreichen. In der zweiten Hälfte der fürifzi- ger Jahre traten erhebliche Veränderungen ein: nicht mehr nur der Lei- stungsnachweis in einem beruflichen Feld war für die Weiterveiwendung ausschlaggebend, sondetn die 'erworbenen' Zertifikate (Bildungs- und Berufsabschlüsse) traten mehr und mehr ins Gesichtsfeld. - Eine dritte Gruppe stellen die deutsch-deutschen Emigrantenkarrieken dar. Ich spreche hier nicht von der Integration des ersren großen Flücht- lingsstroms aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten in die Bundesre- publik Deutschland, sondern von meiner Untersuchungsgruppe: Grenz- gänger/innen, die täglich zwischen zwei deutschen Staaten hin- und her- pendelten. Ihr Überwiegendes Lebensgefühl war westlich geprägt, aber ihre Arbeitsplätze lagen in einem anderen Land, entweder weil sie vor Ort keine Arbeit fanden oder aber weil sie persönliche Biiidungen an ihre Arbeitsplätze hatten. Die Bindung an die Arbeitsplätze, die Arbeit im anderen 'deutschen' Staat wurde von vielen auch als politische Mis- sion verstanden, als Kampf hinter den feindlichen Linien für eine Wie- dervereinigung. Diesen Selbstdefinitionen, die auf der öffentlichen Ebene durch die West-Berliner Bürgerinitiative des 'Vereins der Lohn- umtauschberechtigten e.V.' verbreitet wurden, wurde auf der politischen Ebene nicht widersprochen. Als die Betroffenen nach den Kündigungen ihrer Arbeitsplätze im Ostteil der Stadt Ansprüche auf abgemessene Ar- beitsplätze im Westen stellten und in Einzel- beziehungsweise Verbands- aktionen dieses Anliegen den politischen Instanzen vortrugen, mußten sie feststellen, daß sie plötzlich Emigranten im eigenen Land Waren, denn es war weder Vorsorge für eine Integration getroffen worden noch wurde ihnen in Aussicht gestellt, ihre Belange - die Fortsetzung ihrer berufli- chen Karrieren - besonders zu forcieren. Sie mußten feststellen, daß ihre beruflichen Qualifikationen und ihre politischen Erfahrungen aus ihren Arbeitsverhältnissen im 'anderen' Deutschland für ein 'Einklinken' in 'Westkarrieren' obsolet war und daß ihre Arbeit im 'Osten' su~5tzlicR noch mit dem Stigma 'für den Osten' versehen wurde (2.B. künstlerisches Fachpersonal; medizinisches Fachpersonal; Medienfachatbeiter (2/321; 5/304; 7/325; 91316). Diese drei Interpretationen vermischen sich auch in den einzelnen Biogra- fien. R e s ü m e e: Die jüngste Gruppe bilden die Gewinner mit einem durch- schnittlichen Lebensalter zum Zeitpunkt des Ereignisses von 29,7 Jahren, jedoch sollte diese Aussage nicht zu der Behauptung führen, daß das Le- bensalter und die Chancen, einen strukturellen Konflikt für sich positiv zu entscheiden, in einem engen Zusammenhang Stehen. Betrachtet man nYm- lich die Streuung innerhalb der Tabellen, so zeigt sich, daß die Lebensalter 120 Erika Hoerning Biografische Konstruk!iot~ und Verarbeitung von Leberlsereignissen 121 innerhalb der drei Kategorien nur geringfügig voneinander abweichen; auch variieren innerhalb der einzelnen Zuordnungen die Variablen 'Soziale Schicht', 'schulische und berufliche Ausbildung', 'Beschaftigungsverhältnis- se vor und nach dem Ereignis', so daß sie nur eine geringfugige Erklä- rungskraft besitzen. Aus diesen drei Verlaufsmustern wurden in einem weiteren Schritt Personen mit nahezu identischem sozialen Hintergrund (Lebensalter, soziale Schicht, schulische und berufliche Bildung - 41324; 51334; 2/321 -) ausgewählt und 'ihre' Interpretationen struktureller Chan- cen zum Zeitpunkt des Ereignisses mit denen von Experten, mit der Ar- beitsmarktstatistik und mit Stellenangeboten in Zeitungen verglichen. Un- sere Frage war: Warum interpretieren Befragte mit nahezu identischem so- zialstatistischen Hintergrund historische Ereignisse und Chancenstrukturen unterschiedlich? Erst die biografischen Ereignisverkettungen und die Commitments der Befragten zum Zeitpunkt des Ereignisses erhellten die Interpretationen und Handlungsstrategien der Befragten. 5. Diskussion Untersuchungsgegenstand dieser Studie sind die Wechselwirkungen zwi- schen historischen Ereignissen und den Ausformungen beziehungsweise Konsequenzen für biografische Verhufe. Folgende Fragen wurden gestelR: (1) Wie beeinflussen lebensgeschichtliche Erfahrungen als biografische Ressourcen die Interpretation des historischen Ereignisses? (2) Wie verläuft der Prozeß der Revitalisierung und Aktualisierung lebensgeschichtlicher Ressourcen? Soziale Herkunft, schulische und berufliche Ausbildung und Werdegänge, Lebensalter, Geschlecht und andere 'harte' Sozialdaten als ein Teil der bio- grafischen Ressourcen allein reichen nicht aus, um die positive oder nega- tive Bewältigung und die Langzeitwirkung eines historischen Eingriffs auf den biografischen Verlauf zu erklären. Erst die Auffächerung nach bio- grafischen Ereignisverkettungen und die Untersuchung der biografischen Commitments zum Zeitpunkt des Ereignisses als lebensgeschichtliche Er- fahrungen machen die biografische Interpretation der sozial-strukturellen Vorgaben und die Wahl des Bewältigungsmusters verständlich. Das bedeutet aber nicht, wir würden davon ausgehen, daß biografische Handlungsstrategien ausschließlich im Ermessen des Individuums liegen, sondern, wie wir gezeigt haben, erfordern strukturelle Veränderungen 'Einpassungsleistungen', d.h. Um- oder Neuorientierungen, die häufig aus den unterschiedlichsten Gründen nicht vollziehbar sind. Die Revitalisierung und Aktualisierung von biografischen Ressourcen zum Zeitpunkt des Er- eignisses allein reichen nicht aus, um sich in neue Strukturen einzupassen, besonders dann nicht, wenn die biografischen Ressourcen obsolet geworden sind. Vergleicht man die gefundenen Verlaufsmuster der kontinuierlichen Ver- läufe, der Verlierer und der Gewinner, so zeigt sich, daß die positive Verzahnung historischer und biografischer Verlaufe einen Sonderfall dar- stellen. Dieser Sonderfall tritt dann ein, wenn die biografischen Ressourcen (Sozialdaten, Ereignis~erkettungen und Commitments) so interpretiert und eingesetzt werden körnen, daß das historische konditionelle Ereignis in ein intentionales Ereignis als Handlungsmuster umgewandelt werden kann. Dann gelingt es dem Endividuum, sich in die gewandelten sozialen Struk- turen einzupassen, häufig um den Preis der vorübergehenden und dauer- haften Aufgabe einer biografischen Identität. Literatur ANGELL, R.C. (1965): The Family Encounters the Depression. Gloucester, Mass. BECKER, H.S. (1979): "Personal Change in Adult Life". In: Sociometry, 27, 1964, teilweise Übersetzung in: GRIESE, H. M. (Hg.) (1979): Sozialisa- tion im Erwachsenenalter. Weinheim, S. 5 1 -62. BENEDICT, R. (1978): "Kontinuitat und Diskontinuität im Sozialisa- tionprozeß". In: KOHLI, M. (Hg.): Soziologie des Lebenslaufs. Darm- stadt, Neuwied, S. 195-205 (Continuities and Discontinuities in Cultural Conditioning. In: Psychiatry, 1, 1938, S. 161 - 167). BERGER, P. L. und LUCKMANN, T. (1966): Die gesellschaftliche Kon- struktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankf urt/M. BRIM, 0. G. Jr. und RYFF, C. D. (1980): "On the Properties of Life Events". In: BALTES, P. B. und BRIM. O.G. Jr. (Hg.): Life-Span Development and Behavior. Bd. 111. New York, S. 367-388. BUDE, H. (1984): Lebenskonstruktionen haben ihre Zeit. Referat gehalten auf dem Symposium: Lebensgeschichten, Arbeit, Kultur, Erfahrung. Nürnberg, 5.-7. Juli. COLES, R. (1967): Children of Crisis. Boston, Toronto. ELDER, G. H., Jr. (1974): Children of tlie Great Depression. Chicago, London. ELDER, G. H., Jr. und LIKER, J. K . (1982): "Hard Times in Women's Lives: Historical Influences Across Forty Years". In: American Jornal of Sociology I, 8, S. 241-269. 122 Erika Hoernirlg PETSCHULL, J. (198 1): Die Mauer. August 1961. Zwölf Tage zwischen Krieg und Frieden. Hamburg. WISSEWSCH~AETSSPRACHE UND LERNEN: SYMBOLISIERUNG UND DESYMBOLISIERUNG ALS WISSENSCHAFTSDIDAKTISCHES PROBLEM Klaus Heipcke 1. Zum Verhältnis von Sprache und Wissenschaftssprache In seiner "Einführung in die Sprachphilosophien beginnt Heintel mit dem 1 Hinweis darauf, daß die Frage, was es mit der Sprache und mit der Spra- I che im wissenschaftlichen Gebrauch auf sich habe, zu den zentralen Fragen der Philosophie und Wissenschaftstheorie dieses Jahrhunderts zählt (HeinteI 1975, S. 7). Mir geht es an dieser Stelle jedoch nicht darum, in eine er- neute Erörterung dieser Frage einzutreten und den Versuch zu unterneh- men, Wissenschaftssprache zu analysieren und Regeln ihrer Konstitution i und ihres Gebrauchs vorzuschlagen. Die Ergebnisse solcher Versuche wer- I den hier vorausgesetzt und dort, wo es sinnvoll ist, beispielhaft herangezo- gen. I Worum es hier geht, ist vielmehr die Frage, welche Rolle Sprache und Wissenschaftssprache für das Lernen wissenschaftlicher Inhalte und Metho- den spielen. Gegenstand dieser Überlegung ist also das Verhältnis der Sprache der Lernenden und Lehrenden zur Sprache der Wissenschaft, wie sie ihren Ausdruck in Lehrbüchern, Lehrveranstaltungen, wissenschaftli- chen Erörterungen, Diskussionen und Arbeitsprozessen findet. Wie ist die- ses Verhältnis, welches von Wagenschein als recht spannungsreich beschrie- ben wird (Wagenschein 1973), geartet, und wie beeinflußt es das Lernen wissenschaftlicher Inhalte und Methoden sowie das Bewußtsein und die Handlungsmöglichkeiten der Lernenden? 124 Klaus Heipcke Ohne den Anspruch zu erheben, auf diese Frage eine vollständige und de- finitive Antwort geben zu können, möchte ich im folgenden doch die Vermutung erhärten, daß im Lernen wissenschaftlicher Inhalte und Metho- den nicht nur etwas auf der Seite des Lernenden neu entsteht oder gebildet wird, etwa im Sinne des von Piaget beschriebenen Aufbaus komplexer kognitiver Strukturen (Piaget 1975), daß der Lernende gleichsam am Ende mehr weiß und mehr kann, sondern, daß darin auch etwas auf seiten des Lernenden verlorengeht oder zerfällt, er gleichsam am Ende auch etwas weniger weiß und kann. Das aber hieße, daß mit der Wissenschaftssprache nicht nur etwas gewonnen würde, sondern daß mit ihr auch etwas verlo- renginge. Was ist das, was mit der Wissenschaftsprache gewonnen wird, und was ist das, was mit ihr verlorengeht? Es sind vermutlich Moglichkeiten des Welt- verständnisses und des in der Welt Handelnkönnens, also Möglichkeiten des Weltverhältnisses. Und darin liegt das wissenschaftsdidaktische Problem: diese Gewinn- und Verlustrechnung genauer zu spezifizieren und auf ihre Bedeutung für die Lernenden hin zu prüfen. Bevor ich hier versuche, das Verhältnis von Sprache und Wissenschafts- sprache und das damit verbundene Problem von Gewinn und Verlust von Möglichkeiten des Weltverhältnisses durch Lernen wissenschaftlicher In- halte und Methoden genauer zu charakterisieren, möchte ich noch einige Voraussetzungen vorweg klären. Es war wiederholt die Rede von der Sprache der Wissenschaft oder auch von der Wissenschaftssprache. Aber ist diese Redeweise überhaupt sinn- voll? Gibt es nicht verschiedene Wissenschaften mit verschiedenen Spra- chen, welche, wenn überhaupt, nur Unwesentliches gemeinsam haben? Was wäre unter der Sprache dieser oder jeder Wissenschaft zu verstehen? Ge- setzt den Fall aber, wir wüßten, was die Sprache dieser oder jener Wissen- schaft, 2.B. die Sprache der Physik, sei, mit welchem Recht könnten wir dann von der Sprache der Wissenschaft reden? Gibt es überhaupt die eine Sprache der Wissenschaft? Was berechtigt uns dazu, von der Wissen- schaftssprache als etwas Gegebenem und in der Aneignung wissenschaftli- cher Inhalte und Methoden Erlernbarem zu reden? Die Frage, ob es sinnvoll und gerechtfertigt ist, von der Sprache der Wis- senschaft zu reden, muß beim gegenwärtigen Stand unseres Wissens und der Entwicklung der Wissenschaften sicher offenbleiben. Dennoch möchte ich hier einige Argumente dafür anführen, weshalb ich es als sinnvoll und gerechtfertigt ansehe, von der Sprache der Wissenschaft zu sprechen. Die Wissenschaftssprachen - zumindest jene, welche als Instrumente der Natur- und Weltbeherrschung ihre Wirksamkeit unter Beweis gestellt haben - bestehen, wie man gemeinhin zu sagen pflegt, aus Systemen von Termen TYissenscha f tssprache und Lernen 125 I (definierten Ausdrücken, eindeutig festgelegten Zeichen), aus Verknüp- fungsregeln für diese Terme und den aus ihnen gebildeten Aussagen, aus Schluß- und Ableitungsregeln sowie aus ÜberPrüfungsverfahren. Die all- gemeinen Bestimmungsmomente für Sprache, welche uns die Sprachwis- senschaft an die Hand gibt, dürften diesen Systemen zukommen. Ohne Zweifel ist die "Sprache der Physik" eine eingeschränkte Sprache, eben eine Fachsprache; aber es scheint plausibel, von der Sprache der Physik zu re- den. Allein die Tatsache, daß einzelne Disziplinen ihre sogenannte Fachsprache haben, durfte jedoch noch nicht hinreichen, von der einen Sprache der Wissenschaft mit Recht zu reden. Abgesehen davon, daß für eine Reihe von Disziplinen kaum von einer strengen ausgebildeten Fachsprache ge- sprochen werden kann, bedürfte es auch eines einigenden Prinzips. Meist wird dies darin gesucht, daß den einzelnen Fachsprachen bestimmte ge- meinsame Strukturen zugesprochen werden. Aber auch eine solche Ähn- lichkeit wissenschaftlicher Fachsprachen berechtigt noch nicht, von der Wissenschaftssprache im Singular zu reden. Sie berechtigte höchstens dazu, von einer einheitlichen Struktur, also von einer Ähnlichkeit der Wissen- schaftssprachen, zu reden. Wenn also das einigende Prinzip, welches uns berechtigt, von der Wissenschaftssprache zu reden, mehr sein muß als die gemeinsame Struktur der ansonsten inhaltlich verschiedenen Wissenschafts- sprachen, dann müssen wir nach jenem Prinzip suchen, welches die Wis- senschaften einer inhaltlichen und methodischen Vereinheitlichung unter- wirft. Hinsichtlich der Wissenschaftssprachen hieße dies, über Ähnlichkei- ten hinaus nach obersetzungsregeln zu suchen, welche die Terme der einen Wissenschaftssprache auf die der anderen zurückzuführen gestatten. Und in der Tat scheint es so etwas zu geben. Ich möchte es hier mit allem Vorbe- halt das Prinzip der "Reduktion" (des Komplexen auf das Einfache) nen- nen. Dieses gemeinsame Moment wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse, die "Reduktion", scheint praktisch so etwas zu bewirken wie das, was in den zwanziger Jahren in der Wissenschaftstheorie mit dem Programm des Phy- I sikalismus oder der Einheitswissenschaft (siehe hierzu Stegmüller 1960, S. 395-397) verfolgt wurde. Die Wissenschaften wachsen heute inhaltlich und methodisch in einem Maße zusammen - Bezeichnungen wie Biochemie, physikalische Chemie u.a. und die große Bedeutung interdisziplinärer For- 1 schungsansätze belegen dies -, wie es sich die Vertreter der Programme des Physikalismus und der Einheitswissenschaft wohl kaum haben träumen 1 lassen. Richtung und Wirkung dieses vereinheitlichenden Prinzips sind als I vorherrschendes Moment im Prozeß wissenschaftlicher Erkenntnis so un- ~ übersehbar, dnß mir die Rede von der einen einigenden Wissenschafts- 1 sprache gerechtfertigt erscheint. Damit erhebt sich jedoch die Frage, was wir mit Sprache meinen, wenn wir fragen, welche Bedeutung das Verhnltnis von Sprache und Wissen- ! schaftssprache für das Lernen wissenschaftlicher Inhalte und Methoden hat. I 126 Klaus Heipcke Die gängige Vorstellung ist die, daß die Umgangssprache die dem Men- schen eigene und angemessene Sprache sei, und die wissenschaftlichen Fachsprachen bzw. die Wissenschaftssprache künstliche Schöpfungen des Menschen seien. Mir scheinen diese und ähnliche Auffassungen, in denen Umgangs- und Wissenschaftssprache einander entgegengesetzt werden, pro- blematisch zu sein. Denn erstens schließen Umgangssprache (oft auch mit Alltagssprache gleichgesetzt) und Wissenschaftssprache einander vermutlich nicht aus. Der Wissenschaftsbetrieb und die Kommunikation der Wissen- schaftler sind weitestgehend auf die Umgangssprache angewiesen, und die Alltagssprache ist weitgehend mit "Trümmern" der Wissenschaftssprache durchsetzt. Darüber hinaus vermute ich, daß Wissenschafts- und Alltags- sprache komplementäre Ergebnisse einer Entwicklung sind, an der die Wissenschaft maßgeblichen Anteil hat. Wissenschafts- und Umgangssprache sind komplementäre Ergebnisse eines Sprachspaltungsprozesses, an dem die Wissenschaft maßgeblich beteiligt ist. Als diese komplementären Ergebnisse bleiben sie wechselseitig aufeinander verwiesen und angewiesen. In diesem Prozeß komplementärer Aufspaltung von Wissenschafts- und Umgangs- bqw. Alltagssprache ist der Gewinn der Wissenschaftssprache ihre Präzision und Intersubjektivität, d.h. ihre Eindeutigkeit, die allge- meine Verläßlichkeit und die verständliche Mitteilbarkeit ihrer Ergebnisse. Was der Umgangssprache als Alltagssprache bleibt, ist das Regionale, Lo- kale oder Private. Jene Verständigungen und Handlungsregulierungen, welche noch nicht wissenschaftlich-technisch beherrscht werden können, bedürfen noch der Alltagssprache. Aber diese Alltagssprache saugt selbst die Elemente der Wissenschaftssprache in sich auf: Wörter, Strukturen, Denkformen etc. Sie nimmt diese jedoch nur bruchstückhaft und zwar nach Maßgabe der Beschränktheit des Privaten in sich auf, also insbeson- dere ohne die fü r die Wissenschaftssprache so wichtige Systematik und Universalität, d.h. ohne die Berücksichtigung jener Kriterien, welche für die universelle Geltung der wissenschaftlichen Aussagen erforderlich sind. Die Alltagssprache nimmt Elemente der Wissenschaftssprache bruchstück- haft, das heißt hier unter der Bedingung der Ausblendung der über das Private hinausgehenden Geltungsansprüche, auf. Diesen Doppelcharakter der Alltagssprache, sich mit den Bruchstücken ihres Komplements, der Wissenschaftssprache, vollzusaugen und sie gleichzeitig zu privatisieren, kommt einer verbergenden Vorbereitung auf die wissenschaftlich-technische Verhaltensregulierung durch die technische Umsetzung wi~senschaftlicher Erkenntnisse gleich. Bezüglich der Hoff- nung, die Alltags- und Umgangssprache als Ort des Sprachwiderstands ge- gen das aus der Wissenschaft und Technik auf uns Zukommende ins Feld führen zu können, möchte ich daher hier meinen Zweifel anmelden. Es könnte sich genau umgekehrt verhalten, daß n9mlich die Alltagssprache eher dazu beiträgt, uns wahrnehmungs- und kritikunfähig zu machen. All- tagssprache ist nicht unmittelbar, und die Differenzierung, um die es hier IVisseizscha f tssprache und Lerizeiq 127 geht, nämlich die Differenz von Wissenschaftssprache und Sprache, ist eine andere. Das in der Wissenschaftssprache Verlorengegangene, dem es hier nachzuspüren gilt, ist nicht das in der Alltags- oder Umgangssprache Auf- bewahrte, jedenfalls ist es dies nicht unmittelbar. 2. Die Flüchtigkeit des Objekts "Wissenschaftssprache". Das Problem einer adäquaten Bestimmung der Wissenschaftssprache Was liegt näher, als zur Beantwortung der Frage nach der Sprache der Wis- senschaft die Wissenschaft von der Sprache zu befragen. Ohne den An- spruch auf Vollständigkeit zu erheben, sei hier versucht, ausgehend von der strukturalistischen Sprachtheorie ein erstes und vorläufiges Verständnis von Wissenschaftssprache zu entwickeln, wobei sich freilich zeigen wird, daß gerade das problematische Verhältnis von Wissenschaftssprache und Sprachwissenschaft letztendlich jeden Bestimmungsversuch zu sprengen scheint. Die Sprachwissenschaft, so wie sie von Saussure begründet wurde, unter- sucht hier unter anderem die Struktur der Wörter als Zeichen. Ausgehend von der Unterscheidung zwischen "Langage" (der Sprache im weitesten Sinne, einschließlich ihrer geschichtlichen Gestalten und historischen Ent- wicklung), "Langue" (der Sprache als eines geschlossenen Zeichensystems zu einer gegebenen Zeit) und der "Parole" als aktuell gesprochener Sprache, konzentriert sich Sprachwissenschaft gerade um der Einheit des Systems und der eindeutigen Bestimmbarkeit ihres Gegenstands willen auf die Langue, die Sprache als Zeichensystem. Was hat es dabei nun mit den Zeichen auf sich? Die Wörter, 2.B. als Zei- chen, werden im Sinne dieser Sprachwissenschaft nicht als Verbindung ei- nes Dinges mit seinem Namen, d.h. als sprachliche Repräsentation des Din- ges, sondern als "Verbindung eines bestimmten Lautes mit einem bestimm- ten Begriff" (Benveniste 1974, S. 107) betrachtet. Statt vom Begriff können wir dabei auch vom begrifflichen Inhalt, von der Vorstellung oder vom Gedanken sprechen; die Sprachwissenschaft verwendet um der größeren Eindeutigkeit und um der Präzision willen die Bezeichnungen "Signifikant (signifiant) und Signifikat (signifie)". Das Zeichen besteht somit BUS dem Zusammenhang von Signifikant und Signifikat, was sich schematisch auch wie folgt darstellen läßt: Signifikat } Zeichen Signifikant 128 Klaus Heipcke Mit diesen Zeichen hat es nun seine besondere Bewandtnis. Sie lassen sich nicht als substantielle, d.h. im System der Sprache vorgängige Einheiten bestimmen. Im Gegenteil, sie bestimmen sich erst durch ihren Unterschied zu den anderen Zeichen des Systems. Diese Differenzen zu den restlichen Zeichen des Systems sind es, mit denen die Sprache gleichsam auf jene Stelle verweist, welche das in Frage stehende Zeichen bestimmt. Das Sy- stem erzeugt die Werte (valeurs), durch welche das Zeichen erst bestimmt ist; "ihre genaueste Eigenschaft liegt darin, etwas zu sein, was die anderen nicht sind." (Saussure 1967, S. 140). Die Zeichen als Einheiten des Systems der Sprache sind also differenziell bestimmt, und dies gilt für beide Be- reiche, den der Signifikanten und den der Signifikate. Umgekehrt gilt jedoch auch bezüglich der Konstitution der sprachlichen Zeichen auf den unterschiedlichen Ebenen der Sätze, Worter und Phoneme, da8 die Frage, auf welcher dieser Ebenen ein Zeichen als Einheit angesie- delt ist, nur durch die Feststellung, auf welcher Ebene es eine integrie- rende Funktion hat, welche wir dann Bedeutung nennen, entschieden wer- den kann. Die Bedeutung eines Wortes wird damit als die Kapazität be- stimmt, mit anderen Wörtern zu Sätzen zusammengefaßt werden zu können. Wir sehen bereits an dieser Stelle, daß die Wörter in ihrer Bedeutung nicht ohne Rekurs auf die übergeordnete Einheit des Satzes als Medium der Verständigung (über Tatsachen) begriffen werden können. Dennoch bleibt zunächst festzustellen, daß das Prinzip der Differenz als das der sprachli- chen Artikulation vor dem der Integration Vorrang hat. Eine weitere wesentliche Eigenschaft des Zeichens in diesem Sinne ist die, daß der Zusammenhang von Laut und Begriff, von Signifikant und Signi- fikat im engeren Sinne arbiträr ist, so als habe man es hier mit gleichsam selbständigen Entitäten oder Bereichen von Objekten zu tun, zwischen denen erst nachträglich eine Beziehung herzustellen wäre. Die Sprachtheo- rie als Theorie des Systems der Langue liefert keine Erklärung bezüglich des Zusammenhangs von Signifikant und Signifikat, und diese Frage ist auch nicht Gegenstand der Sprachtheorie. Das heißt jedoch nicht, daß es überhaupt keine Entsprechung der Zuordnung der Signifikanten und der Ordnung der Signifikate gibt. Im Gegenteil; nach Saussure besteht ein Parallelismus der differenziellen Ordnung beider Bereiche, welcher darin begründet ist, daß Sprache der Verständigung (über Tatsachen) dient, was voraussetzt, daß mittels der sprachlichen Zeichen und Zeichenverknüpfun- gen die Gedanken der sich Verständigenden verstandlich ausgedrückt wer- den können. "Im übrigen allein die Tatsache, daß ein sprachlicher Komplex verstanden wird, zeigt, daß diese Reihe von Termen der adäquate Aus- druck der Gedanken ist." (Saussure 1967, S. 165). Dieser im engeren Sinne arbiträre Zusammenhang des Zeichens, von Signi- fikant und Signifikat, ist also bei weitem kein beliebiger. Die Einheit des Zeichens ist in der Einheit dessen, was es bezeichnet, und damit außerhalb i f TYisserrscha f tssprache und Lernen 129 des Systems der Langue und seiner Beschreibung selbst in der "Tatsache" begründet. Diese Behauptung mag zunächst verwundern, denken wir uns doch Tatsachen als etwas Isoliertes und Abgestorbenes. Hatten wir nicht auch weiter oben gesagt, das Wort/Zeichen verweise auf den Satz als Ein- heit des Diskurses? Wäre dann nicht das kommunikative Handeln und die Kommunikationssituation letztlich jener einheitliche Vorgang, in dem sich auch Zeichen als Einheit von Signifikant und Signifikat herausbilden? An diesem Hinweis auf das kommunikative Handeln und die Kommunika- tionssituation ist etwas Richtiges, und dennoch steckt darin auch eine un- nötige Beschränkung. Gehen wir nochmals an den Ausgangspunkt zurück. Die Tatsache, das ist im Alltagsverständnis etwas Unumstößliches, Be- stimmtes, Unwandelbares und Distinktes, an dem kein Wenn und Aber vorbeizuführen scheint. Aber dieses Verständnis könnte selbst schon Pro- dukt einer durch die Wissenschaftssprache mitgetragenen Entwicklung sein, die es hier vielleicht in Frage zu stellen gälte. Im Wort Tat-sache (vermutlich im 18. Jahrhundert dem Englischen "matter of fact" nachgebildet) werden zwei Wörter miteinander verbunden: Tat und Sache. Damit bezeichnet das Wort Sache ursprünglich den Rechtshandel, den Rechtsstreit, woran auch noch die Wörter Sachwalter, Widersacher, in Sachen A gegen B etc. erinnern. Ähnlich verhält es sich mit dem französi- schen Wort "chose" (das seinen Niederschlag sogar im Deutschen als die "Schose" gefunden hat), welches von lateinisch "causa", die Streitsache, die Rechtssache, der Streitpunkt, Anlaß, Grund, Thema und Interesse her- kommt. Das andere Wort "Tat" bezeichnet das Tun, das verursachende Handeln, und zwar als Ganzes. Etwas wird durch das Tun hervorgerufen und zur Angelegenheit, die es zu bestreiten gilt, also zur Tatsache. Wesent- lich zur Tatsache gehört das Bewirken oder Hervorbringen und das ge- meinsame Bestreiten der Angelegenheit, also die Verständigung als Ge- samtvorgang. Es spricht nicht für unseren Sprachsinn, wenn wir in der Tatsache den bloßen Gegenstand, das factum brutum sehen. Die Tatsache ist die im Tun veranlaßte Angelegenheit gemeinsamer Bestreitung, dasje- nige, was getan, hervorgebracht zur Aufgabe der Verständigung aller wird. Und in dieser so verstandenen Tatsache liegt die Einheit des Sprachzei- chens begründet (s. auch Ricoeur 1973, S. 106 ff). Sie mag in systemati- scher Hinsicht arbiträr sein; als in gemeinsamer Tätigung und Verständi- gung erworbene und erlernte ist diese Einheit des Zeichens jedoch nicht beliebig. An dieser Stelle wird jedoch unsere Angelegenheit, die selbst getätigte und zum Gegenstand gemeinsamen Interesses gewordene Sprache der Wissen- schaft, erst recht verwickelt, ganz entgegen dem Eindruck, man hätte nun mit dem Hinweis auf die "Tatsache" wissenschaftlicher Arbeit und Er- kenntnis die Einheit des Zeichens, des wissenschaftlichen Wortes, und da- mit seine Bedeutung als unproblen~atische gerettet. Denn das in der Spra- che sich artikulierende wissenschaftliche Nachdenken über Sprache, und F- 130 KIaus Heipcke zwar über die Sprache der Wissenschaft selbst, bringt sich hier als Gegen- stand erst mit hervor. Damit scheint sich das Objekt der Betrachtung in gewisser Weise sich selbst, d.h. der Betrachtung, zu entziehen, und es steht zu befürchten, daß die Sprache der Wissenschaft sich durch eine Beschrei- bung, welche, auf intersubjektive Verständigung abzielend, sich sprachli- cher Mittel bedienen muß, nicht begreifen läßt. Die Beobachtung, daß Sprache als Differenz die Unterscheidung des Zei- chens nach Signifikant und Signifikat erst hervorbringt und daß deshalb die differentielle Artikulation durch Sprache am Ende auch jeden Versuch der Beschreibung und Bestimmung von Sprache selbst erfaßt, was gleich- sam als Entzug des (wissenschaftlichen) Objekts "Sprache" erfahrbar wird, bildet offenbar, folgt man Weber, den Kern der Kritik Lacans an Saussure: "... Das Zeichen als binärer Gegensatz von Signifikanten und Signifikat - erscheint als der Effekt eines seiner Teile: des Signifikanten, sofern dieser die Operation der Differenz materialisiert und verwirklicht. Zweitens, ge- rade die Materialität und die Verwirklichung des Signifikanten entziehen sich ständig einer genauen Bestimmung." (Weber 1978, S. 31). Ähnliche Schwierigkeiten findet man in der mathematischen und logischen Grundlagenforschung, hier insbesondere beim Aufbau einer reinen Seman- tik und Syntax. Die dem umgangssprachlichen Gebrauch entsprechende Vernachlässigung der Unterscheidung von Metasprache und Objektsprache führt hier zu folgenreichen logischen Antinomien (siehe auch Stegmüller 1960, S. 417 f.) Andererseits führt auch die zum Beispiel von Tarski (1966) geforderte strikte Unterscheidung zwischen Meta- und Objektsprache zu Schwierigkeiten beim Aufbau einer logischen Semantik und Syntax. Denn in welcher Sprache wäre der Aufbau der Wissenschaftssprache zu leisten und in welcher die Rede von der notwendigen Unterscheidung von Metasprache und Objektsprache zu begründen? Ist dies in der Umgangs- sprache zu leisten? Zumindest weisen diese Schwierigkeiten auf das eine hin, daß die Begründung wissenschaftlichen Sprechens über den Kontext wissenschaftlicher Argumentation hinaus in ein Anderes weist, den For- scher gleichsam an den Anfang seines Denkens zurückführend. 3. Das Problem der Begründung und des Aufbaus von Wissenschafts- sprachen am Beispiel der "logischen Propädeutik" von Kamlah und Lorenzen Von seiten der Logik iind Wissenschaftstheorie gibt es ähnliche Argumen- tationen und Erkenntnisse. Kamlah und Lorenzen formulieren die Aufgabe einer "logischen Propädeutik" als "Vorschule des Denkens" wie folgt: "Wir erinnern uns dran, daß wir eine wissenschaftliche Sprache hatten, der ge- LYissenscha ft.rsprache und Lernen 131 genüber wir uns zur Sprachkritik herausgefordert fanden. Inzwischen ha- ben wir diese traditionelle Sprache gleichsam ausgelöscht und den Neube- ginn versucht. Insbesondere erinnern wir uns an die "Terminologie" wis- senschaftlicher Sprachen und stehen nunmehr vor der Aufgabe, diese wie- der aufzubauen." (Kamlah und Lorenzen 1967, S. 71). Kernstück der wissenschaftlichen Sprache sind Elementaraussagen der Form X E P. Aus ihnen als den Bausteinen können andere Aussagen gebil- det werden, und zwar mittels der logischen Partikel, "gleichsam der Haken und Klammern" (Kamlah und Lorenzen 1967, S. 151). Dabei ist 'P' ein Prädikator; Prädikatoren sind Wörter. "Die Prädikatoren einer wissenschaft- lichen Sprache unterscheiden sich von den Wörtern natürlicher Sprachen nun dadurch, daß sie nicht erst im Kontext der Rede eine bestimmte Be- deutung annehmen, sondern bereits als Elemente der Sprache einer Wis- senschaft (einer 'Terminologie') für stets dieselbe Verwendung vorgesehen sind." (Kamlah und Lorenzen 1967, S. 68). Was ist damit gemeint? Was verstehen Kamlah und Lorenzen unter einem Wort, und was hat es mit der Verwendung von Wörtern in der Wissenschaft auf sich? Wörter sind ihnen zufolge Zeichen. Zeichen geben etwas zu ver- stehen. Zeichen sind Schemata vereinbarter und wiederholbarer Zeige- handlungen. Ein Zeichen zu geben, etwa wenn der Radfahrer den Arm ausstreckt, um einen bevorstehenden Wechsel seiner Fahrtrichtung anzukündigen, ist die aktuelle Zeigehandlung. Die potentielle Zeigehandlung ist das Schema die- ser Handlung beim Herausstrecken. Solcher Schemata bedarf der Mensch zum Handeln, um sein Handeln mit dem der anderen koordinieren zu kön- nen. Denn nach Kamlah und Lorenzen handelt der Mensch, weil er ein be- dürftiges Wesen ist. Viele Handlungen müssen wiederholt werden. Diese Wiederholungen bilden beim Menschen ein Handlungsschema aus, das heißt die Handlung als eine potentielle. Die Menschen müssen gleichsam handeln. Deswegen müssen sie sich über ihr Handeln verständigen. Unter anderem verständigen sie sich auch auf Zeigehandlungen, die immer wieder benötigt werden. Sie bilden so gemeinsam vereinbarte Zeigehandlungsschemata aus, das sind Zeichen. Im Zeichen steckt somit schon eine Abstraktion: Der Übergang von der aktuellen Zeigehandlung zum Zeigehandlungsschema, dem Zeichen. Und dennoch bleibt das Zeichen als Wort immer auf den Zusammenhang des gemeinsamen Handelns, in den die Zeigehandlung eingebettet ist, verwie- sen. Wir können diesen gemeinsamen Handlungszusammenhang Situation nennen oder auch Praxis. Auch Wörter sind Zeichen. "So können wir nun von der Rede sagen: Redend gebrauchen wir vereinbarte, für wiederholte Aktualisierung verfügbare Schemata von Zeigehandlungen oder kurz: Zei- chen, zum Beispiel Wdrter." (Kamlah und Lorenzen 1967, S. 58). Versteh- 132 Klaus Heipcke bar ist die Zeigehandlung, also auch das Wort, weil ihr eine Vereinbarung zugrunde liegt. "Aufgrund dieser allgemein anerkannten Vereinbarung kön- nen und verstehen wir diese Zeigehandlung gemeinsam und richten unser Verhalten danach ein, wenn wir jemanden so handeln sehen." (Kamlah und Lorenzen 1967, S. 58). Der Wort-Laut (entspricht offenbar dem Morphem) oder die Wort-Marke im Schriftlichen ist unmittelbar beziehungsweise mittelbar verbunden mit den Zeichen, das heißt mit den Zeigehandlungsschemata. Der Laut ist die- ses Zeichen, mit dem wir auf etwas weisen oder etwas andeuten, die Wort- Marke steht für das Zeichen. Die Wort-Marke wird so mit dem Zeichen selbst erst durch eine Zeigehandlung verbunden. Es ergibt sich folgendes Schema: Marke Symbol ( Zeigehandlungsschema Der Zusammenhang der Rede (Kontext der "Parole") und der Zusammen- hang der Situation, in der geredet wird, sind zum Verständnis der um- gangssprachlichen Wörter notwendig. "Nun haben aber die Wörter der Um- gangssprache zumeist noch die besondere Eigentümlichkeit, daß sie als iso- lierte Sprachelemente gleichsam plastisch sind und erst in einem Kontext und durch den Kontext geprägt werden. Genau genommen hat das isolierte Lautschema einer natürlichen Sprache eben überhaupt keine Bedeutung, sondern nimmt im Kontext der Rede eine Bedeutung erst an, die dann im Lexikon als mögliche Bedeutung neben anderen aufgeführt wird. Nur in diesem Sinne sind Gebrauchsausdrücke 'mehrdeutig'. Was wir zunächst metaphorisch die 'Plastizität' von Gebrauchsausdrücken nannten, hat sich als die der Sprachwissenschaft langst bekannte 'Kontextabhängigkeit' dieser Ausdrücke erwiesen und könnte schließlich auch 'Kontextoffenheit' ge- nannt werden." (Kamlah und Lorenzen 1967, S. 68). Wie schon weiter vorne ausgeführt, zeichnet sich nun die Wissenschafts- sprache nach Kamlah und Lorenzen dadurch aus, daß die Bedeutung ihrer Termini kontextunabhängig ist. Die Termini einer Wissenschaftssprache sind hinsichtlich dessen, worauf sie als Zeichen verweisen, eindeutig und allgemein gültig festgelegt. IYissenscha ftssprache und Lernen 133 den, auf ganz anderes verweisen, müssen, nach logischen Regeln ver- kniipft, zu zweideutigen oder widersprüchlichen Ergebnissen führen. Wie aber wird aus einem Wort ein wissenschaftlicher Prädikator, ein Ter- minus? Ein Terminus ist ein explizit vereinbarter Prädikator (siehe Kamlah und Lorenzen 1967, S. 78). Ein explizit vereinbarter Prädikator ist ein solcher, bei dem vereinbarungsgemäß von nicht gewünschten Zeigehand- lungsschemata abgesehen wird und ebenso von situativen Merkmalen, die bisher bei der Wahl des jeweiligen Zeigehandlungsschemas für die Situation zur Anwendung gekommen sind. Wir verabreden, weder die unerwünschten Zeigehandlungen noch die "nicht relevanten Situationen, in denen zu zeigen wäre", mitzudenken. Der Terminus ist dann so eindeutig und situations- unabhängig definiert, daß wir stattdessen auch mit der ihm zugehörigen Marke "weiterrechnen" können. Dieses Absehen von den Wortkonstellationen und dem praktischen Ge- brauch eines Wortes nennen wir Abstraktion. Ein Terminus zeichnet sich durch eine doppelte Abstraktion aus: (1) Wir vereinbaren, die praktischen Bedingungen, unter denen das Wort uns etwas bedeutet, auszublenden, zu vergessen oder nicht zu beachten. (2) Wir vereinbaren, alle Konnotationen, alle Bedeutungsveränderungen, die ein Wort erfahren kann, je nachdem, in welchen Verbindungen es mit anderen Wörtern auftritt, auszuschließen (als sinnlos zu betrachten). (3) Damit werden 'Marke' und 'Wort' austauschbar. Erst jetzt kann mit Wort-Marken logisch weitergerechnet werden, d. h. ohne Rücksicht auf situative Bedingungen und kontextuelle Einschränkungen. Was aber ist der Preis der Abstraktion? Was ist der Preis der Verrechen- barkeit der Wortmarken? Mit welchem Verlust an Wahrnehmungsfähigkeit muß der Wissenschaftler die Ausweitung seiner Erklärungsmöglichkeiten bezahlen? Und welche gesellschaftlichen Mächte verbergen sich hinter den Abstraktionen? Der Rekurs auf die Umgangssprache und der Hinweis darauf, daß der Aufbau einer Wissenschaftssprache eine Kunst sei (siehe Kamlah und Lorenzen 1967, S. 69), ist zwar logisch konsequent und ver- weist auf die notwendige Voraussetzung eines Vorverständnisses wissen- schaftlichen Arbeitens, er übersieht jedoch, daß Umgangssprache und Pra- xis selbst mit in Frage stehen, vielleicht sogar der wissenschaftlichen Ana- lyse und Kritik bedürfen. Aber warum soll das so sein? Weil sie nur so als Bausteine nach eindeuti- gen und allgemein gültigen Regeln (z.B. nach logischen Regeln) verknüpft werden können. Wörter, die je nachdem, in welchen Sätzen sie mit anderen Wörtern verbunden werden oder in welchen Situationen sie verwendet wer- 134 Klaus Heipcke Wissenschaftssprache und Lernen 135 4. Der Preis der Abstraktion: Symbolisierung und Desymbolisierung nach Alfred Lorenzer Der Versuch, seelische Störungen und Erkrankungen als Sprachstörungen zu deuten und den Prozeß psychischer Heilung als Wiederherstellung der Sprache des Subjekts zu begreifen, führt Lorenzer zu einer ähnlichen und doch in entscheidender Hinsicht weiterführenden Analyse des sprachlichen Zeichens. Entscheidend dabei ist, daß nach seiner Auffassung die seelische Erkrankung als Sprachstörung zwar ein inner-subjektiver Vorgang ist, daß aber die Störung als Desymbolisierung, d.h. als Sprachzerfall, genau an je- ner Stelle zu lokalisieren ist, wo das Subjekt die Einheit zwischen Wort und Tatsache, die Einheit des Zeichens, herzustellen hat. Es geht um die subjektive Erinnerung und Entäußerung von Ereignissen oder, wie er es nennt, von Szenen und Interaktionen. Die damit verbun- dene Differenzierung von Innen (Subjekt) und Außen (Szene, Objekt) und die mit ihr verbundene Auffassung, daß jedem äußeren Geschehen eine innere Spur gleichsam als Erinnerungsspur entspricht, macht nun, wenn wir die vorangehend dargestellten Versuche zur Analyse des Wortes als ei- nes sprachlichen Zeichens heranziehen, einige zusätzliche Unterscheidungen erforderlich. Zunächst entspricht bei Lorenzer dem Wortlaut oder der Wortmarke als äußerer Spur eine innere Spur, die Wortvorstellung. Das Wort ist die Ein- heit beider. Parallel dazu wird auch bezüglich der Interaktion oder, wie wir an früherer Stelle sagten, der Tatsache zwischen einem Innen und Außen unterschieden. Der Außenaspekt der Interaktion wird von Lorenzer als Szene gekennzeichnet, womit der Aspekt des gemeinsamen und auf Ver- ständigung angewiesenen Handelns betont wird. Der Innenaspekt wird als Interaktionsform, als Sensoengramm gekennzeichnet, als Erinnerungsspur, die sich im Subjekt niederschlägt, ähnlich dem Handlungsschema bei Kamlah und Lorenzen. Als schematische Darstellung ergibt sich dann (Lorenzer 1983, S. 103): Wort-Bedeutungsträger Symbol ( Wortvorstellung (symbolische ( Interaktionsf orm) Erinnerungsspur (Interaktionsform) Szene Eine wesentliche Leistung des Subjekts besteht nun darin, Wort und Szene, Zeichen und Tatsache miteinander zu verbinden. Und diese Verbindung ist nur im Subjekt zwischen zwei Erinnerungsspuren, zwischen dem Lauten- gramm und dem Senoengramm, zwischen Wortvorstellung und Interak- tionsform vom Subjekt herstellbar. Diese Verbindung nennt Lorenzer 'Symbol'. "Mit der Möglichkeit, sich das Symbol unabhängig von jedem szenischen Zusammenhang zu vergegenwärtigen, gewinnt das Symbol seine Tauglich- keit als Vermittlungsinstrument gerade im Affekthaushalt. Weil das Symbol mit dem realen (Liebes-)Objekt draußen identisch ist und gleichzeitig da- von unterschieden werden kann, kann auch die Triebdynamik von der szenischen Anwesenheit des Objektes abgelöst werden. Die wichtigsten Konsequenzen dieses Sachverhaltes sind: (a) an die Stelle des Handelns kann ein Probehandeln mit kleineren Ener- giequanten treten. Es kann im Geist erst alles durchgespielt werden, bevor die Handlung in Gang gesetzt wird. (b) Es bringt das Hantieren mit Symbolen einen Verzögerungsfaktor mit ins Spiel, und zwar jenen Verzögerungsfaktor, der für die höheren, d.h. se- kundär prozeßhaften, Abläufe typisch ist." (Lorenzer 1972, S. 97 f.). Daß diese Verbindung eine sehr komplexe, schwierige und das Subjekt ohne Hilfe oft überfordernde Leistung darstellt, erhellt sich schon daraus, daß die Symbole in sehr heterogene und vielschichtige Zusammenhänge eingefügt sind, nämlich sowohl in das komplexe System der Wörter, welche ihrerseits ein Gleichgewicht zwischen dem System der Signifikanten und der Signifikate herstellen müssen, und dem System der Interaktionen, Tatsachen, welche die innere Struktur der Erinnerungen, der Interaktions- formen mit der äußeren Struktur des Geschehens der Szene in Einklang zu bringen haben. Gelingt die Symbolisierung nicht, dann droht eine Aufspaltung von Wort und Interaktion. Das ins Unterbewußte abgedrängte Agieren tendiert sich wiederholend dazu, nach anderen Möglichkeiten der Symbolisierung zu suchen. Das Handeln gerät unter Wiederholungszwang, und die Refle- xionsfähigkeit wird eingeschränkt. Ganz besonders unterliegt nun der Wissenschaftler den Gefahren, welche mit der Desymbolisierung verbunden sind, ist doch Wissenschaft selbst ein komplexer Prozeß von Desymbolisierung und Symbolisierung. "Die Differenzierung der Zeichen und die Gewinnung eindeutiger Denota- tionen ist ein Erfordernis wissenschaftlicher Arbeit, obwohl sie an be- stimmten Wendemarken des Wissenschaftsprozesses ein Hemmnis bilden. Unter Umständen kann eine Reorganisation nur durch Zerschlagung der verkrusteten Zeichensysteme gelingen, und möglicherweise geschieht dies 136 Klaus Heipcke auf der Ebene der vorbewußten Prozesse, also auf der Organisationsebene der präsentativen Symbole. Mitunter verbleibt der kreative Akt einen Au- genblick lang auf dieser Ebene. In diesem Falle bietet sich ein Blick in einen sonst verborgenen Prozeß. Dieser Einblick wird noch deutlicher und aufschlußreicher, wenn der schöpferische Akt der Symbolzertrümmerung, d.h. der Zersprengung eines bisher gültigen geschlossenen Zeichensystems, sich in einem umschriebenen schöpferischen Augenblick abspielt ..." (A. Lorenzer 1972, S. 84). Wenn dies jedoch bezüglich des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses gilt, um wieviel mehr gilt es dann fü r das Erlernen wissenschaftlicher In- halte und Methoden. Welche Desymbolisierungen und Symbolisierungen werden dem lernenden Subjekt abverlangt, und welche Schäden (Wieder- holungszwänge und Denkbehinderungen) bewirken unbedachte, Wesentli- ches verschweigende und verdrängende Lehrangebote. Gerade die Tendenz, die Wissenschaft als ein dem Lernenden gegenüberstehendes, festgefügtes Gebäude von Zeichensystemen und Methoden, präzise, eindeutig und sy- stematisch geschlossen vorzustellen, verlangt vom Lernenden ein erhebli- ches Maß an Desymbolisierungen. Die Frage ist, ob genügend Raum ins- besondere fü r die Resymbolisierung eingeräumt wird. Denn gerade das Lernen bedarf der Möglichkeit zu schöpferischer Resymbolisierung. Der Versuch Lorenzers, die Denk- und Sprachprozesse beim Aufbau von Wissenschaftssprachen mit den Mitteln und d.h. in der Sprache der Wis- senschaft Psychoanalyse zu analysieren, hat zweifellos interessante Ergeb- nisse erbracht. Er führt jedoch nicht an der Frage vorbei, was es dann er- möglicht, in der Sprache der Wissenschaft Psychoanalyse über Wissen- schaftssprache zu sprechen und was das bewegende Prinzip von Desymbo- lisierung und Resymbolisierung im Prozeß wissenschaftlicher Erkenntnis ist. Weist uns diese Frage über die Wissenschaftssprache hinaus auf die Praxis oder auf die Sprache selbst, z.B. auf die Sprache als das Prinzip differentieller Artikulation? Diese Versuche, sich dem Phänomen Wissenschaftssprache zu nähern, be- treffen einerseits nur einen kleinen Ausschnitt des gesamten Fragenkom- plexes, nämlich die Frage, was es mit den Wörtern, Zeichen oder Symbolen der Wissenschaftssprache auf sich habe. Zum anderen ist die Auswahl möglicher Antwortversuche weder vollständig noch hinreichend. Mit den hier vorgetragenen Versuchen, das Verhältnis von Zeichen und Symbol zu beschreiben und zu analysieren, sollte nur die Tragweite der Fragestellung selbst exemplarisch ausgelotet werden. Daß Versuche, welche die Ergeb- nisse der strukturalistischen Sprachtheorie, der konstruktivistischen Logik und der psychoanalytischen Kritik des Symbolbegriffs aufgreifen und um- setzen, zu ähnlichen, wenn auch in wesentlichen Teilen unterschiedenen Auffassungen von Wort, Zeichen und Symbol führen, mag als Bestätigung der Fruchtbarkeit eines solchen Herangehens gelten. TYissenscha ftssprache und Lernen 137 Ähnlich sind die drei Ansätze darin, daß sie den Zusammenhang von Wort, Zeichen und Symbol wie in dem folgenden Schema dargestellt analysieren. Darin ist das Wort gleichsam die Einheit von Wortlaut und Wortvorstellung, Wortmarke und Wortspur. Das Symbol ist darin die Einheit von Wort und Erinnerung. Das Symbol ist, so gesehen, die Einheit von Tatsache und Be- nennung in der Erinnerung. Wortlaut/Wortbild/Wortmarke ) Wort/Zeichen Wortvorstellung/Lautengramm Symbol { Interaktionsform/Erinnerungsspur Sensoengramm ) Erinnerung Szene (Interaktion) Nimmt man dies als eine erste und vorläufige Charakterisierung der Wör- ter, Zeichen und Symbole in der Wissenschaftssprache, dann ergeben sich daraus eine Reihe interessanter und aufschlußreicher Fragen fü r das Ler- nen wissenschaftlicher Inhalte und Methoden. 5 . Momente einer Kritik der Wissenschaftssprache Was hat es mit der Beschreibung und Analyse der Worte, Zeichen und Symbole der Wissenschaftssprache auf sich? Ganz offensichtlich ist in ihr die differenzierende Kraf t der Selbstvergegenständlichung wirksam. Denn indem wir nach der Struktur der Wörter, Zeichen, Symbole der Wissen- schaftssprache und nach deren Analyse fragen, setzen wir diese als Gegen- stand der Analyse, als Gegenstand, dessen Einheit dann erst wieder durch nachträgliche Synthese sich einstellt (auch dann, wenn wir uns auf die Tat- sachen berufen). Denn was sind die Tatsachen der Wissenschaftssprache, wenn nicht das wissenschaftliche Sprechen selbst? Deutet sich hier ein Mo- ment von Offenheit an, welches in der Vergegenständlichung verdrängt wird? Was geschieht in der Wissenschaftssprache mit den der Sprache entlehnten Wörtern und Symbolen? Setzt man einmal die Differenzierung des Schemas als gegeben voraus, dann läßt sich sagen, daß Wörter und Erinnerungen äußerst komplexe und störanfällige Verbindungen eingehen, zumal sie ih- rerseits in ein vielschichtiges und komplexes Gefüge eingeordnet sind: Wörter in die beiden Systeme der Wortlaute/Wortmarken und der Vorstel- lungen (begrifflichen Inhalte) und Erinnerungen in das System der Tatsa- chen und der Tatsachenspuren. Dieser in der Regel prekäre Zusammenhang wird im Symbol hergestellt. 140 Klaus Heipcke 6 . Fragen zum Verhältnis von Lernen und Wissenschaftssprache Die Frage nach der Sprache der Wissenschaft verweist uns auf das Problem der Begründung wissenschaftlicher Rede und deren Herkunft aus der all- täglichen Praxis und der in ihr gesprochenen Umgangssprache. Die Frage nach der Sprache der Wissenschaft weist jedoch über die wis- senschaftliche Analyse der Wissenschaftssprache und über die Kritik der ihr zugrundliegenden Praxis und Umgangssprache hinaus auf die Frage nach der Sprache selbst. Sie ist der stets sich erneuernde Anfang des Den- kens. Ihn im Lernen wissenschaftlicher Inhalte und Methoden zu verleug- nen, fordert vom Lernenden große Opfer. Wie groß diese sind, mag jeder für sich entscheiden, wenn er versucht, eine Antwort auf die folgenden Fragen zu geben. Wo hat das Staunen in den Wissenschaften noch Platz? Es hat den An- schein, als würde dort noch nicht einmal der schrecken geduldet. Aber als untergründige Angst, welche dazu drängt, die gelernten Wissenschaftsri- tuale verzweifelt und hoffnungslos zu wiederholen, könnte er fortwirken. Wo wird in den Wissenschaften noch der Frage Raum gegeben? Der Frage Raum geben, das hieße, Rdtsel des Lebens zuzulassen, Geheimnisse der Natur zu achten und das Offene des Daseins auszustehen. Stattdessen scheint man in den Wissenschaften eher darum bemüht, Fragen in Pro- bleme zu transformieren, d.h. die Fragen so einschrdnkend zu formulieren, daß sich definitive Antworten geben lassen. Welche Denkverbote und Ver- drängungsleistungen werden dem Lernenden dabei abverlangt? Wo findet in den Wissenschaften der die Tatsachen offenhaltende und auf erneuernde Verständigung hindrängende Dialog statt, in welchem die Wahrheit sich als Prozeß des Wahrwerdens von Erkenntnis zeitigt? Das Bild, welches Wissenschaft uns bietet, insbesondere in ihrer Selbstdarstel- lung in der Lehre, macht eher den Eindruck, als handele es sich in der Wissenschaft und dem Lernen von Wissenschaft um einseitige Mitteilung undiskutierbarer Erkenntnisse. Das Ideal auch der Lehre von Wissenschaft scheint das geschlossene System und die positive Tatsache zu sein, welche demonstriert werden, um vom Lernenden gespeichert zu werden. Welche Diskussionsverbote und Ausblendungen von Wirklichkeit sind damit ver- bunden? Welchen Stellenwert hat in den Wissenschaften die Bearbeitung der eigenen Geschichte ihrer Theorien, ihrer Erkenntnisse und Methoden sowie das Nachdenken über die eigene Sprache? Wie weit werden Geschichte der Disziplin und die Sprache der Wissenschaft im Lernen von wissenschaftli- chen Inhalten und Methoden aktualisiert und reflektiert? Wo wird im Ler- nen von wissenschaftlichen Inhalten und Methoden aktualisiert und reflek- 1,Vissenscha ftssprache und Lernen 141 I tiert? Wo wird im Lernen der eigenständigen Aneignung und der Verle- I i a- bendigung des Wissens sowie der Erneuerung historisch übergangener 5: F Möglichkeiten Raum gegeben? I - t Welche Bedeutung wird in den Disziplinen und im Studium derselben der j Kritik und philosophischen Reflexion der Inhalte, Methoden und der Wis- F senschaftssprache beigemessen? Welche Abspaltungen werden von den Ler- L nenden verlangt, und welche Wirklichkeitsverluste gehen damit einher? B t Literatur F 1 BENVENISTE, Emile (1974): Probleme der allgemeinen Sprachwissen- 1 i schaft. Munchen. L FEYERABEND, Paul K . (1983): Wider den Methodenzwang. Frankfurt/M. L HEINTEL, Erich (1975): Einführung in die Sprachphilosophie. Darmstadt. KAMLAH, Wilhelm und LORENZEN, Paul (1967): Logische Propädeutik. i Mannheim. LORENZER, Alf red (1 972): Kritik des psychoanalytischen Symbolbegriffs. I Frankfurt/M. LORENZER, Alfred (1983): "Sprache, Lebenspraxis und szenisches Verste- hen in der psychoanalytischen Theorie". In: Psyche. Stuttgart. Jg. 37. H. 2, S. 97-115. I I PIAGET, Jean (1975): Die Entwicklung des Erkennens I. Das mathemati- I I sche Denken. Stuttgart. RICOEUR, Paul (1973): Hermeneutik und Strukturalismus. Munchen. SAUSSURE, Ferdinand de (1967): Grundfragen der allgemeinen Sprach- 1 wissenschaft. Berlin. STEGMÜLLER Wolfgang (1960): Hauptströmungen der Gegenwartsphilo- sophie. Eine kritische Einführung. Stuttgart. TARSKI, Alfred (1966): Einführung in die mathematische Logik. Göttin- gen. WAGENSCHEIN, Martin (1973): "Kinder auf dem Wege zur Physik". In: WAGENSCHEIN, Martin; BANHOLZER, Agnes und THIELE, Siegfried: Kinder auf dem Wege zur Physik. Stuttgart, S. 10-15. WEBER, Samuel M. (1978): Ruckkehr zu Freud. Jaques Lacans Ent-Stel- lung der Psychoanalyse. Frankfurt, Berlin und Wien. ZUM BIOGRAFIE-PROBLEM IN DER ERZIEHUNGSPRAXIS Hans Rauschenberger Für die folgenden Überlegungen erhebe ich nicht den Anspruch, Biogra- fieforschung zu treiben. Auch steht die Frage nach der Erkenntnis und Darstellung lebensgeschichtlicher Zusammenhänge nicht im Mittelpunkt dieses Beitrags; sie ergibt sich aber, wann immer man Menschen nach ihren Erfahrungen mit Erziehung befragt. Weil dies so ist, berichte ich zunächst von der Fragestellung einer pädagogischen Untersuchung, die wir gerade in Arbeit haben, bis sich schießlich das darin angesiedelte Biografie-Problem gewissermaßen von selbst ergibt. Wir versuchen herauszufinden, wie sich seit etwa 1900 die Erziehungsvor- stellungen gewandelt haben. Ziemlich unbestreitbar scheint uns die Vor- aussetzung zu sein, daß sich in den fraglichen achteinhalb Jahrzehnten die Praktiken der Kindererziehung deutlich geändert haben. Es gibt viele hi- storische Situationen, die als solche bis in die Kindererziehung wirksam gewesen zu sein schienen. So ist etwa mi t dem Stichwort des Wilhelmini- schen Kaiserreiches nicht nur eine bestimmte Politik gemeint, sondern eine viel weiter reichende Mentalität. die die Autorität Gottes. des Kaisers und des Vaters ohne Schwierigkeiten miteinander zu harmonisieren verstand, und wir haben genügend Zeugnisse, daß noch die Gegner dieser Mentalität 144 Hans Rauschenberger ihr verfallen waren. Ähnlich starke Wirkungen auf die Umgangsformen zwischen Erwachsenen und Kindern gingen aus vom Ersten Weltkrieg, von der neuen Demokratie der Weimarer Zeit, vom NS-Staat, vom Zweiten Weltkrieg, von den Erfahrungen der Flüchtlinge und Vertriebenen, von der Liberalisierung des politischen Selbstverständnisses in den ersten Jahren der Bundesrepublik, von der Situation des Wiederaufbaus, von der Studenten- bewegung und schließlich von der gegenwärtigen Beschäftigungskrise. Die Zeitspanne seit dem Jahrhundertbeginn ist gerade in den pädagogischen Leitvorstellungen durch starken Wechsel gekennzeichnet, soviel ist deutlich. Wie aber diese mehrmaligen Kursänderungen von den Individuen wahrge- nommen und verarbeitet wurden, wie die Betroffenen über ihre Vergan- genheit heute denken - dies ist wenig dokumentiert. Wenn wir hierüber mehr wüßten, könnten wir den Erziehungsbegriff, der sich dahinter ver- birgt, realistischer fassen. Wir haben deshalb mit älteren Leuten gesprochen, die bereits erwachsene oder heranwachsende Enkel haben, danach mit einem ihrer Kinder und zuletzt mit einem Enkel. Wir wollten erfahren, welche Erinnerungen die Gesprächspartner an ihre eigene Kindheit haben und daran, wie sie erzo- gen worden sind. Dann wollten wir wissen, wie sie ihre eigenen Kinder erzogen haben, und zuletzt versuchten wir, eine Einschätzung auch der an- deren Generationen zu diesen Fragen zu bekommen. Und damit waren wir mitten drin in der Problematik, Äußerungen über die eigene Vergangenheit zu verstehen, zu deuten und darzustellen. Von Anfang an war uns klar, daß die meisten Fakten, die uns mitgeteilt werden, nicht überprüft werden können. Jeder neigt dazu, seine Lebens- geschichte gerade dort zu klittern, wo sein Interesse am stärksten involviert ist, ohne daß ihm dies bewußt werden muß. Folglich konnte unsere Auf- gabe nicht darin bestehen, die Äußerungen der Gesprächsteilnehmer de- tektivisch auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Es ging uns vielmehr darum zu ermitteln, wie die Betroffenen uber Erziehung denken, und - falls sie meinen, eine Änderung der Erziehungspraxis an sich selbst erfahren oder bei ihren Kindern durchgeführt zu haben - wie sie heute über diesen Wechsel denken. Damit ist ein Aspekt der konkreten Selbstwahrnehmung zum Thema geworden, sozusagen die alltagsphilosophische Deutung der ei- genen Praxis des Umgangs mit Kindern und, darin enthalten, die Berück- sichtigung der Veränderung von Deutungs- und Handlungsmaßstäben. Erziehung als das bloß Faktische des Tuns und Lassens wäre zufällig, ohne Zusammenhang und damit undeutbar, wenn sie nicht vom Denken begleitet wäre; so weit kann man der Erkenntnistheorie Kants folgen. Hinzu kommt nun allerdings, daß dieses Denken kein abstrakter Akt ist, der alle unsere Vorstellungen nur eben "muß begleiten können". Er ist selber inhaltlich ausgewiesen. An Erziehungsvorstellungen ist ein spezifisches Denken betei- Zunz Biograf ie-Problem in der Erziehungspraxis 145 I I ligt, das diese Vorstellungen ordnet und legitimiert; es ist Teil der Selbst- definition des so Denkenden, eine Facette seiner Identität. I Aus dieser Feststellung folgt schließlich, daß sich auch die Identität eines Menschen ändern kann. Selbst beim Erwachsenen durchläuft das Ich eine Entwicklung, die mit den Änderungen des gesellschaftlichen Umfeldes eng zusammenhängt, aber nur unter bestimmten Bedingungen und oft in zeit- E licher Verschiebung zu den Fakten auftritt, von denen sie angestoßen f wurde. Man muß sich dies am Beispiel klarmachen. Ein Mann etwa, der 5 1915 geboren ist und in den dreißiger Jahren eine Familie gründete, mag damals autoritätsorientierte Erziehungsvorstellungen gehabt haben; er mag t. außerdem bei den Nationalsozialisten Mitläufer gewesen sein. Bei Kriegs- ende änderte sich schlagartig der Bezugsrahmen. Der Mann war gezwun- gen, sich politisch und beruflich neu zu definieren; in allen Fragen, die sowohl mit ihm selbst als auch mit Öffentlichkeit zu tun hatten, war diese Umstellung nötig. Er überlegte sich, daß er eigentlich niemals als Nazi ini- tiativ gewesen war. Damit versuchte er seinem Selbstverständnis, sofern es der Öffentlichkeit zugewandt war, eine andere Entwicklungsrichtung zu geben, d.h. er wurde Demokrat und fing tatsachlich an, demokratisch zu 1 F denken. In der Kindererziehung jedoch konnte e r seine autoritären Erzie- L L hungsvorstellungen ohne jede Korrektur beibehalten. Er konnte weiterhin Prinzipien von Härte, Stolz und Gehorsam so anwenden, als bestünde der faschistische Bezugsrahmen noch. Aber dann, als seine Kinder groß genug I waren, um sich ihm mit Argumenten zu widersetzen, wurde dies fü r den 1 Mann zu einer besonderen Identitätskrise; denn jetzt mußte er auf einmal f unter dem Zwang einer höchst fragil gewordenen Familiensituation, als I i deren Herr er sich immer gefühlt hatte, zwei völlig unpassende Bruch- stücke seines Selbst- und Weltverständnisses zur Passung bringen: seinen inzwischen fast habituell gewordenen Öffentlichkeitsliberalismus und die autokratische Erziehungsvorstellung des erhabenen Führers, der sich bis dahin fälschlicherweise auch noch geliebt gefühlt hatte. Wie ist so etwas möglich? Wie kann ein Mensch bedeutsame Teile seines Wert- und Hand- I I I lungssystems ändern, ohne in eine schwere Krise zu geraten, und wie kann er andere damit unvereinbare Teile beibehalten? Dergleichen ist nur mög- t I lich, wenn sozusagen arbeitsteilig in deutlich voneinander unterschiedenen i Lebensbereichen gedacht und gelebt wird, und wenn es moglich ist, den Akzent des Selbstverständnisses von einem Bereich auf den anderen zu übertragen. In unserem Beispiel hat der Mann die Mitte seiner Identität ausgelagert: weg von Beruf und Öffentlichkeit und hin zu Familie und Pri- vatheit. Dies ermöglichte es ihm, die neu übernommenen Werte und Hand- lungen als Anfänger vorsichtig einzuüben, wahrend er seine ganze persön- liche Autorität mit seiner Stellung als Familienoberhaupt und Vater ver- bunden hatte. Kein Wunder, daß eine Krise auf diesem Feld an seine Sub- stanz ging. 146 Hans Rauschenberger Nun wäre es naiv, aus diesem Gespräch mit Menschen deren vergangenes Handeln ermitteln zu wollen; denn nicht einmal sie selber können sich ih- rer Erinnerung sicher sein. Die Kette der Handlungen eines Menschen er- gibt kein Kontinuum; denn nicht die Fakten selbst bilden dabei den Zu- sammenhang; sie zeigen sich allenfalls in der Gestalt, die das Bewußtsein ihnen gibt. Es ist immer die Interpretation, die Zusammenhang und Einheit bildet. Wir versuchen deshalb, etwas über die Selbstinterpretation von Menschen zu erfahren in der Erwartung, daß die Spur ihres Denkens mit t' besserem Erfolg auf Zusammenhänge verweist als die Spur ihrer Handlun- L gen. Im Denken ist der Ort, an dem sich der Kampf um die Identität ab- spielt, jener Kampf, der überall dort verlorengeht, wo frühere Auffassun- gen trotz besseren Wissens verleugnet werden. Wenn wir also die Spuren des Selbstverständnisses unserer Gewährsleute zurückverfolgen bis in Si- tuationen, in denen sie anderen Fragen zur Selbstbehauptung ausgesetzt waren als heute, dann können wir etwas darüber erfahren, welchen Reim sie selber sich auf geänderte Intentionen machen; wenn wir sie auffordern, diese Überlegungen im Bereich der Kindererziehung zu konkretisieren, erfahren wir etwas über ihren Erziehungsbegriff und über die Umstände, unter denen er bisweilen als widersprüchlich erschien und dann womöglich geändert wurde. Freilich handelt es sich hier um keinen randscharfen Begriff. Es geht eher um ein Szenario von Meinungen, Motiven, Prinzipien und Legitimationen, aus denen sich eine gefühlsbetonte triviale Lebensphilosophie zusammen- setzt, die auf Erziehung abfärbt. Was ich weiter oben als Erziehungsvor- stellung bezeichnet habe, ist Einzelelement in diesem Konglomerat, dessen Ensemble man die Trivialphilosophie des Alltags nennen könnte. Darüber möchten wir von den Leuten etwas wissen; wir sind also beileibe keine Biografen, und die Gesprächsteilnehmer sind keine Autobiografen. Zwar fragen auch wir nach Fakten und Daten. Aber wir überprüfen die Daten nicht darauf, inwieweit sie zutreffen, sondern fragen bei der Aus- wertung, woran der Angesprochene seine Erziehungsfragen festmacht, was er explizit über Erziehung sagt, ob und gegebenenfalls wie er sie in ande- ren Kontexten thematisiert. Zuletzt versuchen wir, einige seiner Erzie- hungsvorstellungen herauszukristallisieren, um schließlich die Frage zu dis- kutieren, welchen Platz und welche Argumente die Kindererziehung in seiner Alltagsphilosophie beansprucht. Für unsere Interviewer ist dies nicht einfach. Immer wieder geraten sie in eine Art Jagdfieber ("Hat er nun seine Kinder geprügelt oder nicht?"). Auch erleben sie, daß ein Interview zum Leerlauf geraten kann, wenn sie etwa auf ihr Thema zusteuern, ohne daß der Befragte selber diesen Weg mitgeht. Wir können inzwischen als Faustregel sagen: Je direkter man nach Erziehung fragt, desto unergiebiger und kommuniqueartiger sind die Ant- worten, die man erhält. Dies hrngt vermutlich mit dem Umstand zusam- Zum Biografie-Problem in der Erziehungspraxis 147 I I men, daß die meisten Menschen ihr erzieherisches Handeln niemals im Sinne eines systematischen Programms bedenken oder gar formulieren mußten. Erziehung ist weithin kein klassisches Verständigungsthema wie Sport, Politik oder Geschäft. Sie ergibt sich meist beiläufig in typischen Situationen, und darum kann sie auch am besten erinnert und reformuliert werden, wenn man an entsprechende Situationen erinnert wird. Unsere Gesprächspartner können immer dann etwas über ihre Erfahrungen mit Erziehung sagen, wenn sie sich sozusagen anekdotisch äußern. Wir greifen diese Erfahrung in unseren Gesprächen auf und versuchen, Erinnerungen hervorziilocken, aus denen bestimmte Lebenssituationen I plausibel werden. Diese Situationen bieten die Möglichkeit, detaillierter I nach Erziehung zu fragen. Die Gewährsleute sollen also ermutigt werden, Schilderungen aus dem Leben ihrer Kindheit zu geben. Alles, was der In- terviewer nicht versteht, wird er nachfragen. Und dabei muß und wird er das besondere Erziehungsmotiv zunächst einmal vernachlässigen. Er wird i darauf zurückkommen, wenn der Partner auf Eltern oder andere Erzieher- figuren zu sprechen kommt, aber er wird auch dann nicht dogmatisch fra- gen, sondern so, wie einer fragt, der sich tatsächlich dafür interessiert, was ihm jemand aus seinem Leben mitteilt. Bei diesem Verfahren ist die Ge- fahr groß, daß man am Ende wichtige Fragen einfach vergißt, etwa die, wieviele Geschwister der Befragte hatte. Um derartige Lücken nicht ent- stehen zu lassen, verwenden wir am Ende des Gesprächs einen Leitfaden, der dazu dient, zu überprüfen, ob bei der Datenerhebung alles Wichtige erwähnt worden ist. Aus dem Transskript, das nach jedem Gespräch hergestellt wird, versuchen wir, Anhaltspunkte zu gewinnen, die auf Erziehungsvorstellungen hindeu- ten. Dies können Aussagen sein, auf die die befragte Person besonderes Gewicht legt, oder solche, die uns erstaunlich oder widersprüchlich schei- nen. In jedem Fall fragen wir zunächst ohne Struktur nach Mitteilungsele- menten, die die befragte Person uns anbietet. Erst danach versuchen wir, weitere Hinweise zu bekommen, indem wir folgende Fragen an den Transskript-Text stellen: - Wie war die Kindheit des Befragten? (Soziale Lage und Atmosphäre der Herkunftsf amilie). - Welche prägnanten Lebensereignisse nennt der Befragte? (Tod einer wichtigen Bezugsperson, Ortsveränderungen, Auflösung einer Bezie- hung...). - Welche Aussagen deuten darauf hin, daß er Versuche unternommen hat, einen anderen Weg einzuschlagen als seine Herkunftsfamilie? - Welche Aussagen deuten darauf hin, daß er gesellschaftliclie und politi- sche Ereignisse wahrgenommen hat? - Welche Aussagen deuten auf philosophische, religiose oder weltanschau- liche Grundpositionen/Prinzipien/Legitimationen hin? 148 Hans Rauschenberger - Wie lassen sich seine pädagogischen Äußerungen verstehen. Woher kom- men sie? Worauf antworten sie? Wir bekommen durch dieses Sammlungsverfahren eine Anzahl von Aussa- gen, die untereinander verbunden sind oder solche Verbindungen voraus- setzen. Dabei dienen uns die vom Befragten selbst gesetzten Akzente dazu, Schwerpunkte zu erkennen und erste Deutungsversuche - zumindest im Hinblick auf die vordringlichen und explizit angesprochenen Problembe- reiche - zu formulieren. Diese Individual-Einschätzungen werden im Zu- sammenhang mit den Auswertungen der anderen befragten Mitglieder die- ser Familie noch einmal analysiert; es entsteht ein Familiendossier, in dem es vor allem auf generationsübergreifende Probleme ankommt und darauf, wie sich diese Probleme in der Sicht der verschiedenen Personen und Ge- nerationen verändern. Zur Auswertung des Einzelinterviews im Verhältnis zum Familiendossier hier ein Beispiel: Die individuelle Auswertung des Interviews mit einer Befragten aus der Großeltern-Generation hat unter anderem ergeben, daß sie ihre aufopfernde Arbeit für die Kinder als eine Art Investition ver- steht: sie glaubte lange Zeit, ihre Mühe werde ihr im Alter durch die Kin- der "vergolten". Sie hat diese Investitions-Annahme gestützt durch ihre Auffassung, Kinder hätten den Eltern ihr Leben lang zu gehorchen, folg- lich würden sie dies auch dann tun, wenn sie alt geworden sei und nichts mehr fur die Durchsetzung ihrer Gehorsamsforderung tun könne. Zur Zeit der Befragung war die Frau in einem Altenheim. Trotz ihres immer noch vorhandenen Strebens nach Einfluß war sie sehr resigniert, weil sie die Erfahrung gemacht hatte, daß sowohl ihre Investitionsregel wie auch die Gehorsamsregel nicht zutreffen. Danach war zu untersuchen, ob sich etwas von dieser Lebens- und Erzie- hungsauffassung in den nächsten Generationen wiederfindet. Dies konnte bestätigt werden. Zwar haben die Söhne der befragten Frau die von der Mutter erwarteten Entschädigungs- und Gehorsamsleistungen ihr nicht ent- gegengebracht; trotzdem haben sie sich auf ihre Weise mit denselben Re- geln abgeplagt wie vor ihnen die Mutter: Einer von ihnen versprach seiner Tochter bei guten Schulabschluß ein sehr hohes Geldgeschenk; er investier- te offensichtlich noch deutlicher als seine Mutter in die Zukunft des Kin- des. Beide hatten große Schwierigkeiten, die Gehorsamsverweigerung der Töchter nicht als eigenes Versagen zu deuten; beide schienen davon auszu- gehen, daß im Normalfall jedes Kind "von sich aus" den Eltern gehorcht. In der dritten Generation schien sich das Bild umzukehren. Die Töchter, Enkelinnen der zuerst erwähnten Frau, lebten in ständig konfliktorischer Auseinandersetzung mit ihrem Vater. Sie fühlten sich von ihm unterjocht und mißverstanden. In ihrem eigenen künftigen Leben wollten sie es ganz anders machen. So imposant diese Gegensätze auch waren, sie mußten als Momentaufnahmen gewertet werden; denn noch hatten die Töchter gar I Zum Biografie- Problem in der Erziehungspraxis 149 keine Kinder; sie dachten sich ihre Zukunft gewissermaßen nach Wunsch aus. Hinzu kam, daß die Distanzierung der Töchter von ihrem Vater ei- gentlich nur in einem Vorzeichenwechsel zu bestehen schien; im übrigen schien die Argumentationsstruktur eher vom Vater entlehnt, was sogar als heimliche Bewunderung gedeutet werden könnte. Man sieht, daß die Sache unergiebig wird, wenn beide Deutungsmöglichkeiten einander zugleich ausschließen und bedingen. Will man die Erziehungsvorstellungen anderer Menschen kennenlernen, so darf man nicht selber die Leitbegriffe vorgeben. Man muß, bildlich ge- sprochen, mit dem Schmetterlingsnetz an das Phänomen herangehen und dann den Fang betrachten, ob er Anhaltspunkte für eine Deutung bietet. Dies würde für unsere Arbeit bedeuten, daß wir keine Vorinformationen geben, vielmehr die Gesprächspartner dazu anregen, möglichst viel über ihr Leben zu erzählen und dann die Äußerungen auf Erziehungsrelevanz hin untersuchen. So etwas ist im strikten Sinne nicht möglich; denn jede Sprechaufforde- rung, die wirklich eine Anregung zum Sprechen enthält, enthält auch Vor- gaben: die Maschen des Fangnetzes bestimmen auch die Beute. Diese Vor- gaben muß man sich bei der Arbeit vergegenwärtigen. Wir fragen unsere t Gewährsleute nach den Lebensumständen in verschiedenen Lebensab- schnitten. Wir versuchen darauf zu achten. da8 sie nicht auf bestimmte Er- klärungsweisen festgelegt werden; sie können also eine Lebenssituation 1 mehr aus der beruflichen oder der politischen, aus persönlichen Beziehun- gen oder aus religiöser Sicht erläutern; wir folgen ihnen darin solange, wie I sie diesen Erklärungsrahmen beibehalten wollen. Darin liegt ein biografi- scher, ja sogar autobiografischer Zug unseres Vorgehens. Der Angespro- I chene soll das, was er für sein Leben hält, erläutern und zwar in der Weise, wie er das sieht. 1 Im weiteren Verfolgen derjenigen Fragen, die auf die vom Befragten ein- gebrachte Thematik eingehen, versuchen wir, ihn auf seinen Umgang mit Kindern anzusprechen. Dies bedeutet eine vorsichtige Zentrierung auf das Erziehungsproblem. Es gibt eine Reihe von Gesprächspartnern, die auf diese Vorschltige des Interviewers zwar eingehen, aber immer wieder davon abkommen. Dies kann zu einer gewissen Unergiebigkeit der spezifischen Erziehungsfrage führen, die nicht zu verhindern ist. Nur im Zusammen- hang mit anderen Indizien darf daraus auf eine pädagogische Abstinenz des Befragten geschlossen werden. Zum Biografie-Problem in der Erziehun,osuraxis 153 Ein weiterer Aspekt, auf den wir das Gespräch zu bringen versuchen, ist die Frage nach Handlungen, die der Befragte nach seiner Auffassung im Interesse anderer vorgenommen hat. Hier kommt ein zweites Element des Erziehungsbegriffs auf allgemeine Weise zur Sprache: Das Engagement für andere. Damit kommen wir auf ein zentrales Problem. In allen konkrelen Gesprä- 1 chen mischt sich das, was der Befragte unter Erziehung versteht, mit dem, was wir darunter verstehen; denn selbst dann, wenn etwa die erzählten 1 Episoden über altruistische Handlung von uns ganz im Sinne des Befragten 1 gedeutet würden, ist doch bereits durch die Veranlassung eine vorgängige 1 Zuordnung zu einem Erziehungsbegriff erfolgt, der das Handeln f ü r andere als Wesenszug enthält und so vom Befragten nicht vorausgesetzt wurde. Das, was Erziehung ist, soll sich aus den Äußerungen unserer Gewährsleute wie von selbst ergeben - und wurde doch von uns auch vorausgesetzt. 1 Nach unserer Auffassung muß der Interviewer sich über seine eigenen un- chen dann auch vermeiden können. Der durch uns vorgegebene Erzie- l vermeidlichen Vorgaben klar werden, um so besser wird e r die vermeidli- , ! hungsbegriff besteht aus den zwei Elementen "Umgang mit Menschen der 1 nachfolgenden Generation" und "Handeln im Interesse dieser Menschen oder aus Verantwortlichkeit fü r sie". Überall also, wo die Befragten eigene Lebenssituationen thematisieren, in denen sie im Hinblick auf Jüngere ge- t i handelt und dafür Verantwortlichkeit geltend gemacht haben, wird unser heuristischer Begriff von Erziehung ins Spiel gebracht; er kann in der Folge konkretisiert oder auch falsifiziert werden. I Eine weitere Frage muß gestellt werden. Welchen Wirklichkeitsstatus hat Erziehung? Wenn nämlich der pädagogische, Prozeß in hohem Maß von Deutungen abhängig ist, dann könnte er selbst eine Chimäre sein. Dies würde durchaus nicht nur für die Aussagen der Befragten gelten; es könnte sein, daß alle Erziehung ein schattenhaftes Dasein hat, also müssen wir uns über verschiedene Möglichkeiten ihrer Wirklichkeitsstruktur klar werden. Das, was in einem Erziehungsprozeß wirklich ist und wirkt, existiert nicht in dinglicher Weise - etwa wie eine Pflanze oder ein technisches Gerät - aber doch auch wieder nicht so wie ein bloßer Gedanke. Zwar wird Erzie- hung nur in Verbindung mit faktischen Abläufen real; dennoch bleiben die sinnlich wahrnehmbaren Ablrufe ungemein deutungsabhängig. Während mehrere Beobachter den Faktizitätscharakter eines Ablaufes übereinstim- mend sehen, kann von ihnen der Erziehungsvorgang, der damit verbunden wird, völlig konträr eingesch3tzt werden. Real ablaufende Prozesse können trotzdem nicht als objektive Erziehungs- wirklichkeit entziffert werden. Die objektivierbare Realität spielt in ihnen nur eine katalytische Rolle: die Erziehung entsteht nicht ohne sie, aber sie besteht nicht aus ihr. Die Wirklichkeit dessen, was Erziehung "ist", kann durch die Nominierung von Eigenschaften eines Menschen nicht eingeholt werden. Sartres Auffassung, wonach die Existenz der Essenz vorausgeht,' betrifft besonders solche Daseinsmöglichkeiten, in denen der Mensch sich unter der Voraussetzung seiner Freiheit entscheidet. Für das Erziehungs- handeln ist dieser Aspekt von großem Gewicht; denn in der Erziehung entwirft der Mensch in prägnanter Weise das Mit-Sein mit anderen. Wollte man ihn darin auf seine Eigenschaften hin interpretieren, so wäre dies ein schweres Mißverständnis. Es würde dem Irrtum Vorschub leisten, objektive Hermeneutik sei eine Intensivierung von Hermeneutik. Das Gegenteil trifft zu. Deshalb meine ich, daß man "Konzeptionen einer objektiven Herme- neutik"' zurückweisen muß. Sie begreifen das Leben eines Menschen weit- gehend als hochgerechnete Summe seiner Eigenschaften, ja sie interpretie- ren seine Motive mit derartiger Methode, aus "Gedankenexperimenten" zu- fälligerweise eine Version herauszubringen, die von anderen akzeptiert wird, vielleicht sogar vom Befragten selbst - hernach, versteht sich. Das macht den leicht telepathischen Anspruch des Unternehmens nicht seriöser, zumal ein Verfahren, ausgestattet mit den sprachlichen und technischen Manierismen moderner Sozialwissenschaft, am Ende die Motive des Be- fragten besser kennt als dieser selbst. Die Gedankenexperimente verwenden das Informationsmaterial auf der Basis größtmöglicher Plausibilität bei gleichzeitiger Vielfalt der Szenarien. Gegen solche Stringenz fällt das wirk- liche Leben geradezu ab; allenfalls kann es diese Wissenschaft fleißig zu bestätigen (will sagen: zu wiederholen!) trachten, und dies tut es dann auch allenthalben. Im Unterschied zu einer terminologisch usurpierten Objektivität ist jedoch darauf hinzuweisen, daß nur das rein Faktische objektiv feststellbar ist; bei Erziehungs- und Bildungsfragen zumindest geht es hingegen niemals bloß um Fakten, sondern um eine Verbindung von Entscheidungen mit ihrer intellektuellen Rechtfertigung. Diese Rechtfertigung erfolgt zumeist nach vollzogener Entscheidung; sie kann später sogar durch ein anderes Legiti- mationsmuster ersetzt werden, nämlich dann, wenn unüberwindliche Wi- dersprüche auftreten. Damit ist die Erziehungswirklichkeit für denjenigen, der sich in einer von ihm als Erziehungssituation gedeuteten Lage befindet, zunächst eine Frage der Passung zwischen Wahrnehmung der Ausgangssi- tuation, eigener Handlung und deren Legitimation. Je weniger die Hand- lung der Situation zu entsprechen scheint, desto wichtiger wird die Legiti- mation. Diese Legitimation kann Teil einer autobiografischen Gesamtdeu- SARTRE, Jeari-Paul: "Iyt der Existentialismus ein Humanismus". In: Drei Essays. Frankfurt; Berlin; Wien 1983. Vgl. dazu besonders: OEVERMANN, Ulrich, ALBERT, Tilrnan und KONAU, Elisabeth: "Zur Logik der Interpretation von Interviewtexten: Fallanalyse anhand eines Interviews einer Fernstudentin." In: HEINZE, Th., KLUSEMANN, H. W. und SOEFFNER, H. G . (Hg.): In- terpretationen einer Bildungsgeschichte. Bensheim 1980. 154 Hatu Rauschenberger entwirft, wo er den Versuch unternimmt, sich zu ändern, oft gerade des- halb, weil er nicht das Ergebnis der ihn umgebenden Widersprüche sein will. Gerade dort, wo er initiativ die Einheit seiner Person im Sinn hat, wird er oft kontrafaktisch handeln - und durchaus nicht plausibel. Und gerade dort wird die Biografieforschung ihm kaum gerecht werden können. Für den handwerklich bieder arbeitenden Biografen ist es genauso unmög- lich, einen außergewöhnlichen Menschen darzustellen wie einen unbedach- ten Hektiker. A n dieser Stelle der Überlegung zeigt sich, warum der Versuch, die Erzie- hungsvorstellungen der Menschen zu erfragen, so einfach nicht gelingen wird, wie er eingangs dargestellt wurde. Wenn unsere Fragen die Menschen nicht auf einen Holzweg führen sollen, dann müssen ihnen Antworten möglich sein, die über den Gestus des Berichts hinausgehen: befreit zum Nachdenken werden sie ihre Deutungen hin und her wälzen, bis sie zu Überlegungen kommen, die sie bisher noch niemals hatten und die ihren Wunsch nach Richtigkeit dennoch erfüllen. Da wir für das rechte Ver- ständnis auch solcher Antworten gewappnet sein müssen, bleibt uns gar nichts anderes übrig: wir müssen selber über das Wesen der Erziehung ge- hörig nachdenken. EIN REFUGIUM FÜR DAS UNERLEDIGTE - ZUM ZUSAMMENHANG VON LESEN UND LEBENSGESCHICHTE JUGENDLICHER IN KULTURELLER SICHT Rudolf Messner und Cornelia Rosebrock 1. "Lesegeschichte als Kulturaneignung": Entdeckungen über das private- Lesen Jugendlicher Im folgenden soll anhand von Besgungsergebnissen aus dem Projekt "Le- segeschichte als ~ u l t u r a n e i ~ n u n ~ ' " einer besonderen Form des Lesens Ju- gendlicher und seiner Bedeutung im Lebensprozeß der Befragten nachge- gangen werden. Im genannten Projekt wurden nach einer Vorphase mit informellen Probeinterviews ab 1982 mit Hilfe von eingehenden qualita- tiven Interviews insgesamt 20 17-19jährige Oberstufenschüler und Lehr- linge über Art, Bedeutung und lebensgeschichtlichen Zusammenhang ihres privaten, selbstgewiihlten Lesens befragt. Jedes der Interviews bestand aus zwei etwa einstündigen Teilen, wobei der erste Teil sich stärker unmittel- bar dem Lesen zuwandte, während der zweite (aufgrund der Auswertung des ersten Interviews konzipierte) Teil über das Lesen hinaus auch direkt auf lebensgeschichtliche Zusammenhänge einging. Vgl. Bur Einführung: Projekt Lesegeschichte als Kulturaneignung (1984), S. 5 . ff. und S. 6 3 ff.; vgl. auch den Anhang des vorliegenden Aufaatees, S.193 f. 156 Rudolf Messner/Cornelia Rosebrock 1.1 Drei Befunde über das Lesen Jugendlicher Welche Einsichten erbrachte dieser Versuch, sich intensiv mit den privaten, ja intimen Leseerfahrungen von Jugendlichen zu beschiiftigen? (1) Eine erste grundlegende "Entdeckung" kündigte sich schon in den Pro- beinterviews an. Bei allen befragten Jugendlichen fand sich - entgegen der Vorerwartung - eine in ihrer Eigenart und ihrer persönlichen Bedeutung profilierte, zumeist auch zeitlich ausgedehnte Lesepraxis vor.' (2) Eine zweite, sich ebenfalls unmittelbar aufdrängende Beobachtung be- stand darin, daß sich das private Lesen von Jugendlichen als ein Prozeß darstellte, der seine Motivation und Dynamik aus zentralen Bereichen der Persönlichkeit bezieht. Dies Iäßt sich durch einen Blick auf einige Äuße- rungen von Jugendlichen belegen. Nach einleitenden Fragen, die meist der Vergegenwärtigung des Lesens in einer unmittelbar zurückliegenden Alltagssituation dienten, spiegelte sich in den Erfahrungsberichten der Jugendlichen fast durchgängig die Verbun- denheit des privaten Lesens mit oft geheimen Wünschen, Beunruhigungen und Identifikationsbedürfnissen: siegurt2 (auf die Frage nach seiner frühesten Lese-Erinnerung): "Das ist eine Geschichte, die handelt von so 'ner kleinen Lok , die heißt Schu-Schu oder so ähnlich, und die träumt, das ist 'ne Dampflok, die träumt davon, 'ne große moderne E-Lok zu werden ... und dann sind also ihre Träume in Erfüllung gegangen ... hat aber gemerkt, d a ß sie's bei weiten? nicht so gut erfüllen kann ... hat siCh damit auch abgefunden ... war erst traurig ... Und zum Schluß ein schönes Happy-End: Die kleine Lok war mit ihrer Aufgabe, mit ihrem Leberz zufriederz." ( I , S. 10, Z. 41 -45 bis S. 11, Z. 1-12). Dolli (über ihre momentane Vorliebe für Bücher über Frauen, Natur, Me- dizin): "Da gibl's noch 'Heilen mit Edelsteinen' und so. Ich wollt ja mal Medizin machen ... Und d a gibt es noch eine uralte Heilform, die teilweise noch in den alten Kulturen praktiziert wird. das ist das Heilen mit Steinen. Denn ' Diese Beobachtung muß neuen Untersuchungsergebnissen über den RUckgang von Leseakti- vitäten gegenüber dem Konsum von Angeboten der "Neuen Medien" (vgl. Bonfadelli u.a. 1986) nicht widersprechen, da im vorliegenden Projekt durch das starke Interesse an der Summe von Leseaktivitäten jeder Art über längere Zeiträume die reale Lesehäufigkeit in kleineren Zeiteinheiten unbeachtet blieb. Für die hier zitierten und alle folgenden Äußerungen gilt: Alle Namen sind verschlüsselt. Die Interviewauseüge sind - ohne die Aussagen selbst EU verändern - in wenigen Äußerlichkeiten leicht redigiert. Die Zahlenangaben verweisen auf die Fundstelle des jeweiligen Ausiugs: Zahl des Interviews, Seiten und Zeilen. Zusammenhang von Lesen und Lebensgeschichte Jugendlicher 157 jedes Ding hat seine Ausstrahlung ... die erklären das halt so, d a ß der Mensch von einer Aura umgeben ist, die Aura nimmt ja auch Licht au f , und wenn einem dann 'ne Strahlung fehlt, dann kann es zu Eiztzugserscheinunge~~ kommen, so ungefähr ... wenn man Steine trägt, kann man beitragen, d a ß das aufgefüll t wird ... Man muß natürlich selbst überzeugt sein davon." (11, S . 2, Z. 12-28) Alexander (über Salinger 'Der Fänger im Roggen'): Ich habe angefangen zu lesen und habe immer mehr gemerkt, das Buch könnte genauso gut auch für mich geschrieben sein. Das beschreibt so drei Tage aus d e m Leben eines Jugendlichen, und ich habe mich o f t wiederge- funden in dem Leben des Typen. Als ich das gelesen habe, als ob jemand über mich geschrieben hätte, es war verrückt, wirklich, So , ich erinnere mich an eine Szene, wo er so in einer New Yorker Discothek sitzt und sich total besäuft und anschließend ein Mädchen ansprechen will und packt es einfach nicht, er kann es einfach nicht. Und dann setzt er sich dazu und redet nur Dünnschiß, und zum Schluß will er sich dann ohrfeigen, weil er genau ge- merkt hat, was er für einen Mist geredet hat." (I, S. 6, Z. 16-27). In solchen Leseberichten gaben die befragten Jugendlichen Einblick in die sie im Verborgenen bewegenden Antriebe. Lesen und seine Bedeutung rei- chen erkennbar in Kernzonen der Persönlichkeit. (3) Die beinahe wahllos herausgegriffenen Interviewauszüge können jedoch noch eine weitere, aus der Durchsicht des Projektmaterials entspringende Erkenntnis über das Lesen Jugendlicher plausibler machen. Immer wieder konnte beobachtet werden (nur ein Befragter dementierte einen solchen "Gebrauch"), daß sich Jugendliche in ihrem privaten Lesen eine Art Nische oder Enklave schufen, um durch ihre Lektüre - so die sich aufdrängende Annahme - eine Befriedigung von im sonstigen Leben unerfüllt bleibenden Wünschen und Bedürfnissen zu finden. Eine solche Funktionalität des Le- Sens deutet sich in den oben präsentierten Interviewausschnitten beispiels- weise im Nacherleben bedrängender Identitätswünsche bei Alexander an. Bei Siegurt klingt dieses Lesemotiv über mehr als ein Lebensjahrzehnt als Erinnerung an die Befriedigung nach, die er angesichts der harmonischen Lösung empfunden hatte, welche der schließliche Verzicht der kleinen Lok auf ihre Größenträume ermöglichte. Nun könnte man sagen, daß das Hervortreten eines solchen wunscherfül- lenden Alltagslesens ohnedies hätte erwartet werden müssen. Dies trifft zweifellos zu. betrifft jedoch nicht das Wesentliche der gewonnenen Ein- sicht. Als eigentlich überraschend erwiesen sich nämlich die große, oft zwanghaft-wiederholende Intensität der in solchen "Enklaven" auftretenden Leseprozesse und der oft beträchtliche Inszenierungsaufwand, mit dem Ju- gendliche diesen sorgfältig vom übrigen Lebensablauf abgeschirmten Be- reich ausstatteten. 158 Rudolf Messner/Cornelia Rosebrock Zusammenhang von Lesen und Lebensgeschichte Jugendlicher 159 Dies veranschaulicht das folgende Beispiel: Bei Jette (Gymnasiastin, 18. J.) kommt das während der Zeit der beiden Interviews anzutreffende Bedürfnis nach einer engen - man könnte sagen symbiotischen - Beziehung zu Texten, deren Inhalt offensichtlich existen- tielle Stichworte für die Interpretation ihrer eigenen Lebensgestimmtheit liefert, dadurch zum Ausdruck, daß sie die schrägen Wände ihres Dach- zimmers in großer blauer Schrift beschreibt. Der von ihr bewohnte Raum wird zur "Text-Höhle", bedeckt mit Gedichten und Sprüchen aus einem Frauenkalender über Liebes- und Beziehungsglück und -leid und die in deren Umkreis zu verarbeitenden Befindlichkeiten. Das Wohnen im eigenen Raum wird zu einem Leben in einer stets verfügbaren, für das Sich-in-sie- Versenken bereiten Textlandschaft (vgl. LahmeGronostaj 1984, S. 155-166). 1.2 "Nischen-Lesen" als lebensgeschichtlich motiviertes Refugium Das Phänomen solcher "Lese-Enklaven" mit ihrer hohen Lese-Intensität und der darin gesuchten Befriedigung sowie ihrem abgrenzend-intimen Charakter, der bis in die körperliche und lebensweltliche Selbst-Inszenie- rung der Situation reicht, dürfte die wichtigste im Projekt gemachte empi- rische Entdeckung über das Lesen Jugendlicher sein.' Dabei ist noch an- zumerken, daß - wie die Interviews zeigen - alle Textgattungen zum Ge- genstand einer solchen Leseform werden können - von literatischen Wer- ken und Gedichten über Populärwissenschaftliches und Sachbücher bis zu Krimis und trivialer Heftchenlektüre. Was aber gibt sich in einem solchen "Nischen-Lesen" neben seinem unver- kennbaren Wunschbefriedigungscharakter zu verstehen? Woher stammen seine spezifischen Motivationen? Woraus erklären sich die Intensität und der wiederholende Modus eines derartigen Lesens? Was bedeutet der mit ihm verbundene Rückzug in eine persönliche Schutz- und Geborgenheits- zone? Vielleicht kann eine psychoanalytische Betrachtungsweise auf die Spur ei- ner Antwort führen. Im Anschluß an Lorenzer läßt sich feststellen, daß im Entwicklungs- und Sozialisationsprozeß von früh an - und die gesamte Le- bensgeschichte hindurch - bestimmte Affekte und Erlebnisbereiche in der Sprache, in der Kommunikation mit Erwachsenen oder in den in der Schule und Öffentlichkeit angebotenen und erlaubten symbolischen Formen Die Fragerichtung des Projekts "Lesegeschichte als Kulturaneignung" und die Art des in ihm gewonnenen Materials haben allerdings zur Folge, da0 andere wichtige Formen und Funktio- nen des Lesens im folgenden nur indirekt behandelt werden können. Daeu gehört z.B. die Rolle des Lesens in der schulischen Bildung sowie im Proieß der beruflichen Orientierung und Integration oder die Funktion der Entzifferung von Zeichen in zivilisatorischen Alltagssitua- tionen (z.B. großstädtisch-technische Lebensformen). keinen Ausdruck finden.' Ein Beispiel dafür, das durch die Resonanz auf Bettelheims Märchenanalysen sehr bekannt wurde, sind die Trennungs- ängste und aggressiven Strebungen von Kindern, die aus deren Alltags- kommunikation ausgeschlossen bleiben, bis sie in den Gestalten der Mär- chen und der Kinderliteratur Ausdruck gewinnen (Bettelheim 1977, S. 13. ff.). Lorenzer nennt Gehalte, für die keine symbolischen Darstellungsfor- men (und damit auch keine sprachliche Artikulation und keine Befriedi- gungsmöglichkeiten) gefunden werden können, "desymbolisiert". Das hier beschriebene, den Triebwünschen näherstehende intime Lesen von Jugendlichen könnte im Sinne Lorenzers als eine selbstgesuchte Möglichkeit verstanden werden, das im Prozeß der Vergesellschaftung Verdrängte, aber doch innerlich weiter Bedrängende, wieder "bewußtseinsfähig" werden zu lassen (vgl. Lorenzer 1978, S. 76 ff.). Dies kann sowohl durch die Wahl so- zial abgewerteter trivialer Leseinhalte geschehen als auch durch eine "ent- sublimierte" Leseweise anspruchsvoller sachbezogener und literarischer Texte. Die Überlegungen Lorenzers zur "Desymbolisierung" lassen also Lesen als eine Handlungsform erscheinen, die einerseits eng mit dem Prozeß der ge- sellschaftlichen Einordnung verbunden ist, sich zugleich aber auch mit dem nicht-integrierten Potential verbleibender, teilweise abgedrängter Subjekti- vität verbünden kann. Das beschriebene "Nischen-Lesen" weist einige Züge eines solchen "Refugiums" auf, in dem das im "offiziellen" Entwicklungs- und Bildungsprozeß Abgespaltene und Ausgegrenzte - kulturell Unerledig- tes - symbolisch bearbeitet werden kann.2 Lesen, vor allem in seiner pri- vat-abgeschotteten, lustbetonten, gleichsam "unzivilisierten" Form, scheint den Träumen und Beunruhigungen, den Wünschen und Phantasmen, die im realen Leben keine Chance haben oder gar nicht wahr- und ernstgenom- men werden, eine Möglichkeit zur symbolischen Artikulation und zum Ausleben zu geben.3 ! Freilich wirft ein solcher Deutungsansatz wieder neue Fragen auf. Zunächst ist zu erkennen, daß die "Refugiums-These" eine Fülle indivi- dueller Bedeutungsqualitäten des privaten Lesens Jugendlicher zuläßt, die nur an konkreten Fällen weiter aufgeklärt werden können. Die Bedeutung i des sich abschirmenden intimen Lesens kann ja von problematischen, weil I I Vgl. Lorenzer: "Das Nicht-Verwandelte, das Obentlndige und Nicht-Sprachdomestizierte I sind die Erlebniaformen, die am Rande der sprach-symbolisch lizensierten Lebensentwürfe i eurückbleiben" (Lorenzer 1978, S. 77). i I Vgl. zu den "Abwehrmechanismen" des "Verdrängens", "Abspaltens" und "Ausgrenzens" Laplanche und Pontalis, Bd. 1, 1975, S. 30 ff. Vgl. eum Problem der "Lust am Text" die vielen einschlägigen Assoziationen bei Barthes 1982. i I 160 Rudolf Messner/Cornelia Rosebrock konsum- oder surrogathaften Gehalten bis zu entwicklungsfördernden Inte- grations- und Selbstfindungs-Leistungen reichen, wie sie Jugendlichen in der Schutzzone einer unzensierten Privatlektüre (und der sie begleitenden kulturellen Aktivitäten) möglich werden. Beide Fragen, der Zusammenhang zwischen Lesen und Lebensgeschichte und die Bedeutung des Lesens im Leben einzelner Jugendlicher, werden in den folgenden Abschnitten näher untersucht. 2. Ansätze zur Interpretation des Zusammenhanges zwischen Lesen und Lebensgeschichte Der Sachverhalt, daß sich die befragten 17-19jährigen Jugendlichen durch ihre private Lektüre einen spezifischen Ort zur symbolischen Verarbeitung von Lebensproblemen geschaffen haben, wirft die Frage auf, wie denn die Umstände und Ereignisse ihrer Lebensgeschichte auf die Thematik und Ei- genart eines solchen Lesens einwirken. Dies wiederum führt zur noch grundsätzlicheren Frage, wie denn über- haupt Lebensgeschichte und Lesen zusammenhängen. Handelt es sich dabei um zwei relativ unabhängige Bereiche, die zueinander von der Lesefor- schung in eine Ursache-Wirkung-Beziehung gebracht werden können, z.B. in der Weise, daß man spezifischen biografischen Konstellationen oder Er- eignissen bestimmte Leseformen, -motive oder -inhalte zuordnen kann? Die Hoffnung, daß ein solcher Weg offensteht, ist nicht allzu groß, wenn man sich das Verhältnis von Lebensgeschichte und Lesen vergegenwärtigt. "Lebensgeschichte" verweist auf den ungemein komplexen Prozeß, an dem jeder einzelne Mensch teilhat, insofern er Subjekt eines einmaligen Le- bensablaufs ist. Den Begriff der "Lebensgeschichte" kann man so bestim- men, daß er die Gesamtheit der Aktivitäten, Erfahrungen und Objektiva- tionen meint, die sich entlang der zeitlich erstreckten Existenz eines Men- schen vollziehen und ausbilden. Mit einer solchen Bestimmung werden nicht nur die äußerlich zur Lebensgeschichte zählenden Tätigkeiten erfaßt (z.B. 13 Jahre lang zur Schule gehen), sondern auch Prozesse innerer Reak- tion und Verarbeitung (z.B. die schulisch provozierte Identifikation oder Abscheu gegenüber Fächern) und die sich materiell niederschlagenden Pro- dukte des eigenen Handelns (z.B. Briefe; der erreichte Schulabschluß; das selbstbestimmte ~ussehen.) ' Wenn man nun unter "Lesen" die aktive Auf- nahme von in Texten aller Art repräsentierten Bedeutungen versteht, wird Zu unterscheiden sind von der "Lebensgeschichte" deren teilweise ~weckbeeogenen Selbst- und Fremdinterpretationen als "Lebenslauf', "Bildungsgang" oder "Biografie" (vgl. Schulee 1979, S. 58 f.). Zusammenhang von Lesen und Lebensgeschichte Jugendlicher 161 deutlich, daß es sich dabei um einen nur schwer aus der Lebensgeschichte herauslösbaren Komplex handelt. Ohne ein ständig die Lebenspraxis be- gleitendes Lesen würden in unserem Kulturkreis weder die Aufnahme der für unsere Gesellschaft prägenden Bedeutungskomplexe, 2.B. Freizeitbe- wußtsein, politische Gesinnung, noch die Auseinandersetzung mit ihnen möglich sein. Lesen erscheint also in die Lebengeschichte "verwoben" wie umgekehrt die Dynamik wichtiger Lebensprozesse im Lesen zum Ausdruck kommt. Aber kann man nicht der ungreifbaren Totalität der "Lebensgeschichte" als Ganzer dadurch entgehen, daß man einzelne Faktoren herausnimmt und deren Wirkung auf Lesen untersucht? In Frage käme etwa, die lesespezi- fischen Wirkungen sozio-ökonomischer Bedingungen (2.B. Arbeitermilieu, Stadtbürgertum) zu studieren oder den Einfluß lebensweltlich-familiärer Faktoren (Arztfamilie, Geschwisterkonstellation) sowie von "kritischen Le- bensereignissen" (2.B. Bruch einer Beziehung) oder einzelner prägender Phasen oder Momente des Entwicklungs- oder Bildungsprozesses (vgl. das Konzept der "Entwicklungsaufgaben", z.B. das Lernen der Geschlechtsrolle, bei Kaiser 1978). Könnte nicht der biografische Wirkungszusammenhang auf diese Weise aufgeklärt werden? Tatsächlich sind alle genannten Faktoren in mehr oder minder spezifischer Weise auf das Studium von Leseverhalten angewandt worden. Dabei hat es sich aber gezeigt, daß die aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Diszi- plinen in der Leseforschung übernommenen Kategorisierungen - seien es Altersphasen, Lesertypen, Sozial- und Lebensweltbedingungen, Entwick- lungsprobleme, Lebensereignisse oder Grundhaltungen zum Lesen - nicht ausreichen, um das individuelle Leseverhalten in konkreten Situationen im Hinblick auf seine Eigenart und seine auslösenden Faktoren wirklich ver- stehen zu können. Henriette Herwig, die in einer resümierenden Studie die Aussagekraft der vorliegenden Ansätze zur Leseforschung kritisch unter- sucht hat, illustriert an Beispielen, wie schwierig allein schon die Zuord- nung einzelner Leseinhalte zu Lesemotiven werden kann: "Von fünf imaginierten Zeitungslesern sucht der eine dringend ein billiges Zimmer und konzentriert sich völlig auf den Anzeigenteil; der zweite will sich sachlich über das politische Tagesgeschehen informieren, während der dritte nur vermeiden will, bei der Unkenntnis aktueller Ereignisse ertappt werden zu können; der vierte liest die Zeitung von der ersten bis zur letz- ten Seite, weil er sich auf diese Weise den Fachbüchern entziehen kann, die zur Vorbereitung einer Klassenarbeit auf ihn warten; der fünfte liest die Zeitung gar nicht wirklich, sondern baut sie nur als Kommunikations- barriere zwischen sich und seiner Umwelt auf. Auch der Junge, der auf den plötzlichen Tod seines Vaters mit einer fünftägigen Karl-May-Lektüre reagiert - und das ist kein Gedankenspiel mehr - liest May anders als seine 164 Rudol f Messner/Cornelia Rosebrock Auf diesen Vorgang verdient hingewiesen zu werden, weil an ihm etwas vom Eigencharakter des Schriftmediums - und damit auch des Lesens - sichtbar wird. War nämlich schon mit der Sprache Menschen die Möglich- keit gegeben, Wirklichkeit als bedeutsam zu empfinden und erfahrene Be- deutungen in der Erinnerung und im Sprechen festzuhalten und zu kom- munizieren, so entstand in Form von Schrift und Texten eine neue Welt selbständiger, vielfach nutzbarer Zeichen. Wesentlich ist, daß diese "Zei- chenwelt" nicht eine bloße "Abbildung" des schon mündlich über die Wirk- lichkeit Ausdrückbaren darstellt, sondern eine zusätzliche Form der Sym- bolisierung mit neuen qualitativen Möglichkeiten und einer eigenen Dyna- mik eröffnet. Die besondere kulturfördernde Wirkung des produktiven und rezeptiven Umgangs mit Texten ließe sich medientheoretisch unter Zuhilfenahme ei- ner Vielzahl einzelwissenschaftlicher Ansätze näher ausführen (vgl. z.B. aus verstehenstheoretischer Sicht Aust 1983; zur literaturwissenschaftlichen Be- trachtung des Leseaktes Iser 1976). Hier nur ein Argument aus der Psy- chologie der geistigen Tätigkeiten: Dadurch, daß Texte Bedeutungen zur beliebig wiederholbaren, selbstgesteuerten Aufnahme und Bearbeitung zu- gänglich machen - auch durch die "Rückgriffe" und die "Verlangsamung" des Umgangs mit dem Inhalt, die sie zulassen - entstehen für den schrei- benden und lesenden Menschen ausgedehnte Möglichkeiten der einfühlen- den Vergegenwärtigung oder der denkerischen Vertiefung und Durchar- beitung der überlieferten ~ u l t u r ' . Alles, was neuzeitliche Kultur ausmacht - von der praktisch-technischen Entwicklung von Arbeits- und Lebens- formen über die Ausbildung von Ökonomie, Wissenschaft, Kunst, Religion bis zur Entfaltung aufklärerischer Individualität und großgesellschaftlicher Politik und Massenkommunikation - hat die enorme Steigerung des kollek- tiven gesellschaftlichen Gedächtnisses sowie des Wahrnehmens, Denkens und Imaginierens zur Voraussetzung, wie sie erst unter Mitwirkung des schriftkulturellen Mediums möglich wird. Welches ist nun aber die besondere Rolle des Lesens im beschriebenen Prozeß kultureller Evolution? Lesen, so hätte die Antwort zu lauten, hat an allen beschriebenen Möglichkeiten der schriftkulturellen Entwicklung als ihr rezeptiv-vergegenwärtigendes Moment Anteil. Was sich symbolisch ob- jektiviert hat, kann - ohne daß Leser notwendig selbst an der Text-Pro- Beiträge EU einer medientheoretischen und kulturvergleichenden Deutung der Schriftkultur (und des Lesens) finden sich u.a. in Bruners "Studien eur kognitiven Entwicklung", wo be- sonders auf die selbständige Bedeutung der ~ymbolischen (sprachlichen) Repräsentationsform fiir den Umgang mit Wirklichkeit hingewiesen wird (vgl. Bruner u.a. 1971, S. 55 ff. und S . 271-385; kritisch interpretierend EU den Grundannahmen: Aebli 1980181, bes. Bd. 2 , S. 323 f.). Für das Verständnis des Zusammenhanges ewiachen Schriftkultur und Denkentwicklung ist nach wie vor Wygotski maßgebend (vgl. Wygotski 193411977, e.B. S . 224 Cf.). Nach ihm ist Schreiben - in deutlicher Unterscheidung vom Sprechen - ein hoch- komplexer Proeeß der Zeichenproduktion aufgrund der gedanklichen Vergegenwärtigung von Inhalten. Zusammenhang von Lesen und Lebensgeschichte Jugendlicher 165 duktion beteiligt, ja ihrer überhaupt kundig sein müssen - innerlich ange- eignet, verlebendigt oder verworfen werden. Über Lesen kann Zugang auch zu solchen Situationen, Erfahrungen und Gedanken gefunden werden, die außerhalb des eigenen Daseins und Miterlebens liegen. Durch Lesen kann - wenn auch immer durch die eigene Vorstellungskraft des Rezi- pienten inszeniert - Zugang zum gewaltigen Komplex geschriebener menschlicher Erfahrung gefunden werden. Lesen bedeutet also, am zusätzlichen kulturellen Aktionsraum der durch die Schriftsprache begründeten medialen Eigenwelt teilzuhaben. Freilich ist dabei zu bedenken, daß die Entstehung einer elaborierten Schrift- und Bücherkultur, welche Lesemöglichkeiten der beschriebenen Art bietet, selbst einer langen historischen Entwicklung bedurfte. Neben dem im Vorangehenden besonders hervorgehobenen Moment der Phoneti- sierung der Schriftsprache war der Grad der erreichten Lesekultur von ei- ner ganzen Reihe von weiteren Faktoren abhängig. Diese reichen von langwierigen schrifttechnischen Entwicklungen (2.B. Einführung von Wortabteilungen, Standardisierung der Buchstaben, Regelung der Recht- schreibung) über technische Voraussetzungen einer massenweisen Herstel- lung von Texten (Erfindungen des Papiers und Buchdrucks) bis zu sozio- kulturellen Entwicklungen, wie der Entstehung einer gemeinsamen Volks- sprache oder der Überwindung von sozialen Barrieren, durch welche die Schriftkultur zunächst als religiöses oder gelehrtes Geheim-, Standes- oder ~ e r u f h i s s e n bestimmten gesellschaftlichen Gruppen exklusiv vorbehalten wurde. Als Hintergrund dieser Entwicklungen spielen schließlich ökono- misch-soziale Veränderungen, wie das Aufblühen der Städte und der all- gemeine wirtschaftliche Aufschwung, eine entscheidende Rolle. Es dauerte aber im deutschen Kulturkreis bis in die Aufklärungszeit, bis sich die ei- gensprachliche Buchproduktion gegenüber dem Lateinischen durchsetzte, an dem die Gelehrten festgehalten hatten. Im 18. Jahrhundert entstand schlagartig ein ausgedehnter bürgerlicher Buchmarkt, aber erst im 19. Jahrhundert erreichte das Buch eine auch über die bürgerlichen Eliten hinausreichende Wirkung, bis es dann zum in der Gegenwart bekannten Massenprodukt wurde (vgl. Greven 1973, S. 1 17 ff.). 2.1.2 Lesen als Medium der zivilisatorischeri Sublimierurzg Wo läßt sich nun in dieser kulturellen Entwicklung die Spur des hier zu erörternden Leseproblems Jugendlicher wieder aufnehmen? Der Anknüp- fungspunkt kann in der mit Beginn der Neuzeit entstehenden Kulturpraxis gesehen werden, wie sie jüngst Neil Postman in Erinnerung gerufen und in ihrer Kontinuittit bis in die Gegenwart verfolgt hat, wo sie erstmals durch das Vordringen der elektronischen Bild-Medien in Frage gestellt wird. Im vorliegenden Zusammenhang interessieren dabei allerdings weniger die 166 Rudolf Messner/Cornelia Rosebrock spektakulären Thesen Postmans zum Entstehen und Verschwinden der Kindheit (und seine dabei oft allzu monokausal formulierten Argumente; vgl. etwa Postman 1983, S. 29), sondern seine allgemeinen Bemerkungen über die kulturelle Entwicklung und die Rolle des Lesens in ihr. Nach Postman entstand im Gefolge der Erfindung des Buchdrucks (und der ihn begleitenden und erst zur Geltung bringenden ökonomisch-technisch-so- zialen Entwicklungen) ein gewaltiger Schub kultureller Veränderungen. Er läßt sich durch Stichworte beschreiben, wie das Verfügen über neue sym- bolische Möglichkeiten; Entstehen einer gemeinsamen Volkssprache; Her- ausbildung eines neuen Selbstverständnisses bezüglich der Individualität von Gedanken und Texten; Wissensexplosion durch die Erschließung und Verbreitung der bislang nur Eingeweihten zugänglichen schriftkulturellen Tradition; Erwerb neuer geistiger Techniken der Darstellung und Bearbei- tung von Themen; Anfange der Wissenschaft (vgl. Postman 1983, bs. S. 31- 48). Dieser Entwicklungsschub brachte nach Postman ein neues kulturelles Ideal hervor, das sich im Verlaufe von mehr als zweihundert Jahren schließlich durchsetzte: "soziale Literalität", d.h. verbreitete Lese- und Schreibfähigkeit (wie Postman 1983, S. 20 f., mit einem Begriff Havelocks sagt). Die gebildeten Erwachsenen nahmen sie für sich in Besitz und grenzten sich damit zugleich von den Heranwachsenden ab, die sich nun durch den Mangel der entsprechenden schriftkulturellen Fähigkeiten von ihnen unterschieden und erst durch ein - allmählich obligatorisches - Le- senlernen in Schulen in die "Geheimnisse" des Erwachsenenlebens eindrin- gen konnten. Lesen stand im Zentrum dieses neuzeitlichen Bildungsideals, was allein schon dadurch erwiesen ist, daß die Gruppeneinteilung von "Schülern" nach dem Stand ihrer Lesefähigkeit erfolgte. Die Entwicklung der sozialen Literalität, die Postman im Interesse der Warnung vor medialen Regressionen nur zustimmend beschreibt, wird durch die Zivilisationstheorie von Norbert Elias im Hinblick auf unser Thema differenzierter interpretierbar. Die Theorie der Zivilisation (vgl. Elias 1936/1977; vgl. auch Elias und Lepenies 1977; Rumpf 1981; Zymek 1983) wendet ihre Aufmerksamkeit bekanntlich den langfristigen, unge- planten, ineinander verwobenen Veränderungen von Gesellschaftsformen und Grund-Modellierungen der Persönlichkeit von Menschen zu: "Es än- dert sich die Art, in der Menschen miteinander zu leben gehalten sind; deshalb ändert sich ihr Verhalten; deshalb ändert sich ihr Bewußtsein und ihr Triebhaushalt als Ganzes" (Elias 1977; Bd. 2, S. 377). Es geht also um das Wechselverhältnis von sozio- und psychogenetischen Veränderungen, wie Elias auch sagt. Die Grundthese lautet, daß die seit dem Mittelalter in den abendländischen Gesellschaften erfolgte Zusammenballung von politi- scher und ökonomischer Macht (Bildung von staatlichen Zentren, Macht- monopolen, Herrschafts- und Verwaltungsapparaten) und die mit ihnen verbundene funktionale Differenzierung der Gesellschaft den Menschen unbemerkt neue Formen der "inneren Zurichtung" aufgezwungen haben. Diese bestehen in ihrem Kern im Ausbau eines differenzierten inneren Cs"- Zusammenhang von Lesen und Lebensgeschichte Jugendlicher 167 Denk- und Kontrollapparates, durch den die früher direkter auslebbaren Affekte zurückgehalten und gedämpft werden. Zwischen Impuls und Handlungsvollzug können so ausgedehnte reflektierende, antizipatorische ("Langsicht") und planerische Aktivitäten gerückt werden. Der "Fremd- zwang" der sich wandelnden gesellschaftlichen Erfordernisse ist nach Elias als verinnerlichter "Selbstzwang" Teil des Grundgefüges der Persönlichkeit moderner Menschen geworden. Die neuzeitliche Schriftkultur - und mit ihr Texte und Lesen - erscheinen aus dieser Sicht als die Medien, durch die eine derartige zivilisatorische Veränderung überhaupt erst möglich wird. Schon Postman verweist im Anschluß an Elias mit einem enthusiastischen Unterton auf diesen Sach- verhalt, während ihn Elias selbst nüchterner kommentiert: "Das Buch und die Welt der Buchgelehrsamkeit stellten einen fast uneinge- schränkten Sieg über unsere animalische Natur dar ... Man übertreibt kaum, wenn man sagt, daß der Buchdruck - indem er die Botschaft von ihrem Absender trennte, indem er abstrakte Gedanken begünstigte, indem er die Unterordnung des Körpers unter den Geist verlangte und die Tugenden der Besinnlichkeit betonte - den Glauben an die Dualität von Körper und Geist verstärkte ..." (Postman 1983, S. 60). "Das stärkere Verlangen nach Büchern ist an sich bereits ein sicheres Zei- chen für einen starken Zivilisationsschub; denn die Triebverwandlung und -regulierung, die es sowohl erfordert, Bücher zu schreiben, wie sie zu le- sen, ist in jedem Falle beträchtlich" (Elias 1977, Bd. 2, S. 376). Texte und Lesen können zu Mitträgern dieses Kulturprozesses werden, in- dem sie gleichsam eine "zweite", symbolische Repräsentation der unmittel- bar erfahrbaren Realität bereitstellen und sich zunutzemachen. In diesem symbolischen Medium können Menschen ihre Affekte widerspiegeln und bremsen, ihre Gedanken ordnen und künftige Situationen vorausschauend und planend durcharbeiten - sich überhaupt Ausflüge in Gedankenspiele und Wunschwelten leisten -, bevor sie allenfalls handelnd in die Realität eingreifen. Mit Recht kann folglich gesagt werden, daß das Medium Lesen - kulturtheoretisch gesehen - gewichtig am Prozeß der zivilisatorischen Sublimierung beteiligt ist. Es gehört als wesentlicher Teil zur Kultur der gedanklichen und triebverwandelnden Arbeit, die sich angesichts der neu- zeitlichen Komplizierung der Gesellschaft in fast allen Lebensbereichen zwischen Antrieb und handelnde Ausführung geschoben hat. 2.1.3 Die doppelte Anlbivalenz des Mediums Leser1 in der Gegenwarf Nun fügt sich Lesen allerdings nicht so glatt in den Prozeß der kulturell- zivilisatorischen Sublimierung ein, wie dies nach der bisherigen Darstellung 168 Rudolf Messner/Cornelia Rosebrock erscheinen mochte. Dem ist so, weil sich die Leseaktivität zum einen als schlechter Ersatz für reales Handeln verselbständigen kann, andererseits aber gerade in dieser realitätsersetzenden Praxis des Lesens die Chance zum Festhalten an Inhalten liegt, für die im offiziellen kulturellen Diskurs kein Platz ist. Zur Verschränkung dieser beiden Motive sei noch einmal auf eine Ausführung verwiesen, in der Elias auf die Mehrdeutigkeit der zivilisato- rischen Entwicklung eingeht. Auf der einen Seite sei der Mensch durch sie weniger als zuvor "Gefangener seiner Leidenschaften". Auf der anderen Seite würde ein derart gefahrloser gewordenes Leben aber auch affekt- und lustloser und ärmer an unmittelbaren Befriedigungen. Auf Lesen ein- gehend, fährt Elias fort: '' ... und man schafft sich für das, was im Alltag fehlt, im Traum, in Büchern und Bildern einen Ersatz: so beginnt der Adel auf dem Wege der Verhöflichung Ritterromane zu lesen, so sieht der Bür- ger Gewalttat und Liebesleidenschaft im Film (Elias 1977, Bd. 2, S. 330). Hier ist die ganze Doppelwertigkeit angedeutet, die dem Lesen in der neuzeitlichen Kulturentwicklung zukommt (und die sich schließlich im Ge- gensatz der schulisch-beruflichen zur privaten Lesepraxis heutiger Jugend- licher wiederfindet). Zunächst, so zeigt sich, steht Lesen im Dienst der sublimiert-distanzierenden Weltbearbeitung durch eine Lese- und Schreib- kultur gelehrten und wissenschaftlichen Ursprungs. Ohne eine ausgeprägte Schriftkultur, an der alle Gesellschaftsmitglieder mehr oder weniger teil- haben, wäre der Siegeszug moderner Rationalität nicht m6glich geworden. Eine solche Indienstnahme des Lesens schlägt bis in die fiktional-ästhe- tische Literatur durch. Dies ließe sich an vielen Fällen deutlich machen, z.B. an dem für die Aufklärungsepoche wichtigen Robinson Crusoe, der vorführt, wie das Individuum durch den selbstbewußten, rationalen Ge- brauch seiner Vernunft über die gesamte Kulturtechnik persönlich verfü- gen kann. Allerdings nur in der literarischen Fiktion, nicht aber in der sich zivilisatorisch einengenden ~ea l i t ä t . ' Darüber hinaus etabliert sich das Lesen aufgrund der in ihm selbst ange- legten medialen Eigenarten als privat genutzte Nische am Rande oder außerhalb des Kulturprozesses. In dieser Nische können Inhalte vergegen- wärtigt und genossen werden, die in der "öffentlichen" Herrschafts- und Kulturszene keinen Platz finden oder tabuiert werden: das gesellschaftlich Versunkene (wie im Ritterroman), das Abenteuerliche, Revolutionäre, auch das Trivial-Gewaltsame und Ungezügelt-Sexuelle oder das politisch, reli- giös und bürgerlich Aufmüpfige oder Anstößige. Geschichtlich gesehen läßt sich neben dem kulturtragenden Gebrauch des Lesens immer auch ' Auf die Frage der psychohistorischen Bedeutung von Literatur, etwa der klassischen und ro- mantischen, welche die genannten Lesebereiche in ihrer Wirkung Ubergreift, kann hier nicht eingegangen werden. Vgl. dazu als e i n e neuere, fortdauernde BemUhung die Schriftenreihe "fragrnente" des Wissenschaftlichen Zentrums für Psychoanalyse, Psychotherapie und psy- chosoziale Forschung an der Gesamthochschule Kassel, Siehe als Beispiel Heft 718 1983 "Zur psycho-historischen Genese der Deutschen". I Zusammenhang von Lesen und Lebensgeschichte Jugendlicher 169 dieser zweite Strang einer Nutzung des Lesens als privater Ort der Trö- stung und des Genusses, aber auch als heimliches Medium für das kulturell Verfemte nachweisen. Erwähnt werden kann hier die das 18. Jahrhundert durchziehende mächtige Unterströmung der Lektüre von Räuber- und Geisterromanen sowie von Kriminal- und Mordgeschichten aller Art, die ein wenig von einem "Revolutionsersatz" für kleine Leute an sich haben. Hingewiesen werden könnte auf viele literarische Zeugnisse zu Lesesucht, Lesefieber und Lesewut, von denen jene von Rousseau und Kar1 Philipp Moritz noch heute geläufig sind.' Bei Moritz (1785) heißt es über das Lesen des 8jährigen Anton Reiser: "Seine Begierde zu lesen, war nun unersättlich ... Durch das Lesen war ihm auf einmal neue Welt eröffnet, in deren Genuß er sich für alle das Unan- genehme in seiner wirklichen Welt einigermaßen entschädigen konnte. Wenn nun rund um ihn her nichts als Lärmen und Schelten und häusliche Zwietracht herrschte, oder er sich vergeblich nach einem Gespielen umsah, so eilte er hin zu seinem Buche. So ward er schon früh aus der natürlichen Kinderwelt in eine unnatürliche idealistische Welt verdrängt, wo sein Geist für tausend Freuden des Lebens verstimmt wurde, die andre mit voller I Seele genießen können" (Moritz 1972, S. 16 f.). 1 Die durch Texte und Lesen im Privatbereich inszenierbare Enklave einer kulturellen Gegenpraxis erschien immerhin so gefährlich, daß sich mit der stärkeren Ausbreitung des Lesens neben vehementen aufklärerisch-pädago- gischen Warnungen auch ein ausgedehntes Zensurwesen etablierte, das dem I Lesen seine nicht geduldete Nahrung schon an den Textquellen zu entzie- hen versuchte. Dennoch hat sich die ambivalente Nutzung des Leseme- diums nicht aufhalten lassen. Neben manchen problematischen Zügen der Leseprivatheit, z.B. ihren möglichen elitären Zügen (vgl. dazu Dahrendorf 1973, S. 320 f.), besteht ja deren Vorzug gerade darin, daß sie es - jedem Kontrollversuch widerstehend - ermöglicht, sich dem Überdruck der domi- nierenden Institutionen zu entziehen. 1 I Gerade dieses Moment dürfte sich auch im "Nischen-Lesen" heutiger Ju- gendlicher finden lassen. In ihren Persotien scheint sich der kulturhistorisch beschriebene Prozeß der Aufspaltung in die "offizielle" Lesewelt des Kul- I turerwerbs und die davon abgeschirmte private Lesesphäre der lustvollen Beschäftigung mit dem Abgedrängten und unerledigt Bleibenden zu wie- derholen. Ein nochmaliger Blick auf die Zivilisationstheorie zeigt, warum I Lesen überhaupt eine solche Ergänzungs- und Kompensationsfunktion lei- sten kann. Nach Elias ist es die herrschende Tendenz des Zivilisa- I tionsprozesses, daß "das Bewußtsein weniger triebdurchlässig und die Triebe weniger bewußtseinsdurchlfissig werden" (vgl. Elias 1977, S. 390). i Für wertvolle Hinweise zum Lesen im 18 Jh sei H R Egli gedankt 170 Rudolf Messner/Cornelia Rosebrock Bestimmte Lektüreinhalte und -formen können nun, wie im nächsten Ab- schnitt näher ausgeführt werden soll, diese Tendenz partiell aufheben, in- dem die durch sie inszenierte imaginative Welt von Bedeutungen für den eintauchenden Leser das Joch des Realitätsprinzips vorübergehend aufhebt. Freilich - und hier zeigt sich das zweite Moment der Ambivalenz des Le- sephänomens - können solche privaten Leseausflüge sehr unterschiedliche Funktionen und Wirkungen haben. Sie können sowohl der erholsamen Kompensation, dem erfrischenden Wegschwimmen, der Vergegenwärtigung des sonst Entbehrten oder der eingängigen Aufarbeitung des sonst nicht Lösbaren dienen. Möglich ist aber auch, daß sich Lesende durch sie nur noch mehr in die entfremdenden Verstrickungen und Scheinbefriedigungen verlieren, denen sie schon im Alltag unterworfen sind. Erst seine jeweils im Vordergrund stehenden Gehalte entscheiden darüber, ob das "Nischen- Lesen" Jugendlicher in einem Verhältnis des Gegensatzes oder der Ergän- zung oder der wechselweisen Kompensation zur schulisch-beruflichen und gesellschaftlichen Praxis steht.' 2.2 Im Gehäuse der Phantasien - zur psychischen Funktion des Lesens 2.2.1 Die Verbindung von Lesen und Phantasietätigkeit Im privaten alltäglichen Lesen suchen sich Jugendliche Nischen, abge- schlossene Enklaven, von denen aus das Eintauchen in die Illusion einer Geschichte möglich wird. Psychologisch betrachtet ist von besonderem In- teresse, daß sich dabei das Lesen mit einem Bereich der Persönlichkeit li- iert, in dem die Begrenzungen der Wirklichkeit gelockert sind, mit der Phantasie. Lesen jeder Art erfordert notwendig das innere Vorstellen und Inszenieren der im Text durch bloße Buchstaben repräsentierten Bedeutun- gen und damit Phantasietätigkeit. Auf dieses Bündnis zwischen Phantasie und Text hat Freud aufmerksam gemacht, als er das Schreiben des Autors als Ausdruck und Verarbeitung von verborgenen Wünschen und Wunscherfüllungen beschrieb, als eine dem Tagträumen verwandte Tätigkeit (vgl. Freud 1982, Bd. X, S. 177 f.). Das Phantasieren wird von der Psychoanalyse als eine innere Aktivität in der Art des Denkens begriffen, die aber im Unterschied zu diesem weniger den Realitätsprüfungen unterworfen ist. Entwicklungsgeschichtlich existiert Nicht näher erörtert werden kann hier die Frage, wie sich das Vordringen der Bild-Medien auf daa Lesen älterer Jugendlicher auswirkt. Soweit dazu aus den Befragungen Eindrücke vorliegen, spricht alles dafilr, da0 Fernsehen, Filme und Videos das nach wie vor profiliert vorhandene Lesen nicht einfach ersetzt haben. Doch sind Verlagerungen EU beobachten. Die Bild-Medien dürften vor allem Unterhaltungs- und Informationsfunktionen der Buch-, Heftchen- und Zeitungslektüre libernommen haben. Zusammenhang von Lesen und Lebensgeschichte Jugendlicher 171 es vor dem Denken und bewahrt den Zugang zu alten Ängsten und Wün- schen, die von den anderen Bewußtseinsbereichen abgelehnt oder über- wunden geglaubt werden. So bezieht sich das Phantasieren auf psychische Strukturen, die in anderen Bereichen des Lebensvollzugs, z.B. im Arbeiten und Handeln, bereits ein höheres, reiferes Entwicklungsniveau erreicht ha- ben. Texte sind in dieser Betrachtung nicht nur ein Medium des Denkens; viel dominanter tritt im beschriebenen "Nischen-Lesen" der Jugendlichen ihre Funktion als Medium der Phantasie auf, als Bereich, in dem die Wirklich- keitsschranken entkräftet sind und alte, sonst schamhaft verborgene, ver- gessene oder persönlich und kulturell abgedrängte Motive aufleben. Texte, die in der beschriebenen Weise rezipiert werden, ermöglichen somit in ei- ner öffentlichen Symbolisierung und Objektivation jene psychischen In- halte in einer sozialen Nische lustvoll zu vergegenwärtigen, die sich den Erfordernissen der Realität und der Kommunikation in gewisser Weise entziehen. Dieser Typ des Lesens verweist somit in lebensgeschichtlich frühe Phasen von Lesern zurück und wirft das Problem des Überlebens archaischer Wünsche und Ängste, also von ~ r i m ä r v o r ~ ä n ~ e n ' auf, die sich im Lesen ein Refugium suchen. 2.2.2 Über die affektive Grundlage des Leseakts Sich in einen Text vertiefen, heißt psychologisch, daß sich der Leser in eine von ihm selbst mitgeschaffene Illusion begibt. Bei genauerer Betrach- tung gilt das nicht nur für die zumeist fiktiven Texte, von denen die Ju- gendlichen berichten. Auch Sachtexte erfordern die innere imaginative Nachbildung von Realzusammenhängen und die innerliche Zuwendung zu diesen Vorstellungen und damit auch die Einschränkung der Wahrnehmung der unmittelbaren Situation. In diesem Vorgang erscheint der Text nicht als abgegrenztes Wahrneh- mungsobjekt. Überhaupt ist die von Bildungsinstitutionen oft angestrebte Vogelperspektive auf die Gesamtheit eines Textes ein Ideal, das dem Le- seakt selbst durchaus fremd ist. Die literaturwissenschaftliche Theorie des Leseaktes hat den Leseprozeß folgerichtig als Bewegung des Lesers im Text In der Psychoanalyse wird durch den Begriff des Primtirvorgsnga die Arbeitsweise des Unbe- wußten gekennzeichnet. Die psychische Energie sucht ohne Rücksicht auf die Realität die ursprünglichen Befriedigungserlebnisse wieder auf (vgl. Laplanche und Pontalis 1975, S. 397). In unserem Zusammenhang verweist der Begriff Primärvorgang auf das im Lesen stattfin- dende Aufsuchen ursprünglicher Befriedigungserlebnisse unter Aufhebung der Realitäts- Schranken auf den Wegen der Verschiebung, Verdichtung, Aufhebung der Zeitdimension, Verschmelcung der Gegensätze usw. Der Text als kulturelle Objektivation entstammt also dem Sekundärbereich, ermöglicht aber bei luitorientierter Lektüre Anntiherungen an primäre Befriedigungsformen, immer vorausgesetrt, da0 die Technik des Lesans keine Barriere dar- stellt. 172 Rudolf Messner/Cornelia Rosebrock interpretiert. Der Leser steht zum Text nicht in einer gegenständlichen Be- ziehung, einer Subjekt-Objekt-Relation, sondern "bewegt sich als perspek- tivischer Punkt durch seinen Gegenstandsbereich hindurch" (vgl. Iser 1976, S. 178 ff.); perspektivisch insofern, als jeder Leseakt eine selektive Rück- schau auf bereits Stattgefundenes und eine daraus gebildete Erwartung des Kommenden beinhaltet. In diese dauernde Konstitution von Perspektiven während der Bewegung im Text gehen durch die zahllosen Stellen, an denen der Text seinen Gegenstand unvollständig und lückenhaft beschreibt - Iser nennt sie Leerstellen -, szenische Konkretisierungen des Lesenden ein, Produkte seiner durch den Text herausgeforderten Phantasie. An diesem Punkt berühren sich die literaturwissenschaftliche Sicht des Leseaktes und eine erst in Ansätzen formulierte psychoanalytische Be- trachtung, in der die regressiven Momente des Lesens aufgegriffen und Texte als psychische Objekte interpretiert werden.' So beschreibt Schneider (1982) die Entgrenzung des Lesenden gegenüber dem Text als Grundlage jeder Lektüre. Das an sich unüberwindbare Ge- trennt-Sein des Menschen von Objekten werde lesend illusionär durch- brachen, im gelungenen Leseprozeß gewinne der Text Qualitäten von etwas Fließendem, umhüllendem, einer "Ursubstanz". Wie die Mutter in den er- sten Wahrnehmungen des Säuglings gehöre er psychisch sowohl dem ei- genen Körper als auch dem Außen an, und ein archaisches, sich aus der primären Liebe herleitendes Wohlgefühl begleite solcherart geglückte Lek- türe. Das noch ungeschiedene Welterleben von Säuglingen beschreibt Schneider als prägende dispositionelle Grundlage aller spateren Illusionen. Mit dieser Betrachtungsweise hilft Schneider, die besondere Leistung und ModalitSt des Mediums Lesen für die Bearbeitung von Wirklichkeit präzi- ser zu bestimmen. Sie besteht in der im unmittelbaren Umgang mit Wirk- lichkeit nicht möglichen Aufhebung der Grenzen zwischen Ich und Ge- schehen. Eine solche Aufhebung setzt voraus, sich vom allt!iglichen Anfor- derungsdruck zu "entspannen", der üblicherweise bis in die Disziplinierung des Körpers hineinreicht. Damit eröffnet sich ein genaueres Verständnis der besonderen Form des In-der-Welt-Seins, wie es die befragten Jugend- lichen für ihre private Lesepraxis schildern: Henriette: "Ich kann im Bett u m besten lesen, ich kann nicht irgendwie auf dem Stuhl hocken. Also, das karzrl ich nur, wenn ich mich jetzt auf so einen kurzen Tex t richtig konzentrieren rnuß, auf Kleinigkeiten achten. Satzbau oder so. da tue ich meistens sowieso in1 Sitzen lesen. Und so, so kann ich Die Psychoanalyse hat sich bislang mehr um die Analyse literarischer Werke und ihrer Ent- stehungsgeschichte als um die Theorie und Praxis der Literaturreeeption bemüht (vgl. Rutschky 1981). Zusammenhang von Lesen und Lebensgeschichte Jugendlicher 173 eigentlich nur i m Liegen lesen, das kann ich mir eigentlich gar nicht anders vorstellen ..." (I, S. 19, Z. 40, S. 20, Z. 1-8) Julia (über ihr Lesen): "Es rnuß immer Musik i m Hintergrund sein, ich hör' dann zwar nicht auf die Musik, aber irgendwie nz u ß immer Musik inz Hintergrund sein - ich weiß nicht, sonst ist das irgendwie - kann ich mich auf einmal nicht mehr konzentrieren ..." (I, S. 4, Z. 31-37) Siegurt: "Ich frühstücke und esse mein Abendbrot meistens für mich hier ... und zwar auch praktisch i m Liegen. Weil das a m bequemsterz ist. Ich lege mich also au f s Bett, so auf die Seite, leg 'ne Zeitung vor mich oder 'ne Zeitschrift ... und deshalb brauche ich auch immer ziemlich viel Zeit beim Frühstück oder zum Abendessen, gerade weil ich zienzlich langsam esse, praktisch ziemlich genießerisch eigentlich, hab ich dementsprechend viel Zeit zum Lesen dabei.'' (I, S. 8, Z. 1-22) Die hier beschriebene Leseform mit ihrer von annähernd allen Jugendli- chen inszenierten Aura der Abgeschlossenheit, Geborgenheit und körper- lichen Verwöhnung erscheint in den Gesprächen wie ein Schutzraum ge- genüber dem Alltag und seinen Anforderungen, ein Fluchtpunkt für Re- gressionen, der jedoch zugleich imaginative Expeditionen ganz eigener Qualität ermöglicht. Als Urbild der Versunkenheit und Verlorenheit des Subjekts im Text drängt sich - wie von Schneider postuliert - das noch ungeschiedene Weltverhältnis des Säuglings auf. Zu bedenken ist aber, daß sich Lesen auf dem ungleich höheren Niveau einer schon vollzogenen kul- turellen Integration und Subjektbildung vollzieht. Im Falle der zitierten Ju- gendlichen wird die zunächst regressive Lockerung der Ich-Grenzen im Lesen zur Grundlage eines besonderen, mit alltäglichem Handeln weitge- hend unverträglichen, wunschgeleiteten Weltverhältnisses. 2.2.3 Lesen als Wunscherfüllung Die Frage, warum sich das Lesen in der beschriebenen Weise zur Illusions- bildung und zum Versenken in Phantasien verwenden Iäßt, führt bis zu den Wurzeln des individuellen Gebrauchs von Texten, Sprache und Sym- bolen zurück. Um die Verankerung des Lesens in Kernbereiche des Sub- jekts zu verstehen, wie sie an den triebnahen Leseweisen von Henriette, Julia und Siegurt in Erscheinung treten, muß man sich bewußt machen, daß in jeder Illusion ein Wunschmoment steckt. Von Erinnerungen oder handlungsorientiertem Denken unterscheiden sich Illusionen und Phantasien durch ihre Wunschbestimmtheit, eben dadurch, daß sie sich nicht von realen Gegebenheiten begrenzen lassen. Das ausma- lende Wünschen erscheint wie die realitätsabgewandte Seite des Menschen; in ihm wird keine Arbeit oder Tätigkeit angepeilt, und es zielt auch nicht, 178 Rudol f Messner/Cornelia Rosebrock Realität zu vermitteln. Das kann im Leseakt gelingen, weil e r als bloß fik- tives Erleben eine Lockerung von Ich-Grenzen erlaubt, ja sogar provoziert. Als wunscherfüllend ist Lesen lustvoll, zugleich steigert es die Spannung zwischen Wunsch und Wirklichkeit, indem es die Befriedigung real vorent- hält. In unserer Gesellschaft sind Jugendliche, deren Gebrauch des Mediums Lesen wir nachspüren, einem immensen Anforderungsdruck ausgesetzt, der ihnen ein hohes Sublimierungsniveau abfordert. Neben den Schwierigkeiten der inneren Ablösung von den Eltern und der Ausbildung eigener Ge- schlechtsidentität sind sie aufgefordert, sich im Zuge ihrer kulturellen, po- litischen und lebenspraktischen Integration in die Gesellschaft Lebensfor- men anzueignen, die fü r ihre Zukunft bestimmend bleiben (vgl. zur Ein- führung Ausubel 1974, zur psychoanalytischen Deutung Blos 1978). In den Interviews finden sich die Probleme der Ausgestaltung ihrer Wirk- lichkeitsbeziehung im Lesen der Jugendlichen wieder. Dabei Iäßt sich ein gravierender Unterschied zwischen dem Lesen von Lehrlingen und Gym- nasiasten beobachten, der durch ihre jeweils unterschiedliche Lebenspraxis bestimmt ist. Die kulturelle Integration von Lehrlingen vollzieht sich real im Arbeitsprozeß, die der Gymnasiasten in den Text- und Sprachfiktionen, die den schulischen Bildungsprozeß dominieren. Die von uns interviewten Lehrlinge strebten zumeist eine Kopie der elter- lichen Lebensformen und eine konventionelle Geschlechterrolle an; ihr Lesen scheint die Wünsche, die in der größtenteils schon vollzogenen so- zialen Festlegung nicht aufgehen, in wiederholender Weise zu aktivieren. Stefan berichtet beispielsweise über sein Lieblingsbuch, einen Konsalik- Roman, den er mehrfach gelesen hat: "...das würde mir persönlich auch gut gefallen, so auf dieser Insel. Manchmal, wenn ich das Buch gelesen hab', dann denk' ich auch so, ne. Danri möchte ich d a schon selber jetzt sein, und da landen eben, ne. Na, das kommt öfter schon mal vor, daß man so denkt." (I, S. 15, Z. 28-33) Sein Lesen wirkte insgesamt wie die Anreicherung eines weitgehend been- genden und fremdbestimmten, gleichwohl mit entschiedener eigener Zu- stimmung versehenen Alltags. Sowohl in ihren Zukunftsentwürfen als auch in ihrer geschlechtlichen Identität und dem Verhältnis zu den Eltern erscheinen die interviewten Gymnasiasten weniger festgelegt. Entscheidende Wirklichkeitsbeziehungen werden nur fiktiv und probeweise eingegangen. So berichtet Günther über seine beruflichen Perspektiven: "... LKW-Schlosser oder so was... es ist nicht das Dümmste, man kann viel Schwarzarbeit machen irgendwie. allen möglichen Leuten den Kotflügel und Zusammenhang von Lesen und Lebensgeschichte Jugendlicher 179 Lichtmaschine und Anlasser besorgen und dabei ein bißchen Geld macheii..." (I, S. 20, Z. 36-39, S. 21. Z. 1) "Ägyptologie ist astrein ... ich seh' mich mit d e m T a x i durch die Gegend fahren und ratlose Museumsdirektoren reißen sich um mich ... Ich sitze dann in irgendwelchen Kellern und wuchte dicke Steinplatteiz hin und her ..." ( I , S. 23, Z. 15-26) Gymnasiasten wie Günther haben in den Gesprächen im Gegensatz zu den Lehrlingen die starke Tendenz gezeigt, sich einem fiktiven kulturellen Mi- lieu zugehörig zu fühlen und sich selbst anhand mehr oder weniger vager, durch Texte gestützter Rollenvorstellungen zu definieren. Doch auch fü r Gymnasiasten fungiert ihr Lesen als ein Refugium gegen- über Alltagssituationen. Sowohl vom Lesemodus als auch von den Inhalten her steht es im Gegensatz zur schulisch geforderten Lektüre. Selbst, wenn die in der Schule praktizierte Form des Umgangs mit Texten der subjekti- ven Leseerfahrung der Schüler Raum zu geben versucht, so steht die Schule doch, was die Anforderungen an den Leseakt und seine Verarbei- tung angeht, unerschütterlich auf der Seite der kulturellen Sublimierung. Sie fordert, Texte nicht zur Erfüllung regressiver Wünsche zu "mißbrau- chen", sondern für die symbolische Aneignung von Kulturforderungen fruchtbar zu machen. Für die berufsorientierte Lektüre der Lehrlinge gilt in noch stärkerem Maße diese institutionelle Forderung nach einem subli- miert-instrumentellen Verhältnis zu Textinhalten. Sowohl für die Gymna- siasten als auch für die Lehrlinge werden im zurückgezogenen "Nischen- Lesen" wunschbestimmte, selbstbezügliche, die Wirklichkeit meidende Mo- mente des Subjekts aktiviert. Eine Übersicht über die vorliegenden Interviews führt zur Beobachtung, daß im privaten Lesen aller Befragten eher eine Gegenwelt zur Realität aufgesucht und gefunden wird. Die Möglichkeiten, mit Wirklichkeit umzu- gehen und sie mit Bedeutung zu versehen, erscheinen im Lesen entmischt. Die psychische Abspaltung der Phantasie vom alltrglichen vorherrschenden Rationalitätsprinzip ist das dominierendste Merkmal der eruierten Lesepra- xis. 3. Zwei Fallbeispiele zur Bedeutung des privaten Lesens im Leben Jugendlicher Anhand von zwei Fällen aus dem Material der zwanzig befragten Jugend- lichen sollen nun konkrete Erscheinungsformen des privaten Lesens näher charakterisiert und auf ihre vermutlichen lebensgeschichtlichen Motive hin untersucht werden. Leitend sind dabei die Rolle einer solchen Leseform als "Refugium" fü r biografisch und gesellschaftlich "Unerledigtes" und die 180 Rudol f Messner/Cornelia Rosebrock oben skizzierten theoretischen Überlegungen. Die Fälle von "Dolli" (Gym- nasiastin) und "Norbert" (Heizungsmonteur-Lehrling), zum Zeitpunkt der Interviews beide 18-lgjährig, wurden gewählt, um hinsichtlich Schulbil- dung und Geschlecht die beiden wichtigsten Kriterien zu berücksichtigen, die bei der Zusammenstellung der Untersuchungsgruppe maßgebend waren. Zum Umfang der Leseaktivitäten ist zu sagen, daß Dolli in der Gruppe der Gymnasiasten eher zu den Wenig-Lesern gehört, während umgekehrt Nor- bert von den befragten Lehrlingen mit am meisten liest.' "Also sonst bin ich realistisch, aber so zum Entspannen und vielleicht ein biß- chen Träumen ... lese ich auch mal ein Buch ..." 3.1 Fallbeispiel 1: Dolli (Gymnasiastin, 18 Jahre) (1) Zu Person und Lebensgeschichte: Dolli besuchte zum Zeitpunkt des Interviews den 12. Jahrgang eines Gym- nasiums in Hannover. Das erste Interview fand in ihrer kleinen Mansardenwohnung am Rande eines Parks statt, die sie kurz vorher bezo- gen hatte. Dolli trat der Interviewerin in ihrem durch Pflanzen, Bücherre- gale und Bilder sehr persönlich gestalteten "Wohnreich" recht selbstbewußt und souverän entgegen. Sie erzahlte scheinbar ungezwungen auch über sehr Persönliches, zeigte aber nur wenig Interesse für die Person und die Meinungen ihrer Besucherin. Das zweite Interview fand fast ein Jahr später in der Wohnung der Mutter statt, in die Dolli aus finanziellen Gründen zurückgekehrt war (ihre eigene Wohnung hatte sie aufgegeben). Dolli stand nun sehr unter dem Druck des nahen Abiturs, dem sie sich - von Streß- gefühlen geplagt - stellte und in dem sie ein mittelgutes Abschneiden er- wartete. In ihrer Erscheinung wirkt Dolli - allein schon von Größe und Aussehen her - reif und anziehend. Man sieht ihr an, daß sie Sport treibt - Laufen, Gymnastik, Schwimmen; beim Interview war sie sehr schick ge- kleidet, einschließlich Armreif und Goldkette. Wegen des Abiturs hatte Dolli ihre zeitweise ausgeübte Abend-Arbeit in einer Disco aufgegeben. Dolli mußte in ihrer Kindheit und Jugend, zunächst wegen des Berufes ihres Vaters (Bundeswehr; später Pilot bei einer großen Luftfahrtgesell- Die Fallschilderungen sind eine Kurzform der geplanten ausführlicheren Projekt-Dokumen- tation in Form von "Lektürebiografien". Der folgende Bericht stütit sich auf die Protokolle der beiden (etwa ein halbes Jahr auseinanderliegenden) gut einstündigen Befragungen (dar- auf beeiehen sich die Seitenangaben) sowie auf die Kurebeschreibung der Intervieweindrücke und auf die stichwortartigen Mitachriften der Siteungen zur "interpretativen Auswertung" von Interviews und Befragungasituationen durch die Projektgruppe. Im Interesse der Lesbar- keit des Textes werden im folgenden nur längere Zitate durch Seitenverweise belegt. I Zusammenhang von Lesen und Lebensgeschichte Jugendlicher 181 schaft), öfter umziehen; sie sprach von zehnmal. Ihre Kindheit verbrachte sie in Hildesheim, belastet von den zwischen ihren Eltern entstandenen schweren, vehement ausgetragenen Konflikten, die schließlich zur Schei- dung führten, als Dolli sieben war. Seit dieser Zeit wohnt sie allein mit ihrer Mutter zusammen. Ihr drei Jahre jüngerer Bruder lebt in Kanada. Zu ihrer Mutter hat sie nach ihren Aussagen ein "kumpelhaft-gleichberechtig- tes" Verhältnis. Durch die enge Verbindung mit ihr wurde Dolli völlig in deren Emanzipationsprozeß nach der Trennung von ihrem Mann hinein- gezogen. Die Mutter kehrte nicht mehr in ihren alten Beruf als Masseurin zurück, sondern holte das Abitur nach und schloß ein Lehrerstudium in den Fächern Deutsch, Geschichte und Sport ab. Sie unterrichtete dann ei- nige Zeit an einem Gymnasium. Dolli besuchte mehrere Jahre eine Wal- dorfschule (zunächst mit dreistündiger tiiglicher Fahrtzeit) und nahm viel von der dortigen Weltdeutung in sich auf, ehe sie sich - weil sie sich nicht mehr wohlfühlte - als 17jährige selbständig abmeldete und ihre Aufnahme in einem staatlichen Gymnasium erreichte. Der Vater Dollis - von ihr als "schwierig" und "Eigenbrötler" beschrieben, aber in seiner Tätigkeit auch bewundert - bleibt, wie die Mutter, unver- heiratet. Dolli hat zu ihm durch gelegentliche wechselseitige Besuche Kon- takte, vor allem aber durch Flugreisen, auf die sie als seine Tochter verbil- ligten Anspruch hat. Begeistert - und als sei dies ganz gewöhnlich - erzählt sie von Flügen nach Dakar, Rio, Delhi, Hongkong, Südafrika und Vancou- ver und gelegentlichen Abstechern ins dortige Umland. Beide Elternteile scheinen die kulturellen Interessen Dollis zu beeinflussen. Die Mutter über ihre Lebensorientierungen und Lieblingsfacher (Geschichte, Kunst, Bio, Sport); der Vater offenbar das Lebensgefühl Dollis mit ihrem charakte- ristischen Hang zur "großen Welt". Diese Tendenz, sich bei der Schilderung ihrer Lebensgeschichte, aber auch ihres Alltags oder ihrer Zukunft und ihrer Berufsvorstellungen in stark forcierter Weise als exklusiv und gran- dios darzustellen, kann Dolli leicht den Vorwurf des Imponiergehabes und der Überkompensation eintragen (wie mehrfach aggressiv getönte Reaktio- nen auf Person und Interviewinhalt bei der Befragung und im Auswer- tungsprozeß zeigen). Dadurch kann man übersehen, daß Dolli ihre realen Lebensprobleme mit großen Realismus und mit einer ihr Lebensalter weit überholenden Erwachsenen-Tüchtigkeit bewältigt. 1 (2) Dollis selbstgesuchte Lesewelt: Auf den ersten Blick erscheint Dollis Lesen eklektizistisch-ungeordnet. "Ich fange meist mehrere Sachen an", sagt sie von sich selbst. Vieles Gelesene ist auch erkennbar von der Waldorf-Vergangenheit bestimmt und insofern nicht privat motiviert: Märchen, Interesse an klassischen Sagen, Nibelun- genlied und Parzival, Heine-Gedichte, etwas Klassik. Sie berichtet eher unbeteiligt davon, sagt etwa, daß "auch Goethe und sowas" gelesen worden sei, "daß man Einblick in alles kriegt" (I, S. 10, Z. 18 f.). Aber schon von 184 Rudol f Messner/Cornelia Rosebrock Konflikte (2.B. zwischen Amerikanern und Japanern, altem Mythos und Christentum, den Kontrahenten der Schachnovelle). Kann also Dollis Privatlektüre im Sinne der im zweiten Teil beschriebenen Ansätze als eine von der Alltagsrealität sozial abgespaltene Enklave für Akte einer kompensierend-produktiven Lese-Regression gedeutet werden? Zweifellos dürfte damit Wesentliches getroffen werden. Andererseits weist dieser scheinbar in "andere Welten" ausgreifende Lesekomplex Momente auf, die in die Selbstdeutungen einer exklusiv verstandenen alltäglichen Lebensrealität zurückführen. Und dort verbindet er sich mit der - bisher noch nicht berücksichtigten - Alltagslektüre Dollis (im Sinne des obenge- nannten letzten Lektürebereichs, 2.B. Modezeitschriften, Magazine). Anders gesagt: Dollis Lesen führt nicht nur aus der Realität heraus, sondern es hat in den genannten Themen auch an ihr Anteil, zumindest am gehobenen konsumistischen Lebensstil, den Dolli für ihre alltägliche Selbstinszenierung als maßgeblich definiert. Auf die Frage, welches Lieblingsbuch sie mitnehmen würde, wenn sie nur ein einziges wählen dürfte, gibt Dolli die - die Interviewerin verblüffende - Antwort, da? es doch nicht sinnvoll wäre, ein schon gelesenes Buch mitzunehmen, ein neues, noch nicht gelesenes wäre doch allemal besser (vgl. 11, S. 22). Damit deutet sich eine zweite Bedeutungsdimension von Dollis Lesen an. Leseinhalte sind für Dolli auch ein Teil ihres an die Öf- fentlichkeit getragenen Willens, sich selbst immer wieder neu zu inszenie- ren. Dies hat etwas mit Mode zu tun, die ja ein solches sich ständig er- neuerndes Bedürfnis voraussetzt, aber auch mit alltäglichem Narzißmus als der Tendenz, sich ständig in neuen Kulissen und Spiegeln attraktiv zu machen. Lektürethemen wie Hexen, Edelsteine, Matriarchat und Mythen haben etwas von einem solchen "In-Sein" und Dazugehören an sich - und verbinden sich dadurch mit dem bei Dolli sehr ausgeprägten Drang zu ei- nem solchen, den jeweiligen Zustand oder Wunsch idealisierenden Sich-in- Szene-Setzen. Hinsichtlich ihrer Berufsvorstellungen wechselt Dolli 2.B. während der Laufzeit der Interviews von der jeweils als grandios erlebten Wunschvorstellung der Medizinerin zu derjenigen der Stewardeß, der Jour- nalistin und der Juristin, um auch diese, inzwischen durch das Studium an- gebahnte Möglichkeit sofort wieder durch die Tätigkeitsvorstellung des da- durch zugänglichen diplomatischen Dienstes zu verklären. (4) Lese-Motive und ihre lebensgeschichtliche Herkunft: Es gilt, noch einmal zu jenem Hauptkomplex von Dollis privater Lektüre zurückzukehren, welcher der Refugiums-Thematik am nrchsten steht. Wo- durch ist Dollis träumerisch wegschwimmendes Lesen motiviert? Für eine abstrakte Erörterung läge die Vermutung nahe, daß sich darin Bedürfnisse ausdrucken, sich aus dem Überdruck und der Banalität des Alltags in eine erlebnis- und sinnreichere Welt zurückzuziehen; auch Versuche, Fuß zu Zusammenhang von Lesen und Lebensgeschichte Jugendlicher 185 I fassen, Gewißheit über die grundlegenden Lebensfragen zu gewinnen, ließen sich darin aufspüren oder Bestrebungen (vgl. Ohara, Schachnovelle, Artussage), das Gegensätzliche zu versöhnen. Die Antwort nach der im Lesen sich auslebenden Bedürftigkeit bleibt jedoch unbefriedigend, solange solche Motive ohne ihren lebensgeschichtlichen Gehalt erörtert werden. Der Schlüssel für das Verständnis der lebensgeschichtlichen Herkunft von Dollis Lesen könnte in einer Vergegenwärtigung ihrer frühkindlichen Si- tuation liegen. Dolli dürfte früh und intensiv - so ist anzunehmen - unter dem Eindruck der zerberstenden familiären Situation gestanden haben. Al- les spricht dafür, daß Dolli die daraus entstehenden Mangelerfahrungen als I Herausforderung für ein allzu frühes Reif-sein-müssen bewältigt hat. Sie hat wohl früh gelernt, sich zusammenzuhalten, die Dinge in die Hand zu nehmen, Mutter- und Vateranteile zu übernehmen, ihre Schwächen und ihr Leid zu verbergen - mit einem Wort (das Dolli sehr häufig gebraucht): rea- listisch zu sein. Jedenfalls lassen sich aus einer solchen Hypothese die in Dollis Persönlichkeit auftretenden Widersprüche besser verstehen. Dolli tritt einerseits sehr selbstbewußt auf. "Wenn ich was wirklich schaffen will und Schwierigkeiten da sind," sagt sie von sich selbst, "schaff' ich's meist." (I, S. 22, Z. 9 f.). Dieser Eindruck wird noch gesteigert, wenn man Dollis Äuße- rungen über ihr nahestehende Personen bedenkt. Im Zusammenhang mit Auswanderungsplänen nach Kanada erklärt sie 2.B. apodiktisch (nachdem sie sich ungefragt um eine Stelle für sie umgesehen hat): "Mutti wird mit- genommen!". Oder über die Beziehungen zu ihrem jetzigen Freund: "Aber wir halten das locker. Jeder kann machen, was er will" (was aber gar nicht dem Empfinden ihres Partners zu entsprechen scheint). Hier mischt sich in I den Eindruck von Realitätstüchtigkeit eine irritierende Komponente. Zwar imponiert Dollis Souveränität, aber sie enthält einen Zug des kühl-kalku- Iierenden, gegenständlichen Verfügens über Personen und Situationen. Doch andererseits zeigt sich, daß eine solche Selbstinszenierung auch ihren Preis hat. Man merkt dann, wieviel Kraft Dolli für ihre durchaus impo- nierende Selbstdarstellung benötigt und wieviel Infantilität und sentimen- tales Sich-gehen-lassen von ihr innerlich abgewehrt werden müssen. Ein Beispiel dafür liefert Dollis Bestreben, ihr eigenes Klein-gewesen-sein zu verleugnen. Sie stellt z.B. in ihrem Bericht ihr Verhältnis zu ihrer Grund- schullehrerin oder zu ihrer Mutter (erkennbar unrealistisch!) immer als ebenbürtig dar. Dolli - so ist der Eindruck - erbringt eine bewunderns- werte Leistung darin, Abgründe, ja eine gewisse Leere und Entwurzeltheit in ihrer Beziehung zur unmittelbaren Lebenswelt ("Hier hält mich nichts!") oder zur politisch-gesellschaftlichen Realität der Bundesrepublik (Politi- sches interessiert sie wenig) zu kaschieren. Dolli, so läßt sich vermuten, hat vieles entbehren müssen und vieles nicht ausleben können. Diese Defizite sucht sie nun - so könnte resümiert wer- den - in dem sorgfältig vom Realen abgegrenzt gehaltenen Privatreich ih- 186 Rudolf Messner/Cornelia Rosebrock rer Leseausflüge zu kompensieren. Im Medium geeigneter Texte kann die Phantasie die Grenzen von Raum, Zeit und Realität sprengen und auf die Suche nach einem tiefer verwurzelten Leben gehen. (5) Schlußbemerkung: Vom Unerledigten in Dollis Lesen Am Beispiel von Dollis Lesen wird deutlich, daß lebensgeschichtlich Ent- gangenes im Lesen aufgesucht werden kann. Aber trägt die Lesebemühung, so muß gefragt werden, auch zur Entwicklung ihrer Akteure als gesell- schaftliche Subjekte bei? Unter dieser Fragestellung tritt an Dollis Lesen trotz seiner thematischen Reichhaltigkeit ein ausgeprägt individualistischer, ja narzißtischer Zug zutage. Dies insofern, als es wohl eher im Dienst des Hinwegträumens über Defizite der eigenen gesellschaftlichen Existenz steht - während zugleich das säuberlich abgeschirmte reale Handeln weiterhin der Momente entbehrt, die in größenorientierten Selbstdarstellungen so mühsam hinzukompensiert werden müssen. Die Lektüre wird in ihre pri- vaten Nischen abgespalten und dort vorwiegend regressiv-konsumistisch genutzt. Das Unerledigte in Dollis Lesen muß in der fehlenden Vermittlung des im Lesen Gesuchten ins eigene praktische (partnerschaftliche, politi- sche) Leben gesucht werden (ja wahrscheinlich schon in der Verweigerung vor dem Anspruch wirklichkeitstranszendierender, ihre Nische sprengender Literatur). So bleibt Dollis Lesen gesellschaftlich affirmativ, wenn auch subjektiv eine belebende symbolische Ausdrucksmöglichkeit für sonst still- gelegte Phantasien und Wünsche, 2.B. jene nach dem träumerischen Hin- wegschwimmen oder der Versöhnung des real Gegensätzlichen. "Da das Gute ja sowieso gewinnt, kann da nichts passieren" 3.2 Fallbeispiel 2: Norbert (Auszubildender, 18 Jahre) (1) Zu Norberts Person: Norbert wohnt bei seinen Eltern in einem Vorort Kassels. Er arbeitet im zweiten Lehrjahr als Heizungsmonteur-Lehrling. Sein Vater ist Schichtar- beiter, die Mutter hat halbtags eine Putzstelle. Die um weniges ältere Schwester arbeitet als Einzelhandelskauffrau. An Norbert fällt unmittelbar die Zufriedenheit mit seinen Lebensumstän- den auf. Er fühlt sich in der Familie geborgen und in der Clique Jugend- licher, mit der er sich fast jeden Abend trifft. Zur Schwester hat er ein inniges Verhältnis. Er möchte auch später in dieser Gegend leben, heiraten und eine Familie gründen wie seine Eltern. Seine äußere Lebensführung ist auf das für ihn Machbare bezogen und wirkt insgesamt im Verhältnis zu seinem Alter extrem reif und realistisch, Zusammenhang von Lesen und Lebensgeschichte Jugendlicher 187 beispielsweise durch die Tendenz, die ihm begegnenden Phänomene in Bezug auf ihre lebenspraktische Brauchbarkeit wahrzunehmen. Er strahlt Zufriedenheit mit seinem Leben und zugleich Lebendigkeit, Wärme und eine gewisse Kindlichkeit in der Intensität seiner Erzählungen und seinem ungebrochen harmonischen Wirklichkeitsverhältnis aus. (2) Norberts Lesepraxis: Norbert bezeichnete sich vor den Gesprächen als jemand, der eigentlich nicht liest; er habe gar keine Zeit dazu. Doch wenn er von der Arbeit nach Hause kommt, nimmt er beim Abendbrot regelmäßig die Zeitung zur Hand. Im politischen Teil interessiert ihn ausschließlich "große Politik", der Kampf zwischen den Supermächten. Meist liest er noch die Sportseiten - er treibt selbst Handball -, schließlich die Anzeigen und die Witzseite. Für die Arbeitspausen nahm er bis vor kurzem noch Heftchenromane mit; ak- tuell liest er dort die Bild-Zeitung wie seine Kollegen. An sehr frühe Lektüre kann sich Norbert nicht mehr erinnern; doch seit er selbständig lesen konnte, bis etwa zu seinem 15. Lebensjahr, las er intensiv Tierbücher, sowohl auf Jugendliche zugeschnittene Sachbücher als auch fiktionale Texte zu diesem Thema. Ihn interessierten vor allem große und gefährliche Tiere, "nicht so'n Funzelkram, wie Insekten oder Eichhörn- chen", und er trtiumte davon, selbst einmal ein großer Zoologe oder wenig- stens Tierpfleger zu werden. Er hielt verschiedene kleine Haustiere und ließ sich zu jeder Gelegenheit Literatur zum Thema schenken. Mit der Hinwendung zum Arbeitsprozeß gegen Ende der Schulzeit empfand er die- se Beschäftigung zunehmend als "so Träumereien", die den "Ernst des Le- bens" nicht berücksichtigten. Als Lehrling hörte er ganz auf, Tierbücher zu lesen. Populärwissenschaftliche Sachbücher aus der "Was-ist-WasM-Reihe zu beliebigen technischen, naturwissenschaftlichen oder historischen Themen, die er sich bei Bekannten ausleiht, liest er bis heute gerne. Die schulische Beschäftigung mit Literatur scheint gänzlich an ihm abgeglitten zu sein. Aktuell liest er nur selten Fachbücher. An literarische Texte im Zusam- menhang mit der Schule kann er sich überhaupt nicht erinnern. Mit etwa 15 Jahren bekam er neben einigen Bänden von Kar1 May und anderen Jugendbüchern einen Band von Jules Verne geschenkt, dessen In- halt er immer noch begeistert wiedergibt; doch es fand sich keine Gelegen- 1 heit, weitere Texte dieses Autors zu lesen. I (3) Die Gegenwelt der Geister: In dieser Zeit des Eintritts in die Arbeitswelt begann er Geister-, Grusel- I und Gespensterromane in Heftform zu lesen, am liebsten aus den Serien 1 "Professor Zamorra" und "Geisterjäger John Sinclair". Bis jetzt, so schätzt er, habe er 200 bis 300 davon gelesen, zumeist nachts irn Bett. Den Hand- 188 Rudolf Messner/Cornelia Rosebrock lungsfaden eines konkreten Heftchens kann er nicht rekonstruieren; er lese so viele, daß ihm die Inhalte verschwimmen. "Geschichten sind das, also andere Dimensionen, ne, d a kommen halt Mon- ster, jetzt nicht Monster so, so Urviecher oder so was, sondern r i C h t i - g e Dämonen erscheinen, und dann haben sie ganz tolle Macht, also, die machen mal schschsch, und weg ist man, ne. Und dann gibt's natürlich auch die Kämpfer dagegen, also die für's Gute kämpfen, gegen die Dämonen, die haben so Banner. Und dann kommt's aber trotzdem mal , und dann verlieren sie den, und dann sind sie ungeschützt, und irgendwie schlagen sie sich dann doch noch, und mit Vampiren und Werwölfen und so was... Da sind wieder neue Dämonen, die sind unerschöpflich, die Dämonen. Da kommen immer. da sind immer wieder neue. Äh, wie heißt denn das bei Asmodinas Höllenschlange, wenn er einen Kopf abhackt, da kommetz wieder zehn neue dazu." (I, S. 14, Z. 6-16, S. 17; Z. 15-19). Zamorra und Sinclair sind gleichartige Heldenfiguren, beide Mitglieder der "Weißen Familie". Sie kämpfen gegen die "Schwarze Familie" - Hexen, Untote, Höllenfürsten, Pharaonen u.ä. -, die den Machtbereich des Bösen ausweiten wollen, mit Intelligenz und Sachkenntnis bezüglich des kompli- zierten hierarchischen Aufbaus der "Schwarzblütler" sowie mit herkömm- lichen und magischen Waffen. Im Finale einer Story reicht all dies nicht mehr aus, und ein guter Druide U.&. muß helfend eingreifen. Der Sphäre der beiden magischen "Familien" aus zusammengewürfelten Versatzstücken aller möglichen Mythen, Kulturen und Zeiten kontrastieren die Helden- und Nebenfiguren, meist auch die Schauplätze, die realistisch in der Ge- genwart der Bundesrepublik angesiedelt sind. Die Helden leiden im Ge- gensatz zu ihren Vorgesetzten aus der "Weißen Familie" noch unter menschlichen Schwächen - ihre eigentliche Potenz gewinnen sie trotz Verfügungsgewalt über modernste Technik durch ihre unverbrüchliche Anhängerschaft an das Gute. Im Gegensatz zu den Tierbüchern oder der Zeitung liest Norbert die Heftchen in einer dem Alltag abgewandten Situation: " ... da laß ich mich durch nichts stören, durch nichts, höchstens mal, d a ß ich ' mir noch Zigarettchen dazuhole und was zu trinken und was zu schnucken. Oder a m schönsten ist es , wenn ich Freitag abend, Wochenende, ne, urspät, irgendwarin gehe ich ins Bettchen, hab' ich noch einen schönen, neuen Ronlan zu lesen, und dann guck' ich mal in den Kühlschrank, oh, noch 'ne T a f e l Schokolade, prima, und noch 'ne Sprudel oben, und neue Zigaretten hast du auch noch, dann ins Bett, und dann bin ich r e s t I o s g 1 ü C k 1 i C h. Morgen nicht arbeiten, schlaferz, ist egal, wann du heute nacht das Licht ausmachst. das ist echt immer das Tollste. Das ist echt prima." (I, S. 14, Z. 24-35). Zusammenhang von Lesen und Lebensgeschichte Jugendlicher 189 Bei der Tierbuch-Lektüre war der Kontakt mit unbewußten Wünschen - sei es nach Identifikation mit der Größe und Potenz der Tiere oder mit ihrem sozial hochstehenden Kenner und Beherrscher - noch in eine Aus- einandersetzung mit der Außenwelt, in das Bedürfnis nach Wissenserwerb und die Identitätsbildung integriert. Norberts nächster leidenschaftlicher Lektürekomplex, die Heftchen, scheint keinerlei Entsprechung in seiner Wirklichkeit zu haben. Er hat dieses Lesen soweit aus dem Bewußtsein verdrängt, daß es ihm im Gespräch erst nach hartnäckigem Nachfragen wieder einfallt. In den Romanen existiert hinter der Fassade der normalen, alltäglichen, etwas faden Realität das eigentliche Leben: Im Wirklichkeitsbereich der Dämonen ist alles affektiv aufgeladen. es toben Haß und Liebe, unge- hemmte Sinnlichkeit und farbenfrohe Kämpfe, eindeutig Gutes und Böses. Die Abgespaltenheit des realitätsbezogenen Lebens von einem mystischen, triebhaften, menschheitsgeschichtlich alten Wirklichkeitsverhältnis stellt ein wesentliches Konstruktionsprinzip der Romane dar. Es ist, als vollzögen sie inhaltlich noch einmal nach, was sich in Norberts Modus des Lesens bereits ausdrückt: Die Getrenntheit des triebhaften, irrational motivierten vom realitätsbezogenen Erleben und Handeln. 1 (4) Die Harmonie mit der guten Macht: In den Interviews stellt sich Norbert mit einer gewissen habituellen Kind- lichkeit als jemand dar, der seine Welt in allen präsenten Momenten als harmonisch, geordnet und Geborgenheit vermittelnd erlebt. Drei nach Nähe zu ihm selbst gestaffelte Lebensbereiche treten deutlich getrennt in den Gesprächen auf: Norbert fühlt sich wohl im intimen Kreis der Familie, die sich gegenüber Außenstehenden scharf abgrenzt und wo er seinen wohl- definierten und akzeptierten Platz hat. Der nächstwichtige Lebensbereich ist ihm die Freundesclique - von seinen Arbeitszusammenhängen spricht er nicht -, mit der er sich allabendlich trifft und die ihm "das halbe Leben" darstellt; er hat zu allen ein gutes Verhgltnis. Schließlich gibt es noch die Welt im Großen, auch dort hat er seinen Platz in Form eines politischen Standpunkts definiert: "Da bin ich ganz feste". Die Harmonie, die ihm im Bereich der Familie und der unmittelbaren Lebenswelt so wichtig ist, ga- rantieren für ihn die westlichen Mächte, verkörpert in der Gestalt des amerikanischen Präsidenten; das macht sie zur "guten Macht". Seine Lek- / türe scheint für ihn die Funktion zu haben. die Geordnetheit dieser Le- i bensbereiche zu stützen: Neben der Zeitungslektüre beziehen sich die "Was- ist-WasN-Bände auf den äußersten Bereich, sie stellen ihm die Welt als eine riesige, aber endliche Anhrufung von Fakten und Dingen vor, die durch Wissenschaft geordnet werden. Sensationen aus der Zeitung und vor allem Sportberichte kommuniziert er mit der Clique; gelesene Sinnsprüche und Witze sucht er sich für sie zu merken. Die Gruselhefte schließlich beziehen 190 Rudol f Messner/Cornelia Rosebrock sich für Norbert weder auf die äußere Welt noch werden sie dort kommu- niziert, sie erscheinen als der Intimbereich des Lesens. Freilich ergeben sich ausgegrenzte Themen, auf die Norbert nicht an- sprechbar ist. Etwas ihm Fremdes, zum Beispiel anderes Denken oder un- konventionelle Lebensformen oder auch das Unheimliche an der Realität - etwa die Irrationalität atomarer Hochrüstung -, nimmt er nicht wahr, als gäbe es die nicht. (5) Die Spur des Irrationalen in der Lebensgeschichte: Im Zusammenhang mit den beiden Gesprächssituationen ergaben sich mehrere Hinweise darauf, daß es eine gemeinsame Praxis der Familie gibt, mit Andersartigem umzugehen. Der Vater scheint sich häufig in übertrie- bener Weise verfolgt zu fühlen, reagiert cholerisch und zwingt dem Rest der Familie eine harmonisierende und stabilisierende Gegensteuerung auf. Die Familienmitglieder versuchen, seine als hilflose Aggressivität auftre- tende Ängstlichkeit Außenstehenden zu vermitteln, indem sie ihn zum Teil entschuldigen, zum Teil solidarisch rechtfertigen. Eine Szene dieser Art ereignete sich anläßlich des Erscheinens der Interviewerin in der Wohnung der Familie. Mehrmals betonte Norbert in beiden Gesprächen, im Gegen- satz zum Vater mit allen Menschen gut auszukommen: "Der ist ein bißchen überempfindlich." Man kann annehmen, daß es für Norbert schon lange die exzentrischen Züge seines Vaters auszugleichen galt, der seine Umwelt als unberechenbar und bedrohlich erleben muß. "Heimlich" muß für ihn frühzeitig die dop- pelte Bedeutung von "geborgen" und "unheimlich" angenommen haben. In diesem Fall war Norbert schon als Kind gezwungen, seine Wirklichkeit kompensierend als reichhaltig, vertrauenseinflößend und positiv wahrzu- nehmen, um den Einbruch des Unheimlichen in die mühsam errichtete, von keiner "guten Macht" getragene Normalität zurückzuhalten. Man kann vermuten, daß sein Empfinden, daß das eigene Leben groß und reich sei, nicht nur auf die zeitige soziale Nötigung zum Eintritt in die Arbeitswelt rekurriert, sondern auch auf die subjektive, lebensgeschichtlich entstandene Bereitschaft, die Ordnung der Realität als rettende anzunehmen. Die kind- lich, fast beschwörend anmutende Überzeugung, daß alles in Ordnung sei, hat er offensichtlich durch seine frühe und umfassende Realitätsanpassung unverändert hindurchtransportiert. Alles spricht dafür, daß Norbert mit ihr eine unbewußte, lebensgeschichtlich entstandene Angst bekämpft - die Angst, daß die ganze Wohlgeordnetheit nur scheinhaft ist und hinter ihr ein mörderisches Chaos lauert. Die Drohung des Einbruchs der "Schwarz- blütler" in die Realität wäre für ihn in diesem Fall eine Symbolisierung dieses ganzen Komplexes. Zusammenhang von Lesen und Lebensgeschichte Jugendlicher i 191 i I / ( 6 ) Fiktionales Lesen als Bühne infantiler Wünsche: I I Das Bedürfnis, sich irrationale Kräfte und Mächte vertraut zu machen und sie zugleich abzuwehren, scheint ein wesentliches Anliegen seiner nächtli- chen Geister-Lektüre zu sein. Zur Abwehr sind die Heftchen gut geeignet, denn man durchschaut schnell - wie Norbert explizit auch - ihren immer gleichen Aufbau und Ausgang und kann sich auf diese Zwangsjacke, die den Geistern angelegt ist und deren unkontrollierten Ausbruch zuverlässig verhindert, fest verlassen. Doch was sind das für Geister, die all dieser Vorkehrungen bedürfen, um ihnen auf bloß symbolischem Feld begegnen zu können? I Zamorra und Sinclair sind von einer "guten Macht" schützend umhüllt. Le- bensgeschichtlich entwickelt sich die Vorstellung einer "guten Macht" in einem Stadium des infantilen Narzißmus, in dem dem Kind die Verlage- rung der omnipotenten Besetzung der eigenen Person auf die Eltern gelun- gen ist (erst später, in der Pubertät, wird diese Besetzung grundlegend re- lativiert). In den Storys sind die massiv phallischen Waffen der Helden ("Silberstab", "Dämonenpeitsche") stets zu schwach, den endlichen Sieg zu erringen; es wird jenes Stadium der ödipalen Entwicklung angesprochen, in der die Identifikation mit dem Vater und der Verzicht auf die Mutter schon erreicht ist. Weiter besteht die Darstellung der "Schwarzen Familie" zu einem erheblichen Teil aus Beschreibungen von ekelerregenden Vor- kommnissen wie blutlusternden Riesenspinnen, schleimig-grünlichen Lei- chen und unter der Kleidung emporkriechenden Schlangen. Ekelhaft ist etwas, was ursprünglich lustbesetzt war und diese Besetzung im Laufe der Entwicklung einbüßen mußte, so daß sie sich ins schärfste Gegenteil ver- kehrte; das Wiederaufleben der Lust am Ekligen bezieht sich auf die anale Phase. Eine genauere Analyse der Heftchen würde eine Anzahl weiterer Regres- sionsangebote zutage fördern; hier sollte nur an einigen Beispielen darauf hingewiesen werden, daß die Romanserien solche Deutungen völlig mühe- los zulassen. Zum anderen soll verdeutlicht werden, daß die Heftchen zu ganz bestimmten Regressionen auffordern. Auf eine andere Stufe des Nar- zißmus bezieht sich 2.B. ein einsamer und omnipotenter, von keiner "guten Macht" getragener Held im klinisch reinen Milieu eines Raumschiffes; i vielleicht ist dies ein Grund dafür, da8 Norbert vehement erklärt, Perry- Rhodan- und Westernheftchen gänzlich uninteressant zu finden und nie lesen zu wollen. Das Befremdliche, dem sich Norbert Freitag nachts annähert, gewinnt nun genauere Konturen: Es ist jene Welt, in der infantil gebliebene Triebe die Motoren von Handlungen sind. Angsterregend ist die Gefahr der Überwäl- tigung des Ichs durch im Verborgenen schlummernde Kräfte, unheimlich ist die Kraft jener Triebe, die zugunsten der Realitätsanpassung von der 194 Rudol f Messner/Cornelia Rosebrock erinnerbare alltägliche Lesesituationen und die mit ihnen verbundenen Be- findlichkeiten (z.B. Geborgenheit, Sich-Abschirmen, Körpernähe, Ge- nießen); frühe und besonders gut erinnerbare Leseerfahrungen aus der ei- genen Entwicklungsgeschichte; spezielle thematische Schwerpunkte des selbstgewählten Lesens in Form einzelner Texte, Bücher und Inhaltsberei- che; schließlich der besondere Modus des Lesens und des Umgangs mit Büchern (z.B. verschlingendes, eintauchendes, wiederholendes, kommen- tierend-systematisches Lesen) sowie die schulische Lesegeschichte als Vor- geschichte und Vermittlungsinstanz persönlicher Lesevorlieben. In der zweiten Befragung und in der zusammenfassenden Auswertung galt dann das Interesse neben einer thematischen und zeitlichen Gesamtein- schätzung des Lesens verstärkt dem Zusammenhang von Lese- und Le- bensgeschichte (was eine hypothetische Interpretation der Persönlich- keitsentwicklung der Befragten in ihrem jeweiligen Lebenskontext erfor- derte). Population: Von den 20 Interviews wurden 16 mit Gymnasiasten und 4 vergleichend mit Lehrlingen durchgeführt (jeweils gleicher Anteil männli- cher und weiblicher Jugendlicher). Bei der Gruppe der Gymnasiasten wur- den die soziale Herkunft ("bürgerliches Milieu" vs. "Arbeitermilieu") und die literarischen Interessen (deren Vorhandensein oder Fehlen aufgrund der Wahl/Nicht-Wahl des Faches Deutsch als Oberstufen-Leistungskurs be- stimmt wurde) gleichmäßig gewichtet. Von den Lehrlingen entstammen zwei dem Dienstleistungs- und zwei dem handwerklich-manuellen Bereich. Literatur AEBLI, Hans (1980/81): Denken: Das Ordnen des Tuns. 2 Bde. 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Jährlich schließen von letzteren Ca. 3.600 ihr Studium erfolg- reich ab, und etwa 85% von ihnen, d.h. jährlich etwa 3.000, verlassen die Bundesrepublik, um eine ihrer Ausbildung angemessene Berufstätigkeit entweder in ihrem Herkunftsland oder in besonderen Fällen, die meist po- litisch bedingt sind, in einem anderen Land der Welt aufzunehmen. Viele dieser "Reintegranden" haben während ihres langjährigen Studiums enge Bindungen an Deutschland entwickelt und in gleichem Maße Abstand zu ihren Herkunftsländern bekommen, so daß sich die Heimkehr häufig nicht leicht gestaltet. Vor dieser "Reintegration" fürchtet man sich, was in- dividuell dazu führt, daß manche Ausländer Mittel und Wege suchen, um in Deutschland bleiben zu können. Entwicklungspolitische Überlegungen - die sich im Einzelfall auch über die Interessen der Betroffenen stellen - führen jedoch eher dazu, die Reintegration zu fördern, zu erleichtern, auf sie vorzubereiten, ja, sie sogar zu fordern. Insbesondere die Förderinstitu- tionen, die materielle Hilfe für das Studium in Deutschland gegeben haben, artikulieren ihr Interesse, daß doch die durch das Studium qualifizierten Fachkräfte in ihre Heimatländer zurückkehren magen, um 198 Helmut Winkler - einerseits ihren Beitrag zur Entwicklung ihres Heimatlandes zu leisten und - andererseits die Bildungsinvestitionen, die in sie getätigt wurden, auch im Sinne der vorangegangenen Förderung zu rechtfertigen (Stichwort: Vermeidung von "brain-drain"). Obwohl in Anschluß an die brain-drain-Diskussion die Problematik der Reintegration von in der Bundesrepublik (allgemeiner: in Industrieländern) ausgebildeten Fachkräften aus Entwicklungsländern seit Mitte der siebziger Jahre thematisiert wurde, obwohl praktische Reintegrations-Förderpro- gramme eingerichtet wurden, gibt es bis heute erstaunlich wenig empirisch gesichertes Wissen über Verlauf und Gelingen von Reintegrationsprozessen. Dies mag inhaltliche Gründe haben, liegt aber wohl eher an erhebungs- technischen Problemen. Zum einen gibt es nur wenige Studien, die sich nicht nur prospektiv mit dieser Thematik beschäftigen. Zum anderen aber erschweren die obengenannten erhebungstechnischen Probleme die Durch- führung von Untersuchungen: Es lassen sich aufgrund von infrastrukturel- len Gegebenheiten -in den jeweiligen Entwicklungsländern bestimmte em- pirisch gängige Instrumentarien nicht nur nicht einsetzen (z.B. postalische, schriftliche Befragung), sondern auch alleSn schon der derzeitige Verbleib der ehemaligen Studenten ist von der Bundesrepublik Deutschland aus kaum zu eruieren. Über Rückkehrerkarteien hat man zwar einige An- haltspunkte f ü r diejenigen Absolventen, mit denen der Kontakt auf- rechterhalten wurde; dort, wo dieser Kontakt aber abgebrochen ist, weiß man naturgemäß nichts mehr. Soweit uns bekannt ist, hat es bislang auch keine Versuche gegeben, hier etwa durch direkte Recherchen im Heimat- land Abhilfe zu schaffen. In der bislang jüngsten Studie, die von Autoren des Bergsträsser-Instituts fü r die Carl-Duisberg-Gesellschaft erstellt wurde, heißt es zurj Problematik grundstitzlich: "Beim gegenwärtigen Erkenntnisstand der ~ r b e 4 t e n zur Aus- und Fortbildung von Führungskrtiften aus EntwicklungslSndern ist jeder Versuch, neue Daten zu gewinnen, lohnenswert. Niemand kann nämlich bislang quantitativ und gültig belegen, wie erfolgreich Ausbildungszusam- menarbeit ist. Niemand besitzt verl5ßliche, objektive Informatione über i 'brain-drain' und Reintegrationsprobleme etc. Die unzulängliche Da enlage ist u.a. darin begründet, daß bislang eindeutige Erfolgskriterien sowie Langzeitevaluierungen fehlen." (Braun u.a. 1986, S. 25 f.). Die genannte Studie selbst hat daran wenig geändert. Die Frage nach Erfolg von Studium und Reintegration ist vor allem im Zusammenhang mit Evaluierungen der Förderprogramme deutscher Stipen- diengeber gestellt worden. Hier sind insbesondere die Carl-Duisberg-Ge- sellschaft und der DAAD zu nennen. Reintegration von Hochschulabsolventen aus Entwicklungsländern 199 Die DAAD-Studien von Kasprzyk (1974, 1981) und Gerstein und Schober (1978) stellen die Entwicklung der DAAD-Programme f ü r afrikanische Studenten einschließlich des Sur-Place-Stipendienprogramms dar und ana- lysieren die Daten zum Studium der geförderten Afrikaner bzw. der aus- ländischen Jahresstipendiaten. Die Analyse umfaßt jedoch nicht die an- schließende Reintegration bzw. den Berufseintritt. Eine eigentliche Rück- kehrerstudie ist die von Gerstein (1981), die den Verbleib von früheren DAAD-Stipendiaten in Indien untersucht. Sie erhebt hauptsächlich über eine schriftliche Befragung Sozialdaten über die Erfahrungen und berufli- che Situation eines Teils der indischen Absolventen eines DAAD-Jahressti- pendienprogramms. Das Ergebnis - die Stipendiaten waren Postgraduierte, kamen mit einer indischen Beschäftigungsgarantie zur gezielten Weiterbil- dung und zur Förderung indischer Hochschulen und Forschungs- einrichtungen in die Bundesrepublik und finden sich infolgedessen nach der Rückkehr zu einem großen Teil als Mitarbeiter an indischen Hoch- schulen und Forschungsinstitutionen wieder - ist untypisch fü r die Situa- tion der üblichen Reintegranden. Eine Reihe von Beiträgen liegen auch in der Carl-Duisberg-Gesellschaft (CDG) vor. Neben älteren Beiträgen (Eisemann 1974; Isoplan 1973, 1974), die vor allem an Nachkontaktseminare anschließen, sind hier vor allem zwei Befragungen früherer Stipendiaten zu nennen: Die Broschüre von Paulus über Ausländerstudium in der Bundesrepublik (1979) ist eine Zusammenstellung schriftlicher Antworten von in der Bundesrepublik ausgebildeten Ingenieuren aus Entwicklungsländern, die nach ihrer Rück- kehr befragt wurden. Die Namen der Befragten stammen aus der Kartei der CDG-Nachkontaktstelle. Von insgesamt 1000 ausgebildeten Ingenieuren wurden 217 befragt, davon antworteten 100. Die Erfolgsbilanz, die in den Antworten zum Ausdruck kommt - alle haben auf die eine oder andere Art ihren Berufsweg gefunden -, gibt nur einen Teil der Wirklichkeit wie- der. Die CDG-Untersuchungen zeigen auch, da8 Nachkontakte eine wich- tige Ausgangsbasis für Reintegrationsuntersuchungen sind, daß es zur Analyse der Problematik aber unerläßlich sein wird, gerade diejenigen Absolventen in eine Erhebung miteinzubeziehen, die den offiziösen Kon- takt zu den ehemaligen Förderorganisationen nicht aufrechterhalten haben. I Eben hier ist anzunehmen, daß die Wiedereingliederung nicht reibungslos verlaufen ist: anzunehmen ist weiter, daß gerade aus problematischen oder mißlungenen Reintegrationsverläufen wichtige inhaltliche Aufschlüsse zur Thematik zu ziehen sein werden. Die oben genannte Untersuchung von Braun u.a. (1986). die im Auftrag der CDG erstellt wurde, ist die wohl neueste Rückkehreruntersuchung. Insgesamt wurden 471 Absolventen von CDG-Programmen in Kenia, In- dien, Indonesien, Peru und Mexiko schriftlich befragt; darüber hinaus wurden Intensivinterviews mit ehemaligen Stipendiaten und qualitative In- terviews mit in- und ausländischen Experten durchgeführt. Die Absolven- 200 Helmut Winkler ten wurden nach verschiedensten Themenbereichen gefragt, z.B. nach ent- wicklungspolitischen Leitbildern, Selbstbildern, Bildungs- und Ausbil- dungsbedarf der Heimatländer, Auswahlverfahren, Inhalt der Programme sowie ihren Problemen in der Bundesrepublik; die Reintegration sowie Kontakte zur Bundesrepublik nach der Rückkehr machen aber nur einen kleinen Teil der Studie aus. Reintegration als Prozeß wird hinter den etwas dürren veröffentlichten Daten (etwa, daß 31,3% der Kenianer die Jobsuche nach der Rückkehr als "gravierendes Problem" ansahen) nicht deutlich. Trotzdem ist diese neueste CDG-Studie ein wichtiger Ansatzpunkt für weitere Untersuchungen; fraglich erscheint uns aber, ob man den verschie- denen Facetten des Reintegrationsprozesses (Beruf, Familie, Kultur u.a.) mit formalisierten Instrumenten wie dem in der Studie benutzten Fragebo- gen auf die Spur kommen kann. Die Studie von Vente und Avenarius (1983) über indonesische Studenten ist dabei als eine weitere wichtige und neue Rückkehreruntersuchung zu nennen. Sie enthält zwar keine quantita- tiven empirischen Daten zur Reintegration, beruht aber u.a. auf einer Vielzahl von Gesprächen mit Riickkehrern in Indonesien, deren Er- fahrungen sie auswertet. Der Akzent liegt allerdings auf der Bedeutung von Studentenvereinigungen für die Reintegration und sagt wenig über die Reintegrationsprozesse selbst aus. Schon aufgrund der vorangehend dargestellten Sichtung der relevanten Li- teratur kann man folgendes Fazit ziehen: (1) Es gibt nur sehr wenige empirische Studien, die sich mit der Frage der Reintegration der in der Bundesrepublik ausgebildeten Fachhochschul- und Hochschulstudenten befassen. (2) Einige Einzeluntersuchungen zu unserer Thematik liegen allerdings vor; diese sind im wesentlichen dadurch gekennzeichnet, daß sie ent- weder - Absolventen einer bestimmten Förderorganisation erfassen, - sich auf Teilnehmer eines Nachkontaktseminars einer deutschen Or- ganisation beziehen, - ein bestimmtes Förderprogramm zu evaluieren suchen oder - an die Aktivitäten einer bestimmten Rückkehrervereinigung an- schließen. (3) Der eigentliche Prozeß der Reintegration wird in den genannten Un- tersuchungen kaum sichtbar; eine Theoriebildung über die Reintegra- tion als biografisch bedeutsame Phase ist nicht entwickelt. An der Gesamthochschule Kassel (GhK) existiert nun sowohl eine Ein- richtung, die Kurse innerhalb des Reintegrationsprogramms des Bundes- ministers für wirtschaftliche Entwicklung (BMZ) durchführt und die des- halb an einer Evaluierung der Wirkungen dieser Kurse interessiert ist, das Deutsche Institut für tropische und subtropische Landwirtschaft (DITSL), als auch eine weitere Einrichtung, das Wissenschaftliche Zentrum für Be- rufs- und Hochschulforschung, welches sich mit beruflichen Biografien Reintegration von Hochschulabsolventen aus Entwicklungsländern 201 Hochqualifizierter befaßt. Daraus ergab sich das im folgenden darzustel- lende Forschungsvorhaben, von dem einige Teilergebnisse in diesem Band vorgestellt werden. Diese Teilergebnisse beziehen sich ausschließlich auf die biografie-analytischen Ansätze, die der Verfasser im Rahmen eines Kooperationsprojektes mit Kollegen des DITSL durchgeführt hat.' 2. Fragestellungen, Gegenstände und Methoden der Untersuchung 2.1 Fragestellung Eine der ursprünglichen Fragestellungen der Untersuchung war bestimmt von dem Wunsch der Programmverantwortlichen für die HD-Kurse, eine Evaluierung des Kursprogramms unter dem Gesichtspunkt retrospektiver Kritik ehemaliger Teilnehmer vorzunehmen. Externe Evaluierungen (vgl. Avenarius und Weiland 1982; Hanf und Tagher 1982) und interne Teil- evaluierungen (vgl. Wesseler 1984) sollten in ihren Ergebnissen zum Ver- gleich herangezogen werden. Das zur Verfügung stehende Material bestand aus Briefwechseln zwischen ehemaligen Kursteilnehmern mit der pro- grammführenden Stelle, dem Deutschen Institut für tropische und subtro- pische Landwirtschaft (DITSL), und versprach nach ersten Durchsichten (Riebel und Ridwan 1979) vielfältige Äußerungen zu Inhalten, Formen und Ergebnissen der HD-Kurse. Bereits aber eine erste eingehendere Analyse der Korrespondenzmappen zeigte, daß sowohl die Themen, die die ehemaligen Kursteilnehmer an- schnitten, als auch die Problemlagen, die sie für sich selbst als bedeutend bezeichneten, diesem Untersuchungsziel nur sehr wenig entsprachen. Wohl zeigte sich, daß die Korrespondenz reiches Material für biografische Analysen über eine für diese Personen sehr wichtige "Schwellen-" oder Übergangsphase in ihrem Leben enthielten. Die Auswertung der Korres- pondenz erfolgte danach stärker unter dem Blickwinkel der Analyse der Reintegrationsverläufe der nach einem Studium in Industrienationen in ihre Heimatländer - meist Entwicklungsländer - zurückkehrenden Hochschul- absolventen als biografisch wichtige Phasen. Die Ergebnisse der Analysen sind demnach sowohl im Hinblick auf die Vertiefung der wissenschaftli- chen Erkenntnisse über die Reintegration von Hochschulabsolventen aus Entwicklungsländern bedeutsam als andererseits auch von sehr praktischem Wert für die Programmverantwortlichen, weil sie Anlaß bieten, den Stu- ' S. Arnini und F.-H. Riebel sind mehr inhaltsanalytiach vorgegangen und betonen die Pro- grarnrnsvaluation stärker; eine gerneinaame Verßffentlichung ist geplant. 202 Helmut Winkler dienaufenthalt in Deutschland, die Teilnahme an Reintegrationskursen, die Gewährung von Beihilfen zur Förderung des Reintegrationsprozesses und die Gestaltung von Nachbetreuungsmaßnahmen kenntnisreicher und be- wußter im Hinblick auf die Reintegration zu organisieren. Methodisch können die Befunde interessant sein, weil sowohl inhaltsanalytische als auch biografieanalytische Ansätze verwendet wurden, die sich aufeinander beziehen lassen. 2.2 Untersuchungsgegenstände 2.2.1 Der Kurs "Hochschuldidaktik und hzternationale Entwicklung" (HD- Kurs) Innerhalb der Angebote des Fachbereichs "Internationale Agrarwirtschaft" der Gesamthochschule Kassel an wissenschaftlicher Weiterbildung nimmt der Studiengang "Hochschuldidaktik und Internationale Entwicklung" eine besondere Position ein. Mit ihm kooperiert der Fachbereich seit 1973 in ei- nem Programm des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) zur Berufseinführung und Reintegration von Hochschulabsolventen aus der "Dritten'WeltU nach einem Studium an deutschen Hochschulen. Von den sonstigen Kontaktstudienangeboten unterscheidet sich der Stu- diengang vor allem durch eine längere Dauer (sechs Monate, Ca. zwei Se- mester), seine Regelmäßigkeit (z.Zt. zwei Studienkurse jährlich) und da- durch, daß die Arbeit durch fortführende Kurzseminare an Universitäten in der "Dritten Welt" ergänzt und erweitert werden kann. Unmittelbarer Kooperationspartner ist das Deutsche Institut für tropische und subtropische Landwirtschaft (DITSL), Witzenhausen, eine gemeinnüt- zige GmbH, zu deren Hauptgesellschaftern das Land Hessen und der Bund zählen. Dieses seinerseits führt das sogenannte Reintegrationsprogramm in unmittelbarer Zusammenarbeit mit dem Centrum für Internationale Migra- tion und Entwicklung (CIM), Frankfurt, durch. Der Studiengang "Hochschuldidaktik" will der Einführung und Vorberei- tung von Hochschulabsolventen auf den Arbeitsplatz "Hochschule in der Dritten Welt" dienen. Er will mit seinen Zielen - praktisch und berufsbezogen sein, indem er sich auf die Erweiterung und Stärkung individueller Handlungskompetenz konzentriert und auf die Erarbeitung von Materialien abzielt, die in der sprteren Arbeit der Kursteilnehmer in Forschung und Lehre unmittelbar Verwendung finden können; Reintegration von Hochschulabsolve~zten aus Entwicklungsländern 203 - wissenschaftlich und wissenschaftsbezogen sein, indem er den Teilneh- mern u.a. die Möglichkeit bietet, ihre Wissenschaft und ihre wissen- schaftliche Arbeit im Hinblick auf ihre Bestimmungsgründe, Methoden und Verwertungszusammenhänge einer kritischen Analyse und Reflexion zu unterziehen. Der Arbeit im Kurs liegen wesentliche Elemente des Projektstudiums zu- grunde. Die Arbeit im Kurs ist daher weniger auf lehrende Veranstaltun- gen als auf kooperative Formen des Lernens und interdisziplinärer Arbeit ausgerichtet. Der Kurs gliedert sich schwerpunktmäßig in drei Arbeitsbe- reiche: - Migration und internationale Entwicklung (als Kontext von Forschung und Lehre der Kursteilnehmer; - Forschungsplanung und Forschungsmanagement (als die eigene Disziplin übergreifenden allgemeinen Handlungsaspekte); - Hochschullehre (Hochschuldidaktik im engeren Sinne). Der Kurs ist so organisiert, daß die Teilnehmer im zweiten Quartal für vier Wochen einen Studienaufenthalt in ihrem Herkunftsland absolvieren können. Für die erfolgreiche Teilnahme wird ein Zertifikat ausgestellt. Zulassungsbedingung für den Studienkurs ist der Abschluß eines wissen- schaftlichen Studiums im deutschen Sprachbereich, in der Regel die Pro- motion. Die Anzahl der Teilnehmer ist auf maximal 25 je Kurs beschränkt. Mit erster Prioritat werden Stipendiaten des Deutschen Instituts für tropi- sche und subtropische Landwirtschaft, Witzenhausen, zugelassen. An den bis zum Untersuchungszeitpunkt durchgeführten sechzehn Studien- kursen haben 300 Wissenschaftler unterschiedlicher Fachdisziplinen aus 55 Ländern teilgenommen. Viele der ehemaligen Teilnehmer nehmen an Uni- versitäten ihrer Lrnder inzwischen führende Positionen ein. 2.2.2 Beschreibuttg des Ausgangsmaterials Beim Untersuchungsmaterial handelte es sich um 985 Schriftstücke (Mit- teilungen, Briefe, Postkarten, Anträge usw.) von ehemaligen Teilnehmern der HD-Kurse, die an das DITSL, den gastgebenden Fachbereich der GhK oder an Privatpersonen aus dem Kreis der Kursverantwortlichen, Lehren- den oder Betreuer im Umfeld der Kurse geschickt wurden. Diese Schrift- stücke sind innerhalb des Zeitraums von 1973 bis 1983 verfaßt worden, sie beziehen sich auf unterschiedliche Zeitpunkte oder Phasen der Reintegra- tion nach der Rückkehr ins Heimatland. In der Regel bricht der briefliche Kontakt nach Ca. 5 Jahren ab. Das schriftliche Material ist nach Form, In- halt, Länge, Themenstellungen und Zweck sehr heterogen und vielfältig, weist aber gleichwohl ganz bestimmte Charakteristika auf: 204 Helmut Winkler (1) Das Untersuchungsmaterial ist (und das ist besonders bedeutsam, wenn inhaltsanalytische Verfahren verwendet werden) fast ausschließlich von nicht-deutsch-sprachigen Schreiber/inne/n verfaßt worden. Diese kommen aus unterschiedlichen Ländern der Welt (s. Schaubild 1) und gehören unterschiedlichen Fachdisziplinen an (s. Schaubild 2). (2) Das Untersuchungsmaterial beinhaltet neben Briefen oder Anträgen mit Sachaussagen zum Reintegrationsverlauf auch eine Reihe von Schriftstücken, die vor oder während der Teilnahme am HD-Kurs noch in Deutschland geschrieben wurden, sowie auch Schriftstücke sehr persönlicher Art, die für unsere Untersuchung nicht so bedeutsam erschienen (Grußkarten zu Festtagen, Dankadressen formaler Art U. dgl.). (3) Die Schriftstücke sind zumeist an das DITSL als programmdurchfüh- rende Organisation gerichtet. Dabei muß davon ausgegangen werden, daß sich die Inhalte und Themen der Briefe vornehmlich auf die Be- ziehungen der Teilnehmer als Stipendiaten zum DITSL beziehen, wobei häufig der materielle Bereich angesprochen wird. So sind Äußerungen zu Inhalten und Formen der HD-Kurse selbst, zum Studium u.ä. rela- tiv selten und nicht prinzipiell. (4) Jedes Schriftstück Iäßt sich auf einen ganz bestimmten Verfasser be- ziehen, für die hier angestrebte Analyse war jedoch eine Anonymisie- rung nötig. 2.3 Methodisches Vorgehen 2.3.1 Erster Analyseschritt: Neiinungshäufigkeit bestimmter Themen Der erste Analyseschritt wurde von einer kleinen Arbeitsgruppe von Mit- arbeitern am HD-Kurs (Riebe1 und Ridwan 1979) vor Beginn der Arbeiten des Verfassers durchgeführt. Er bestand darin, aus dem vorhandenen Ma- terial eine Stichprobe von Schriftstücken zu entnehmen und intensiv zu le- sen. Die am häufigsten vorkommenden Themen wurden notiert und zu ei- nem Kategorienschema für die weitere Untersuchung verdichtet. Durch weitere Stichprobenanalysen wurde der erste Kategorienrahmen verdichtet und die Anzahl der Kategorien auf 10 reduziert. Mit diesen 10 Kategorien wurde dann das gesamte Material von insgesamt 985 Schriftstücken quantitativ ausgewertet. Die Ergebnisse der Zählung (nach Nennungshäufigkeit) sind im Schaubild 3 dargestellt. Reintegration von Hochschulabsolveriten aus Entwicklungslrindern 205 Schaubild 1: Regionale Herkunft der Teilnehmer der Studienkurse "Hochschuldidaktik und Internationale Entwicklung" des FB 21 der Gesamthochschule Kassel, 1973-1983 (HD 1-16), Kontinente und Länder Kontinent Teilnehmer (1) Land Anzahl vH Asien (Fernost) 5 8 17,7 Bangladesh 3 Korea 8 Philippinen 1 China 3 Malaysia 1 Sri Lanka 3 Indien 6 Pakistan 9 Thailand 6 Indonesien 18 Asien (Nah- und Mittelost) 7 2 27,l Afghanistan 4 Jordanien 8 Palästina 4 Irak 3 Libanon 3 Syrien 5 Iran 24 Jemen 1 Türkei 20 Europa 17 5,4 Deutschland 2 Griechenland 14 Ungarn 1 Afrika (nördlich der Sahara) 8 1 24, l Ägypten 73 Marokko 2 Tunesien 1 Algerien 1 Sudan 4 Afrika (südlich der Sahara) 5 3 19,4 Äthiopien 4 Lesotho 1 Südafrika 1 Angola 2 Mali 5 Tanzania 3 Benin 1 Nigeria 12 Togo 1 Ghana 9 Obervolta 1 Tschad 1 Kamerun 3 Senegal 1 Zaire 3 Kenia 2 Sierra Leone 2 Zimbabwe 1 Lateinameri ka 19 6 3 Bolivien 3 Haiti 5 Mexiko 2 Brasilien 1 Honduras 1 Peru 1 Chile 1 Kolumbien 4 Trinidad 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Insgesamt 300 100,O (1) ohne Kurreeit- und Gastteilnehmsr Quelle Riebe1 (1984) 206 Helmut Winkler Schaubild 2: Wissenschaftliche Ausbildung der Teilnehmer der Studienkurse "Hochschuldidaktik und Internationale "Entwicklung" des FB 21 der Ghk, 1973-1983 (HD 1-16), nach allgemeinen Wissenschaftsbereichen Teilnehmer Wissenschaftsbereich Anzahl vH Naturwissenschaften (einschließl. Medizin)/Mathematik Technikwissenschaften (einschließl. Bioproduktion) Sozial- und Wirtschaftswissenschaften 44 14,7 Kommunikations- und Kulturwissen- schaften 2 8 9,3 Insgesamt 300 100,O Quelle: Riebel (1984) Die Zahlen geben die Nennungshäufigkeit für die 10 Kategorien in den I analysierten Schriftstücken an, aufgeteilt nach den 11 durchgeführten KD- Kursen bis zu diesem Zeitpunkt (römische Ziffern). Interessant ist die I Rangfolge nach Nennungshäufigkeit: I - Rang 1 nimmt der Bereich "Anträge, Wünsche an das DITSL" mit insge- I samt 718 Nennungen ein, gefolgt auf I ! - Rang 2 von Äußerungen über die berufliche Situation (incl. For- schungstätigkeiten) mit zusammen 494 Nennungen. - Rang 3 wird vom Privatbereich mit 297 Nennungen eingenommen. Erst auf - Rang 4 mit 72 Nennungen findet sich der Bereich von Äußerungen über deri HD-Kurs selbst. Dieses Ergebnis bedeutete für die weiteren Auswertungen das Aufgeben der ursprünglichen Zielvorstellung - eine Programmevaluierung der HD- Kurse vorzunehmen - waren doch die Äußerungen zu Inhalten, Formen, Sinn und Nutzen der Kurse nicht so zahlreich wie zunächst erwartet. An- dererseits offenbarten die Äußerungen der Schreiber der Schriftstücke de- ren Relevanzgesichtspunkte, für die sich das Auswertungsteam in der zweiten Auswertungsphase dann ebenfalls zu interessieren begann. Reintegration von Hochschulabsolventen aus Entwicklungsldndern 207 I 2.3.2 Zweiter Analyseschritt Beim zweiten Analyseschritt wurden zwei Wege der Auswertung beschrit- ten: (1) eine inhaltsanalytische Auswertung durch Mitarbeiter am HD-Kurs (Amini und Riebel) sowie (2) die im folgenden dargestellte biografieanalytische Auswertung durch den Verfasser. Bei der biografieanalytischen Auswertung wurde mit Schütze (1981) von der These ausgegangen, daß in Texten, die Erleben beschreiben, auch bio- grafische Perspektiven mobilisiert werden. Diese These stützt sich auf ein strukturelles Axiom, nach dem es eine Homologie von Erfahrungs- und Erzählströmen in narrativen Texten gibt. Die unaufgefordert/spontan ver- fassten Texte der ehemaligen Teilnehmer an den HD-Kursen enthalten häufig Passagen erzählender Struktur, aus denen sich Rückschlüsse auf Er- lebtes ziehen lassen, das Teil der Biografie des Erzählenden ist. Natürlich kann es sich dabei - und das liegt in der Natur des verwendeten Materials - nicht um ganze Biografien handeln, die sich etwa aus den Texten rekon- struieren ließen, aber zumindest bestimmte, bedeutsame und/oder prekäre biografische Phasen - wir wollen sie vorläufig Biogranznle nennen - wer- den erkennbar. Bei der Analyse solch erzählender Texte ist auf folgende vier Strukturie- rungselemente zu achten: - Darstellung intendierter und durchgesetzter Handlungsschemata; - Erkennen institutionaler Ablaufmuster und -erwartunge?t im Lebenslauf (Schritte, Stufen, Phasen, Linien, Knoten, Schwellen usw.; - Verlaufskurven (trajectories) unter zunehmender Einschränkung der ei- genen Handlungsmöglichkeiten (Erleiden, externe Zwänge, Sackgassen usw.); - die Entwicklung der Fähigkeit zur Mifsteuerur~g (und Regie) der eigenen Biografie auch unter Fortgeltung der extern gesetzten Bedingungen. Untersucht werden können alle Texte, die tatsächlich narrativ sind, weil nur sie unter die typischen Zwänge des Erziihlens geraten: - Gestaltschließungszwang (Anfang und Ende einer Phase, die beschrieben wird, müssen erkennbar sein), - Kondensierungszwang (Beschränkung auf das Wichtigste), - Detaillierungszwang (Aufnahme aller nötigen Details, die zur Schilde- rung notwendig sind). 208 Helrnut Winkler I Reintegration von Hochschulabsolventen aus Entwicklungslrindern 209 Bei der Auswertung der ausgewählten Texte (wir haben alle Briefe von 30 Personen aus der Gesamtheit von 300 Personen ausgewertet, indem wir als Stichprobe jede zehnte der alphabetisch geordneten Korrespondenzen zogen) gingen wir in sechs Stufen vor: - Ausscheiden aller nicht-erzählenden Teile (Floskeln, Grüße, Sachanträge u.dg1.) - Strukturierung: Herauslösen zeitlich begrenzter biografischer Elemente des Reintegrationsprozesses: Situationen, Höhepunkte, Ereignisse, drama- tische Wendepunkte, Wandlungen, aber auch: Planungen von Abläufen, strategische Aussagen zu zukünftigem Handeln; - Analytische Abstraktion: Entwicklung erster struktureller Aussagen aus den zeitlichen Sequenzen/Abschnitten, die erzählt werden; - Interpretation der Texte vor dem Hintergrund der von den Schreibern selbst entwickelten (persönlichen) Alltags-Theorie über das sie Bewe- gende: Orientierungs-, Deutungs-, Selbstdefinitions-, Legitimations-, Ausblendungs- und Verdrängungsfunktionen; - Kontrastiver Vergleich mehrerer Erzähltexte. Dieser Analyseschritt hat die Funktion, die aus den Einzelfallanalysen gewonnenen Elemente der prozeßhaften Struktur von Lebenslaufabschnitten (-phasen) einzelner Personen zu verdichten und von den Besonderheiten des Einzelfalles zu lösen; schließlich - die Konstruktion eines theoretischen Modells, des "Phasen-Modells der Reintegration ". 3. Ergebnisse der Untersuchung 3.1 Vorbemerkungeii Bei der Analyse der ausgewählten Texte wurde deutlich, daß die Natur der Schriftstücke nicht immer und zur Gänze den Idealforderungen nach Nar- ration/Erzählform genügte: teilweise wurde auf Berichtsformen zurückge- gangen, teilweise überwogen Deutungsversuche zu Vorgängen, die den Adressaten nicht zur Gänze bekannt sein konnten. Beides schränkte die Auswertungsmöglichkeiten insbesondere im Hinblick auf die Rekonstruk- tion von Lebenslaufabschnitten (Biogrammen) etwas ein, vor allem auch deshalb, weil die Regelmäßigkeit und zeitliche Abfolge der Briefe - um solche handelte es sich meist - größere Lücken aufwies. Auf eine weitere Schwierigkeit hatten wir bereits hingewiesen: Die meisten Schreiber sind nicht deutschsprachig, schreiben jedoch aus Rücksicht auf die Adressaten zumeist in Deutsch. So kann nicht immer davon ausgegangen werden, daß wir genau das verstanden haben, was die Schreiber im Sinn hatten. Wir ha- ben deshalb auch bei Zitaten darauf verzichtet, eine Verbesserung des häufig schwer verstandlichen Deutsch vorzunehmen. 210 Helmut Winkler Schließlich bleiben Zweifel an der Wahrheitstreue der Erzählungen: Sind nicht manche Einlassungen einem Inferiotätskomplex gegenüber den Adressanten geschuldet? Drückt sich nicht in manchen Bitten, Klagen und Wünschen die auch im Herkunftsland fortbestehende Abhängigkeit von Geber-Institutionen aus? Sind nicht manche blumenreichen Ausdrücke ei- ner Kultur entlehnt, die die Schreiber eher beim Adressaten als bei sich zu Hause kennengelernt hatten? Werden nicht viele Erlebnisse entweder über- trieben positiv oder negativ geschildert, um den erhofften Zweck weiterer materieller Unterstützung eher zu erreichen? Trotz all dieser Zweifel können wir die Äußerungen der Schreiber als in- soweit "wahr" ansehen, als diese die ursprünglichen Adressaten als grund- sätzlich so kenntnisreich über die Situation in den Herkunftsländern der Schreiber ansehen mußten, daß eine falsche Darstellung von diesen zwei- felsohne leicht hätte erkannt werden können. 3.2 Darstellung eines Musterfalles für ein Biogramm Als Anregung zur Modellbildung und Theoriekonstruktion empfanden wir besonders solche Darstellungen geeignet, bei denen sich die Briefschreiber bemüht hatten, ihre persönlichen Lebenserfahrungen in einen weiteren Rahmen zu stellen. Sie entwickelten dabei selbständig ihre Alltagstheorien, die es zunächst für uns zu verstehen galt, ehe wir eigene theoretische Mo- delle konstruierten. In einem Fall lag sogar eine zu einem Vortragsmanu- skript verdichtete Schilderung eines Reintegrationsprozesses vor, die als Muster für ein Biogramm dienen kann. Der Vortrag wurde von einem ehemaligen Kursteilnehmsr in einem späteren HD-Kurs gehalten. " ich nröchte diesen Vortrag nzit einer kurzen Beschreiburig meiner Person arifangen. Mein Fanziliennanze ... sagt einiges über meine Herkunft. Nänz- lich. d a ß ich aus d e m A'orden des X stamme. Der Nanze ist aus einer uralten Sprache von der Stadt Y , die als eine der ältesten Städte der Welt gilt. Ge- boren bin ich i ~ i Z , derHauptstadt von X , wo ich zur Schule ging und stu- dierte. Nach dem Kerarnikstudiuni iti Z an der Kunsthochschule kam ich nach Deutschland und habe dort "Iridustrial Desigrz Keramik" studiert. Etwa siebeiz Jahre bin ich fern von nzeiner Heimat geblieben. Während dieser Zeit habe ich nzich völlig umgestellt, danzit ich hier leben kann. Der größte Un- terschied zwischen nzeinern Leberi in der Heimat und meinem Leben hier ist, d a ß ich iri der Heinzat innzitferi eitler ganz großen Familie gelebt habe, wo man alles gemeinsam unternininit. und hier jeder einzelne für sich krlnzpfe~z muß. Das habe ich mit der Zeit auch gelernt. Nun stehe ich vor der großen Frage: Wie kann ich jetzt wieder in einer großer1 Familie, wo die private Sphäre der eitizelneiz Persotieti kaum sichtbar ist, leben? Wie kann ich wie- der iri einem Haus nzit 10 Persorien harnzonisch leben, nachdem ich iiber sieben Jahre allein in eitieni Studenteizwohnheimzinimer gelebt habe? Was Reintegration von Hochschulabsolventen aus Entwicklungsländern 211 mache ich mit den Gewohnheiten und Verhaltensweisen, die durch diese S i - tuation ein Teil meiner Persönlichkeit geworden sind? Während meines Stu- diums war ich dreimal zu Hause zu Besuch gewesen. Ich hatte ganz bewußt vor, doch öfter nach Hause zu fahren, damit ich diesen Kontakt zu meirzenz Milieu nicht verliere und die Reintegration erleichtere. Leider war dies aus vielen Gründen nicht möglich. Z u den persönlichen Problemen gehört das Fehlen jeglicher Versuche der praktischen Reintegration schon im Gastland. Veranstaltungen und Aktivitäten, die das Bewußtsein der Ausländer fördern, werden i m allgemeinen eher mit Verachtutzg statt Urzterstützuizg enzpfunden. Denn meines Erachtens beginnt die Reintegration schon i m Gastland. Und je weniger sie i m Gastland stattfindet, desto weniger urid schwieriger wird sie i m Heimatland stattfinden. Während dieses Reintegrationsprogranzms wäre es sinnvoller, wenn die Teilnehmer praktische Erfahrungen sarnmel~z könn- ten, indem sre z.B. in einer Atmosphäre, die optisch wie geistig die Reiiite- gration fördern könnte. leben. Mit möglichst passenden Wohngelegenheiten, die die Gewohnheiten der Heimat berücksichtigen, nzit kulturellen Veran- staltungen, wie Tanz und Folklore, hätte man praktisch den Reintegratio~is- prozeß kräft ig uriterstiitzt. Auch Zeitschriften, Zeitungen und Biicher aus den Heimatländern könnten besorgt werden. Die Reintegrationszeit diirfte auf keinen Fall eine Verlängerung der Entfrenidungszeit sein! Sicherlich habe ich hier eine Menge gelernt. Sicherlich habe ich nzich per- sönlich weiterentwickelt. Aber all dies geschah getrennt von der Gesellschaft, wo ich aufgewachsen war und wo ich fiir den Rest nzeiries Lebens leben werde. Wie läßt sich das übertragen? Diese vielen Rei?itegratio~zsproblenze werde ich in drei Hauptkategorietz teilen: Die persörillcheri Problenze, dle beruflichen Probleme und die politischeri Problenze. Z u der ersten Gruppe gehört dieses Hin- und Her-Schwankeri zwischerz zwei völlig verschiederzei~ Gesellschaften. Als ich hierher kam, nzußte ich mich atipassetz. Das heißt, ich nzußte neue gesellschaftliche, nzoralische und ethische Nornzeiz hinneh- men, mit denen ich sicherlich nicht ganz eiriverstatideii bin. Jetzt kehre ich zurück und muß mich wieder an ganz andere gesellschaftliche, ethische urid moralische Normen angewöhnen bzw. aripasseri. Die beruflicherz Probleme sind wiederuni ein großes Handicap. Die nzeiste~i Kollegen haben eitle ganz andere Arbeitsweise, die für nzich als Neuatz- könimling- sehr fremd ist. Mir wird nzit viel Neid und Mißtrauen begegnet, bis ich meine neue Freunde kentiengeleriit habe. Meine Arbeitsnzoral, nzeitie Methoden und Verhaltensweiseiz sind anders als ihre. CVahrscheirilich wird zu viel von nzir erwartet, der~tz ich habe iti eiriern hochetitwickelterz Land stu- diert. Viele Geräte und Maschineri. die ich fiir nzeitie Arbeit benötige, werde11 fehlen. A m Anfartg meiner Tritigkeit wird die Vers/iiridigu?ig durch die fremde Fachsprache sehr erschwert. Dazu konznit. daß ich fachliche Litera- tur nicht weiterempfehlen katiii wcgeti der Uiikeririttiis der deutsche11 Spi,a- che. 212 Helmut Winkler Auch politische Probleme sind zu erwarten. Denn ich bin viel kritischer ge- worden. Vieles, was ich nicht gut finde, werde ich nicht einfach hinnehmen. Wie kann man diese Kritik so üben, daß sie positiv und konstruktiv aufge- nommen wird? Wie finde ich die Freunde, mit denen ich zusammenarbeiten kann, ohne daß ich meine Überzeugung preisgeben muß? U m das, was n7an hier gelernt hat, anzuwenden, braucht man politisches Bewußtsein und Han- deln. Das ist heute in den meisten Läridern Afrikas, Asiens und Lateiname- rikas ein Verhalten, das das Leben kosten könnte. Nun, all diese Probleme existieren heute in einer Welt, die so kompliziert geworden ist. Und das, was i m Rahmen der Reintegration geschieht, ist lediglich ein Teil des internatio- nalen Entwicklungsproblems. Es gibt keine erste Welt, es gibt keine zweite Welt, und es gibt keine dritte Welt. sondern es gibt nur eine Welt." (Sorkatti 1980). Der Text enthält bereits einige Hinweise auf wichtige Sequenzen beim Reintegrationsprozeß, ebenso strategische Überlegungen zum eigenen Han- deln sowie die Beschreibung von Umständen und Bedingungen, unter denen sich die Reintegration als Lebensabschnitt vollzieht. Er kann als Beispiel für die anderen analysierten Texte dienen, die - zwar mit größe- ren Brüchen - ähnliche Verläufe erkennen lassen. 3.3 Die Rekonstruktion eines Modells der "Reintegration in Phasen" Auf der Grundlage der analysierten Texte lassen sich Biogramme - wir meinen damit den Lebenslaufabschnitt der Reintegration - als Ausschnitt aus der gesamten Biografie rekonstruieren, die eine zeitlich begrenzte Phase in einem wichtigen problematischen und ereignisreichen Prozeß des Sich-wieder-Einfindens in das Herkunftsland beschreiben. Von den verschiedenen deutschen Förderorganisationen für die Entwick- lungszusammenarbeit (die zumeist auch als Stipendiengeber fungieren) wird beim Umgehen mit den Begriff Reintegration die arbeitsmarktpolitische Komponente stark betont, auch die bildungs- und polit-ökonomische Be- deutung des qualifikationsadäquaten Einsatzes und der Vermeidung von 'brain-drain' sowie die 'rates-of-return' bestimmten Überlegungen zur Re- integration. Fast in den Hintergrund dabei treten die Bedeutungszumessun- gen, die der Einzelne, der "Reintegrand", dieser für ihn äußerst wichtigen Phase seines Lebens gibt. Wir wollen daher einen Reintegrationsbegriff verwenden, bei dem nicht nur äußere Kriterien wie soziale Stellung, Fin- den eines Berufs usw. als Maßstab an eine 'gelungene' Reintegration ange- legt werden, sondern auch 'innere' Kriterien wie: - Erfüllung von Vorstellungen zu einem Lebensplan des Individuums; - Befriedigung mit den Aufgabenstellungen im Beruf; - Identitätsfindung innerhalb einer soziokulturellen Gemeinschaft und Gesellschaft; Reintegration von Hochschulabsolventer aus Entwicklungsländern 213 - Eingehen langfristiger menschlicher Bindungen u.dgl. In diesem Sinne würden wir eher von einer 'geglückten' Reintegration sprechen, als von einer nur formal 'gelungenen'. Die Formulierung "gelun- gene Reintegration" drückt dagegen diesen Sachverhalt nur unzureichend aus. In ihr spiegelt sich eher die Befriedigung von Mitgliedern der för- dernden Organisationen wider, denen es gelungen ist, den Förderzweck (Stipendienvergabe, Ausbildungserfolg, Rückkehr des Hochschulabsolventen in seine Herkunftsgesellschaft, Vermeidung von 'brain-drain' u.dgl.) zu erreichen. Bei der Rekonstruktion des Phasenmodells der Reintegration wollen wir drei Stränge unterscheiden: - Der Hauptstrang ist gegeben durch das Leben des Individuums, das be- stimmte biografische Stationen erlebt, wobei in den verschiedenen Pha- sen von außen induzierte Erlebnisse verarbeitet, gedeutet, bewältigt und definiert werden müssen. - Der Nebenstrang 1 ist gegeben durch den Kontakt mit Institutionen, die dem beruflichen Leben und Erleben Anstöße, Zwänge, Anregungen, Chancen geben. - Der Nebenstrang 2 sind die sozialen Bindungen, Netze und Kontakte mit anderen Menschen in Familie, Freizeit und Gesellschaft, die nicht unbe- , dingt mit dem beruflichen Leben zu tun haben, aber das Leben mitprä- gen. - Abschlui3 des Reintegrationsprozesses ist die Phase der Selbstfindung und geglückten Heimkehr, die durch eine Meldung signalisiert wird, aus der hervorgeht, daß das neue Leben rundum zur Zufriedenheit organi- siert ist. \ Nur in den wenigsten Fällen wird diese Phase einer geglückten Reintegra- tion erreicht, z.T. sind auch die seit der Ausreise vergangenen Zeiträume zu kurz, um alle Phasen durchlaufen zu haben. Dabei kbnnen folgende Kriterien für eine geglückte Reintegration gelten: - das (Finden einer befriedigenden Aufgabe im Beruf; - die Gründung der Familie bzw. die Wiedereingliederung in die Familie; - das Leben in der eigenen Wohnung und - das Arrangement mit der Gesellschaft. Aus der Analyse der untersuchten 30 Biogramme lassen sich folgende Pha- sen - die nicht notwendigerweise von jedem Einzelnen vollständig und in dieser Reihenfolge durchlaufen werden müssen - unterscheiden: 214 Helmut IVinkler Reintenration von Hoc~rschulabsolveritetz aus Eiztwicklun~sländern 215 Schaubild 4: Das "Phasen-Modell der Reintegration" Hau~tstranp; (Leben) NebenstranU 2 Nebenstranu 1 (soziales Netz) (Institutionen) Ausreise I Phase 1 Ablösung Ausreisekrise 2 r] Erstausstat- er war tun^ tung DITSL: Ausreise BUcher, Geräte 3.4 Beschreibung des Modells der Reintegration in Phasen Phase 1: Ablösung Mit der Ausreise, d.h. schon mit der Vorbereitung darauf, gewinnt die Reintegration jenen Ernstcharakter, der sie einer Krise gleichkommen läßt. Die Auflösung aller Bindungen an das Gastland, die Reduzierung der Habe auf das unbedingt Notwendige (Reisegepäck), der Kauf des Flugtickets, die Abschiedsfeiern im Kreise von Freunden und Bekannten usw. stellen eine solche Ausnahmesituation dar, daß wechselhafte Stimmungslage (zwischen Euphorie und Apathie; Angst und Hoffnung) auftreten. Beinahe "erlöst" klingen dann die eingehenden Meldungen über die Rückkehr: "Schöne Griiße aus Y ! Wir sind gut aizgekommen." (C/11) "Aus Zuneigung zu Witzeiihauseri habe ich versehentlich meine Tiir Schliissel nach H. mitgeschleppt. Erlaubetz Sie mir, mich bei Ihnezz durch diese Gele- genheit für alles in der kurzen Zeit, die ich dort war, zu bddanken." (D/9) Phase 2: Erwartung Im Heimatland angekommen, beginnt eine Orientierung auf die zukünfti- gen Aufgaben. Dabei wird versucht, aus der noch bestehenden Verbindung zum Gastland etwas zu machen, was einen gewissen Vorsprung gegenüber den Kollegen verschafft, die im Lande geblieben sind: man repräsentiert den "Weltstandard" der Fachwissenschaft, man verfügt über eine Handbi- bliothek neuester wissenschaftlicher Standardwerke (durch Sondermittel im DITSL bereitgestellt), kann einige Ausrustungsgegenstände mitnehmen, die im Heimatland entweder nicht oder nur zu extrem hohen Preisen erwerb- bar sind und bringt obendrein noch die Möglichkeit mit, für die Institution im Rahmen der deutschen Entwicklungshilfe bei der GTZ Anträge auf Geräteausstattung stellen zu können. Wir wollen diese Haltung der "Erwar- tungen" an das Gastland nicht nur als Ausdruck einer kritikbedürftigen Nehmermentalität ansehen, sondern als eine vorübergehende Phase des Selbständigwerdens, ganz im Sinne einer Hilfe zur Selbsthilfe, als Starthilfe für den Aufbau einer selbständigen und qualifizierten beruflichen Tätig- keit. Werden diese Erwartungen nicht erfüllt, so erreichen das DITSL auch kritische Stellungnahmen. "...Quittuizgeri /iir Schreibmaschine uiid Projehtiorisapparat zu Ihnen mitge- schickt. Die beidett Gerfite benutze ich fiir die Lehre, fiir die Studenten uiid auch fiir die Forschung und ich bille Sie. das Geld ... zu überweisen." ( E / 12) "Schöne Griiße aus P. Anbei schicke ich Ihiieti eine Quittung iiber den Kauf des Rechners ... und eitle Bescheiniguizg, daß ich an der Universität tätig bin. Ich bitte Sie um GewBhrutzg der Zuschiisse." (G/15) "Da ntir jetzt ein Biiro atz der Uiziversität zugewiesen wurde, bitte ich. mir die ... zugesagten ... DM fiir die Arbeitsplatzausstattung zu überweisen, da- nzit ich ohne Behinderung nzeiize Arbeit durch filhren kann." (H/6) "Ich habe eine zweite Biicherlieferuizg von Ihnen bekommen, Danke! Weiter hätte ich gern für die zusätzliche Ausstattung ..."( C/11) "Zwei Monate hing ich hier rum ohne Arbeit und Geld und nzußte auch noch zusehen, wie ich allein nzit deiz A~ipassungsproblen~eit fertig werde. Wenn Ihre Organisatio~z wirklich das Ziel verfolgt, uns bei der RNckkehr iiz die Heimat und beruflichen Ei~rgliederur~g zu helfen, bzw. fördern zu wollen, so hätten S ie izicht in der Lage sein kön~zerz, einen Berufsanfänger in dieser Lage rzotweizdige Hilfeleisturzg zu u~zterlasse~z." (T/4) Phase 3: Z u Hause sein In den meisten Gesellschaften, aus denen die Kursteilnehmer stammen, sind die großstädtischen Wohnverhältnisse, die hierzulande vorherrschen1, relativ ungewohnt: man strebt häufig an, fü r die Familie eine eigene Woh- nung, besser noch ein Haus zu bekommen. Das endgültige Da-Sein, das Heimgekommensein wird häufig durch einen endgültigen Wohnsitz signali- siert. Im Sinne der von uns eingangs eingeführten Unterscheidung zwischen "gelungener" und "geglückter" Reintegration messen wir - wie die Äuße- rungen der Reintegranden belegen - diesem Umstand große Bedeutung zu. Die Reintegration ist solange nicht geglückt, wie der Rückkehrer noch mit unzureichenden oder vorübergehenden Wohnzuständen zu kämpfen hat. "Ich bitt seit Januar 81 ... zu Hause als Wisse~zschaftler tätig. Meine Familie ist itoch in Deutschla~zd zui~iickgeblieben. Ich möchte meine Familie jetzt nachhole~i." (0 /8 ) "Nur n~iißte ich die Lebe~zshaltur~gskosten selber übernehmen und ich bin deshalb auf das Dorf gefahren, wo ich bis heute wohrie." (F/5) Phase 4: Rollerzide~~tität Die Stellensuche im Heimatland sieht häufig so aus, daß zwar eine Stelle vorhanden ist, daß die Fachkollegen sich auch für die Besetzung der Stelle durch den Reintegranden ausgesprochen haben, dann jedoch langwierige bürokratische Prozeduren (eventuell auch gewisse Unbedenklichkeitsüber- prüfungen) die tatsächliclie Übernahme der Stelle verzögern. Der Unmut gegenüber dem dahinter vermuteten Mißtrauen und das Gefühl, als "Aus- ' Vielleicht spricht dieser Sachverhalt für den Standort Witzenhausen, der wegen seiner "Ländlichkeit" konträr dasu liegt, aber in der Vorbereitung auf IPndliche Wohnformen in den verschiedenen Heimatländern gewisse Vorteile besitet. Reintegration vort Hochschulabsolvertten aus E~ztwicklurzgslä~zderiz 217 Iänder" stigmatisiert zu sein, wird dabei unterschwellig deutlich. Einige markante Äußerungen hierzu lauten: "... konnte ich keine Briefe schreiben durch viele Probleme gehabt. ... nachdem angefangen meine Versuchen nzuß ich nzit Arbeit wegnzusselz und nach ... (Hauptstadt), eine andere Arbeit anfangen. S o d a ß man karzrz nicht dagegen rnacheiz. Meine Arbeit ist eine Forschuwgeiz über X mit A und B, nicht mit 2. Ich h o f f e , diesmal lasseiz sie mich meine Versuche bis Ende nzachen?" ( K / 15) "Ich konnte leider die Stelle nicht sofort antreten, da die Überprüfung nzei- ner persörzlichen martgelhaft vorha~zderzeiz Sicherheitsdaten lange gedauert hat." (T/14) "Ich schänte mich, weil ich zu spät schreibe ... Das bedeutet aber nicht, d a ß ich euch vergessen habe soizdern diese vielen Probleme, die ich hier getrof- fen und immer noch t r e f f e hindert mich eiri bißchen zu schreiben. Ich werde bis ... um die Arbeit an der Universität X zu anfangen und ; gleichzeitig zu Militär, weil ich von Ha/eit als ich ankam bin zum Dienst ich einberufen worden." (D/15) "Bis heute dauert das Verfahren zu meiner Einstelluizg an." (F/5) 6 Monate später: "Bis heute ist keilte endgültige Entscheidutzg über nzeine Ei~zstellung getrof- fen worden. Das Verfahren bei der Berufungskomnzissiorr dauert noch weiter an." Phase 5: "Ich-Identität" Als Komplement zu der in der Phase 4 entwickelten Rollenidentität (vom Studenten zum Wissenschaftler, zum Professionellen, zum Berufstätigen), die wir heute als heteronom induzierte Verhaltensmuster verstehen, ist auch eine sehr persönliche, eher autonome Ich-Identität zu entwickeln. Zwar entwickelt sich diese Bewußtseinslage eher autonom als Selbstbe- wußtsein, angesichts der Rollenzuweisungen von außen jedoch auch als Reaktion auf diese. Somit wird auch die Herausbildung dieses Bewußtseins von sich selbst in Beziehung zu setzen sein zu gängigen Selbst- und Fremdbildern, wie sie in der Gesellschaft, in die man heimkehrt, Geltung haben. Die hierbei notwendige Umorientierung - schließlich war man in Deutschland ein anderer, als man zu Hause sein kann und will - bereitet häufig größere Schwierigkeiten: sei es, daß man in bezug auf politische Grundüberzeugungen feststellen muß, ein Außenseiter geworden zu sein, oder daß man moralisch-ethische Maßstrbe für sein eigenes Leben ent- wickelt hat, die sich in einem anderen Weltklima nur sehr schwer durch- halten oder gar durchsetzen lassen. Man muß einerseits eine Ichstärke ent- 218 Helntut Wiitkler I Reitttegratioti von Hochschulabsolveriten aus E~itwickluttgsl~~zderii 219 wickeln, die einen nicht an sich selbst zweifeln Iäßt. Andererseits geht es auch darum, dieses "ich" so in die Gesellschaft, Familie und den Beruf einzubetten, daß keine Brüche auftreten, die das Leben unmöglich machen würden. In den soeben beschriebenen Phasen wird das erste Selbstkonzept entwor- fen, in einer späteren Phase 7 muß der Abgleich mit den zugewiesenen Rollen im Sinne einer Identitätsbalance zwischen Rollen- und Ich-Identität geleistet werden. Aus der Korrespondenz ergeben sich zahlreiche Hinweise auf die Proble- matik dieser Selbstfindungsphase angesichts völlig anders gearteter Rol- lenzuschreibungen und Wertsysteme im Heimatland: "Durch nzeine lange Abwesenheit von nzeitrer Heinzat bin ich nicht mehr so vertraut nrit den Gepflogenheiten des t e l i c h e n Lebens dort, sonst hätte ich ..." (J / l 1) "Die Kottzeptiori und die Uiigesetzntäßigkeit inz Laiide ntacht mich zu schaffen." (J/11) "Erst jetzt habe ich angefangeti, was ich in Deutschlalzd gelernt habe, anzu- wendett. Vertraueii ist gut - Koritrolle ist besser ...." (Post ging verloren) "Lartgsani fange ich an, unserem Postanzt ... zu zwei- feln." (J / l I ) "Was nzeine Reintegratiort und Arbeitserfahrutzg be tr i f f t , treten Faktoren po- litischer, filiaitzieller, kultureller, fachlicher und persörilicher Art in den Vordergrund. Als ich nach ... zuriickkehrte, war ich ntit Etithusiasmus und Energie beladen und wollte meitiem Heinzatland dienen. Die schwere Ausein- aridersetzung mit denz Geheinzdierist haben einen beachtlicheil Teil meines Idealisnrus zerstört. Das Leben rti ... fiir mehrere Motiate ohtie Eitzkiitzfte hat meine firtaiizielle Situation verschlrrnntert. Dazu kam die Notwendigkeit, d a ß wir eine Wohriuilg nzieteri und eiririchteti mußtett, ohrre d a ß wir eine klare Vorsfellurtg iiber Priese hatteti. Die Überraschung war daher groß. Der larige Aufettthalt in1 Auslarid und die damit verbuiidetie kulturelle Elzt- /renzdurig haben nzir den Geiiuß verdorben, mich zu Hause zu fühlen. Vieles kontnzf ntir immer noch frentd vor. Die Tatsache, d a ß ich mit einer deut- schen Frau verheiratet bin, hat die Situation verstärkt. Bedingt durch die Studietizert in Deutschland sind mir viele Probleme des Larides utibekamtt. Und weriti die Forschung und das Lehren gut sein sollen, ist die Uritersuchung der herrscheiideri Situation notweridig eine Tatsache, die viel Zeit in Anspruch iirninit. Trotz allenz sehe ich, d a ß nteitr Leberz durch meine Riickkehr einen sinn- volleri Gehalt arigenonzmeii hat." (H/6) "Ich habe schwer hier, alles durchzusetzen. Hier lebe ich nzit Menschen 2000 vor Christi und 2000 nach Christi - Merischen aus urzterschiedlichetz Jahr- hunderten. (J/11) "Bei uns geht alles latigsanz wie S ie wissew, aber es geht." (N/7) Phase 6: "Leben" Man muß nicht unbedingt Marxist sein, um dem Satz, daß das Sein das Bewußtsein bestimme, gewissen Wahrheitsgehalt zuzumessen. Für den Re- integranden stellt das Leben, insbesondere die materielle Sicherung des Le- bensunterhaltes für sich und die Familie, eines der schwierigsten zu Iösen- den Probleme nach der Heimkehr dar. Die an sich schon objektiv schwie- rige Situation in Entwicklungsländern wird durch höheres Aspirationsni- veau in bezug auf den Lebensstandard erschwert, welches durch den lang- jährigen Aufenthalt in einer westlichen Industrienation entwickelt wurde. Häufig ist es gerade der materielle Wohlstand bzw. die Erwartung dessel- ben, die es dem Reintegranden so schwer macht, sich vom Gastland Deutschland zu trennen. Die Heimreise bedeutet in irgendeiner Weise ma- teriellen Verzicht, dieser Verzicht wird häufig kompensiert durch nicht- materielle Motive. "Nun bedauere ich, d a j ich ohtie Geld leben rnuj, zunzal ich nichts aus- zuüben habe." (keine Anstellung) (F/5) "...habe deshalb iiur X DM hier in Y erhalfeil, was daritz utigeriiigend ist, uni alle Unterlagen und Bedinguiigetz zu erfiilleti, zunzal die Hochschule mich aufgefordert hat, ich solle in Z bleiben, unz die Vorträge ab und zu den Studerzteti zu halten. Ich kann nicht .... d a ich die teueren Leberishalturigsko- sten, Übernach tu~ i~ und Essen selber iiberiiehrneri nzuß." (F/5) "Da ich das Kotito iiberzogert habe (Deutschlatid) und das Geld für Le- bensutiterhalt nach (Heinzatlatid) nzitgeriontnieri habe. Tuir Sie das bitte, da ich kein Geld vow (Heimatland) aus riach Auslarid schickerz katin. Wegen der strengen Devisetikotitrolle eirierseils und des urizureichenderz Moiiatsgehalts andererseits. Die Lebenskostett sind iti vieler Hiitsicht teurer als in Deutsch- land, aber das Eirikonzmen ist u m ein Zweifaches weniger". (folgt Rech- nung, nach der 1520,-- DM Lebenshaltungskosten nur 1320,-- DM Ver- dienst entgegenstehen). (T/14) "... habe ich mich entschlosseri, nzit meiner Fanzilie in nteitie Heinzat zuriick- zukehre11 und dort beim Ausbau des Laiidcs zu helfen ... Ohne firiatzzielle Beihilfe wird es schwierig sein. den Sinti meiner Heinzkehr - den1 Aufbau nzeines Lalides dienlich zu sein - zu erfiilleri." ( J / l l ) 220 Helmut Winkler "...voii X schicke ich Ihnen nieiiie Griiße uird besten Wüwsche ..., ... d a ß mein Kontostaizd ist zur Zeit Null." (Z/7) "... ich füge nieiize ~visseiischaftliche Arbeit bei und bitte ich Sie ... ( f o lg t Bitte u m Geld) ... Ich danke herzlich den? DITSL , denn ohne diese Förde- rung wäre diese Arbeit nicht iustaitde gekonintert. (X/5) Phase 7: "Identitätsbalance" Wir wollen diese Phase als diejenige bezeichnen, in der sich herausstellt, ob die Reintegration geglückt1 ist. Der Reintegrand weiß nach diesen Phasen, wo er ist, er kennt seine berufliche Rolle und füllt sie aus. Er hat sich in der Gesellschaft integriert und führt ein glückliches Familienleben. Seine materiellen Bedürfnisse (Einkommen, Wohnung, Transport usw.) sind be- friedigt, und die gewählten Tätigkeiten im Beruf machen Freude und brin- gen Anerkennung, möglicherweise sogar international. Beruf und Leben, Rollenidentitäten und Ich-Identitäten stehen in einem ausbalancierten Ver- hältnis. Man könnte annehmen, daß dies einen Idealzustand beschreibt, den auch hierzulande kaum jemand erreicht. Man kann dies aber auch als anzustrebende Ziele für eine geglückte Reintegration sehen. Nicht alle Reintegranden erreichen diesen Zustand der geglückten Reinte- gration, viele kommen ihm jedoch nahe, sie äußern sich dann so: "Nun erhielt ich den R u f von Regierung für die Stelle 'director o f ...'. Es ist eine sehr hohe und vera~ztworturigsvolle Stelle und hat gleichen Rechts und Status wie ein Universitdts-Seizior- Professor." "Ich bin glücklich, daß ich den Ruf erhielt." (H/4) "Seit 1. Sept . bin ich nach 21 Jahren ...- Beamter, ein komisches Gefühl!" "...als Abteilurigsleiter in2 ... in eirienr staatlicherz Forschurigsinstitut tdtig. ... ich fühle mich wohl in diesen? Institut." "Einziges Problem ist, d a ß ich meiizen nzonatlicherz Gehalt DM 220 ist." ( ] /I 1) "Ich war sehr beschdftigt uni Stelletr zu wechseln. Es ist nzir gelungen, eine rzeue Stelle zu finden. Nutz arbeite ich an der Uni X in Y . Arbeitsbedingun- geiz ist sehr giiwstig hier." "Mir geht es gut. Ich niuß diese Semester I6 Stunderi pro Woche Vorlesun- gen über X halten. Darum bin ich sehr zeitunterdriick, aber ich bin froh, d a ß ich sirzrzvoll beschdfligt bin." (H/4) Erinnert sei an die eingangs beschriebene analytische Trennung von "gelungener" und ge- glUcktern Reintegration. Danach halten wir eine Reintegration nicht achon dann für geglilckt, wenn nur die Aufnahme einer Berufstätigkeit genieldet wird, sondern wenn Beruf und Leben perspektivenreich gesichert sind. Reintegration von Hochschulabsolveri~en aus Eiitwicklu~zgsld~zderit 221 "Ich arbeite inzwischen als Hochschullehrer atz der Universität X in Y ... Ich bin mit meiner Arbeit sehr zufrieden." (H/6) "Mit nzeitier Arbeit an der Fakultät bin ich zufrieden." (E/8) "Wir finden X sehr gut. Das Klima ist auch wuriderbar. Es ist eine sehr po- sitive Dinge irzsbesorzders jiir meine Frau." " In betref f die Arbeit geht sehr gut. Selbstverstäirdlich es gibt sehr viel zu tun . " "Ich habe schönes Haus in den ... bekomnzen." (B/13) "Seit dem ... ist die Familie ... größer geworden." "Wir haberz eine ?reue Wohrzung gekauft." Ich wurde seit dem ... zum Dekan der ... Fakultät gewählt. Es ist die dritt- größte Fakultät der Uiziversitrir X ..." (C/11) "Langsam bin ich auch integriert hier. Nach 22-jährigen1 Auje~zthalt in Deutschland ist es nicht leicht, alles iri ... so zu nehmen, wie sie sind. Offerz gesagt, vermisse ich das liebe Deutschlarid oder mein "Vaterla~zd" (Mutter- land ist ...) sehr." (J/l I ) "Abgesehen vori einigen Schwierigkeiten katz~i gesagt werden, d a ß ich und nteiiie Familie nach der schweren Einge~vöhizungszeit rzurzmehr wieder da- heim fast voll irztegriert sind und wir uns wohl fiihletz." (E/8) "Persönlich biii ich sehr froh, daß ich zu meiizem Heintatlarzd zurückgekehrt bin. Ich bin verheiratet nzit eillenz X-Mddcheri. Wir haben eine 2 1 /2- jäh- rige Tochter. Zur Zeit haben wir eine lVohtiung in Y gemietet. Uns geht es sehr gut." (H/4) "You cannot irnagiiie how nzuch I a m sa t i s f~ed with teachiiig. In fact I thiizk back over nzy school years aitd especially how I was a naughty boy aitd I interrelate with the present students' a f f a i r which would probably helped nie to understand the students." "That is also very interesting ... that in m y l i f e I had never intended or even dreamt to be a lecfurer, in fact I used to hate it badly." "Despite m y previous negative stand against f o be a letcurer, now I an1 persuaded to reniairi a teacher as lotzg as nty productivity arid energy allow me to d o so." ( B / 1 3 ) "Herzliche Grüße aus X , wo ich (Dozeiit an Uttiv.) nionteiztan an einem 'Workshop jor Intproving Teachirig arid Learriirzg in Y ' teiliiehme ... Die Ar- beit läuft sehr gut ... Seil eillenz Motiat bitr ich verheirafet utzd alles läuft sehr gut ... Die Familie ist 0.k. utzd mit der Zeit habe ich mich wieder eirz- gelebt Viele andere Kollegen sind auch irziwischen aus Deutschland zuriick- gekommen. Auch eine Erleichteruizg, dertri der Austausch von Erfahrungeil hilft sehr viel." (S/10) 222 Helmut Winkler Reintegration von Hochschulabsolventen aus Entwicklungslfi~!dern 223 3.5 Zusammenfassung der Ergebnisse Eine Ausgangsfragestellung dieser Studie war es zu evaluieren, ob die Teil- nehmer an HD-Kursen auf ihre beruflichen Tätigkeiten richtig vorbereitet werden. Aufgrund der Datenbasis - unaufgefordert eingesandte Briefe ehemaliger Teilnehmer an das DITSL - und der gewählten Methode - her- meneutische Texterschließung mit nachfolgender Theoriebildung - mußte im Verlauf der Arbeiten die ursprüngliche Fragestellung verändert werden. Die Mitteilungen der Briefschreiber waren von ihnen natürlich nicht hauptsächlich dazu gedacht, unsere Fragestellung zu beantworten. Sie of- fenbarten jedoch eine Relevanzstruktur, bei der die alles überstrahlende Problematik ihrer Reintegration häufig und intensiv thematisiert wurde. Daher ist ein wichtiges - und vorher nicht erwartetes - Hauptergebnis der Studie die Erweiterung des Begriffs der Reintegration. Es gelang uns, durch Verständnis der Alltagstheorien der Briefschreiber über ihre Reinte- gration ein erweitertes theoretisches Gerüst und ein Phasenmodell der Re- integration zu entwickeln. Die theoretisch-modellhafte Reformulierung des Reintegrationsbegriffes dürfte zur Bereicherung der Diskussion beitragen. Wir können mit Bock- horn (1982) übereinstimmen, wenn er fordert: "Wichtig ist dagegen bei al- len Maßnahmen, die der Reintegration dienen sollen, diese als Prozeß zu verstehen." Dieser Prozeß muß bereits bei der Integration beginnen und über die Ausreise hinausreichen. Entwicklungspolitisch bedeutsam werden könnte dabei die analytische Trennung der Begriffe in eine - gelungene Reintegration (formal) und eine - geglückte Reintegration. Man kann von letzterer vielleicht sagen, daß sie erst dann konstatiert wer- den kann, wenn die Rückkehrer die Erwartung der Befriedigung ihrer Se- kundärbedürfnisse nicht mehr an die Bundesrepublik richten. Sie sind dann "abgenabelt", haben Selbstiindigkeit erreicht und kommen zu Hause zurecht. Ein weiterer wesentlicher Befund unserer Studie liegt im methodischen Er- kenntnisgewinn: Die biografie-analytische Auswertung von unaufgefordert eingesandten Texten hat hohen heuristischen Wert. Durch die Anwendung dieser Methode gelingt es, Theorien und Modelle aus der Datenbasis heraus zu entwickeln; vermieden wird so die Gefahr des " Ü b e r ~ t ü l ~ e n s " eigener Theorien über Sachverhalte, die sich dem Betroffenen anders darstellen als dem Forscher. Insbesondere in dem hier bearbeiteten Feld der Problematik des Verhältnisses von Industrie- zu Entwicklungsländern wiegt dieser me- thodische Vorteil betriichtlich. Die hier angewandten Analyse-Verfahren bei der Auswertung "spontaner Korrespondenz könnten ohne Zweifel im Hinblick auf größere Validitrt verbessert werden; hierzu könnten Vergleichsuntersuchungen förderlich sein. Dabei könnten an ähnlichen Fortbildungsmaßnahmen beteiligte Insti- tutionen wie z.B. die CDG, DSE oder der DAAD sicher auf umfangreiches Datenmaterial für solche Analysen zurückgreifen. Es wird jedoch nicht empfohlen, besondere Befragungs-"Instrumente" zu entwickeln, um zu re- präsentativen, validen "Datensätzen" zu gelangen, denn dabei geht unseres Erachtens der heuristische Wert der hier gewählten biografie-analytisch bestimmten Auswertungsmethode verloren. Die Gewinnung von Analy- sekategorien und theoretischen Modellen aus den "ins Auge springenden" Relevanzstrukturen der Alltagstheorie von Verfassern spontaner Texte ist der wesentliche Ertrag dieses methodischen Vorgehens. Literatur ABELS, H. u.a.: (1977): Lebensweltanalyse von Fernstudenten. Qualitative Inhaltsanalyse - theoretische und methodologische Überlegungen. Hagen: Zentrales Institut fü r Fernstudienforschung (ZIFF) der Fernuniversität Hagen (Werkstattbericht). AVENARIUS, H. und WEILAND, H. 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In: Afrikanisch-Asiatische Aspekte, Nr. 4. WESSELER, M. (1984): "Evaluation und Partizipation - Eine Fallstudie". In: Arbeitsberichte und Materialien, H. 13, Witzenhausen. Autorinnen und Autoren 227 Die Autorinnen und Autoren MICHAEL BUTTGEREIT, Dr.rer.pol., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Wissenschaftlichen Zentrum für Berufs- und Hochschulforschung der Ge- samthochschule Kassel. KLAUS HEIPCKE, Dr.phil., Professor im Fachbereich Erziehungswissen- schaften und Geschäftsführender Direktor des Wissenschaftlichen Zentrums für Berufs- und Hochschulforschung der Gesamthochschule Kassel. HARRY HERMANNS, Dr.rer.pol., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Wis- senschaftlichen Zentrum für Berufs- und Hochschulforschung der Gesamt- hochschule Kassel. ERIKA, M. HOERNING, Dr.soz., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin. RUDOLF MESSNER, Dr.phil., Professor im Fachbereich Erziehungswis- senschaften und Mitglied im Wissenschaftlichen Zentrum für Berufs- und Hochschulforschung der Gesamthochschule Kassel. ILONA OSTNER, Dr.phil., Professorin im Fachbereich Sozialarbeit an der Fachhochschule Fulda. HANS RAUSCHENBERGER, Dr.phil., Professor im Fachbereich Erzie- hungswissenschaften an der Gesamthochschule Kassel. CORNELIA ROSEBROCK, Lehrbeauftragte im Fachbereich Erziehungs- wissenschaften an der Gesamthochschule Kassel. HANS-ROLF VETTER, Dr.rer.pol., Wissenschaftlicher Referent am Deut- schen Jugendinstitut e.V. in München. HELMUT WINKLER, Dr.Ing., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Wissen- schaftlichen Zentrum für Berufs- und Hochschulforschung der Gesamt- hochschule Kassel. PUBLIKATIONEN DES WISSENSCHAFTLICHEN ZENTRUMS nisse der Klausurtagung in Hofgeismar am 16. und 17. November 1978. 1979 (Nr. 1) A. Reihe "Hochschule und Beruf" (Campus-Verlag, Frankfurt/M. und New York) TEICHLER, Ulrich und WINKLER, Helmut (Hg.): Praxisorientierung des Studiums. 1979 TEICHLER, Ulrich (Hg.): Hochschule und Beruf. Problemlagen und Auf- gaben der Forschung. 1979 BRINCKMANN, Hans; HACKFORTH, Susanne und TEICHLER, Ulrich: Die neuen Beamtenhochschulen. Bildungs-, Verwaltungs- und arbeits- marktpolitische Probleme einer verspäteten Reform. 1980 FREIDANK, Gabriele; NEUSEL, Ayla; TEICHLER,- Ulrich (Hg.): Praxis- orientierung als institutionelles Problem der Hochschule. 1980 CERYCH, Ladislav; NEUSEL, Ayla; TEICHLER, Ulrich und WINKLER, Helmut: Gesamthochschule - Erfahrungen, Hemmnisse, Zielwandel. 1981 HERMANNS, Harry; TEICHLER, Ulrich und WASSER, Henry (Hg.): Integrierte Hochschulmodelle. Erfahrungen aus drei Ländern. 1982 HOLTKAMP,' Rolf und TEICHLER, Ulrich (Hg.): Berufstätigkeit von Hochschulabsolventen - Forschungsergebnisse und Folgerungen für das Studium. 1983 HERMANNS, Harry; TKOCZ, Christian und WINKLER, Helmut: Berufs- verlauf von Ingenieuren. Eine biografie-analytische Untersuchung auf der Basis narrativer Interviews. 1983 CLEMENS, Bärbel; METZ-GOCKEL, Sigrid; NEUSEL, Aylii und PORT, Barbara (Hg.): Die Töchter der Alma mater. Frauen in der Berufs- und Hochschulforschung. Frankfurt und New York 1986 B. Werkstattberichte (Wissenschaftliches Zentrum für Berufs- und Hochschulforschung, Ge- samthochschule Kassel) HERMANNS, Harry; TKOCZ, Christian und WINKLER, Helmut: Soziale Handlungskompetenz von Ingenieuren, Rückblick auf Verlauf und Ergeb- HERMANNS, Harry; TKOCZ, Christian und WINKLER, Helmut: Inge- nieurarbeit: Soziales Handeln oder disziplinäre Routine? 1980 (Nr. 2) (vergriffen) NEUSEL, Aylfi und TEICHLER, Ulrich (Hg.): Neue Aufgaben der Hoch- schulen. 1980 (Nr. 3) HEINE, Uwe; TEICHLER, Ulrich und WOLLENWEBER, Bernd: Per- spektiven der Hochschulentwicklung in Bremen. 1980 (Nr. 4) NERAD, Maresi: Frauenzentren an amerikanischen Hochschulen. 198 1 (Nr. 5) LIEBAU, Eckart und TEICHLER, Ulrich (Hg.): Hochschule und Beruf - Forschungsperspektiven. 1981 (Nr. 6) (vergriffen) EBHARDT, Heike und HEIPCKE, Klaus: Prüfung und Studium. Teil A: Über den Zusammenhang von Studien- und Prüfungserfahrungen. 1981 (Nr. 7) HOLTKAMP, Rolf und TEICHLER, Ulrich: Außerschulische Tätigkeits- bereiche für Absolventen sprach- und literaturwissenschaftlicher Studien- gänge. 1981 (Nr. 8 ) (vergriffen) RATTEMEYER, Volker: Chancen und Probleme von Arbeitsmaterialien in der künstlerischen Aus- und Weiterbildung. Mit Beiträgen von Hilmar Liptow und Wolfram Schmidt. Kassel 1982 (Nr. 9) CLEMENS, Brrbel: Frauenforschungs- und Frauenstudieninitiativen in der Bundesrepublik Deutschland. Kassel 1983 (Nr. 10) (vergriffen) DANCKWORTT, Dieter: Auslandsstudium als Gegenstand der Forschung - eine Literaturübersicht. Kassel 1984 (Nr. 11) BUTTGEREIT, Michael und TEICHLER, Ulrich (Hg.): Probleme der Hochschulplanung in der Sowjetunion. Kassel 1984 (Nr. 12) Wissenschaftliches Zentrum für Berufs- und Hochschulforschung (Hg.): Forschung über Hochschule und Beruf. Arbeitsbericht 1978 - 1984. Kassel 1985 (Nr. 13) DALICHOW, Fritz und TEICHLER, Ulrich: Anerkennung des Auslands- studiums in der Europäischen Gemeinschaft. Kassel 1985 (Nr. 14) HORNBOSTEL, Stefan; OEHLER, Christoph und TEICHLER, Ulrich (Hg.): Hochschulsysteme und Hochschulplanung in westlichen Industrie- staaten. Kassel 1986 (Nr. 15) TEICHLER, Ulrich: Higher Education in the Federal Republic of Germany. Developments and Recent Issues. New York und Kassel: Center for European Studies, Graduate School and University Center of the City University of New York und Wissenschaftliches Zentrum für Berufs- und Hochschulforschung, Gesamthochschule Kassel. New York/Kassel 1986 (Nr. 16) KLUGE, Norbert und OEHLER, Christoph: Hochschulen und Forschungs- transfer. Bedingungen, Konfigurationen und Handlungsmuster. Kassel 1986 (Nr. 17). C. Arbeitspapiere (Wissenschaftliches Zentrum für Berufs- und Hochschulforschung, Ge- samthochschule Kassel) TEICHLER, Ulrich und WINKLER, Helmut: Vorüberlegungen zur Grün- dung des Wissenschaftlichen Zentrums für Berufs- und Hochschulfor- schung. 1978 (Nr. 1) TEICHLER, Ulrich: Der Wandel der Beziehungen von Bildungs- und Beschäftigungssystem und die Entwicklung der beruflich-sozialen Le- bensperspektiven Jugendlicher. 1978 (Nr. 2) TEICHLER, Ulrich: Higher Education and Employment in the Federal Republic of Germany: Trends and Changing Research Approaches from the Comparative Point of View. - Recherches en cours sur le probleme de l'enseignement superieure et de I'emploi en Republique Federale Allemande. 1978 (Nr. 3) (vergriffen) PEIFFER, Knut: Untersuchung des Implementationsinstrumentariums von Hochschulreformprogrammen anhand einer synoptischen Darstellung. - Untersuchung der legislativen Umsetzung von Hochschulreform- und Stu- dienreforminhalten anhand des HRG, des HHG und des HUG. 1979 (Nr. 4) NEUSEL, Ayla: Zu Berufstätigkeit und Studium von ArchitektenJPlanern. WINKLER, Helmut: Neue Entwicklungen im Berufsfeld von Architekten und Bauingenieuren und deren Berücksichtigung in der Hochschulausbil- dung. 1979 (Nr. 5) TEICHLER, Ulrich und VOSS, Friedrich: Materialien zur Arbeitsmarktlage von Hochschulabsolventen. 1979 (Nr. 6 ) (vergriffen) RATTEMEYER, Volker: Weiterentwicklung des Kunststudiums unter Be- rücksichtigung der beruflichen Möglichkeiten der Künstler. 1980 (Nr. 7) TEICHLER, Ulrich: Work-Study-Programs: The Case of "Berufspraktische Studien" at the Comprehensive University of Kassel. 1981 (Nr. 8) (vergrif- fen) HERMANNS, Harry: Das narrative Interview in berufsbiografischen Un- tersuchungen. 1981 (Nr. 9) (vergriffen) 1 DENKINGER, Joachim und KLUGE, Norbert: Bibliographie zur Praxis- orientierung des Studiums. 1981 (Nr. 10) LIEBAU, Eckart: Hochschule, Schule und Lehrerfortbildung - Tendenzen und Perspektiven. 1981 (Nr. 11) LIEBAU, Eckart: Der Habitus der Ökonomen. Über Arbeitgebererwartun- gen an Hochschulabsolventen der Wirtschaftswissenschaften. Kassel 1982 (Nr. 12) I WINKLER, Helmut: Interaction of Theory and Practice in the US Engi- neering Education. Kassel 1982 (Nr. 13) i. HERMANNS, Harry: Statuspassagen von Hochschullehrern im Entwick- lungsprozeß von Gesamthochschulen. Kassel 1982 (Nr. 14) KRÜGER, Heidemarie: Probleme studierender Frauen - Ergebnisse eines Kolloquiums. Kassel 1984 (Nr. 15) I USHIOGI, Morikazu: Job Perspectives of College Graduates in Japan. Kassel 1984 (Nr. 16) NERAD, Maresi: Implementation Analysis - A New Magic Tool for Research in Higher Education? Kassel 1984 (Nr. 17) 138 Klaus Heipcke Symbole sind daher sowohl mit der Multivalenz und Komplexität der Wör- ter wie der der Erinnerungen behaftet und müssen ihre Einheit in jedem Ereignis aufs neue unter Beweis stellen. Darin liegt offenbar auch einer der Gründe dafür, daß die Symbole der Sprache jedem Versuch der Präzisie- rung, der Systematisierung und logischen Ordnung einen so starken Wider- stand entgegensetzen. Im Alltag, im alltäglichen Handeln schützt sich un- sere Alltagssprache gegen eine Dekomposition ihrer Symbole durch Priva- tisierung des Gebrauchs ihrer Wörter. Zwar stellen uns die alltäglichen Er- eignisse, die Struktur alltäglicher Situationen und das Handeln stets wieder vor die Aufgabe, die prekäre Einheit der Symbole erneut herzustellen, doch wird diese Wiederherstellung der prekären Einheit alltagssprachlicher Wörter und Symbole durch Herauslösung der Symbole aus den bedrohli- chen, weil befremdjichen und ängstigenden Tatsachenbezügen und den "verflüssigenden"~(unsere Handlungsorientierung allzu sehr in Frage stellen- den) Wortbezüge$ erleichtert bzw. gesichert. Privatisierung der Wörter und Symbole der All@gssprache nach Maßgabe lokaler Überschaubarkeit und beschränkter Orgntierungsfähigkeit ist zwar notwendig und erforderlich, alltägliches ~ a n d h l n erst ermöglichend, jedoch auch problematisch oder gar gefährlich, und $war dort, wo es gerade auf die das Lokale und Regionale übersteigenden veltbezüge ankommt. Um dieses übeGokale, Überregionale der Weltbezüge geht es auch in der Wissenschaftssprache. Sie kann zwecks Wahrung der Einheit ihrer Wörter, Zeichen und Symbole und um nicht durch jedes beliebige Ereignis Wörter, Begriffe und Aussagen von Grund auf in Frage stellen zu lassen, nicht den Weg der Privatisierung gehen, und zwar wegen ihres Anspruchs auf uni- verselle Geltung ihrer Aussagen. Und dieser universelle Geltungsanspruch erfordert präzisen und eindeutigen Gebrauch der Wörter und Symbole. Die Wissenschaftssprache leistet dies nicht durch Einschränkung der Bezüge, in welche Wörter und Symbole eingebettet sind nach Maßgabe lokaler Über- schaubarkeit und situativer Effektivität, sondern durch Auflösung der pre- kären Einheit der Wörter und Symbole selbst. Die als Zeichen hinsichtlich ihres zulSssigen Gebrauchs präzisierten Wörter können so logisch, kausal oder funktional systematisiert werden. Die Tatsachen, als factum brutum oder, wie wir auch sagen, als positives Faktum, herausgelöst aus ihren vielschichtigen Verweisungen und Bezügen (d.h. in eine Praxis eingeordnet und dort verstanden), können so nach systematischen Gesichtspunkten neu geordnet werden, ohne daß ihre praktische Bedeutung dabei irritieren müßte. Lorenzer weist darauf hin, daß das, was in dieser Aufspaltung der Einheit der Symbole abgespalten wird, nicht verschwindet, sondern im Wissenschaftsbetrieb unbewußt weiterwirkt, z.B. in der von Feyerabend so eindrucksvoll beschriebenen Zwanghaftigkeit theoretischer Konstruktion methodischen Vorgehens (Feyerabend 1983, S. 389). Es wäre jedoch falsch zu meinen, die Einheit der in der Wissenschafts- sprache aufgelösten Symbole sei durch nachträgliche Begrenzung und Wie- Wissenschaftssprache und Lernen 139 I dereinführung in einen praktischen Diskurs wiederherstellbar. Denn das, was als Begrenzendes gelten könnte, dieses Medium des praktischen Dis- kurses - etwa die Umgangssprache, wie Kamlah und Lorenzen meinen - ist selbst durch Wissenschaftssprache ausgegrenzt und von ihr durchdrungen. Sie behelfen sich mit dem Hinweis, daß wissenschaftliches Sprechen eine Kunst sei, welche der Konstitution einer wissenschaftlichen Terminologie vorausgehe und in der gleichsam die Einheit des Symbols vorweg sicherge- stellt sei. "Soweit sich die wissenschaftliche Rede der Umgangssprache bedient - und das tut sie in erheblichem Umfang -, bestimmen sich auch in ihr die Wör- ter zumeist erst im Kontext zu ihrer jeweiligen Bedeutung, die Prädikato- ren nicht ausgenommen. Den Unterschied wissenschaftlicher von alltägli- cher Rede machen aber diejenigen Sätze aus, in denen Wörter normierter Verwendungsweise vorkommen. Es gehört zu der Kunst wissenschaftlichen Sprechens, dort zu normieren, wo es notwendig ist, ohne in den spanischen Stiefeln der Pedanterie ein- herzugehen, ohne also auf den Vorzug der Kontextoffenheit von Wörtern rigoros zu verzichten. In diesem Text wird 2.B. das Wort "Wort" mit Be- dacht als Gebrauchsprädikator verwendet, so daß es möglich bleibt, einmal von der Verwendung der Wörter in der Rede zu sprechen, einmal etwa "Wort" zu sagen, wo strenggenommen von der Lautgestalt eines Wortes zu sprechen wäre." (Kamlah und Lorenzen 1967, S. 69). Ähnlich verweist Lorenzer auf den schöpferischen wissenschaftlichen Akt, in dem nach vorausgegangener Desymbolisierung eine Resymbolisierung stattfindet, in der die Einheit des Symbols auf höherer, die neuen wissen- schaftlichen Erkenntnisse integrierender Ebene wieder hergestellt wird. "Steht in der flexiblen, kreativen Hochphase die Denotationen eines Be- griffs in einem tiefgestaffelten Umfeld von Konnotationen, so gewinnen am Ende dieser Phase die Denominationen die Vorherrschaft bis zu jener Ausschließlichkeit, mit der sich letztlich zwischen Zeichen und Bezeichne- tem ein 1: 1 -Verhältnis herstellt. In einem solchen 1: l -Verhältnis gelangt die Symbolisierung an das Ende eines entwickelten Zeichensystems." (Lorenzer 1972, S. 80). Ob diese Hoffnungen auf die Möglichkeit einer sich sinnvoll in die Praxis wiedereinfügenden und weltgerechten Wissenschaftssprache tragfähig sind, wage ich zu bezweifeln. Sie verweisen jedoch auf das eine, daß Wissen- schaftssprache ihren Grund nicht in sich selbst hat und daß sie ihn viel- leicht auch nicht in einer Praxis finden kann, welche schließlich selbst als wissenschaftlich-technisch bestimmte der wissenschaftlichen Analyse und Kritik bedarf, um sich zu übersteigen. 152 Hans Rauschenberger tung werden: "Irgendwann erfindet jeder eine Geschichte, die er für sein Leben hält" (Max Frisch, Gantenbein). In der Frage von Handlungsmotiven und in der Frage der menschlichen Selbstdefinition geht nun einmal die Existenz der Essenz voraus - also die faktische Entscheidung der Deutung, die sie erfährt. Die bloße Entscheidung verträgt eine Mannigfaltigkeit von Deutungen. Das Wirkliche begegnet uns immer schon in gedeuteter Form. Wir können es sozusagen metaphysisch in zwei Elemente auseinanderlegen: in das, was sich unserer Deutungswillkür entzieht und darum eindeutig ist, und das, was die Interpretation ausmacht und darum mehrere Versionen zuläßt. Wirklichkeit ist nur dort, wo das Nichtinterpretierbare, das der Interpre- tation vorausgeh4 mit dem zusammentrifft, was je schon interpretiert ist und weiterer 1nterPretation zugänglich ist. Dieses Zusammenkommen (concrescere) Iäßt Wirklichkeit entstehen; wirksam ist dabei der Mensch im Hinblick auf da-, was sich durch seine Interpretation beeinflussen läßt. Man kann diese ~irkungsmöglichkeit, die durch die Deutbarkeit eines Ge- genstandes besti-mt wird, am besten an der Wirksamkeit der Justiz stu- dieren. Vor dexg Strafrichter wird nicht darüber verhandelt, ob das Ge- burtsdatum d e s z ~ n ~ e k l a ~ t e n stimmt oder ob er jemandem Geld wegge- nommen hat: d i g sind Fakten, die bereits vergangen und darum unverän- derlich sind; d i g Feststellung ihrer Richtigkeit war Sache der Ermittlungs- behörde. Jetzt geht es nur noch darum, ob die Geldbeschaffung als Dieb- stahl, Raub oder sonst etwas zu interpretieren sei. Das Gericht "erkennt" auf eine von ihm "festgestellte" Wirklichkeit. Wer dies begreift, wird die Wirklichkeit, der er ausgesetzt ist, nicht als un- veränderbare hinnehmen. Er wird sich gegebenenfalls einer neuen Ideologie entgegenstemmen und sich selbst noch in einer Minderheitsposition sou- veräner fühlen als jene, denen alles wie ein Schicksal begegnet, das was den Sinnen gegeben ist, und das, was die "öffentliche Meinung" dazu sagt. Manchen Intellektuellen war es deshalb während des Faschismus möglich, in einen Deutungskampf um die Fakten wenigstens insofern einzutreten, als sie sich nicht die offiziellen Sprachregelungen aufschwätzen ließen. An- dere hingegen waren der herrschenden Meinung ausgeliefert und gerieten bei deren Änderung in Identitätsschwierigkeiten. Nur soweit Menschen sich in ihrem Selbstverständnis und in ihrem Han- deln selber festlegen oder durch die Umstände festlegen lassen, ist ihre Identität so weit thematisiert, daß die Einheit ihrer Person mitteilbar und darstellbar wird. Nur innerhalb dieses Rahmens kommt es zur Eindeutig- keit, und nur eindeutige Feststellungen sind für die Wissenschaft von Be- lang. Damit ist ein sehr schmaler Bereich ausgewiesen, in dem sich biogra- fisches Interesse und wissenschaftliche Methoden überhaupt etwas zu bie- ten haben. Jenseits dieses Korridors liegt in der einen Richtung das Feld menschlichen Widerspruchs, der personalen Nichtidentität, der Untersi- Zum Biografie-Problem iiz der Erziehungspraxis 153 I cherheit und Haltlosigkeit. Es scheint gewaltige Ausmaße zu besitzen. Wir haben nicht den mindesten Anlaß, von der Konsistenz des Bewußtseins und Handelns eines Menschen nur deshalb auszugehen, weil er erwachsen ist oder weil das Recht von der Verantwortlichkeit seiner Person ausgeht. Wir wissen, daß kleine Kinder die Einheit ihres Ichs noch nicht "gefunden" haben, und die Wahrscheinlichkeit liegt nahe, daß diese Aufgabe auch von vielen Erwachsenen nicht bewältigt ist; es scheint sich so zu verhalten, daß manche Erwachsene bei entscheidenden Fragen im Status kindlicher Uner- fahrenheit, Unbefangenheit oder Nichtverantwortlichkeit verharren, wobei ihnen die liebenswerten Züge der Kindheit leider nicht erhalten bleiben. Würde man die Biografien solcher Personen aufschreiben, so fände man viel Widersprüchliches und Momentanes, alles Erscheinungen, die den Bio- grafieforscher, der noch wie alle Forscher hinter der Plausibilität des Au- thentischen her ist, nicht freuen würden. Man könnte allenfalls eine Art Ersatzplausibilität finden, die eine ähnliche Funktion hätte wie die Kran- kengeschichte für das Verständnis eines Menschen, der besser als Gesunder zu begreifen wäre. Wenn es sich so verhält, dann kann man Biografien nicht nur unter der Voraussetzung der rationalen Kontinuität der Person im Wechsel der Zeit- läufe verstehen; Man muß sie auch als Geschichte von Widersprüchen, Mängeln und Verfehlungen sehen. Diese "negative Biografie" hätte sich gleichwohl an der Integrität der Person zu orientieren, die jetzt aber nur vorgestellt wäre; ihre faktisches Verhalten würde im Hinblick auf diese Vorstellung als eine Geschichte der Unverständlichkeiten notiert. Wie bereits angedeutet, wurde ich eine solche Möglichkeit nicht gutheißen, weil sie trotz der Ausrichtung auf die besseren Möglichkeiten des Darge- stellten diesem die Freiheit nähme, sich anders zu entscheiden, als der Bio- graf es für sinnvoll hält. Wir müssen allerdings trotzdem davon ausgehen, daß Defizite und Widersprüche zum Scheitern der personalen Konsistenz führen können. In diesem Fall ist die verfehlte Identität biografisch nicht zureichend darstellbar. Man weiß indessen und kann dieses Wissen zur Orientierung nützen, daß solche Menschen in der Gesellschaft vor Pro- bleme gestellt werden können, die sie mit Schwerpunktverlagerungen ihrer Identität (wie oben beschrieben) oder mit krankhafter Verdoppelung ihres Selbstverständnisses beantworten können. Wie enorm die Kräfte sind, die den Menschen dazu bestimmen, die Einheit seiner Person entgegen man- cher Änderungen seines Selbstverständnisses zu behaupten, sieht man an den erstaunlichen Verleugnungs- und Verdriingungsleistungen, die gerade in politisch wechselvollen Zeiten auftreten - auch und gerade in Erzie- hungsverhältnissen. I Es gibt indessen nicht nur das Feld der nicht angeeigneten Identität, son- dern - sozusagen auf der gegenüberliegenden Seite - auch das Feld, auf dem der Mensch initiativ ist: wo er seine Person in die Zukunft hinein 162 Rudol f Messner/Cornelia Rosebrock Zusammenhang von Lesen und Lebensgeschichte Jugendlicher 163 ebenso gefesselten Kollegen, die keine akute Lebenskrise zu bewältigen ha- ben." (Herwig 1982, S. 31 f.) Solche Beispiele zeigen, worin die Crux einer einzeltheoretisch orientierten Erklärung des Leseverhaltens aus spezifischen Variablengruppen besteht: Der Inhalt und die Bedeutung realer Leseakte resultieren jeweils auf kom- plexen, lebensgeschichtlich motivierten Bedingungskonstellationen. Die Wirkung der einzelnen Faktoren tritt aber nie im Sinne einer eindeutigen linearen Abhängigkeit auf, sondern wird durch die reagierende und aktive Beteiligung der Rezipienten mitbestimmt. Eine individuell bedeutsame In- terpretation von Lesesituationen ist daher nur durch eingängige Fallanaly- Sen gewährleistet, in denen die aktive bedeutungsschaffende Rolle des le- senden Subjekts :beachtet wird.' Aus diesem Grund wird im folgenden nicht von einer $ie Lebensgeschichte nach Hauptfaktoren aufgliedernden Systematik ausgegangen. Es wird stattdessen versucht - empirisch angeregt durch die beschrzebenen Auffälligkeiten des privaten Lesens Jugendlicher - die Aufmerksaee i t stärker auf das sich in lebensgeschichtlich bedeutsa- men Leseakten &eignende Ineinander von gesellschaftlichen und individu- ellen Momente&kultureller - Entwicklung zu lenken. .- Lesen wird dab@j als ein Medium betrachtet, dessen Bedeutung in unserer Gesellschaft in den Kern der Aneignung von Kultur - und damit auch der inneren ~ersönlkhkeits~eschichte von Menschen hereinreicht (da ja jeder Einzelmensch in seiner "kleinen Geschichte" (Elias) in einem gewissen Sinne auch den "großen" gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß durchlaufen muß). Als Suchhilfe für ein besseres Verständnis der kulturprägenden Vermitt- lungsrolle, die dem Lesen in Lebensgeschichten zukommt, werden im fol- genden kulturtheoretische und psychologische Ansätze skizziert. Zunächst geht es um eine theoretische Deutung der Eigenart und Rolle des Mediums Lesen für die kulturelle Evolution bis hin zu Hinweisen auf seinen Ersatz- und Nischencharakter im sich zuspitzenden Zivilisationsprozeß. Daran an- schließend wird den psychischen Wurzeln des Lesens nachgeforscht, aber auch den von ihm bei der Auseinandersetzung des Individuums mit der Wirklichkeit aktivierten inneren Potentialen, die ihm einen so engen Kon- takt zum subjektiv-existentiellen Substrat von Lesern sichern. Nach dem Vgl. im Hinblick auf Lesertypologien daeu auch Bosse 1983, S, 26 ff. Was eine empirisch ausgerichtete Lese-Wirkungs-Forschung über den Anteil einzelner a m Leseprozeß beteiligter Faktoren und den Anteil der ihre Wirkung hervorrufenden psychischen Prozesse aussagen kann, hat Ernst H. Liebhart in einer großangelegten, zugleich minuziösen Ubersicht demonstriert (vgl. Liebhart 1973, S. 231-312). Auch hier zeigt sich aber, da0 die Anwendung des eindrucksvoll referierten Detailmaterials auf das Verstehen konkreter Lese- situationen anspruchsvoller Obertragungsleistungen, vor allem aber einer individualge- schichtlichen Erkundung des Einzelfalles bedarf. Gesagten durfte deutlich sein, daß alles Folgende nur den Status themen- erschließender Skizzen beanspruchen kann. 2.1 Zur Rolle des Lesens für die Kulturentwicklung 2.1.1 Lesen als Wegbereiter kultureller Evolution Lesen ist eine Handlungsform von so alltagsbeherrschendem Charakter und einer so erdrückenden Selbstverständlichkeit, daß man es sich aus unserer Gesellschaft nur schwer wegdenken kann. Für ein grundlegendes Verständ- nis der Bedeutung des Lesens für die Kulturentwicklung empfiehlt sich daher, gesellschaftliche Situationen, in denen sich eine ausgebildete und verbreitete Lesefähigkeit vorfindet, mit solchen zu kontrastieren, in denen sie noch nicht entwickelt ist. Geschichtlich gesehen, veranlaßt diese Fragestellung zu einem Exkurs über die Anfänge und die Entwicklung der europäischen Schriftkultur. Zwar kann hier nicht auf die Entstehung der ersten Schriftformen oder auf das Auftauchen des Alphabets eingegangen werden (vgl. Bodmer o.J., S.,33 ff.), aber es ist doch wichtig, auf den für unseren Kulturkreis - und das ihm immanente Leseverständnis - entscheidenden Schritt in der Ausprä- gung unserer gegenwärtigen Buchstabenschrift hinzuweisen. Er vollzog sich nach heutigem Wissen im 8. vorchristlichen Jahrhundert in Griechenland (vgl. Schmitt 1980; Reiss 1986). Zunächst wohl im Rahmen ökonomischer Verkehrsformen wurde dort die selbst ursprünglich aus der Regelung von Tausch- und Rechtsfragen entsprungene phönikische Konsonantenschrift übernommen. Diese wurde dabei aber mit Rücksicht auf die Bedeutung der Vokale für den griechischen Sprachgebrauch - in Griechenland wurde bis ins 5. Jahrhundert V. Chr. der Lese- und Schreibprozeß laut sprechend be- gleitet - zu einer Lautschrift mit Konsonanten und Vokalen ausgestaltet. Dadurch wurde die Objektivation der gesprochenen Sprache in der grie- chischen Schrift vollständiger, sinnlicher und geschmeidiger; die Entste- hung einer reichhaltigen weltlich-alltäglichen Literatur war angebahnt.' Das Epochemachende einer solchen, die Vokale einschließenden Repräsentation der gespro- chenen Sprache bei den Griechen wird immer wieder betont. Es verwundert daher nicht, da0 im Geiste einer klassisch-humanistischen Griechenbegeisterung dieser Vorgang in der Kul- turgeschichte Egon Friedells eine geradezu euphorische Deutung als "Geburt" der Schrift er- fährt: "Ihre Schrift haben die Griechen ... aus den nordsemitischen Konsonantenzeichen ent- wickelt ..., aber ihre große Ta t bestand darin, da0 sie einem Teil der Zeichen die Bedeutung von Vokalen gaben. Hierdurch wurde ihre Schreibe erst im wahren Sinne des Wortes arti- kuliert und der Barbarei des Orients entrungen, dessen Griffel nu r EU stammeln vermag" (Friedell 1949179, S. 60). Auch wenn man das implizite kulturelle Vorurteil nicht teilen mag, werden in dieser Äußerung die neuen medialen Möglichkeiten einer voll ausdifferenzierten Schriftsprache gut sichtbar. 174 Rudolf Messner/Cornelia Rosebrock wie ein Trieb oder ein Bedürfnis, auf konkrete Objekte, um sich an ihnen zu befriedigen. In der Vermutung, daß dieses Wunschmoment die beschriebene Leseform Jugendlicher wesentlich bestimmt, wenden wir uns noch einmal der Psy- choanalyse zu, die dem Wünschen, seinen entwicklungsgeschichtlichen Wurzeln und Schicksalen nachgespürt hat und es als Bedingung des men- schlichen Daseins versteht. Freud gab in der "Traumdeutung" die klassisch gewordene Definition, daß Wünsche Erinnerungsspuren seien, die zu einem ursprünglichen Befriedi- gungserlebnis leiten (vgl. Freud 1982, Bd. 11, S. 538 f.). Freud nimmt hier an, daß der Vorl-äufer des Wunsches eine dem Säugling in seiner Entwick- lung zuwachsend& innere Fähigkeit sei, erlebte Befriedigung, z.B. die näh- rende z u w e n d u 2 der Mutter, im Falle ihres Ausbleibens halluzinatorisch hervorzurufen. fiie Psychoanalyse geht bekanntlich davon aus, daß Men- schen zu ~ e ~ i n n t i h r e s Lebens nicht imstande sind, sich selbst als von der Welt oder dem gs ten Objekt, der Pflegeperson, getrennte Wesen wahrzu- nehmen, so dal3;der Säugling einen realen Mangel noch nicht anders als durch diese innge Aktivität des Halluzinierens verkraften kann. Das Hal- luzinieren sieht::Freud als den entwicklungsgeschichtlichen Vorläufer der späteren Fähigkiit des Wünschens an. Im Gegensatz zum Wünschen gibt es bei der Halluzination keine begleitende Realitätswahrnehmung. Der erste Weg, sich aktive Befriedigung zu verschaffen, verläuft nach Freud also über halluzinatorische innere Repräsentation von ihr, doch er kann nicht von Dauer sein, denn diese vermag nicht zu verhindern, daß eine körperliche Bedürfnisspannung, etwa Hunger, fortbesteht. Nur indem das Subjekt in die Realität eingreift, kann es eine faktische Befriedigung erlangen. Diese beiden Wege der Bedürfnisbefriedigung, der halluzinatori- sche und der die Realität berücksichtigende, beschreiben zwei verschiedene Funktionsprinzipien des psychischen Apparats: Das ursprüngliche Lust- prinzip sucht sich Befriedigung auf dem direktesten Weg, seine Arbeits- weise wird als primär-prozeßhaft bezeichnet. Im Realitätsprinzip dagegen ist das Subjekt genötigt, die Differenz zwischen sich und der Welt wahrzu- nehmen und die Realität handelnd zu verändern (vgl. Laplanche und Pon- talis 1975, S. 297 ff.). Diese Prinzipien lösen einander im Verlauf der Ent- wicklung nicht einfach ab. Die Überlagerung des Lustprinzips durch das Realitätsprinzip ist ein lang andauernder, bis in die Erwachsenenzeit rei- chender Prozeß, der beim Menschen in gewisser Weise nie endet. Denn im Verlauf dieser Überlagerung und Herausbildung realitätsverarbeitender psychischer Instanzen bleibt die Fähigkeit, sich über einen Mangel hin- wegzuträumen, dem Menschen erhalten. Die Phantasie spaltet sich in dieser Entwicklung ab, in ihr waltet weiterhin die gerade im Lesen akut werden- de Tendenz, möglichst unmittelbar Befriedigungen aufzusuchen. Im Gegen- satz zum Unbewußten, das in der Sicht Freuds ebenfalls dem Lustprinzip Zusammenhang von Lesen und Lebensgeschichte Jugendlicher 175 I verpflichtet ist, sind Phantasien, sofern sie nicht verdrängt werden, jedoch bewußtseinsfähig. In der Überlagerung des Lustprinzips durch das Realitätsprinzip verwan- delt sich die Halluzination vollkommener Befriedigung in das Wünschen ei- ner solchen, dessen Medium die Phantasie wird. In bezug auf unser Thema, die Psychodynamik der beschriebenen Leseform, klärt sich nun eine erste Affinität des Lesens zum phantasierenden Wünschen: den Handlungen in der Realität liegen objektgerichtete Bedürfnisse zugrunde; dem Erleben in der Phantasie dagegen Wünsche, denn es zielt auf Vorstellungen, in denen die Mangelhaftigkeit alles Realen aufgehoben ist. Das Bedürfnis richtet sich aktiv auf eine Zielvorstellung, das Wünschen erscheint unentschlosse- ner, vager, aber auch gefüllter. Die Sprache übernimmt im Prozeß der innerlichen Herausbildung von Wünschen und der nach außen gerichteten Realitätswahrnehmung eine vermittelnde Funktion. Die Urform des-Wünschens ist als innere Ersetzung einer verminten Befriedigung durch ihre Vorstellung zu verstehen. Solche Vorstellungen sind als innere Repräsentanten erste Vorläufer sprachlicher Bedeutungen. Die Abwesenheit und Anwesenheit des Gewünschten geraten in einer Repräsentation in eine dialektische Beziehung zueinander: Die Abwesenheit des Liebesobjektes ist ein Mangel des Daseins, der ursprüng- lichste und gravierendste, der durch die Vorstellung des Begehrten zwar gemildert, aber zugleich unaufhebbar zementiert wird. Denn durch die Verbundenheit der inneren Wunschobjekte mit der ursprünglichen Voll- kommenheit symbiotischer Befriedigung geraten sie in einen sich vertie- fenden Gegensatz zu äußeren Objekten. Zugleich haftet dem in der Vor- stellung Repräsentierten, Symbolisierten und schließlich Benennbaren in seiner Gestalt als Phantasie, Symbol oder Wort der Mangel der bloßen Re- präsentation, des Ersatzes für etwas Reales, an. Die innerliche Vorstellung oder der Name können über das Nicht-Vorhandensein des Objekts nicht hinweghelfen. Aber die inneren Repräsentationen sind psychisch doch die Bedingung der Anwesenheit und damit Aneignung von Wirklichkeit, indem sie den Eintritt ins Universum der Bedeutungen eröffnen. Wirklichkeitsbe- ziehungen und Selbstwerdung sind für Menschen unumkehrbar durch den Gebrauch von Symbolen und Sprache strukturiert. In den ersten Repräsentationen des Individuums haben die späteren Fähig- keiten des Wünschens und des Sprachgebrauchs ihre gemeinsame wurzell; doch während das Wünschen in einem lediglich mittelbaren Verhältnis zur Realitätswahrnehmung steht, kehrt sich die Sprache nach außen. Sie ist von Beginn an ein soziales und urnweltbezogenes Medium und eröffnet den I Von diesem Gedanken ausgehend, hat Jaquea Lacan init dem Begriffspaar des "Syrnboli- achen" und "Imaginären" das Verhältnis von Sprache und psychodynamischer Struktur un- tersucht (vgl. Laplanche und Pontalis 1975, S. 487 f . ) . 176 Rudolf Messner/Cornelia Rosebrock Zugang zu einer zweiten, symbolisch strukturierten Wirklichkeit mensch- licher Kultur. Die Sprache steht nicht ausschließlich im Dienst des Reali- tätsprinzips. In ihrem ästhetischen Gebrauch vermag sie die Realität zu überschreiten und in ihr nicht Vorhandenes zu fingieren. Dies liegt in dem besonderen Verhältnis begründet, das sie zu den Wünschen, zur Realität und zum Medium von deren Vermittlung, der Phantasie, einnimmt.' 2.2.4 Lebensgeschichte und FVÜnsche Bis zu diesem Punkt haben wir die Wünsche behandelt, als hätten sie keine Entwicklungsgeschichte und strebten nach nichts anderem als nach archai- scher, am Nullpunkt des individuellen Daseins angesiedelter Lust. Doch Wünsche begegnen in ihrem unvermeidlichen Zusammenprall mit der Rea- lität von Anbeg@n an Hemmnissen und Verboten. Verbote konstituieren neue, den ursprlinglichen in irgendeiner Weise verwandte Wünsche. Sie bewirken, daß +e Wunschinhalte verändert, z.B. ersetzt, entstellt, verscho- ben oder verdicMtet werden. Archaische, mit dem Realitätsprinzip gänzlich unverträgliche Vünsche unterliegen der Verdrängung in jene Bereiche des Subjekts, die d@ Bewußtsein und der Vorstellungskraft unzugänglich sind. In diesen Prozeß greifen Geschichten von Anfang e i n Phantasien werden dementspreche- auch als Angstbewältigung und zur Abwehr von be- drohlichen oderi7übermächtigen Wünschen gestaltet. Diese Funktion von Phantasien beschreibt Ohlmeier (1981, S. 97 ff.) an Szenen aus Karl Mays Winnetou I. Old Shatterhand durchläuft Ereignisse, die als symbolisch ver- schlüsselte typische Adoleszenzkonflikte vor allem männlicher Jugendlicher verstanden werden können. In der Identifikation mit dem Helden erlebt der Leser mögliche Umgangsformen mit solchen Konflikten. Das Problem der Anbahnung eines Geschlechterverhältnisses beispielsweise wird an der Gestalt der Schwester Winnetous angesprochen. In ihr verkörpern sich u.a. starre Ideale sowie die Ambivalenz sadistisch-kastrierender und mütterli- cher Weiblichkeit. Durch die Eigenart dieser Figur und der zu ihr herge- stellten Beziehungen werden die für Jugendliche virulenten Geschlechts- konflikte eher abgewertet als einer Bearbeitung zugänglich gemacht. Die hartnäckige Beliebtheit Karl Mays bei Jungen in der Adoleszenz erklärt Ohlmeier mit der fortdauernden Bedürftigkeit nach solchen Abwehrfor- men. Die Phantasien sind, obwohl sie dem Lustprinzip verpflichtet bleiben, se- kundär bearbeitet und durch die Lebensgeschichte geformt. Die phantasie- bestimmte Seinsweise, zu der Texte einladen, eröffnet so einerseits eine Vergegenwärtigung der Motive, die irn normalen, realitätsgerechten Le- ' Auch für Schäfer stellt die Phantasie das verknüpfende Medium zwischen innerer und äuße- rer Realität dar; erst das Zusammenspiel von Phantasie und Kognition ermöglicht "realisierte Realitätn (vgl. Schäfer 1985, S. 84 ff.). Zusammenhang von Lesen und Lebensgeschichte Jugendlicher 177 bensvollzug abgedrängt, abgespalten oder ausgeschlossen sind. Diese teil- weise Durchlässigkeit gegenüber dem Unbewußten ist dem Phantasieren im Gegensatz etwa zu rationalem Denken möglich, weil es nicht dem intellek- tuellen Urteil unterworfen ist. Zum anderen erkennt die Phantasie die le- bensgeschichtlich erworbene Notwendigkeit eines Schutzes vor unerträgli- chen Wünschen an und hilft ihn zu organisieren, ohne umgekehrt wieder damit den Beschränkungen der unmittelbaren Realität verfallen zu sein. Denn die Phantasien mißachten häufig die für das Subjekt im Denken und Handeln gültigen gesellschaftlichen, moralischen oder ethischen Normen, weil sie sich auf archaische Wünsche und Verbote zurückbeziehen. Gerade durch den Verlust des ursprünglichen Wunsches nach vollkomme- ner Befriedigung kann die Phantasie mit dem Menschen mitwachsen, ist sie doch gezwungen, sich neue Objekte, die freilich in irgendeiner Weise die ursprünglichen in sich bergen müssen, zu entwerfen.' Phantasien können zur Bühne des Vorbewußtseins von Neuem werden, erinnerungsgeleitete ~ t o p i e n . ~ So scharf und entwicklungsgeschichtlich früh sich Wunsch und Bedürfnis psychodynamisch auch trennen, notwendig liegen doch jedem zielgerichteten Wollen überschießende, eine Vorstellung der Ganzheit menschlichen Glücks bewahrende Wünsche zugrunde, die ihm die An- triebe, Intensität oder Leidenschaftlichkeit bloß borgen. 2.2.5 Anmerkungen zum "kulturell Unerledigten" irn Lesen der befragten Jugendlichen Lesen wurde eben als mediales Angebot und Aufforderung zur innerlichen Inszenierung von Phantasien beschrieben. Als Phantasietätigkeit ist in die- sem Zusammenhang das Bemühen des Subjekts zu verstehen, seine weniger bewußtseinsnahen und mit der Wirklichkeit unverträglichen Wünsche in symbolischer Gestalt zu vergegenwärtigen und dadurch probierend mit der Eine Wirkung dieser Verschiebung der Wunschinhalte tritt im Lesen in Form der Ambivalenz von Wunacherfüllung und Wunscherweckung auf: Obwohl und gerade weil einzelne Szenen und ganze Leseakte selbst als befriedigend erlebt werden, steigern sie die Lust am Text, sie erhöhen gewissermaflen den Appetit. Dieses Phänomen ist besonders deutlich in den Inter- views von "Genre-Lesern", aber mehr oder weniger ausgeprägt in allen Gesprächen auffind- bar. Dieser merkwürdig widersprüchliche Charakter des lesenden Phantasierens, da0 empfun- dene Befriedigung die Bediirfnisspannung steigert, anstatt sie aufzulösen, deutet auf die le- benngeschichtlich stattgefundene Verschiebung der Objekte der beteiligten Wünsche hin. Wunscherfüllend sind diese Phantasien, indem sie den Erinnerungsspuren folgen, die zu le- bensgeschichtlich frühen Befriedigungen führen. Spannungssteigernd sind sie eugleich, weil die Wiinsche in eine Bewegung der Verschiebung gebannt sind, die ihnen den Charakter des Unerreichbaren verleiht. L In seinem groBartigen Arsenal kulturell manifest gewordener Phantasien vom besseren Leben, dem "Prinzip Hoffnung", besteht Ernst Bloch (1959) in Abgrenzung zur Psychoanalyse auf dem utopischen Charakter und der Wirkungsmächtigkeit des Wünschens: "Das Mädchen, das nich glänzend und umworben fiihlen möchte, der Mann, der von künftigen Taten träumt, tra- gen Armut oder Alltag wie eine vorläufige Hülle. Sie fällt dadurch nicht ab, doch der Mensch wächst dadurch auch weniger leicht in sie hinein" (S. 52). 182 Rudolf Messner/Cornelia Rosebrock Zusammenhang von Lesen und Lebensgeschichte Jugendlicher 183 den Sagen meint sie, sie "hätten sie gereizt". Dies verweist auf einen zen- tralen Strang selbstgewählter Leseinhalte, der in verschiedenen Lebensal- tern Niederschläge gefunden hat: vom mit 8 Jahren gelesenen Dschungel- buch Kiplings und dem viermal gelesenen Lindgren-Buch "Brüder Löwen- herzu über "Momo", Mädchenlektüre von Blyton bis zum Verschlingen "al- ler" Asterix-Comics. Nach kleinen Abstechern zu Kar1 May, einigen Kri- mis und gelegentlicher Science-Fiction-Lektüre setzt sich diese Linie in ei- nem Komplex intensiver aktueller Lektüre historisierend-phantastischer Bücher fort, die neben der Odysseus- und Artus-Sage Tolkiens "Herr der Ringe" und die "Unendliche Geschichte" umfaßt. "Wenn ich was lese", sagt Dolli, "sind's meist solche Sachen" (11, S. 19 f.). Diese intensiv aufg-uchte Phantasieliteratur hat nach Dollis Lesebericht eine zweite, rea-stisch-abenteuerliche Variante. Unter diesem Merkmal kann man jedenells eine Gruppe von Büchern zusammenfassen, die ro- manhaft das kämpferische Austragen von Konflikten zwischen gegneri- schen Kriegspart@ien oder gesellschaftlichen Positionen beschreiben. Dolli hat einiges übe2 Kriegs- und Revolutionsereignisse gelesen ("Die roten Füchse", "Sternsüber der Mauer", "Die Frühlingsrevolution"), vor allem aber beschreibt &ie den Inhalt zweier Bücher - von ihnen nachhaltig be- wegt - bis ins Dbtail: "Ohara" und die "Schachnovelle". . - Ein dritter ~ o m p 1 e x ist mit dem bisher beschriebenen eng verwandt, wenn auch mit einer realistischeren Facette. Dolli verschlingt Sachtexte über Al- tes und Archaisches (Ägypten, Matriarchat, "Über den Dächern von Lhasa") und sucht im Lesen bevorzugt exotische und "übersinnliche" The- men auf, 2.B. Hexen, Islam, Heilen mit Edelsteinen, Wiedergeburt. Schließlich ist noch die ziemlich ausgedehnte Alltagslektüre von Zeitungen und Zeitschriften zu erwähnen, deren von Dolli jeweils bevorzugte Inhalte alle in irgendeiner Form mit Lebensstil und modischer Alltagskultur zu tun haben: spezifische Teile von ZEIT, FAZ und Magazinen; BRIGITTE, FREUNDIN und PETRA. Erwähnt werden soll auch, was Dolli als Privatlektüre energisch von sich weist: Frauenthemen und Politisches ebenso wie Heimatbezogenes, Liebes- und Arztromane ("Würd' ich nie lesen!"), aber auch anspruchsvolle Gegen- wartsliteratur, über die sie während zweieinhalb Stunden kein Wort ver- liert. Soviel zu den Inhalten von Dollis Lesen. Was aber ergab sich über dessen Art und Bedeutung im übrigen Leben? Dazu Dolli: "Aber so 'ne Leseratte bin ich eigentlich nicht ..., daß ich ewig in Büchern hänge oder so" (I, S. 10, Z. 34 f.). Sie weist damit selbst auf den "Nebenbei-Charakter" ihres Lesens hin. Sie "gräbt" sich nicht durch Bücher, sondern gebraucht sie pri- vat zur ent-spannenden Aufhebung des sonstigen Lern- und Lebensdrucks. Andererseits liest sie in manchen Wochen doch wieder zwei bis drei Bücher (neben vielerlei Alltagsschriften). Das Flüchtig-Fragmentarische von Dollis Lesen ergibt sich vielmehr daraus, daß es in ihrer Alltagspraxis oft wenig von anderen Medien geschieden ist. Zwar schildert sie, daß man Bücher vor Filmen lesen sollte und kennt präzise den medialen Eigenwert der Lek- türe, praktisch ist es aber so, daß sie den "Herrn der Ringe" erst nach dem Kinofilm ganz gelesen hat. Auch zu "Ohara" ist Dolli erst durch den Film mit David Bowie angeregt worden. Überhaupt spielen Fernsehen, Radio und Kassettenhören für sie eine große Rolle. Sie berichtet auch über eine Zeit, wo sie mit einer Clique Gleichaltriger an Wochenenden vier bis fünf Videos angesehen hat. Dolli dürfte hier - wozu ihre langjährige legastheni- sche Lesehemmung und die dadurch begünstigte Aufmerksamkeit auf Bil- der vermutlich beigetragen hat - eine typische Leseform vieler Jugendli- cher verkörpern: Lesen tritt privat nicht als streng abgegrenzte Aktivität auf, sondern als Teil einer vielschichtig ineinander verwobenen medialen Misch-Inszenierung. (3) Ein erlaubtes Privatreich des Wünschens und der Phantasie: Wie kann nun die Bedeutung von Dollis Privat-Lektüre, besonders die von ihr geschaffene Nische für Phantastisches, Abenteuerlich-Exotisches und Andersartiges, näher verstanden werden? Schon aus Dollis Äußerungen wird deutlich, daß ein solches Lesen für sie eine Fortsetzung des - von ihr ebenfalls als bedeutsam empfundenen - eigenen Träumens ist. Die Träume werden beim entspannten Eintauchen in Texte gleichsam weitergetrieben und ausgesponnen; der eigenen Suche kommt das Angebot eines Textes entgegen. Dollis Schilderung des Inhalts der Artus-Sage könnte selbst als ein Ausdruck dieser im Lesen gesuchten Befindlichkeit genommen werden: "... und die Insel schwamm halt immer weiter weg in diesem See, Nebelsee, der Weg geht ganz langsam verloren ..." (I, S. 2, Z. 12-14). Ein solcher Weg in ein Privatreich textbeförderter Phantasie verspricht einen entlastenden Rückzug vom Unentrinnbar-Fordernden der Alltagsrealität. Dolli ist sich dessen bewußt, denn sie ruft sich in mehreren Äußerungen selbst die damit drohenden Gefahren eines regressiven Sich-Verlierens in Erinnerung: "Ich muß nur aufpassen, daß ich mich nicht verstricke in solche Sagen, daß ich trotzdem realistisch bin" (11, S. 13, Z. 9 f.). Das in Dollis Lektüre gesuchte "Wegschwimmen" hat, wie sich an Leseinhalten zeigt, etwas unersättlich Ausgreifendes, grandios Anspruchsvolles an sich. Es sprengt die Alltags- realitat von Dollis Schülerdasein in beinahe jeder Dimension. In ihrer Lese-Enklave sucht sie andere Rriume und Völker auf: die Cereler in Nord- afrika, die Tibeter in Lhasa, die Inkas in Peru (wrhrend sie ihren Wohnort "abscheulich" findet). Zugleich begibt sie sich fiktiv in die entlegenen Zei- ten des Mittelalters oder der Sgyptischen Archaik, in die fremdartigen Welfen des Naturhaften, Mythischen, Phantastischen und Übersinnlichen und sucht im Lesen offensichtlich Möglichkeiten des Austrags polarer 192 Rudolf Messner/Cornelia Rosebrock weiteren Entwicklung ausgeschlossen wurden und als regressive Wünsche dem reifen Lebensvollzug nun drohend gegenüberstehen. Durch das ängst- lich-aggressive Weltverhältnis seines Vaters wurde für Norbert, so ist zu vermuten, unmittelbar triebhaft motiviertes Handeln psychisch zur ernsten Gefährdung: diese familiäre Konstellation begründete die tiefsitzende Angst, im Falle eines regressiven Sich-Gehen-Lassens haltlosem Chaos an- heimzufallen. Dadurch war er schon früh genötigt, es durch die Installation einer stabil geordneten Welt zu bannen, selbst um den Preis einer in vielen Zügen kindhaften Einschränkung der Realitatswahrnehmung. Diese Ord- nung scheint jedoch ständig der Bestätigung zu bedürfen, und zwar u.a. in der triebnahen Dimension ihres Ursprungs, in der die stabile Existenz einer "guten Macht" psychisch unmittelbar notwendig war. Dies gelingt Norbert lustvoll im Lesen.: . / (7) Lesen als ~es$tutionsversuch: Norberts Lesen iompensiert picht nur Entwicklungsdefizite; in ihm tritt auch eine sonst ~ c h t zum Ausdruck kommende Sensibilität gegenüber dem Zerbrechen vo~Sinnzusammenhängen in der hochdifferenzierten Indu- striegesellschaft Buf. Denn in den Geisterheftchen verdient sich die tech- nisch-wissenschrf$tliche Rationalität - in Gestalt ihrer modernsten Hervor- bringungen, wieFomputer, Laser-Waffen usw. - den stets vorläufigen Sieg erst durch den Bsistand von mystischen, jenseits aller Aufklärung stehen- den Mächten. Mit Hilfe des kulissenhaft-geschichtslosen Rückgriffs in eine magisch organisierte Vergangenheit, in der sowohl die Bedrohung gegen- wärtigen Lebens als auch die Rettung angesiedelt sind, wird die Gefahr des Verlusts der Verfügungsgewalt über Zeit und Raum symbolisch verleben- digt und zugleich beschwichtigt. Auch im kulturellen Maßstab ist die Wahrnehmung der eigenen und der objektiven Irrationalität aus dem prak- tischen, handelnden Leben abgedrängt; für Norbert hat sie im Lesen ein Refugium gefunden. Dort kontaktiert er ihm fremde Mächte und Kräfte, macht sie sich vertraut und wehrt sie zugleich ab. Die Funktion dieses Le- sens scheint für ihn darin zu bestehen, die Widerstandskraft gegen nicht einbringbare eigene Handlungsimpulse und gegen die objektive Gefähr- dung der Sinnhaftigkeit seines Lebens zu stärken. Freilich hebt der affirmative Charakter der Heftchen diese Widersprüche unweigerlich im Monument der "guten Macht" wieder auf; er unterstützt die Unfähigkeit zur Ambivalenz und eine Weitsicht auf infantilem Niveau. Norberts Lesen wirkt insgesamt weniger wie ein Kontrast als vielmehr wie eine Unterstützung und Bekräftigung des alltäglichen Lebensvollzugs. Aber das Lesen der Geisterheftchen scheint ihm doch die Zugangsmöglich- keit zu Problemfeldern zu bewahren, die von seiner Lebenspraxis abge- spalten und ins Vergessen getrieben wurden. Lesend erlebt er eine zweite, die Realität punktuell konterkarierende Wirklichkeit, einen Gegenentwurf Zusammenhang von Lesen und Lebensgeschichte Jugendlicher , 193 zu seiner Welt, der im Vollzug der Story immer wieder angeglichen wird. Es ist wohl diese produktive und zugleich kompensierende Gebrauchsmög- lichkeit des Mediums Lesen, aus der die Geisterlektüre für Norbert ihre Sogwirkung bezieht. Anhang: Zur Methodologie des Projekts Projektansatz: Der Erfolg des Projekts war daran gebunden, ob und in- wieweit es bei den einzelnen Kontakten und Befragungen gelang, eine vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen, welche die Jugendlichen in ernst- hafter und erschöpfender Weise auch über gesellschaftlich mißachtete, oft schamhaft verborgene triviale Leseaktivitäten und -motive berichten ließ (und nicht nur über das ebenfalls interessierende, gut vorzeigbare literari- sche oder sachbezogene Lesen). Methode: Als Vorgehen wurde eine durch einen Leitfaden geregelte, im einzelnen aber sehr freie und flexible Form einer qualitativen Befragung mit stark emphatisch-bestätigenden Zügen gewählt. Wie sich bald zeigte, war eine solche Interviewhaltung - mit Ausnahme einiger nicht umgehba- rer inhaltlicher Divergenzen (z.B. bei spontan hervorbrechenden Meinungs- unterschieden in existentiellen Fragen) - gut durchzuhalten. Die Befragten verstanden es meistens, die latent bei den Interviewern vorhandene Bereit- schaft zur einfühlenden Parteinahme für ihr Lesen und Leben zu aktivie- ren und fühlten sich durch das Interesse an der rückschauenden Selbstin- terpretation ihrer Lesegeschichte positiv herausgefordert. Zwischen Befra- gern und Jugendlichen entstanden dadurch meist sehr intensive, persönlich geprägte Gesprächssituationen, in denen beide Seiten dazu herausgefordert wurden, ihre Subjektivität auf die Gestaltung des Interviewablaufs und die Erörterung der Lesethematik einwirken zu lassen. Die Forschungsgruppe beschloß daher, alle irgendwie auffälligen, auf dem Wege der Übertragung und Gegenübertragung in der Interviewbeziehung und in die Thematik der qualitativen Befragungen eingegangenen Subjektanteile in einer sogenann- ten "interpretativen Gruppenauswertung" bewußt zu machen und gegebe- nenfalls zu korrigieren. Die im Rahmen solcher Beziehungsanalysen gefun- denen Deutungen erwiesen sich als Fundgrube zu Hypothesen für die In- terpretation von Person und Lesegeschichte der Befragten. Zur Befragungs- und Auswertungsmethodik ist eine eigene Darstellung der Projektgruppe geplant, an der neben den beiden Autoren dieses Textes noch Karl-L. Bonitz, Dorit Bosse, Bernd Feglerski-Waltenberg und Hilde- gard Lahme-Gronostaj beteiligt sind. Untersuchungsziele der Einzelfallanalysen: Der Leitfaden für die erste Befragung richtete die Aufmerksamkeit auf folgende Fragenkreise: sinnlich 194 Rudol f Mesater/Cornelia Rosebrock erinnerbare alltägliche Lesesituationen und die mit ihnen verbundenen Be- findlichkeiten (2.B. Geborgenheit, Sich-Abschirmen, Körpernähe, Ge- nießen); frühe und besonders gut erinnerbare Leseerfahrungen aus der ei- genen Entwicklungsgeschichte; spezielle thematische Schwerpunkte des selbstgewählten Lesens in Form einzelner Texte, Bücher und Inhaltsberei- che; schließlich der besondere Modus des Lesens und des Umgangs mit Büchern (2.B. verschlingendes, eintauchendes, wiederholendes, kommen- tierend-systematisches Lesen) sowie die schulische Lesegeschichte als Vor- geschichte und Vermittlungsinstanz persönlicher Lesevorlieben. In der zweiten Befragung und in der zusammenfassenden Auswertung galt dann das Interesse neben einer thematischen und zeitlichen Gesamtein- schätzung des Lesens verstärkt dem Zusammenhang von Lese- und Le- bensgeschichte (was eine hypothetische Interpretation der Persönlich- keitsentwicklung der Befragten in ihrem jeweiligen Lebenskontext erfor- derte). Population: Von den 20 Interviews wurden 16 mit Gymnasiasten und 4 vergleichend mit Lehrlingen durchgeführt (jeweils gleicher Anteil männli- cher und weiblicher Jugendlicher). Bei der Gruppe der Gymnasiasten wur- den die soziale Herkunft ("bürgerliches Milieu" vs. "Arbeitermilieu") und die literarischen Interessen (deren Vorhandensein oder Fehlen aufgrund der Wahl/Nicht-Wahl des Faches Deutsch als Oberstufen-Leistungskurs be- stimmt wurde) gleichmäßig gewichtet. Von den Lehrlingen entstammen zwei dem Dienstleistungs- und zwei dem handwerklich-manuellen Bereich. Literatur AEBLI, Hans (1980/81): Denken: Das Ordnen des Tuns. 2 Bde. 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Jährlich schließen von letzteren ca, 3.600 ihr Studium erfolg- reich ab, und etwa 85% von ihnen, d.h. jährlich etwa 3.000, verlassen die Bundesrepublik, um eine ihrer Ausbildung angemessene BerufstSitigkeit entweder in ihrem Herkunftsland oder in besonderen Fällen, die meist po- litisch bedingt sind, in einem anderen Land der Welt aufzunehmen. Viele dieser "Reintegranden" haben wahrend ihres langjährigen Studiums enge Bindungen an Deutschland entwickelt und in gleichem Maße Abstand zu ihren Herkunftsländern bekommen, so daß sich die Heimkehr häufig nicht leicht gestaltet. Vor dieser "Reintegration" fürchtet man sich, was in- dividuell dazu führt, daß manche Ausländer Mittel und Wege suchen, um in Deutschland bleiben zu können. Entwicklungspolitische Überlegungen - die sich im Einzelfall auch über die Interessen der Betroffenen stellen - führen jedoch eher dazu, die Reintegration zu fördern, zu erleichtern, auf sie vorzubereiten, ja, sie sogar zu fordern. Insbesondere die Förderinstitu- tionen, die materielle Hilfe für das Studium in Deutschland gegeben haben, artikulieren ihr Interesse, daß doch die durch das Studium qualifizierten Fachkräfte in ihre Heimatländer zurückkehren mögen, um 198 Helmut Winkler - einerseits ihren Beitrag zur Entwicklung ihres Heimatlandes zu leisten und - andererseits die Bildungsinvestitionen, die in sie getätigt wurden, auch im Sinne der vorangegangenen Förderung zu rechtfertigen (Stichwort: Vermeidung von "brain-drain"). Obwohl in Anschluß an die brain-drain-Diskussion die Problematik der Reintegration von in der Bundesrepublik (allgemeiner: in Industrieländern) ausgebildeten Fachkräften aus Entwicklungsländern seit Mitte der siebziger Jahre thematisiert wurde, obwohl praktische Reintegrations-Förderpro- gramme eingerichtet wurden, gibt es bis heute erstaunlich wenig empirisch gesichertes Wissen über Verlauf und Gelingen von Reintegrationsprozessen. Dies mag inhaltliche Gründe haben, liegt aber wohl eher an erhebungs- technischen Problemen. Zum einen gibt es nur wenige Studien, die sich nicht nur prospektiv mit dieser Thematik beschäftigen. Zum anderen aber erschweren die obengenannten erhebungstechnischen Probleme die Durch- führung von Untersuchungen: Es lassen sich aufgrund von infrastrukturel- len Gegebenheiten i n den jeweiligen Entwicklungsländern bestimmte em- pirisch gängige Instrumentarien nicht nur nicht einsetzen (2.B. postalische, schriftliche Befragung), sondern auch allein schon der derzeitige Verbleib der ehemaligen Studenten ist von der Bundesrepublik Deutschland aus kaum zu eruieren. Über Rückkehrerkarteien hat man zwar einige An- haltspunkte für diejenigen Absolventen, mit denen der Kontakt auf- rechterhalten wurde; dort, wo dieser Kontakt aber abgebrochen ist, weiß man naturgemäß nichts mehr. Soweit uns bekannt ist, hat es bislang auch keine Versuche gegeben, hier etwa durch direkte Recherchen im Heimat- land Abhilfe zu schaffen. In der bislang jüngsten Studie, die von Autoren des Bergsträsser-Instituts für die Carl-Duisberg-Gesellschaft erstellt wurde, heißt es zu? Problematik grundsätzlich: "Beim gegenwärtigen Erkenntnisstand der Arbeiten zur Aus- und Fortbildung von Führungskräften aus Entwicklungsländern ist jeder Versuch, neue Daten zu gewinnen, lohnenswert. Niemand kann nämlich bislang quantitativ und gültig belegen, wie erfolgreich Ausbildungszusam- menarbeit ist. Niemand besitzt verläßliche, objektive Informationep über 'brain-drain' und Reintegrationsprobleme etc. Die unzulängliche Datenlage ist u.a. darin begründet, daß bislang eindeutige Erfolgskriterien sowie Langzeitevaluierungen fehlen." (Braun u.a. 1986, S. 25 f.). Die genannte Studie selbst hat daran wenig geändert. Die Frage nach Erfolg von Studium und Reintegration ist vor allem im Zusammenhang mit Evaluierungen der Förderprogramme deutscher Stipen- diengeber gestellt worden. Hier sind insbesondere die Carl-Duisberg-Ge- sellschaft und der DAAD zu nennen. Reintearation von Hochschulabsolventen aus Entwicklunnsländern 199 Die DAAD-Studien von Kasprzyk (1974, 1981) und Gerstein und Schober (1978) stellen die Entwicklung der DAAD-Programme für afrikanische Studenten einschließlich des Sur-Place-Stipendienprogramms dar und ana- lysieren die Daten zum Studium der geförderten Afrikaner bzw. der aus- ländischen Jahresstipendiaten. Die Analyse urnfaßt jedoch nicht die an- schließende Reintegration bzw. den Berufseintritt. Eine eigentliche Rück- kehrerstudie ist die von Gerstein (1981), die den Verbleib von früheren DAAD-Stipendiaten in Indien untersucht. Sie erhebt hauptsächlich über eine schriftliche Befragung Sozialdaten über die Erfahrungen und berufli- che Situation eines Teils der indischen Absolventen eines DAAD-Jahressti- pendienprogramms. Das Ergebnis - die Stipendiaten waren Postgraduierte, kamen mit einer indischen Beschäftigungsgarantie zur gezielten Weiterbil- dung und zur Förderung indischer Hochschulen und Forschungs- einrichtungen in die Bundesrepublik und finden sich infolgedessen nach der Rückkehr zu einem großen Teil als Mitarbeiter an indischen Hocli- schulen und Forschungsinstitutionen wieder - ist untypisch für die Situa- tion der üblichen Reintegranden. Eine Reihe von Beiträgen liegen auch in der Carl-Duisberg-Gesellschaft (CDG) vor. Neben älteren Beiträgen (Eisemann 1974; Isoplan 1973, 1974), die vor allem an Nachkontaktseminare anschließen, sind hier vor allem zwei Befragungen früherer Stipendiaten zu nennen: Die Broschüre von Paulus über Ausländerstudium in der Bundesrepublik (1979) ist eine Zusammenstellung schriftlicher Antworten von in der Bundesrepublik ausgebildeten Ingenieuren aus Entwicklungsländern, die nach ihrer Rück- kehr befragt wurden. Die Namen der Befragten stammen aus der Kartei der CDG-Nachkontaktstelle. Von insgesamt 1000 ausgebildeten Ingenieuren wurden 217 befragt, davon antworteten 100. Die Erfolgsbilanz, die in den Antworten zum Ausdruck kommt - alle haben auf die eine oder andere Art ihren Berufsweg gefunden -, gibt nur einen Teil der Wirklichkeit wie- der. Die CDG-Untersuchungen zeigen auch, daß Nachkontakte eine wich- tige Ausgangsbasis für Reintegrationsuntersuchungen sind, daß es zur Analyse der Problematik aber unerläßlich sein wird, gerade diejenigen Absolventen in eine Erhebung miteinzubeziehen, die den offiziösen Kon- takt zu den ehemaligen Förderorganisationen nicht aufrechterhalten haben. Eben hier ist anzunehmen, daß die Wiedereingliederung nicht reibungslos verlaufen ist: anzunehmen ist weiter, daß gerade aus problematischen oder mißlungenen Reintegrationsverläufen wichtige inhaltliche Aufschlüsse zur Thematik zu ziehen sein werden. Die oben genannte Untersuchung von Braun u.a. (1986), die im Auftrag der CDG erstellt wurde, ist die wohl neueste Rückkehreruntersuchung. Insgesamt wurden 471 Absolventen von CDG-Programmen in Kenia, In- dien, Indonesien, Peru und Mexiko schriftlich befragt; darüber hinaus wurden Intensivinterviews mit ehemaligen Stipendiaten und qualitative In- terviews mit in- und ausländischen Experten durchgeführt. Die Absolven- 200 Helmut Winkler ten wurden nach verschiedensten Themenbereichen gefragt, 2.B. nach ent- wicklungspolitischen Leitbildern, Selbstbildern, Bildungs- und Ausbil- dungsbedarf der Heimatländer, Auswahlverfahren, Inhalt der Programme sowie ihren Problemen in der Bundesrepublik; die Reintegration sowie Kontakte zur Bundesrepublik nach der Rückkehr machen aber nur einen kleinen Teil der Studie aus. Reintegration als Prozeß wird hinter den etwas dürren veröffentlichten Daten (etwa, daß 31,396 der Kenianer die Jobsuche nach der Rückkehr als "gravierendes Problem" ansahen) nicht deutlich. Trotzdem ist diese neueste CDG-Studie ein wichtiger Ansatzpunkt für weitere Untersuchungen; fraglich erscheint uns aber, ob man den verschie- denen Facetten des Reintegrationsprozesses (Beruf, Familie, Kultur u.a.) mit formalisierten Instrumenten wie dem in der Studie benutzten Fragebo- gen auf die Spur kommen kann. Die Studie von Vente und Avenarius (1983) über indonesische Studenten ist dabei als eine weitere wichtige und neue Rückkehreruntersuchung zu nennen. Sie enthält zwar keine quantita- tiven empirischen Daten zur Reintegration, beruht aber u.a. auf einer Vielzahl von Gesprächen mit Rückkehrern in Indonesien, deren Er- fahrungen sie auswertet. Der Akzent liegt allerdings auf der Bedeutung von Studentenvereinigungen für die Reintegration und sagt wenig über die Reintegrationsprozesse selbst aus. Schon aufgrund der vorangehend dargestellten Sichtung der relevanten Li- teratur kann man folgendes Fazit ziehen: (1) Es gibt nur sehr wenige empirische Studien, die sich mit der Frage der Reintegration der in der Bundesrepublik ausgebildeten Fachhochschul- und Hochschulstudenten befassen. (2) Einige Einzeluntersuchungen zu unserer Thematik liegen allerdings vor; diese sind im wesentlichen dadurch gekennzeichnet, daß sie ent- weder - Absolventen einer bestimmten Förderorganisation erfassen, - sich auf Teilnehmer eines Nachkontaktseminars einer deutschen Or- , ganisation beziehen, I - ein bestimmtes Förderprogramm zu evaluieren suchen oder - an die Aktivitäten einer bestimmten Rückkehrervereinigung an- I , schließen. (3) Der eigentliche Prozeß der Reintegration wird in den genannten Un- tersuchungen kaum sichtbar; eine Theoriebildung über die Reintegra- tion als biografisch bedeutsame Phase ist nicht entwickelt. 1 An der Gesamthochschule Kassel (GhK) existiert nun sowohl eine Ein- i richtung, die Kurse innerhalb des Reintegrationsprogramms des Bundes- I ministers für wirtschaftliche Entwicklung (BMZ) durchführt und die des- halb an einer Evaluierung der Wirkungen dieser Kurse interessiert ist, das , Deutsche Institut für tropische und subtropische Landwirtschaft (DITSL), als auch eine weitere Einrichtung, das Wissenschaftliche Zentrum für Be- rufs- und Hochschulforschung, welches sich mit beruflichen Biografien Reintegration von Hochschulabsolventen aus Entwicklungsländern 201 Hochqualifizierter befaßt. Daraus ergab sich das im folgenden darzustel- lende Forschungsvorhaben, von dem einige Teilergebnisse in diesem Band vorgestellt werden. Diese Teilergebnisse beziehen sich ausschließlich auf die biografie-analytischen Ansätze, die der Verfasser im Rahmen eines Kooperationsprojektes mit Kollegen des DITSL durchgeführt hat.' 2. Fragestellungen, Gegenstände und Methoden der Untersuchung 2.1 Fragestellung Eine der ursprünglichen Fragestellungen der Untersuchung war bestimmt von dem Wunsch der Programmverantwortlichen für die HD-Kurse, eine Evaluierung des Kursprogramms unter dem Gesichtspunkt retrospektiver Kritik ehemaliger Teilnehmer vorzunehmen. Externe Evaluierungen (vgl. Avenarius und Weiland 1982; Hanf und Tagher 1982) und interne Teil- evaluierungen (vgl. Wesseler 1984) sollten in ihren Ergebnissen zum Ver- gleich herangezogen werden. Das zur Verfügung stehende Material bestand aus Briefwechseln zwischen ehemaIigen Kursteilnehmern mit der pro- grammführenden Stelle, dem Deutschen Institut für tropische und subtro- pische Landwirtschaft (DITSL), und versprach nach ersten Durchsichten (Riebel und Ridwan 1979) vielfältige Äußerungen zu Inhalten, Formen und Ergebnissen der HD-Kurse. Bereits aber eine erste eingehendere Analyse der Korrespondenzmappen zeigte, daß sowohl die Themen, die die ehemaligen Kursteilnehmer an- schnitten, als auch die Problemlagen, die sie für sich selbst als bedeutend bezeichneten, diesem Untersuchungsziel nur sehr wenig entsprachen. Wohl zeigte sich, daß die Korrespondenz reiches Material für biografische Analysen über eine für diese Personen sehr wichtige "Schwellen-" oder Obergangsphase in ihrem Leben enthielten. Die Auswertung der Korres- pondenz erfolgte danach stärker unter dem Blickwinkel der Analyse der Reintegrationsverläufe der nach einem Studium in Industrienationen in ihre Heimatländer - meist Entwicklungsländer - zurückkehrenden Hochschul- absolventen als biografisch wichtige Phasen. Die Ergebnisse der Analysen sind demnach sowohl im HinbIick auf die Vertiefung der wissenschaftli- chen Erkenntnisse über die Reintegration von Hochschulabsolventen aus Entwicklungsländern bedeutsam als andererseits auch von sehr praktischem Wert für die Programmverantwortlichen, weil sie Anlaß bieten, den Stu- S. Arnini und F.-H. Riebel sind mehr inhaltsanalytisch vorgegangen und betonen die Pro- grammevaluation stiirker; eine gemeinsame Veröffentlichung ist geplant. 202 Helmut Winkler dienaufenthalt in Deutschland, die Teilnahme an Reintegrationskursen, die Gewährung von Beihilfen zur Förderung des Reintegrationsprozesses und die Gestaltung von Nachbetreuungsrnaßnahmen kenntnisreicher und be- wußter im Hinblick auf die Reintegration zu organisieren. Methodisch können die Befunde interessant sein, weil sowohl inhaltsanalytische als auch biografieanalytische Ansätze verwendet wurden, die sich aufeinander beziehen lassen. 2.2 Untersuchungsgegenstände 2.2.1 Der Kurs "Hochschuldidaktik und Iitternationale Entwicklung" (HD- Kurs) Innerhalb der Angebote des Fachbereichs "Internationale Agrarwirtschaft" der Gesamthochschule Kassel an wissenschaftlicher Weiterbildung nimmt der Studiengang "Hochschuldidaktik und Internationale Entwicklung" eine besondere Position ein, Mit ihm kooperiert der Fachbereich seit 1973 in ei- nem Programm des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) zur Berufseinführung und Reintegration von Hochschulabsolventen aus der "Dritten Welt" nach einem Studium an deutschen Hochschulen. Von den sonstigen Kontaktstudienangeboten unterscheidet sich der Stu- diengang vor allem durch eine längere Dauer (sechs Monate, Ca. zwei Se- mester), seine Regelmäßigkeit (z.Zt. zwei Studienkurse jährlich) und da- durch, daß die Arbeit durch fortführende Kurzseminare an Universitäten in der "Dritten Welt" ergänzt und erweitert werden kann. Unmittelbarer Kooperationspartner ist das Deutsche Institut für tropische und subtropische Landwirtschaft (DITSL), Witzenhausen, eine gemeinnüt- zige GmbH, zu deren Hauptgesellschaftern das Land Hessen und der Bund zählen. Dieses seinerseits führt das sogenannte Reintegrationsprogramm in unmittelbarer Zusammenarbeit mit dem Centrum für Internationale Migra- tion und Entwicklung (CIM), Frankfurt, durch. Der Studiengang "Hochschuldidaktik" will der Einführung und Vorberei- tung von Hochschulabsolventen auf den Arbeitsplatz "Hochschule in der Dritten Welt" dienen. Er will mit seinen Zielen - praktisch und berufsbezogen sein, indem er sich auf die Erweiterung und Stärkung individueller Handlungskompetenz konzentriert und auf die Erarbeitung von Materialien abzielt, die in der späteren Arbeit der Kursteilnehmer in Forschung und Lehre unmittelbar Verwendung finden können; Reintegration von Hochschulabsolve~zten aus EntwickEungsl&dern 203 - wissenschaftlich und wissenschaftsbezogen sein, indem er den Teilneh- mern u.a. die Möglichkeit bietet, ihre Wissenschaft und ihre wissen- schaftliche Arbeit im Hinblick auf ihre Bestimmungsgründe, Methoden und Verwertungszusammenhänge einer kritischen Analyse und Reflexion zu unterziehen. Der Arbeit im Kurs liegen wesentliche Elemente des Projektstudiums zu- grunde. Die Arbeit im Kurs ist daher weniger auf lehrende Veranstaltun- gen als auf kooperative Formen des Lernens und interdisziplinärer Arbeit ausgerichtet. Der Kurs gliedert sich schwerpunktmäßig in drei Arbeitsbe- reiche: - Migration und internationale Entwicklung (als Kontext von Forschung und Lehre der Kursteilnehmer; - Forschungsplanung und Forschungsmanagement (als die eigene Disziplin übergreifenden allgemeinen Handlungsaspekte); - Hochschullehre (Hochschuldidaktik im engeren Sinne). Der Kurs ist so organisiert, daß die Teilnehmer im zweiten Quartal für vier Wochen einen Studienaufenthalt in ihrem Herkunftsland absolvieren können. Für die erfolgreiche Teilnahme wird ein Zertifikat ausgestellt. Zulassungsbedingung für den Studienkurs ist der Abschluß eines wissen- schaftlichen Studiums im deutschen Sprachbereich, in der Regel die Pro- motion. Die Anzahl der Teilnehmer ist auf maximal 25 je Kurs beschränkt. Mit erster Priorität werden Stipendiaten des Deutschen Instituts für tropi- sche und subtropische Landwirtschaft, Witzenhausen, zugelassen. An den bis zum Untersuchungszeitpunkt durchgeführten sechzehn Studien- kursen haben 300 Wissenschaftler unterschiedlicher Fachdisziplinen aus 55 Ländern teilgenommen. Viele der ehemaligen Teilnehmer nehmen an Uni- versitäten ihrer Länder inzwischen führende Positionen ein. 2.2.2 Beschreibung des Ausgangsnzaterials Beim Untersuchungsmaterial handelte es sich um 985 Schriftstücke (Mit- teilungen, Briefe, Postkarten, Anträge usw.) von ehemaligen Teilnehmern der HD-Kurse, die an das DITSL, den gastgebenden Fachbereich der GhK oder an Privatpersonen aus dem Kreis der Kursverantwortlichen, Lehren- den oder Betreuer im Umfeld der Kurse geschickt wurden. Diese Schrift- stucke sind innerhalb des Zeitraums von 1973 bis 1983 verfaßt worden, sie beziehen sich auf unterschiedliche Zeitpunkte oder Phasen der Reintegra- tion nach der Rückkehr ins Heimatland. In der Regel bricht der briefliche Kontakt nach Ca. 5 Jahren ab. Das schriftliche Material ist nach Form, In- halt, Länge, Themenstellungen und Zweck sehr heterogen und vielfältig, weist aber gleichwohl ganz bestimmte Charakteristika auf: 204 Helmut Wiizkler (1) Das Untersuchungsmaterial ist (und das ist besonders bedeutsam, wenn inhaltsanalytische Verfahren verwendet werden) fast ausschließlich von nicht-deutsch-sprachigen Schreiber/inne/n verfaßt worden, Diese kommen aus unterschiedlichen Ländern der Welt (s. Schaubild 1) und gehören unterschiedlichen Fachdisziplinen an (s. Schaubild 2). (2) Das Untersuchungsmaterial beinhaltet neben Briefen oder Anträgen mit Sachaussagen zum Reintegrationsverlauf auch eine Reihe von Schriftstücken, die vor oder während der Teilnahme am HD-Kurs noch in Deutschland geschrieben wurden, sowie auch Schriftsstücke sehr persönlicher Art, die für unsere Untersuchung nicht so bedeutsam erschienen (Grußkarten zu Festtagen, Dankadressen formaler Art U. dgl.). (3) Die Schriftstücke sind zumeist an das DITSL als programmdurchfüh- rende Organisation gerichtet. Dabei muß davon ausgegangen werden, daß sich die Inhalte und Themen der Briefe vornehmlich auf die Be- ziehungen der Teilnehmer als Stipendiaten zum DITSL beziehen, wobei häufig der materielle Bereich angesprochen wird. So sind Äußerungen zu Inhalten und Formen der HD-Kurse selbst, zum Studium u.ä. rela- tiv selten und nicht prinzipiell. (4) Jedes Schriftstück läßt sich auf einen ganz bestimmten Verfasser be- ziehen, für die hier angestrebte Analyse war jedoch eine Anonymisie- rung nötig. 2.3 ~e thodisches Vorgehen 2.3.1 Erster Analyseschritt: Newzuizgshiiufigkeit bestimmter Themen Der erste Analyseschritt wurde von einer kleinen Arbeitsgruppe von Mit- arbeitern am HD-Kurs (Riebe1 und Ridwan 1979) vor Beginn der Arbeiten des Verfassers durchgeführt. Er bestand darin, aus dem vorhandenen Ma- terial eine Stichprobe von Schriftstücken zu entnehmen und intensiv zu le- sen. Die am häufigsten vorkommenden Themen wurden notiert und zu ei- nem Kategorienschema für die weitere Untersuchung verdichtet. Durch weitere Stichprobefianalysen wurde der erste Kategorienrahmen verdichtet und die Anzahl der Kategorien auf 10 reduziert. Mit diesen 10 Kategorien wurde dann das gesamte Material von insgesamt 985 Schriftstücken quantitativ ausgewertet. Die Ergebnisse der Zählung (nach Nennungshäufigkeit) sind im Schaubild 3 dargestellt. Reintegration von Hochschulabsolve?zten aus E?ttwickluwnsln'nder?i 205 Schaubild 1: Regionale Herkunft der Teilnehmer der Studienkurse "Hochschuldidaktik und Internationale Entwicklung" des FB 21 der Gesamthochschule Kassel, 1973-1983 (HD 1-16), Kontinente und Länder Kontinent Teilnehmer (1) Land Anzahl vH Asien (Fernost) Bangladesh 3 Korea 8 Philippinen 1 China 3 Malaysia 1 Sri Lanka 3 Indien 6 Pakistan 9 Thailand 6 Indonesien 18 Asien (Nah- und Mittelost) 72 27,1 Afghanistan 4 Jordanien 8 Palästina 4 Irak 3 Libanon 3 Syrien 5 Iran 24 Jemen 1 Türkei 20 Europa Deutschland 2 Griechenland 14 Ungarn 1 Afrika (nördlich der Sahara) 81 24,l Ägypten 73 Marokko 2 Tunesien 1 Algerien 1 Sudan 4 Afrika (südlich der Sahara) 53 19,4 Äthiopien 4 Lesotho 1 Südafrika 1 Angola 2 Mali 5 Tanzania 3 Benin 1 Nigeria 12 Togo 1 Ghana 9 Obervolta 1 Tschad 1 Kamerun 3 Senegal 1 Zaire 3 Kenia 2 Sierra Leone 2 Zimbabwe 1 Lateinamerika 19 6 3 Bolivien 3 Haiti 5 Mexiko 2 Brasilien 1 Honduras 1 Peru 1 Chile 1 Kolumbien 4 Trinidad 1 - _ _ - - _ - _ - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - Insgesamt 300 100,O (1) ohne Kurzzeit- und Gaatteilnehmer Quelle: Riebel (1984) 206 Helmut Winkler Schaubild 2: Wissenschaftliche Ausbildung der Teilnehmer der Studienkurse "Hochschuldidaktik und Internationale "Entwicklung" des FB 21 der Ghk, 1973-1983 (HD 1-16), nach allgemeinen Wissenschaftsbereichen Wissenschaftsbereich Teilnehmer Anzahl vH Naturwissenschaften (einschließl. Medizin)/Mathematik Technikwissenschaften (einschließl. Bioproduktion) Sozial- und Wirtschaftswissenschaften 44 14,7 Kommunikations- und Kulturwissen- schaften 28 9,3 Insgesamt 300 100,O Quelle: Riebe1 (1984) Die Zahlen geben die Nennungshäufigkeit für die 10 Kategorien in den analysierten Schriftstücken an, aufgeteilt nach den 11 durchgeführten KD- Kursen bis zu diesem Zeitpunkt (römische Ziffern). Interessant ist die Rangfolge nach Nennungshäufigkeit: - Rang 1 nimmt der Bereich "Antrage, Wünsche an das DITSL" mit insge- samt 718 Nennungen ein, gefolgt auf - Rang 2 von Äußerungen über die berufliche Situation (incl. For- schungstätigkeiten) mit zusammen 494 Nennungen. - Rang 3 wird vom Privatbereich mit 297 Nennungen eingenommen. Erst auf - Rang 4 mit 72 Nennungen findet sich der Bereich von Äußerungen über den HD-Kurs selbst. Dieses Ergebnis bedeutete für die weiteren Auswertungen das Aufgeben der ursprünglichen Zielvorstellung - eine Programmevaluierung der HD- Kurse vorzunehmen - waren doch die Äußerungen zu Inhalten, Formen, Sinn und Nutzen der Kurse nicht so zahlreich wie zunächst erwartet. An- dererseits offenbarten die Äußerungen der Schreiber der Schriftstücke de- ren Relevanzgesichtspunkte, für die sich das Auswertungsteam in der zweiten Auswertungsphase dann ebenfalls zu interessieren begann. Reintegration von Hochschulabsolventeif aus Entwicklungsl&irderiz 207 2.3.2 Zweiter Aizalyseschritt Beim zweiten Analyseschritt wurden zwei Wege der Auswertung beschrit- ten: (1) eine inhaltsanalytische Auswertuitg durch Mitarbeiter am MD-Kurs (Amini und Riebel) sowie (2) die im folgenden dargestellte biografieartalytische Auswertung durch den Verfasser. Bei der biografieanalytischen Auswertung wurde mit Schütze (1981) von der These ausgegangen, daß in Texten, die Erleben beschreiben, auch bio- grafische Perspektiven mobilisiert werden. Diese These stützt sich auf ein strukturelles Axiom, nach dem es eine Homologie von Erfahrungs- und Erzählströmen in narrativen Texten gibt. Die unaufgefordert/spontan ver- fassten Texte der ehemaligen Teilnehmer an den HD-Kursen enthalten häufig Passagen erzählender Struktur, aus denen sich Rückschlüsse auf Er- lebtes ziehen lassen, das Teil der Biografie des Erzählenden ist. Natürlich kann es sich dabei - und das liegt in der Natur des verwendeten Materials - nicht um ganze Biografien handeln, die sich etwa aus den Texten rekon- struieren ließen, aber zumindest bestimmte, bedeutsame und/oder prekäre biografische Phasen - wir wollen sie vorläufig Biogranznze nennen - wer- den erkennbar. Bei der Analyse solch erzählender Texte ist auf folgende vier Strulcturie- rungselemente zu achten: - Darstellung intendierter und durchgesetzter Handlungsschemata; - Erkennen institutionaler Ablaufnouster und -erwartungen im Lebenslauf (Schritte, Stufen, Phasen, Linien, Knoten, Schwellen usw.; - Verlaufskurveit (trajectories) unter zunehmender Einschränkung der ei- genen Handlungsmöglichkeiten (Erleiden, externe Zwänge, Sackgassen usw.); - die Entwicklung der F'bhigkeit zur Mitsteueru~tg (und Regie) der eigenen Biografie auch unter Fortgeltung der extern gesetzten Bedingungen. Untersucht werden können alle Texte, die tatsächlich narrativ sind, weil nur sie unter die typischen Zwänge des Erzählens geraten: - Gestaltschließungszwang (Anfang und Ende einer Phase, die beschrieben wird. müssen erkennbar sein), - ~ o n d e n s i e r u n ~ s z w a n ~ (~eschh inkun~ auf das Wichtigste), - Detaillierungszwang (Aufnahme aller nötigen Details, die zur Schilde- rung notwendig sind). SchauGld 3: Nennungshäufigkeit für verschiedene Inhaltskategorien I 1 Privatbereich 1 4 6 60 78 41 10 20 10 13 9 5 5 1 297 1 111. Zahl der Schreiben Zahl der Teilnehmer 2 Berufssituation 1 26 47 62 47 20 23 26 30 12 7 8 1 308 1 II. Ges. Rang nacl. Zahl der Nennunge 72 163 168 145 72 79 73 102 46 40 25 13 14 20 20 19 15 24 22 16 19 12 985 3 Urteil HD-Kurs 4 Folgeseminare 5 Forschungstätigkeit 6 Kontakte unter HD'lern 7 Kontakte mit dt. Univ. 110 Anträge an DITSL ( 40 109 129 110 53 61 47 82 38 31 18 (7181 I. 9 14 7 10 1 8 11 8 1 3 - 25 10 4 3 2 4 4 1 - 8 Reisen BRD 9 Reisen Ausland Quelle: Riebe1 und Ridwan (1979) 16 39 41 37 7 15 12 13 4 1 1 2 6 4 6 1 - 1 I - 2 3 17 11 8 2 1 3 1 - - 1 7 15 3 10 2 3 5 1 2 - - 4 8 2 4 1 1 4 - 1 72 V. 186 IV. Reintegration von Hochschulabsolve?zten aus Entwicklungsliindern 209 Bei der Auswertung der ausgewählten Texte (wir haben alle Briefe von 30 Personen aus der Gesamtheit von 300 Personen ausgewertet, indem wir als Stichprobe jede zehnte der alphabetisch geordneten Korrespondenzen zogen) gingen wir in sechs Stufen vor: - Ausscheiden aller nicht-erzählenden Teile (Floskeln, Grüße, Sachanträge u.dg1.) - Strukturierung: Herauslösen zeitlich begrenzter biografischer Elemente des Reintegrationsprozesses: Situationen, Höhepunkte, Ereignisse, drama- tische Wendepunkte, Wandlungen, aber auch: Planungen von Abläufen, strategische Aussagen zu zukünftigem Handeln; - Analytische Abstraktion: Entwicklung erster struktureller Aussagen aus den zeitlichen Sequenzen/Abschnitten, die erzählt werden; - Interpretation der Texte vor dem Hintergrund der von den Schreibern selbst entwickelten (persönlichen) Alltags-Theorie über das sie Bewe- gende: Orientierungs-, Deutungs-, Selbstdefinitions-, Legitimations-, Ausblendungs- und Verdrängungsfunktionen; - Kontrastiver Vergleich mehrerer Erzähltexte. Dieser Analyseschritt hat die Funktion, die aus den Einzelfallanalysen gewonnenen Elemente der prozeßhaften Struktur von Lebenslaufabschnitten (-phasen) einzelner Personen zu verdichten und von den Besonderheiten des Einzelfalles zu lösen; schließlich - die Konstruktion eines theoretischen Modells, des "Phasen-Modells der Reintegration". 3. Ergebnisse der Untersuchung 3.1 Vorbemerkungen Bei der Analyse der ausgewählten Texte wurde deutlich, daß die Natur der Schriftstücke nicht immer und zur Gänze den Idealforderungen nach Nar- ration/Erzählform genügte: teilweise wurde auf Berichtsformen zurückge- gangen, teilweise überwogen Deutungsversuche zu Vorgängen, die den Adressaten nicht zur Gänze bekannt sein konnten. Beides schränkte die Auswertungsmöglichkeiten insbesondere im Hinblick auf die Rekonstruk- tion von Lebenslaufabschnitten (Biogrammen) etwas ein, vor allem auch deshal6, weil die Regelmäßigkeit und zeitliche Abfolge der Briefe - um solche handelte es sich meist - größere Lücken aufwies. Auf eine weitere Schwierigkeit hatten wir bereits hingewiesen: Die meisten Schreiber sind nicht deutschsprachig, schreiben jedoch aus Rücksicht auf die Adressaten zumeist in Deutsch. So kann nicht immer davon ausgegangen werden, daß wir genau das verstanden haben, was die Schreiber im Sinn hatten. Wir ha- ben deshalb auch bei Zitaten darauf verzichtet, eine Verbesserung des häufig schwer verständlichen Deutsch vorzunehmen. 210 Helmut Wiizlcler Schließlich bleiben Zweifel an der Wahrheitstreue der Erzählungen: Sind nicht manche Einlassungen einem Inferiotätskomplex gegenüber den Adressanten geschuldet? Drückt sich nicht in manchen Bitten, KIagen und Wünschen die auch im Herkunftsland fortbestehende Abhängigkeit von Geber-Institutionen aus? Sind nicht manche blumenreichen Ausdrücke ei- ner Kultur entlehnt, die die Schreiber eher beim Adressaten als bei sich zu Hause kennengelernt hatten? Werden nicht viele Erlebnisse entweder über- trieben positiv oder negativ geschildert, um den erhofften Zweck weiterer materieller Unterstützung eher zu erreichen? Trotz all dieser Zweifel können wir die Äußerungen der Schreiber als in- soweit "wahr" ansehen, als diese die ursprünglichen Adressaten als grund- sätzlich so kenntnisreich über die Situation in den Herkunftsländern der Schreiber ansehen mußten, daß eine falsche Darstellung von diesen zwei- felsohne leicht hätte erkannt werden können. 3.2 Darstellung eines Musterfalles für ein Biogramm Als Anregung zur Modellbildung und Theoriekonstruktion empfanden wir besonders solche Darstellungen geeignet, bei denen sich die Briefschreiber bemüht hatten, ihre persönlichen Lebenserfahrungen in einen weiteren Rahmen zu stellen. Sie entwickelten dabei selbständig ihre Alltagstheorien, die es zunächst für uns zu verstehen galt, ehe wir eigene theoretische Mo- delle konstruierten. In einem Fall lag sogar eine zu einem Vortragsmanu- skript verdichtete Schilderung eines Reintegrationsprozesses vor, die als Muster für ein Biogramm dienen kann. Der Vortrag wurde von einem ehemaligen Kursteilnehmer in einem späteren HD-Kurs gehalten. "Ich möchte diesen Vortrag mit einer kurzen Beschreibung meiner Persoir anfangen. Mein Fantiliennanze ... sagt einiges über meine Herkunft. Nänz- lieh, daß ich aus dem Norden des X stamme. Der Name ist aus einer uralte11 Sprache von der Stadt Y , die als eine der dtesten Städte der Welt gilt. Ge- boren bin ich irr 2, der Hauptstadt von X , wo ich zur Schule ging und stu- dierte. Nach dem Keramikstudiunr in Z an der Kunsthochschule kam ich nach Deutschland und habe dort "Industrial Design Keramik" studiert. Etwa sieben Jahre bin ich fern von meiner Heimat geblieben. Während dieser Zeit habe ich mich völlig umgestellt, damit ich hier leben kann. Der größte Un- terschied zwischen nzeinem Leben in der Heinzat und nzeinem Leben hier. ist, daß ich in der Heimat inmitten einer ganz großen Familie gelebt habe, wo man alles genzeinsam unterninznzt, und hier jeder einzelne für sich kAmpfert muß. Das habe ich mit der Zeit auch gelernt. Nun stehe ich vor der großen Frage: Wie kann ich jetzt wieder in einer großen Familie, wo die private Sphäre der einzelneir Personen kaum sichtbar ist, leben? Wie kann ich wie- der in einem Haus mit 10 Personen harnlonisch leben, nachdem ich iiber siebeir Jahre allein in einenz Studenterrwohnheimzimmer gelebt habe? Was Reintegration von Hochschulabsolventen aus Eiztwickluitgsländerit 211 mache ich mit den Gewohnheiten und Verhaltensweisen, die durch diese Si- tuation ein Teil meiner Persönlichkeit geworden sind? Wbhrend meines Stu- diums war ich dreimal zu Hause zu Besuch gewesen. Ich hatte ganz bewuj3t vor, doch öfter nach Hause zu fahren, damit ich diesen Kontakt zu meiizenz Milieu nicht verliere und die Reintegration erleichtere. Leider war dies aus vielen Gründen nicht möglich. Z u den persönlichen Problemen gehört das Fehlen jeglicher Versuche der praktischen Reintegration schon in2 Gastland. Veranstaltungen und Aktivitäten, die das Bewußtsein der Ausländer fördern, werden im allgemeinen eher mit Verachtuitg statt Unterstützung enzpfuizdert. Denn meines Erachtens beginnt die Reintegration schon in1 Gastland. Und je weniger sie i m Gastland stattfindet, desto weniger und schwieriger wird sie im Heimatland stattfinden. Während dieses Reiittegratioitsprogramms wdre es sinnvoller, wenn die Teilnehmer praktische Erfahrungen samnzelit könn- ten, indem sie 2.B. in einer Atn~osphäre, die optisch wie geistig die Reinte- gration fördern könnte, leben. Adit nzöglichst passenden Wohngelegenheiterz, die die Gewohnheiten der Heimat beriicksichtigen, mit kulturelleiz Veran- staltungen, wie Tanz und Folklore, hätte man praktisch den Reirztegratioits- prozeß kräftig unterstiitzt. Auch Zeitschriften, Zeitungen und Biicher aus den Heimatländern könitteiz besorgt werden. Die Reiiztegratiorzszeit diirfte auf keinen Fall eine Verlängerung der Entfrenzduitgszeit sein! Sicherlich habe ich hier eine Meizge geleivnt. Sicherlich habe ich nzich per- sönlich weiterentwickelt. Aber all dies geschah getreiazt von der Gesellschaft, wo ich aufgewachsen war und wo ich fiir den Rest meines Lebens leben werde. Wie läJ3t sich das übertragen? Diese vielen Reintegrationsproblenie werde ich in drei Hauptkategorien teilen: Die persönlicheiz Probleme, die beruflichen Probleme uitd die politischen Probleme. Z u der ersten Gruppe gehört dieses Hin- und Her-Schwanken zwischen zwei völlig verschiedenen Gesellschaften. Als ich hierher kam, nzußte ich mich anpasserz. Das heißt, ich nzußte iteue gesellschnftliche, moralische und ethische Nornzen hiitrteh- men, mit denen ich sicherlich nicht ganz eiizverstaitdeit bin. Jetzt kehre ich zurück uitd ntuß nzich wieder an ganz andere gesellschaftliche, ethische Jitd moralische Normen angewöhnen bzw. anpassen. Die beruflicheil Problente sind wiederum ein großes Handicap. Die meisten Kollegen habe?? eirte ganz andere Arbeitsweise, die fiir nzich als Neuan- kömmling sehr fremd ist. Mir wird mit viel Neid und Mißlraueiz begegnet, bis ich meine neue Freunde keititewgelernt habe. Meine Arbeitsmoral, nzeiite Methoden und Verhaltensweisen sind anders als ihre. Wahrscheinlich wird zu viel von mir erwartet, denn ich habe in einem hocheizt~vickelteit Land stu- diert. Viele Geräte und Maschiiten, die ich fiir nzeiite Arbeit benötige, werden fehlen. Am Anfa~tg meiner Tätigkeit wird die Verständigung durch die fremde Fachsprache sehr erschwert. Dazu kommt, daß ich fachliche Litera- tur nicht weiterempfehlen kann wegen der Unkenntnis der deutschen Spra- che. 212 Helmut Winkler Auch politische Probleme sind zu erwarten. Denn ich biir viel kritischer ge- worden. Vieles, was ich nicht gut finde, werde ich nicht einfach hinnehmen. Wie kann nzan diese Kritik so Siben, daß sie positiv und konstruktiv aufge- nommen wird? Wie finde ich die Freunde, nzit denen ich zusammenarbeiten kann, ohne daß ich nzeine Überzeugung preisgeben muß? Um das, was nzan hier gelernt hat, anzuwenden, braucht man politisches Bewußtsein und Han- deln. Das ist heute in den rneisteir Ländern Afrikas, Asiens und Lateiname- rikas ein Verhalten, das das Leben kosten könnte. Nun, all diese Problenze existieren- heute in einer Welt, die so kompliziert geworden ist. Und das, was im Rahmen der Reintegration geschieht, ist lediglich ein Teil des internatio- nalen Entwicklungsproblems. Es gibt keine erste Welt, es gibt keine zweite Welt, und es gibt keine dritte Welt, sondern es gibt nur eine Welt." (Sorkatti 1980). Der Text enthält bereits einige Hinweise auf wichtige Sequenzen beim Reintegrationsprozeß, ebenso strategische Überlegungen zum eigenen Han- deln sowie die Beschreibung von Umständen und Bedingungen, unter denen sich die Reintegration als Lebensabschnitt vollzieht. Er kann als Beispiel für die anderen analysierten Texte dienen, die - zwar mit größe- ren Brüchen - ähnliche Verläufe erkennen lassen. 3.3 Die Rekonstruktion eines Modells der "Reintegration in Phasen" Auf der Grundlage der analysierten Texte lassen sich Biogramme - wir meinen damit den Lebenslaufabschnitt der Reintegration - als Ausschnitt aus der gesamten Biografie rekonstruieren, die eine zeitlich begrenzte Phase in einem wichtigen problematischen und ereignisreichen Prozeß des Sich-wieder-Einfindens in das Herkunftsland beschreiben. Von den verschiedenen deutschen Förderorganisationen für die Entwick- lungszusammenarbeit (die zumeist auch als Stipendiengeber fungieren) wird beim Umgehen mit den Begriff Reintegration die arbeitsmarktpolitische Komponente stark betont, auch die bildungs- und polit-ökonomische Be- deutung des qualifikationsadäquaten Einsatzes und der Vermeidung von 'brain-drain' sowie die 'rates-of-return' bestimmten Überlegungen zur Re- integration. Fast in den Hintergrund dabei treten die Bedeutungszumessun- gen, die der Einzelne, der "Reintegrand", dieser für ihn äußerst wichtigen Phase seines Lebens gibt. Wir wollen ,daher einen Reintegrationsbegriff verwenden, bei dem nicht nur äußere Kriterien wie soziale Stellung, Fin- den eines Berufs usw. als Maßstab an eine 'gelungene' Reintegration ange- legt werden, sondern auch 'innere' Kriterien wie: - Erfüllung von Vorstellungen zu einem Lebensplan des Individuums; - Befriedigung mit den Aufgabenstellungen im Beruf; - Identitätsfindung innerhalb einer soziokulturellen Gemeinschaft und Gesellschaft; Reintegration von Hochschulabsolveitten aus Entwicklungs1änder.n 213 - Eingehen langfristiger menschlicher Bindungen u.dg1. In diesem Sinne würden wir eher von einer 'geglückten' Reintegration sprechen, als von einer nur formal 'gelungenen'. Die Formulierung "gelun- gene Reintegration" drückt 'dagegen diesen Sachverhalt nur unzureichend aus. In ihr spiegelt sich eher die Befriedigung von Mitgliedern der fdr- dernden Organisationen wider, denen es gelungen ist, den Förderzweck (Stipendienvergabe, Ausbildungserfolg, Rückkehr des Hochschulabsolventen in seine Herkunftsgesellschaft, Vermeidung von 'brain-drain' u.dg1.) zu erreichen. Bei der Rekonstruktion des Phasenmodells der Reintegration wollen wir drei Stränge unterscheiden: - Der Hauptstrang ist gegeben durch das Leben des Iitdividuums, das be- stimmte biografische Stationen erlebt, wobei in den verschiedenen Pha- sen von außen induzierte Erlebnisse verarbeitet, gedeutet, bewältigt und definiert werden mussen. - Der Nebenstrang 1 ist gegeben durch den Kontakt mit Institutionen, die dem beruflichen Leben und Erleben Anstöße, Zwänge, Anregungen, Chancen geben. - Der Nebenstrang 2 sind die sozialen Biitdungen, Netze und Kontakte mit anderen Menschen in Familie, Freizeit und Gesellschaft, die nicht unbe- dingt mit dem beruflichen Leben zu tun haben, aber das Leben mitprii- gen. - Abschluß des Reintegrationsprozesses ist die Phase der Selbstfindung und geglückten Heimkehr, die durch eine Meldung signalisiert wird, aus der hervorgeht, daß das neue Leben rundum zur Zufriedenheit organi- siert ist. \ Nur in den wenigsten FSillen wird diese Phase einer geglückten Reintegra- tion erreicht, z.T. sind auch die seit der Ausreise vergangenen Zeiträume zu kurz, um alle Phasen durchlaufen zu haben. Dabei können folgende Kriterien für eine geglückte Reintegration gelten: - das ,Finden einer befriedigenden Aufgabe im Beruf; - die Gründung der Familie bzw. die Wiedereingliederung in die Familie; - das Leben in der eigenen Wohnung und - das Arrangement mit der Gesellschaft. Aus der Analyse der untersuchten 30 Biogramme lassen sich folgende Pha- sen - die nicht notwendigerweise von jedem Einzelnen vollständig und in dieser Reihenfolge durchlaufen werden müssen - unterscheiden: Schaubild 4: Das "Phasen-Modell der Reintegration" HauptstranP; (Leben) NebenstranK 2 Nebenstrann 1 (soziales Nete) (Institutionen) Ausreise Eltern, Ver- 1--- - - - - - - - - - - 1 I geglückte 1 I Integration I I I 1 --- J-* - - -- -C-- --a - Rei~ztegration vor1 Hochschulabsolverzten aus Eizt~vic1clurrgslrindern 215 3.4 Beschreibung des Modells der Reintegration in Phasen Phase 1: Ablösung Mit der Ausreise, d.h. schon mit der Vorbereitung darauf, gewinnt die Reintegration jenen Ernstcharakter, der sie einer Krise gleichkommen Iäßt. Die Auflösung aller Bindungen an das Gastland, die Reduzierung der Habe auf das unbedingt Notwendige (Reisegepäck), der Kauf des Flugtickets, die Abschiedsfeiern im Kreise von Freunden und Bekannten usw. stellen eine solche Ausnahmesituation dar, daß wechselhafte Stimmungslage (zwischen Euphorie und Apathie; Angst und Hoffnung) auftreten. Beinahe "erlöst" klingen dann die eingehenden Meldungen über die Rückkehr: "Schöne Griiße aus Y1 Wir sind gut angekoninten." (C/11) "Aus Zuizeigu~zg zu Witzenhausen habe ich versehentlich nzeine Tiir Schliissel nach H. ntitgeschleppt. Erlauben Sie mir, ntich bei Ihire~l durch diese Gele- genheit für alles in der kurzen Zeit, die ich dort war, zu bddanketz." (D/9) Phase 2: Er,vartung Im Heimatland angekommen, beginnt eine Orientierung auf die zukünfti- gen Aufgaben. Dabei wird versucht, aus der noch bestehenden Verbindung zum Gastland etwas zu machen, was einen gewissen Vorsprung gegenüber den Kollegen verschafft, die im Lande geblieben sind: man repräsentiert den "Weltstandard" der Fachwissenschaft, man verfügt über eine Handbi- bliothek neuester wissenschaftlicher Standardwerke (durch Sondermittel im DITSL bereitgestellt), kann einige AusrüstungsgegenstBnde mitnehmen, die im Heimatland entweder nicht oder nur zu extrem hohen Preisen erwerb- bar sind und bringt obendrein noch die Möglichkeit mit, für die Institution im Rahmen der deutschen Entwicklungshilfe bei der GTZ Anträge auf Geräteausstattung stellen zu können. Wir wollen diese Haltung der "Erwar- tungen" an das Gastland nicht nur als Ausdruck einer kritikbedürftigen Nehmermentalität ansehen, sondern als eine vorübergehende Phase des Selbständigwerdens, ganz im Sinne einer Hilfe zur Selbsthilfe, als Starthilfe für den Aufbau einer selbständigen und qualifizierten beruflichen Tätig- keit. Werden diese Erwartungen nicht erfüllt, so erreichen das DITSL auch kritische Stellungnahmen. "...Quittungeiz fiir Schreibnzaschiize urrd Projektionsapparat zu Ihrreiz nzitge- schickt. Die beideir Gerciie buzulze ich fiir die Lehre, fiir die Studenten urzd auch fiir die Forschung urzd ich bitte Sie, das Geld ... zu iiberweiserr." (E/12) "Schöne Griiße aus P. Anbei schicke ich Ihrzerr eine Quitturzg iiber den Kauf des Rechizers ,.. und eine Bescheiaigurrg, daß ich an der Universitrit tritig bin. Ich bitte Sie unt Ge)vcihrung der Zuschiisse." (G/15) "Da mir jetzt eilt Biiro ait der Uitiversitcit zugewiesen wurde, bitte ich, nzir die ... zugesagten ... DM fiira die Arbeitsplatzausstattuitg zu überweisen, da- nzit ich ohne Behiitderuwg nieiize Arbeit durch filhreit kann." (H/6) "Ich habe eine zweite Biicherlieferung von Ihiteiz bekonzmeit, Danke! Weiter hdtte ich gern fiir die zusätzliche Ausstattung ..."( C/11) "Zwei Monate hing ich hier runz ohne Arbeit uizd Geld und nzußte auch itoch zusehen, wie ich allein nzit den Anpassungsproblenteiz fertig werde. IVeitit Ihre Organisation ~virklich das Ziel verfolgt, uns bei der Riickkehr in die Heinzat und beruflichett Eiizgliederuizg zu helfen, bzw. fördern zu wolleit, so hcittelz Sie izicht in der Lage sein köititert, eilten Berufsartfciitger in dieser Lage itotweiidige Hilfeleistuizg zu unterlasse~z." (T/4) Phase 3: Z u Hause sein In den meisten Gesellschaften, aus denen die Kursteilnehmer stammen sind die großstädtischen Wohnverhältnisse, die hierzulande vorherrschen1: relativ ungewohnt: man strebt häufig an, für die Familie eine eigene Woh- nung, besser noch ein Haus zu bekommen. Das endgültige Da-Sein, das Heimgekommensein wird häufig durch einen endgültigen Wohnsitz signali- siert. Im Sinne der von uns eingangs eingeführten Unterscheidung zwischen "gelungener" und "geglückter" Reintegration messen wir - wie die Äuße- rungen der Reintegranden belegen - diesem Umstand große Bedeutung zu. Die Reintegration ist solange nicht geglückt, wie der Rückkehrer noch mit unzureichenden oder vorübergehenden Wohnzuständen zu kämpfen hat. "Ich bin seit Jairuar 81 ... zu Hause als Wisseitschaftler tdtig. Meine Fanzilie ist itoch irt Deutschland zuriickgeblieben. Ich möchte nzeine Faniilie jetzt aachholeiz." (018) "Nur nziißte ich die Lebeiishaltungskosten selber übernehmen und ich bitt deshalb auf das Dorf gefahren, wo ich bis heute wohne." (F/5) Phase 4: Rolleitidentitcit Die Stellensuche im Heimatland sieht häufig so aus, daß zwar eine Stelle vorhanden ist, daß die Fachkollegen sich auch für die Besetzung der Stelle durch den Reintegranden ausgesprochen haben, dann jedoch langwierige bürokratische Prozeduren (eventuell auch gewisse Unbedenklichkeitsüber- prüfungen) die tatsächliche Übernahme. der Stelle verzögern. Der Unmut gegenüber dem dahinter vermuteten Mißtrauen und das Gefühl, als "Aus- ' Vielleicht spricht dieser Sachverhalt für den Standort Witzenhausen, der wegen seiner "Ländlichkeit" konträr dazu liegt, aber in der Vorbereitung auf ländliche Wohnformen in den verschiedenen Heimatländern gewisse Vorteile besitzt. Reirztegratioiz vott Hochschulabsolveitfetz aus Eizt~vickluiznsltinderlt 217 länder" stigmatisiert zu sein, wird dabei unterschwellig deutlich. Einige markante Äußerungen hierzu lauten: "... konnte ich keine Briefe schreiben durch viele Probleme gehabt. ... nachdent aizgefaizgeiz nzeiite Versuchen nzuß ich nzit Arbeit wegnzussen und nach ... (Hauptstadt), eine andere Arbeit arzfangen. So daß nzan karziz nicht dagegen machen. Meine Arbeit ist eine Forschurrge?z iiber X nzit A und B, nicht nzit 2. Ich ho f fe , diesnzal lasse?^ sie nzich nzeirze Versuche bis Ende nzachen?" (K/ 15) "Ich konnte leider die Stelle nicht sofort antreten, da die Überprüfung nzei- Pier persönlichen nzaizgelhaft vorhandene?^ Sicherheitsdaten lange gedauert hat." (T/14) "Ich schanze nzich, weil ich zu sprFt schreibe ... Das bedeutet aber nicht, daß ich euch vergessen habe sonderrz diese vielerz Problenze, die ich hier getrof- fen und inzmer noch t re f f e hindert mich eilt bißchen zu schreiben. Ich werde bis ... unz die Arbeit atz der Utziversitnt X zu anfangeiz und gleichzeitig z u Militar, weil ich von Haferz als ich ankanz bin zum Dienst ich eiizberufelz worden." (D/15) "Bis heute dauert das Verfahren zu nzeiizer Einstellurzg an." (F/5) 6 Monate später: "Bis heute ist keine eizdgültige Eiztscheidurzg über nzeine Eiizstellurtg gelrof- fen worden. Das Verfahrerz bei der Berufuizgskonznzission dauert noch weiter aii." Phase 5: "Ich-Iderztiltit" Als Komplement zu der in der Phase 4 entwickelten RoIlenidentitat (vom Studenten zum Wissenschaftler, zum Professionellen, zum Berufstätigen), die wir heute als heteronom induzierte Verhaltensmuster verstehen, ist auch eine sehr persönliche, eher autonome Ich-Identität zu entwickeln, Zwar entwickelt sich diese Bewußtseinslage eher autonom als Selbstbe- wußtsein, angesichts der Rollenzuweisungen von außen jedoch auch als Reaktion auf diese. Somit wird auch die Herausbildung dieses Bewußtseins von sich selbst in Beziehung zu setzen sein zu giingigen Selbst- und Fremdbildern, wie sie in der Gesellschaft, in die man heimkehrt, Geltung haben. Die hierbei notwendige Umorientierung - schließlich war man in Deutschland ein anderer, als man zu Hause sein kann und will - bereitet häufig größere Schwierigkeiten: sei es, daß man in bezug auf politische Grundüberzeugungen feststellen muß, ein Außenseiter geworden zu sein, oder daß man moralisch-ethische Maßstäbe für sein eigenes Leben ent- wickelt hat, die sich in einem anderen Weltklima nur sehr schwer durch- halten oder gar durchsetzen lassen. Man muß einerseits eine Ichstärke ent- 218 Helnzut Wiitkler wickeln, die einen nicht an sich selbst zweifeln läßt. Andererseits geht es auch darum, dieses "ich" so in die Gesellschaft, Familie und den Beruf einzubetten, daß keine Brüche auftreten, die das Leben unmöglich machen würden. In den soeben beschriebenen Phasen wird das erste Selbstkonzept entwor- fen, in einer späteren Phase 7 muß der Abgleich mit den zugewiesenen Rollen im Sinne einer Identitätsbalance zwischen Rollen- und Ich-Identität geleistet werden. Aus der Korrespondenz ergeben sich zahlreiche Hinweise auf die Proble- matik dieser Selbstfindungsphase angesichts völlig anders gearteter Rol- lenzuschreibungen und Wertsysteme im Heimatland: "Durch nteiire lange Abwesenheit von nzeiiler Heintat bin ich nicht mehr so vertraut nzit den Gepflogenheiten des t&licheiz Lebens dort, soizst hri'tte ich ..." ( J / l l ) "Die Ko~tzeptio~z und die Ungesetzntdßigkeit in? Lande nzacht ntich zu schaffen." (J/i 1 ) "Erst jetzt habe ich artgefangeit, was ich in Deutschlaitd gelernt habe, anzu- wewdert. Vertrauen ist gut - Kontr~olle ist besser ...." (Post ging verloren) "Laitgsanz fange ich an. unserem Postanzt ... zu zwei- fela." (J/l I ) "Was nzeirte Reintegration und Arbeitserfahrung betrifft, treten Faktorerz po- liiischer, finanzieller, kultureller, fachlicher und persönlicher Art in den Vordergrund. Als ich nach ... zuriickkehrte, war ich nzit Eizthusiasntus urzd Energie beladen und ivollte meinen2 Heinzatland dieneiz. Die schwere Auseiiz- aitdersetzurrg nzit den1 Geheinzdienst haben eirzeiz beachtlichen Teil nzeiires Idealisnzus zerstört. Das Leben iiz ... fiir nzehrere Monate ohne Eiizkiiit fte hat meine finanzielle Situation iierschlinznzert. Dazu kant die Notwendigkeit, daß ivir eine IYohnuitg nzieten wtd eiitrichtert nzußteiz, ohne daß wir eilte klare Vorstellurrg iiber Priese hatten. Die Überraschung war daher groß. Der latzge Aufenthalt inz Ausland und die danzit verburtdene kulturelle Erzt- frenzdung haben nzir den Ge~tujJ verdorben, mich zu Hause zu fiihlen. Vieles konznzt nzir inznzer noch frenzd vor. Die Tatsache, daß ich nzit einer deut- schen Frau verheiratet bin, hat die Situatioiz vcrstdrkt. Bedingt durch die Studienzeit in Deutschland sind mir viele Problenze des Landes urtbekartrtt. Und ivenrz die Forschurtg und das Lehrerz gut seilt sollen, ist die Uiztersuchuitg der herrscheltdeit Situatioiz notwendig eine Tatsache, die viel Zeit in Anspruch ninznzt. Trotz allen2 sehe ich, daß nzeirl Leben durch nzeiite Riickkehr einen siiet- volleiz Gehalt aizgertoninzeiz hat." (H/6) Reiiztegratioiz von Hochschulabsolvetzteiz aus Eirt~vickluizgsl&izdeln 219 "Ich habe schwer hier, alles durchzusetzerz. Hier lebe ich niit Menscheii 2000 vor Christi und 2000 nach Christi - Meizscheiz aus urzterschiedlicheiz Jahr- hunderten. (J/l 1) "Bei uns gehl alles laizgsanz wie Sie ~visseil, aber es geht." (N/7) Phase 6: "Lebeiz" Man muß nicht unbedingt Marxist sein, um dem Satz, daß das Sein das Bewußtsein bestimme, gewissen Wahrheitsgehalt zuzumessen. Für den Re- integranden stellt das Leben, insbesondere die materielle Sicherung des Le- bensunterhaltes für sich und die Familie, eines der schwierigsten zu lösen- den Probleme nach der Heimkehr dar. Die an sich schon objektiv schwie- rige Situation in Entwicklungsländern wird durch höheres Aspirationsni- veau in bezug auf den Lebensstandard erschwert, welches durch den lang- jährigen Aufenthalt in einer westlichen Industrienation entwickelt wurde. Häufig ist es gerade der materielle Wohlstand bzw. die Erwartung dessel- ben, die es dem Reintegranden so schwer macht, sich vom Gastland Deutschland zu trennen. Die Heimreise bedeutet in irgendeiner Weise ma- teriellen Verzicht, dieser Verzicht wird häufig kompensiert durch nicht- materielle Motive. "Nun bedauere ich, dajj ich ohne Geld leben rnujj, zunzal ich nichts aus- zuüben habe." (keine Anstellung) (Fj5) "...habe deshalb nur X DM hier iiz Y erhalten, was daittz uizgeiziigend ist, unz alle Uizterlagetz und Bediizguizgew zu erfiillen, zunzal die Hochschule nzich aufgefordert hat, ich solle in Z bleibetz, unz die Vortrrige ab und zu den Studeizteiz zu halteiz. Ich kann nicht ..., da ich die teueren Lebenshaltuizgsko- steiz, übern acht ur^^ utzd Essen selber iiberizehnzen nzuß." (F/5) "Da ich das Korzto iiberzogeiz habe (Deutschland) und das Geld für Le- beizswzte~.halt nach (Heiniatlaizd) nzitgeizontnzeiz habe. Tuii Sie das bitte, da ich kein Geld von (Heiniatlaizd) aus nach Ausland schiclcetz kantz. Wegeiz der strengen Devisenkorztrolle einerseits und des uizzureichendeiz Motzatsgehalts andererseits. Die Lebeizskosteiz silzd in vieler Hirzsicht feurer als in Deutsch- land, aber das Eiizkonznzeiz ist unz ein Zweifaches weniger". (folgt Rech- nung, nach der 1520,-- DM Lebenshaltungskosten nur 1320,-- DM Ver- dienst entgegenstehen). (T/14) "... habe ich nzich erztschlosseiz, nzit nieiner Fanzilie in nieiize Heimat zuriick- zukehren und dort beinz Ausbau des Laizdes zu helfen ... Ohne fitzanzielle Beihilfe wird es schwierig sein, den Sinn nzeiizer' Heimkehr - denz Aufbau nzeiizes Laizdes dienlich zu sein - zu erfiilleiz." (J/ll) 220 Helnzut Iifiizkler ". . .~on X schicke ich Ihiterr nzeiire Grüße und besten FViiitsche ..., ... daß nteitt Koirtostaitd ist zur Zeit Null." (Z/7) "... ich füge nzeirre rvissertschaftliche Arbeit bei und bitte ich Sie ... ( folgt Bitte unz Geld) ... Ich danke herzlich denz DITSL, deltrl ohne diese Förde- mag wiire diese Arbeit nicht zustande gekonznzeir. (X/5) Phase 7: "Identitiitsbalance" Wir wollen diese Phase als diejenige bezeichnen, in der sich herausstellt, ob die Reintegration geglückt1 ist. Der Reintegrand weiß nach diesen Phasen, wo e r ist, e t kennt seine berufliche Rolle und füllt sie aus. Er hat sich in der Gesellschaft integriert und führt ein glückliches Familienleben. Seine materiellen Bedürfnisse (Einkommen, Wohnung, Transport usw.) sind be- friedigt, und die gewählten TBtigkeiten im Beruf machen Freude und brin- gen Anerkennung, möglicherweise sogar international. Beruf und Leben, Rollenidentitäten und Ich-Identittiten stehen i n einem ausbalancierten Ver- hältnis. Man könnte annehmen, daß dies einen Idealzustand beschreibt, den auch hierzulande kaum jemand erreicht. Man kann dies aber auch als anzustrebende Ziele für eine gegliickte Reintegration sehen. Nicht alle Reintegranden erreichen diesen Zustand der geglückten Reinte- gration, viele kommen ihm jedoch nahe, sie äußern sich dann so: "Nun erhielt ich den Ruf vor1 Regierung für die Stelle 'director of ...'. Es ist eine sehr hohe und vera~tt~vortu~tgsvdle St lle uizd hat gleichen Rechts und Status wie ein Uiziversitdts-Seirior-Professor." "Ich bin glücklich, daß ich den Ruf erhielt." (H/4) "Seit I . Sept. birt ich vzach 21 Jahren ...- Beanzter, ein komisches Gefühl!" "...als Abceiluizgsleiler in? ... in einen2 staatlicherz Forschuitgsinstitut tdtig. ... ich fühle nzich wohl in diesenz Iwstitut." "Eirtziges Problenz ist, daß ich rneiiten ntoizatlicheiz Gehalt DM 220 ist." 1) "Ich war sehr beschtifligt unz StelIelz zu wechseln. Es ist nzir gelungen, eine rzeue Stelle zu finden. Nun arbeite ich atz der Uni X iiz Y . Arbeitsbedirzgun- geiz ist sehr giirzstig hier." ' M i r geht es gut. Ich nzuß diese Senzester 16 Sturtderz pro Woche Vorlesun- gen über X halten. Darunz bin ich sehr zeituitterdriick, aber ich bin froh, daß ich siiznvoll beschiiftigt birz." (H/4) Erinnert sei an die eingangs beschriebene analytische Trennung von "gelungener" und ge- gluckter" Reintegration. Danach halten wir eine Reintegration nicht schon dann für geglückt, wenn nur die Aufnahme einer Berufstätigkeit gemeldet wird, sondern wenn Beruf und Leben perspektivenreich gesichert sind. Reintegration voiz Hochschulabsolveitten aus Eittwickluwgsl3tderiz 221 "Ich arbeite inzwischeit als Hochschullehrer ait der Uiliversität X iiz Y ... Ich bin mit nzeiizer Arbeit sehr zufrieden." (H/6) "Mit nzeiiter Arbeit art der Fakultät bin ich zufrieden." (E/8) I "Wir finden X sehr gut. Das Klinta ist auch wunderbar. Es ist eine sehr po- sitive Dinge insbesoitders ftir nteine Frau." "Zit betreff die Arbeit geht sehr gut. Selbstilerstäitdlich es gibt sehr viel zu tun." "Ich habe schöizes Haus in den ... bekontnteiz." (B/13) "Seit den2 ... ist die Familie ... größer geworden." "Wir habeit eine neue Wohituitg gekauft." Ich wurde seit den? ... zunz Dekait der ... Fakultät gewählt. Es ist die dritt- größte Fakultcit der Uiziversit fit X ..." (C/11) "Langsam bin ich auch integriert hier. Nach 22-jährigen1 Aufenthalt irt Deutschland ist es nicht leicht, alles iit ... so zu nehnzen, wie sie sind. Offen gesagt, verntisse ich das liebe Deutschlaitd oder mein "Vaterland" (Mutter- land ist ,..) sehr." (J/ l I ) "Abgesehen von einigen Schwierigkeitert 1camr gesagt werden, daß ich und nteine Fantilie nach der schweren Eirtge~vöhnuizgszeit izuitnzehr wieder da- heim fast voll integriert sind und wir uns wohl fiihlen." (E/8) "Persöitlich bin ich sehr froh, daß ich zu nieinent Heintatlaitd zurückgekehrt bin. Ich bin verheiratet ntil eiitenz X-Mädchen. Wir habeit eine 2 1/2-jäh- rige Tochter. Zur Zeit haben wir eine Wohnuizg irt Y gemietet. Uits geht es sehr gut." (H/4) "You cannot intagiire how nzuch I anz satisfied with teachiitg. Iit fact I think back over nzy school years aitd especiall~~ holv I was a itaughty boy aitd I interrelate with the present studeitts' affair which would probably helped me tu urtderstand the studeizts." "That is also very interesting ... that iiz niy life I had never intended or eilen dreamt to be a lecturer, iit fact I used to hate it badly." "Despite nzy previous negative stand agaiitst to be a letcurer, itow I ant persuaded to renzaiit a teacher as Ioitg as nty productivity and eitergy allow m e to do so." (B /13) "Herzliche Grüße aus X , wo ich (Dozent an Uitiv.) nzonzeittart ait einen2 'Workshop for Intproviitg Teachiirg aizd Learizing in Y' teilitehnze ... Die Ar- beit läuft sehr gut ... Seit eiiienz Monat biiz ich verheiratet und alles Iriuft sehr gut ... Die Fantilie ist 0.k. uizd nzit der Zeit habe ich mich wieder e h - gelebt Viele andere Kollegeit sind auch iitzwischen aus Deutschland zuriick- gekommen. Auch eine Erleichterung, deitit der Austausch von Erfahruitgeit hilft sehr viel." (S/10) 3.5 Zusammenfassung der Ergebnisse Eine Ausgangsfragestellung dieser Studie war es zu evaluieren, ob die Teil- nehmer an HD-Kursen auf ihre beruflichen Tätigkeiten richtig vorbereitet werden. Aufgrund der Datenbasis - unaufgefordert eingesandte Briefe ehemaliger Teilnehmer an das DlTSL - und der gewählten Methode - her- meneutische Texterschließung mit nachfolgender Theoriebildung - mußte im Verlauf der Arbeiten die ursprüngliche Fragestellung verändert werden. Die Mitteilungen der Briefschreiber waren von ihnen natürlich nicht hauptsächlich dazu gedacht, unsere Fragestellung zu beantworten. Sie of- fenbarten jedoch eine Relevanzstruktur, bei der die alles überstrahlende Problematik ihrer Reintegration häufig und intensiv thematisiert wurde. Daher ist ein wichtiges - und vorher nicht erwartetes - Hauptergebnis der Studie die Erweiterung des Begriffs der Reintegration. Es gelang uns, durch Verständnis der Alltagstheorien der Briefschreiber über ihre Reinte- gration ein erweitertes theoretisches Gerüst und ein Phasenmodell der Re- integration zu entwickeln. Die theoretisch-modellhafte Reformulierung des Reintegrationsbegriffes dürf te zur Bereicherung der Diskussion beitragen. Wir können mit Bock- horn (1982) übereinstimmen, wenn er fordert: "Wichtig ist dagegen bei a1- len Maßnahmen, die der Reintegration dienen sollen, diese als Prozeß zu verstehen." Dieser Prozeß rnuß bereits bei der Integration beginnen und über die Ausreise hinausreichen. Entwicklungspolitisch bedeutsam werden könnte dabei die analytische Trennung der Begriffe in eine - gelungene Reintegration (formal) und eine - geglückte Reintegration. Man kann von letzterer vielleicht sagen, daß sie erst dann konstatiert wer- den kann, wenn die Rückkehrer die Erwartung der Befriedigung ihrer Se- kundärbedürfnisse nicht mehr an die Bundesrepublik richten. Sie sind dann "abgenabelt", haben Selbständigkeit erreicht und kommen zu Hause zurecht. Ein weiterer wesentlicher Befund unserer Studie liegt im methodischen Er- kenntnisgewinn: Die biografie-analytische Auswertung von unaufgefordert eingesandten Texten hat hohen heuristischen Wert. Durch die Anwendung dieser Methode gelingt es, Theorien und Modelle aus der Datenbasis heraus zu entwickeln; vermieden wird so die Gefahr des "Überstülpens" eigener Theorien über Sachverhalte, die sich dem Betroffenen anders darstellen als dem Forscher. Insbesondere in dem hier bearbeiteten Feld der Problematik des Verhältnisses von Industrie- zu Entwicklungsländern wiegt dieser me- thodische Vorteil beträchtlich. Die hier angewandten Analyse-Verfahren bei der Auswertung "spontaner Korrespondenz könnten ohne Zweifel im Hinblick auf größere Validität Reintegration von Hochschulabsolveizleiz aus Eittwicklui~gslrirzdern 223 verbessert werden; hierzu könnten Vergleichsuntersuchungen förderlich sein. Dabei könnten an ähnlichen Fortbildungsmaßnahmen beteiligte Insti- tutionen wie z.B. die CDG, DSE oder der DAAD sicher auf umfangreiches Datenmaterial f ü r solche Analysen zurückgreifen. Es wird jedoch nicht empfohlen, besondere Befragungs-"Instrumente" zu entwickeln, um zu re- präsentativen, validen "Datensätzen" zu gelangen, denn dabei geht unseres Erachtens der heuristische Wert der hier gewlthlten biografie-analytisch bestimmten Auswertungsmethode verloren. Die Gewinnung von Analy- sekategorien und theoretischen Modellen aus den "ins Auge springenden" Relevanzstrukturen der Alltagstheorie von Verfassern spontaner Texte ist der wesentliche Ertrag dieses methodischen Vorgehens. Literatur ABELS, H. u.a.: (1977): Lebensweltanalyse von Fernstudenten. Qualitative Inhaltsanalyse - theoretische und methodologische Überlegungen. Hagen: Zentrales Institut für Fernstudienforschung (ZIFF) der Fernuniversitiit Hagen (Werkstattbericht). AVENARIUS, H. und WEILAND, H. 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In: Afrikanisch-Asiatische Aspekte, Nr. 4. WESSELER, M. (1984): "Evaluation und Partizipation Eine Fallstudie". In: Arbeitsberichte und Materialien, H. 13, Witzenhausen, Aulari~rne~z urrd Autoreii 227 Die Autorinnen und Autoren MICHAEL BUTTGEREIT, Dr.rer.pol., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Wissenschaftlichen Zentrum für Berufs- und Hochschulforschung der Ge- samthochschule Kassel. KLAUS HEIPCKE, Dr,phil., Professor im Fachbereich Erziehungswissen- schaften und Geschiiftsführender Direktor des Wissenschaftlichen Zentrums für Berufs- und Hochschulforschung der Gesamthochschule Kassel. HARRY HERMANNS, Dr.rer.pol., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Wis- senschaftlichen Zentrum für Berufs- und Hochschulforschung der Gesamt- hochschule Kassel. ERIKA, M. HOERNING, Dr.soz., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin. RUDOLF MESSNER, Dr.phil., Professor im Fachbereich Erziehungswis- senschaften und Mitglied im Wissenschaftlichen Zentrum für Berufs- und Hochschulforschung der Gesamthochschule Kassel. ! ILONA OSTNER, Dr.phil., Professorin im Fachbereich Sozialarbeit an der Fachhochschule Fulda. HANS RAUSCHENBERGER, Dr.phil., Professor im Fachbereich Erzie- I hungswissenschaften an der Gesamthochschule Kassel. i CORNELIA ROSEBROCK, Lehrbeauftragte im Fachbereich Erziehungs- wissenschaften an der Gesamthochschule Kassel. I HANS-ROLF VETTER, Dr.rer.pol., Wissenschaftlicher Referent am Deut- ) schen Jugendinstitut e.V. in München. HELMUT WINKLER, Dr.Ing., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Wissen- schaftlichen Zentrum für Berufs- und Hochschulforschung der Gesamt- hochschule Kassel. PUBLIKATIONEN DES WISSENSCHAFTLICHEN ZENTRUMS A. Reihe "Hochschule und Beruf" (Campus-Verlag, FrankfurtjM. und New York) TEICHLER, Ulrich und WINKLER, Helmut (Hg.): Praxisorientierung des Studiums. 1979 TEICHLER, Ulrich (Hg.): Hochschule und Beruf. Problernlagen und Auf- gaben der Forschung. 1979 BRINCKMANN, Hans; HACKFORTH, Susanne und TEICHLER, Ulrich: Die neuen Beamtenhochschulen. Bildungs-, verwaltungs- und arbeits- marktpolitische Probleme einer verspäteten Reform. 1980 FREIDANK, Gabriele; NEUSEL, Aylä; TEICHLER,. Ulrich (Hg.): Praxis- orientierung als institutionelles Problem der Hochschule. 1980 CERYCH, Ladislav; NEUSEL, Ayla; TEICHLER, Ulrich und WINKLER, Helmut: Gesamthochschule - Erfahrungen, Hemmnisse, Zielwandel. 1981 HERMANNS, Harry; TEICHLER, Ulrich und WASSER, Henry (Hg.): Integrierte Hochschulmodelle. Erfahrungen aus drei Ländern. 1982 HOLTKAMP, Rolf und TEICHLER, Ulrich (Hg.): Berufstrtigkeit von Hochschulabsolventen - Forschungsergebnisse und Folgerungen für das Studium. 1983 HERMANNS, Harry; TKOCZ, Christian und WINKLER, Helmut: Berufs- verlauf von Ingenieuren. Eine biografie-analytische Untersuchung auf der Basis narrativer Interviews. 1983 CLEMENS, Bärbel; METZ-GOCKEL, Sigrid; NEUSEL, Ayla und PORT, Barbara (Hg.): Die Töchter der Alma mater. Frauen in der Berufs- und Hochschulforschung. Frankfurt und New York 1986 B. Werkstattberichte (Wissenschaftliches Zentrum für Berufs- und Hochschulforschung, Ge- samthochschule Kassel) HERMANNS, Harry; TKOCZ, Christian und WINKLER, Helmut: Soziale Handlungskompetenz von Ingenieuren, Rückblick auf Verlauf und Ergeb- nisse der Klausurtagung in Hofgeismar am 16. und 17. November 1978. 1979 (Nr. 1) HERMANNS, Harry; TKOCZ, Christian und WENKLER, Helmut: Inge- nieurarbeit: Soziales Handeln oder diszipliniire Routine? 1980 (Nr. 2) (vergriffen) NEUSEL, Ayla und TEICHLER, Ulrich (Hg,): Neue Aufgaben der Hoch- schulen. 1980 (Nr. 3) HEINE, Uwe; TEICHLER, Ulrich und WOLLENWEBER, Bernd: Per- spektiven der Hochschulentwicklung in Bremen. 1980 (Nr. 4) NERAD, Maresi: Frauenzentren an amerikanischen Hochschulen. 198 1 (Nr. 5) LIEBAU, Eckart und TEICHLER, Ulrich (Hg.): Hochschule und Beruf - Forschungsperspektiven. 1981 (Nr. 6) (vergriffen) EBHARDT, Heike und HEIPCKE, Klaus: Prüfung und Studium. Teil A: Über den Zusammenhang von Studien- und Prüfungserfahrungen. 1981 (Nr. 7) HOLTKAMP, Rolf und TEICHLER, Ulrich: Außerschulische Tätigkeits- bereiche für Absolventen sprach- und literaturwissenschaftlicher Studien- gänge. 1981 (Nr. 8) (vergriffen) RATTEMEYER, Volker: Chancen und Probleme von Arbeitsmateriaiien in der künstlerischen Aus- und Weiterbildung. Mit Beitrggen von Hilmar Liptow und Wolfram Schmidt. Kassel 1982 (Nr. 9) CLEMENS, Bärbel: Frauenforschungs- und Frauenstudieninitiativen in der Bundesrepublik Deutschland. Kassel 1983 (Nr. 10) (vergriffen) DANCKWORTT, Dieter: Auslandsstudium als Gegenstand der Forschung - eine Literaturübersicht. Kassel 1984 (Nr. 11) BUTTGEREIT, Michael und TEICHLER, Ulrich (Hg.): Probleme der Hochschulplanung in der Sowjetunion. Kassel 1984 (Nr. 12) Wissenschaftliches Zentrum für Berufs- und Hochschulforschung (Hg.): Forschung über Hochschule und Beruf. Arbeitsbericht 1978 - 1984. Kassel 1985 (Nr, 13) DALICHOW, Fritz und TEICHLER, Ulrich: Anerkennung des Auslands& studiums in der Europäischen Gemeinschaft. Kassel 1985 (Nr. 14) HORNBOSTEL, Stefan; OEHLER, Christoph und TEICHLER, Ulrich (Hg.): Hochschulsysteme und Hochschulplanung in westlichen Industrie- staaten. Rassel 1986 (Nr. 15) TEICHLER, Ulrich: Higher Education in the Federal Republic of Gerrnany. Developments and Recent Issues. New York und Kassel: Center for European Studies, Graduate School and University Center of the City University of New York und Wissenschaftliches Zentrum für Berufs- und Hochschulforschung, Gesamthochschule Kassel. New York/Kassel 1986 (Nr. 16) KLUGE, Norbert und OEHLER, Christoph: Hochschulen und Forschungs- transfer. Bedingungen, Konfigurationen und Handlungsmuster. Kassel 1986 (Nr. 17). C. Arbeitspapiere (Wissenschaftliches Zentrum für Berufs- und Hochschulforschung, Ge- samthochschule Kassel) TEICHLER, Ulrich und WINKLER, Helmut: Vorüberlegungen zur Grun- dung des Wissenschaftlichen Zentrums für Berufs- und Hochschulfor- schung. 1978 (Nr. 1) TEICHLER, Ulrich: Der Wandel de r Beziehungen von Bildungs- und Beschäftigungssystem und die Entwicklung der beruflich-sozialen Le- bensperspektiven Jugendlicher. 1978 (Nr. 2) TEICHLER, Ulrich: Higher Education and Employment in the Federal Republic of Germany: Trends and Changing Research Approaches from the Comparative Point of View. - Recherches en cours sur le problerne de l'enseignement superieure et de l'ernploi en Republique Fkderale Allemande. 1978 (Nr. 3) (vergriffen) PEIFFER, Knut: Untersuchung des Implementationsinstrumentariums von Hochschulreformprogrammen anhand einer synoptischen Darstellung. - Untersuchung der legislativen Umsetzung von Hochschulreform- und Stu- dienreforminhalten anhand des HRG, des HHG und des HUG. 1979 (Nr. 4) NEUSEL, Ayl& Zu Berufstätigkeit und Studium von Architekten/Planern. WINKLER, Helmut: Neue Entwicklungen im Berufsfeld von Architekten und Bauingenieuren und deren Berücksichtigung in der Hochschulausbil- dung. 1979 (Nr. 5) TEICHLER, Ulrich und VOSS, Friedrich: Materialien zur Arbeitsmarktlage von Hochschulabsolventen. 1979 (Nr. 6) (vergriffen) RATTEMEYER, Volker: Weiterentwicklung des Kunststudiums unter Be- / rücksichtigung der beruflichen Möglichkeiten der Künstler. 1980 (Nr. 7) 1 TEICHLER, Ulrich: Work-Study-Programs: The Case of "Berufspraktische Studien" at the Comprehensive University of Kassel. 1981 (Nr. 8) (vergrif- f en) HERMANNS, Harry: Das narrative Interview in berufsbiografischen Un- tersuchungen. 198 1 (Nr. 9) (vergriffen) DENKINGER, Joachim und KLUGE, Norbert: Bibliographie zur Praxis- orientierung des Studiums. 1981 (Nr. 10) LIEBAU, Eckart: Hochschule, Schule und Lehrerfortbildung - Tendenzen und Perspektiven. 1981 (Nr, 11) LIEBAU, Eckart: Der Habitus der Ökonomen. Über Arbeitgebererwartun- gen an Hochschulabsolventen der Wirtschaftswissenschaften. Kassel 1982 (Nr. 12) WINKLER, Helmut: Interaction of Theory and Practice in the US Engi- neering Education. Kassel 1982 (Nr. 13) HERMANNS, Harry: Statuspassagen von Hochschullehrern im Entwick- lungsprozeß von Gesamthochschulen. Kassel 1982 (Nr. 14) KRUGER, Heidemarie: Probleme studierender Frauen - Ergebnisse eines Kolloquiums. Kassel 1984 (Nr. 15) USHIOGI, Morikazu: Job Perspectives of College Graduates in Japan. Kassel 1984 (Nr. 16) NERAD, Maresi: Implementation Analysis - A New Magic Tool for Research in Higher Education? Kassel 1984 (Nr. 17)