Wem gehört das Rieselfeld ? Die Aneignung des Stadtteils und der Kampf um den öffentlichen Raum am Beispiel des Neubaustadtteils Freiburg-Rieselfeld von Clemens Back Wem gehört das Rieselfeld? Die Aneignung des Stadtteils und der Kampf um den öffentlichen Raum am Beispiel des Neubaustadtteils Freiburg-Rieselfeldes Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Planungswissenschaften (Dr. rer. pol.) im Fachbereich Stadtplanung, Landschaftsplanung der Universität Kassel vorgelegt von: Clemens Back Kassel/Witzenhausen im März 2005 Inhaltsverzeichnis Seite 2 Vorwort Seite 7 Einleitung Seite 9 Kapitel 1 Stadtteilportrait des Freiburger Stadtteil Rieselfeld 1. Freiburg i. Breisgau Seite 14 1.1 Die Richtung der Stadtentwicklung begann schon viel früher Seite 16 1.2 Die Wende zum 20. Jahrhundert Seite 17 1.3 Die Bedeutung der Industrie geht zurück, die Stadt wächst weiter Seite 18 1.4 Der Wiederaufbau Seite 19 1.5 Die Stadt am Ende des 20. Jahrhunderts Seite 19 1.6 Ausgangslage in den 90er Jahren Seite 20 2. Zwischenstadt Seite 23 2.1 Die Lage der Stadt am Oberrhein Seite 23 2.2 Politische Zielsetzungen und Erwartungen Seite 25 3. Die Stadt als Text: Den neuen Freiburger Stadtteil Rieselfeld lesen Seite 27 3.1 Die Grammatik der Stadt Seite 29 4. Die Durchführung Seite 29 4.1 Das städtebauliche Konzept Seite 32 4.2 Soziales Leben im Rieselfeld Seite 34 4.3 Das Rieselfeld aus drei Perspektiven Seite 36 4.4 Stand der Besiedelung und der Infrastruktur des Stadtteils Rieselfeld am 01.01. 2004 Seite 38 4.4.1 Herkunft der Neubürger im Rieselfeld Seite 38 4.4.2 Strukturdaten der Rieselfelder Bevölkerung Seite 39 4.4.3 Haushaltsgröße und –zusammensetzung Seite 40 5. Überblick über die soziale Infrastruktur Seite 41 5.1 Kindereinrichtungen Seite 41 5.2 Der Verein K.I.O.S.K. e.V. Seite 42 5.3 Schulen Seite 45 5.4 Stadtteiltreff mit Kinder- und Jugendmediothek Seite 46 5.5 Die Kirchen Seite 47 6. Zusammenfassung Seite 48 Kapitel 2 Handlungsansatz 1. Struktur des Handeln Seite 52 1.1 Wissenschaftlicher Kontext Seite 53 1.2 Handeln und die Vita activa Seite 53 2. Theorie des kommunikativen Handelns nach Habermas Seite 58 2.1 Kritik an der Theorie kommunikativen Handelns Seite 61 Inhaltsverzeichnis Seite 3 3. Das gemeinsame Handeln im Stadtteil Rieselfeld Seite 66 4. Beobachtungen Seite 71 4.1 Stadtteilrunde/BürgerInnenverein Seite 71 4.2 Nutzung des öffentlichen Raumes Seite 72 4.3 Handeln durch Verhalten im öffentlichen Raum Seite 74 4.4 Außengestaltung Stadtteiltreff Seite 75 4.5 Macht im öffentlichen Raum Seite 78 5. Zusammenfassung Seite 78 Kapitel 3 Milieuansatz 1. Milieutheorie Seite 82 2. Soziale Milieus in Deutschland Seite 88 2.1 Etabliertes Milieu Seite 89 2.2 Traditionelles bürgerliches Milieu Seite 89 2.3 Traditionelles Arbeitermilieu Seite 90 2.4 Traditionsloses Arbeitermilieu Seite 91 2.5 Aufstiegsorientiertes Milieu Seite 91 2.6 Modernes Arbeitnehmermilieu Seite 92 2.7 Modernes bürgerliches Milieu Seite 93 2.8 Intellektuelles Milieu Seite 93 2.9 Hedonistische Milieu Seite 94 2.10 Postmodernes Milieu Seite 95 3. „Lebensstil“ und soziale „Milieus“ Seite 95 4. Die Rieselfelder Milieus Seite 97 5. Milieus und kulturelle Formen im Stadtteilleben Rieselfeld Seite 98 6. Netzwerke im Stadtteil Seite 106 7. Beobachtungen aus dem Stadtteil Seite 110 7.1 Netzwerke im Stadtteil Seite 110 7.2 Symbole setzen Seite 112 7.3 Bürgerbeteiligung bei dem Stadtteiltreff im Rieselfeld Seite 114 8. Bewertende Zusammenfassung Seite 116 Kapitel 4 Raumansatz 1. Konstituierung von Räumen Seite 119 1.1 Stadt-Räume und Orte - Die Lokalisierung von Räumen an Orten Seite 120 1.2 Der soziale Raum Seite 123 1.3 Der Habitus und der Raum der Lebensstile Seite 125 Inhaltsverzeichnis Seite 4 1.4 Raum als Umgebung Seite 126 2. Der Raum im Stadtteil Rieselfeld Seite 128 2.1 Möglichkeiten der Aneignung Seite 131 2.1.1 Aneignung in der Wohnung Seite 136 2.1.2 Aneignung im Garten Seite 138 2.2 Besetzung des öffentlichen Raumes Seite 139 2.3 Nutzungsstrukturen Seite 140 3. Beobachtungen Seite 142 3.1 Beobachtungen zu Spacing Seite 142 3.2 Beobachtungen zu verschiedenen Formen der Aneignung Seite 143 3.3 Aneignung durch symbolisches Kapital Seite 144 3.4 Kultur des Feierns Seite 145 3.5 Aneignung durch Kommunikation Seite 146 3.6 Konstituierung des Raumes Seite 147 3.7 Neue Orte Seite 150 4. Zusammenfassung Seite 150 Kapitel 5 Integration, Desintegration 1. Integrationsansätze Seite 154 2. Die individualisierte Gesellschaft Seite 156 3. Migration Seite 158 4. Widersprüchliche Konzeptionen einer Integrationspolitik Seite 160 5. Integration und Desintegration im Stadtteil Seite 163 6. Segregation im Stadtteil Rieselfeld Seite 164 6.1 Genderaspekt im Stadtteil Seite 166 7. Integration und öffentlicher Raum Seite 168 8. Stadt-Räume und Orte Seite 169 9. Beobachtungen Seite 170 9.1 Das Konzept der Etablierten-Außenseiter-Beziehung Seite 170 9.2 Beobachtung: Integration durch Abgrenzung Seite 172 9.3 Residentielle Segregation Seite 173 9.4 „Man leistet sich eine Wagenburg“ Seite 173 9.5 „Rund um den Samowar“ Seite 174 10. Zusammenfassung Seite 176 Kapitel 6 Exklusion und Inklusion 1. Macht und Raum Seite 180 Inhaltsverzeichnis Seite 5 2. Von der Disziplinargesellschaft zur Seite 182 Selbstkontrollgesellschaft 3. Inklusion und Exklusion in der Kontrollgesellschaft Seite 189 4. Neue Polarisierung im Stadtteil Seite 191 4.1 Soziale Kontrolle im Stadtteil Seite 193 5. Exklusion und Inklusion in der Systemtheorie Seite 197 6. Exklusion und Inklusionstendenzen im Rieselfeld Seite 199 7. Exklusion, Inklusion im Stadtteil Die Kontrolle über die öffentlichen Räume Seite 203 8. Der verteidigungsfähige öffentliche Raum Seite 205 9. Beobachtungen Seite 208 9.1 Ängste im Stadtteil Seite 208 9.2 Tagesheim Seite 209 9.3 Stadtteilrunde Seite 210 10. Zusammenfassung Seite 211 Kapitel 7 Abschließende Erwägungen Seite 215 Literaturverzeichnis Seite 222 Danksagung Seite 6 Danksagung Ich möchte mich an dieser Stelle bei all jenen bedanken, die diese Arbeit in ihren diversen Phasen mit viel Geduld und kritischem Engagement gelesen, kommentiert und dadurch verbessert haben. Mein Dank an diese Personen soll jedoch nicht die Verantwortung für Schwächen und Mängel der Arbeit verlagern. In erster Linie möchte ich meiner Frau Astrid Backes danken, die immer solidarisch und alltäglich entlastend, diese Arbeit überhaupt erst ermöglicht und verstanden hat, was diese Arbeit für mich bedeutet. Namentlich möchte ich Herrn Prof. Dr. Detlev Ispen, der im richtigen Zeitpunkt meinen Weg „kreuzte“ und mir als Betreuer viel Ansporn aber auch Freiraum gewährte, danken. Monika Radecki und Doris Leber haben mit großem Können die mutige Aufgabe übernommen, das Manuskript zu entziffern, Korrektur zu lesen und konstruktiv zu kritisieren. Janet Wagner entlastete mich in technischer Hinsicht, meine Freunde Jörg Partsch und Sigi Held unterstützen mich mit kritischen Diskussionen. Schließlich und ganz besonders danke ich den Bewohnerinnen und Bewohnern des Stadtteil Rieselfelds, von denen ich in acht Jahren Zusammenarbeit die entscheidenden Informationen bekam und außerordentlich viel lernen durfte. Vorwort Seite 7 Vorwort Neue Stadtteile sind in den letzten Jahren in Deutschland nicht viele entstanden. Zu viele negative Erfahrungen machten die Städte, die in 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts Trabenten- oder Satellitenstädte am Stadtrand errichteten. Die Stadt Freiburg war eine der ersten Städte, die Anfang der 90er Jahre wieder versucht, einen neuen urbanen Stadtteil für 10 – 12 000 Einwohner auf der grünen Wiese zu planen und zu bauen. Die Leitfrage war darum, neben der Beseitigung der Wohnungsnot, wie kann eine ähnlich problematische Entwicklung, wie sie die vielen anderen Neubaustadtteile genommen haben, im Stadtteil Rieselfeld verhindert werden. Vor diesem Hintergrund beauftragte die Stadt Freiburg ein Konzept zu unterstützen, dass neben dem Bau der Häuser und der Infrastruktur auch die Entstehung des sozialen und kulturellen Lebens fördern sollte. Die Trägerschaft für dieses Projekt „Quartiersaufbau Rieselfeld“ wurde der Kontaktstelle für praxisorientierte Forschung e. V., der Forschungsstelle der Evangelischen Fachhochschule Freiburg für Sozialwesen, für den Zeitraum von 1996 bis 2003 übertragen. Dieses Stadtentwicklungsprojekt war auch Arbeitgeber für den Verfasser dieser Arbeit. In den vorliegenden Text fließen daher auch viele Alltagserfahrungen und auch biographische Anteile ein. Diese Forschungsarbeit will als eine „sozialtheoretische Reflektion verstanden werden, die als Rahmen für lokalisierte empirische Beobachtungen dienen soll“1. Das entsprechende Vorgehen gewährleistete die große Nähe zu den Geschehnissen vor Ort und lässt die Entwicklung im alltäglichen Leben mit den BewohnerInnen erleben, erschwerte aber die Distanz zur Reflexion dieses Prozesses. Aus dieser Nähe entwickelte sich im Lauf der Zeit, die Frage. Wie eignen sich die Bewohner und Bewohnerinnen ihren Stadtteil an. Es handelt sich dabei um ein Interesse, das quasi über den alltäglichen sozialarbeiterischen Aufgaben und Herausforderungen steht. Die Hauptthese dieser Arbeit ist, dass sich die Aneignung des neuen Stadtteils durch einen ständigen Machtkampf vollzieht, der auf den unterschiedlichsten Ebenen ausgetragen wird. Vorwort Seite 8 In die Argumentation fliesen neben theoretischen Überlegungen auch alltagstypische Beobachtungen ein. „Zusammenfassend orientiert sich die vorliegende Arbeit als machtsoziologischer Versuch an der genau verorteten Lokalisierung ihrer Produzenten“2 die sich im Laufe der letzen sieben Jahre herausgebildet und räumlich niedergeschlagen haben. Einleitung Seite 9 Einleitung “Im Rieselfeld, da grüßt man sich!” Diese Parole gab der Seniorenkreis, eine Gruppe von “jungen Alten”, die sich regelmäßig im „Stadtteilladen K.I.O.S.K.“ (Wobei K für Kontakt, I für Information, O für Organisation, S für Selbsthilfe und K für Kultur steht) treffen, aus. Dieses Motto der aktiven Neubewohnern konstituiert den öffentlichen städtischen Raum, der als sozial produzierter Raum entsteht. Ausgelöst durch ökonomische Umstrukturierungen und reguliert durch den lokalen Staat wirken sich die gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse auf die Stadtgesellschaft und die städtischen Räume und Teilräume aus. Dabei ist es keineswegs das erste Mal im Laufe der Geschichte der Moderne, dass die einzelnen BewohnerInnen materielle und existentielle Verwirrung erfahren. Für die wirtschaftlichen und sozialen Strukturen der Gesellschaft scheint dabei heute die Organisation des Konsums und des Habitus immer wichtiger zu werden. Es ist offensichtlich, dass die soziale Position der Individuen nicht nur von der Stellung im Produktions- und Arbeitsprozess abhängt, sondern zunehmend auch von symbolischen Formen der Abgrenzung, die auch auf ästhetischen Erfahrungen beruhen. In den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts sind zur Wahrung der gesellschaftlichen Stellung der Menschen bestimmte Konsummuster unerlässlich geworden. Über Konsum definieren sich und klassifizieren sich Milieus als Lebensstilgruppen. Lässt man viele Studien mit der Thematisierung der sozialen Ungleichheit Revue passieren, so zeigt sich meist eine Dominanz an strukturalistischen Ansätzen. Viele soziale Phänomene werden anhand von sozialstrukturellen Grundbegriffen wie Klasse, Schicht, Lebensstil, Armut, Delinquenz behandelt – nicht als Effekte sozialräumlichen Strukturierung, sondern als gegebene Strukturmerkmale. Die Verwendung von Statistikdaten ist vorherrschend. Die hinzutretenden stadtsoziologischen Begriffe wie Segregation, Gentrifikation, Urbanität, Suburbanisierung eröffnen zwar eine prozessorientierte Rekonstruktion städtischer und stadtteilspezifischer Sachverhalte, doch fehlt Einleitung Seite 10 es meist an einer konzisen Beschreibung der Interaktionen, vor allem mit der Folge konflikthafter Machtdurchsetzungen oder Lebenslageentscheidungen. In einem neu entstehenden Stadtteil, wie der Stadtteil Rieselfeld, der sich als städtisch intaktes Quartier entwickeln, von seinen BewohnerInnen angeeignet werden soll, vollzieht sich der soziale und ökonomische gesellschaftliche Wandel parallel und gleichzeitig gesamtgesellschaftlich und stadtteilbezogen. Das Faszinierende an einem neu entstehenden Großstadtviertel ist die Vielfalt, die verschiedenen Infrastruktureinrichtungen, die Geschichten der Ethnien und ihre BewohnerInnen in der (neuen) Vorstadt. Es kommt für die Bewohner darauf an, sich in dieser Unbehaustheit einzurich- ten, wenn sie schon zwangsläufig und unvermeidlich ist. An der Peripherie soll die Artenvielfalt und die Kultur des Vielfachen triumphieren. Das Quartier besteht aus dem Mosaik der kleinen Welten, ähnliche Menschen machen kein städtisches Leben aus. Leitidee im Rieselfeld war und ist die gute alte europäische Stadt, der urbane Stadtteil, der eine hohe Integrationsleistung zu erbringen hat. Diese Schablone wurde auch bei der Neuplanung des Stadtteils angelegt. Es ist die Schablone der traditionellen Stadt: Das bunte dichte Knäuel von Menschen, Ethnien, Kirchen, Theatern, Geschäften und Lokalen, jener vitaler Körper, der den Flaneur und Stadtbürger (des 19. Jahrhunderts) hervorgebracht hatte, über ein fest umrissenes Zentrum und über historische Plätze verfügte. Pulsierend, lustvoll, anstrengend, widersprüchlich - so schwärmen die Anhänger des Urbanen; dicht, kompakt, funktional und sozial gemischt - so formulierten es die Stadtplaner auch für das Rieselfeld. Dabei erzeugt erst das Flanieren durch die Stadt, durch den Stadtteil Urbanität. Sie ist eigentlich keine objektive Eigenschaft einer Stadt, sondern das Resultat einer Beziehung, die ihre BewohnerInnen flanierend zu ihr unterhalten. Urbanität bedeutet Möglichkeitssinn inmitten der Notwendigkeiten des alltäglichen städtischen Lebens. Unsere Gesellschaft errichtet sich im Einleitung Seite 11 Städtischen. In den Städten herrschen Ströme, Kapitalströme, Informationsströme, Ströme organisatorischer Interaktionen, Ströme von Bildern, Klängen und Symbolen. Ströme sind nicht nur ein Element der sozialen Organisation: Sie sind Ausdruck der Prozesse, die unser wirtschaftliches, politisches und symbolisches Leben dominieren. In den Städten und Stadtteilen bilden die Ströme Knotenpunkte und Schnittstellen. Der Raum der Ströme ist nicht ortlos, obwohl seine Struktur ortlos ist. Eine weitere Schicht des Raumes der Ströme bezieht sich auf die räumliche Organisation der dominierenden Eliten, die jene Steuerungsfunktionen wahrnehmen, um die herum sich ein derartiger Raum artikuliert. Die Theorie des Raumes der Ströme geht von der implizierten Annahme aus, dass sich (städtische) Gesellschaften asymmetrisch um dominierende Interessen organisieren, die spezifisch für eine bestimmte soziale Struktur sind. Der Raum der Ströme stellt nicht die einzige räumliche Logik unserer Gesellschaft dar. Er ist jedoch die dominierende räumliche Logik, weil er die räumliche Logik der dominierenden Interessen/Funktionen in unserer Gesellschaft ist. Daher ist die Ausgangshypothese dieser Arbeit, das die Aneignung des neuen Stadtteils eine Frage des Kampfes um die Macht des (öffentlichen) Raumes ist. Wir befinden uns gesellschaftlich in einer grundlegenden Transformationsphase, was hier gezeigt werden wird. Zu Beginn wird im ersten Kapitel kurz auf die Entwicklung der Stadt Freiburg eingegangen und der neue Stadtteil Rieselfeld im Kontext der Stadtentwicklung vorgestellt. Die Repräsentation dieser Arbeit besteht dann aus fünf konstitutiven Theorieansätzen. Beginnen möchte ich mit dem Handlungsansatz im zweiten Kapitel. Warum werden Menschen überhaupt aktiv, warum engagieren sich die Bewohner und BewohnerInnen gemeinschaftlich im Stadtteil? Gemeinsames aktives Tun ist Raumhandlung. Wer allerdings im Stadtteil handelt, ist die nächste wichtige Frage. Warum sind es bestimmte dominierende Gruppen und Milieus die Alltag und die Weiterentwicklung bestimmen? Die Auseinandersetzung mit der Milieutheorie folgt daher im dritten Kapitel. Einleitung Seite 12 Kapitel vier stellt schon eine Verflechtung dar, die zwischen Gesellschaft, Macht und Raum. Die Verflechtung von Macht und Raum im Stadtteil, die Bezüge zwischen Raum und Ort werden thematisiert. Integration im fünften Teil zeigt den Grad der Aneignungs- oder Nichtaneignungsmöglichkeiten verschiedener Sozial- und Submillieus im Stadtteil auf. Die Möglichkeit der Teilhabe entscheidet über Integration oder Desintegration. In Abschnitt sechs richtet sich der Fokus auf eine neue Form der Sozialität, die auch als Postsozialtät bezeichnet werden kann. „Das Postsoziale resultiert aus einer zunehmenden „Abkühlung“ der sozialen Beziehungen, die deren Instrumentalisierungen oder sogar deren Bruch antizipiert. Immer mehr Menschen werden aus dem sozialen Verkehr herausgeworfen und kommen erst gar nicht rein. Diesen Prozess bezeichne ich als Exklusion."3 In diesem Kapitel werden entscheidende konzeptuelle Überlegungen aus de Marinis Arbeit in Bezug auf den Übergang von den Disziplinargesellschaft zu der Kontrollgesellschaft und die Machtkonsequenzen auf den öffentlichen Raum übernommen. Im letzen Kapitel, dem siebten will ich dann einige Schlussfolgerungen aus der Arbeit ziehen, die allerdings die Widersprüche nicht aufheben sondern eher noch einmal pointieren sollen. Die Multidimensionalität in der Arbeit wird versucht aufzuzeigen, indem die Ansätze übertragen werden auf die Ebene des Stadtteils. Als gestalterische Auseinandersetzung mit den Ergebnissen stelle ich exemplarische Beobachtungen, Begebenheiten und Bilder vor, die sich nicht auf Individuen beschränken, sondern sich auf Gruppen, Milieus oder Strukturen beziehen. Diese „Fallstudien“ sind nicht „vergleichbar“, sondern eben exemplarisch angelegt. Vorrangig geht es um Aneignungs- und Bewältigungsstrategien. Das Konzept der Beobachtung basiert auf einem Mix verschiedener Evaluationsarten, wodurch ein möglichst vielschichtiges und multiperspektivisches Bild der Entstehung des Stadtteils erfasst werden soll. Im Zentrum stehen die systematische Schreiben von Memos, Kurzprotokollen Einleitung Seite 13 und Eindrücken zur späteren historischen Quellenauswertung. Das systematische Festhalten der Entwicklung durch Statistiken, Pläne, Presseartikel, sonstigen Dokumentationen und Rückmeldungen durch die BewohnerInnen. Darüber hinaus entstand eine Fotodokumentation über die Stadtteilentwicklung mit vielen prägnanten Erlebnissen im Laufe der letzten acht Jahren, von 1996 bis 2004. Zu Grunde liegen auch eine Aktenanalyse, teilnehmende Beobachtungen durch interne und externe Personen sowie argumentative Validierung durch regelmäßige Gespräche mit Teamkolleginnen und externen Forschern. Der Zeitrahmen der Arbeit erstreckt sich von Beginn des Projektes „Quartiersaufbau Rieselfeld“ und der Besiedlung durch die BewohnerInnen, das heißt ebenfalls seit Sommer/Herbst 1996 bis zum Herbst des Jahres 2004. 1 Pablo de Marinis; Überwachen und Ausschließen. Machtinterventionen in urbanen Räumen der Kontrollgesellschaft; Paffenweiler 2000; S.13 2 Pablo de Marinis; Überwachen und Ausschließen. Machtinterventionen in urbanen Räumen der Kontrollgesellschaft; Paffenweiler 2000; S.13 3Pablo de Marinis; Überwachen und Ausschließen. Machtinterventionen in urbanen Räumen der Kontrollgesellschaft; Paffenweiler 2000; S 18, Teil I, 1 bis 3 und Teil II, 4 und 5 Kapitel 1 Stadtteilportrait des Freiburger Stadtteil Rieselfeld 1. Freiburg i. Breisgau Der folgende Blick auf Freiburg fällt etwas ironisch aus, da Freiburg nur verstanden werden kann, wenn sie als Stadt als Gesamtprodukt gesehen wird. Denn so vermarktet und verkauft sie sich und deshalb muss sich ein neuer Stadtteil auch in diesem Kontext positionieren. Die Freiburg-typische Melange aus Provinzialität und Wohlfühlen ist ebenso geschätzt wie gefürchtet. Den meisten gefällt genau das, und so unterscheidet man zwei Arten von Freiburgern: Solche, die schon hier sind, und solche, die noch herziehen wollen. Das reizarme Sozialklima wird je nach Lebensphase mal als willkommene Hängematte, mal als tückische Behaglichkeitsfalle erlebt. Wobei man Freiburger daran erkennt, dass sie unermüdlich an der Optimierung der eigenen Falle arbeiten. Das mag auch die Besonderheiten Freiburgs erklären. Die republikweit einmalig hohe Therapeutendichte, von Bachblüten bis Psychoanalyse ist alles vertreten. Freiburg ist die heimliche Hauptstadt der Solarenergie, der Liegeradler, der Parapsychologen, der Gutmenschen und der Lebensqualität sowieso. Im Grunde funktioniert die Stadt als eine Harmonisierungsmaschinerie. Stadtportrait des Freiburger Stadtteil Rieselfeld Seite 15 Dies hat auch im Mai 2002 zum ersten grünen Oberbürgermeister in einer deutschen Großstadt geführt, der sich mit 64 % gegen seine Mitkonkurrentin von der CDU durchgesetzt hatte. Ein wesentlicher Grund dafür war sicherlich das „Bedienen“ des Gefühls, dass Freiburg etwas Besonderes ist. Motto des Wahlkampfes war: „Freiburg muss anders bleiben“! Im Stadtteil Rieselfeld bekam der neue OB, Dieter Salomon, im zweiten Wahlgang 76 % der Stimmen. Bei den bisher stattgefunden Wahlen, das sind die Oberbürgermeisterwahl von 1998, die Europawahlen von Juni 1999, die Gemeinderatswahlen im Herbst 1999 und die OB- Wahl im Frühjahr 2002, die ein erstes Interpretieren erlauben, interessante und auffällige Ergebnisse zu beobachten. War das Rieselfeld der Stadtteil in Freiburg, der mit einer Ausnahme (Innstadtbereich mit vielen Studentinnen und Studenten) der vom derzeitig noch gültigen Koordinatensystem aus gesehen am „linksten“ gewählt hat1, allerdings bei einer Wahlbeteiligung, die unter dem Freiburger Durchschnitt liegt (ca. 50 % zu 60 %). Dies legt den Schluss nahe, dass die anderen Gruppen im Stadtteil, die aus den verschiedensten Gründen nicht zur Wahl gegangen sind, im Stadtteil vielleicht noch nicht richtig angekommen sind und sich dadurch noch nicht entsprechend einbringen. Hinzu kommt, das einzelne Regionen in Deutschland als bevorzugtes Wanderungsziel unter einem durch Zuzugsüberschüsse bedingten Bevölkerungswachstum stehen (Nord-Südgefälle und interregionale Polarisierung). Neben den oben genannten Faktoren stellt in diesen Regionen der wanderungsbedingte Bevölkerungszuwachs zusätzliche Anforderungen an den Wohnungsmarkt. Insbesondere die südlichen Bundesländer und hier die Randzonen der boomenden Verdichtungsräume (München, Stuttgart, Ulm, Heidelberg) sowie landschaftlich und kulturell reizvolle Gebiete mit hohem Freizeitwert sind davon betroffen. In einem dieser bevorzugten tertiärisierten Zuzugsräume liegt Freiburg. Es zählt zu den wenigen deutschen Großstädten, die jährlich noch deutliche Bevölkerungsgewinne zu verzeichnen haben (212000 Einwohner, Oktober 2004). Freiburg ist heute geprägt durch eine Dominanz des Dienstleistungsgewerbes und eine vielfältige Hochschullandschaft, auch durch eine katholische Tradition und ein reiches Kulturleben. Es existiert eine vielfältige Szene von Lokal- und Bürgervereinen sowie niederorganisierten Initiativen. Stadtportrait des Freiburger Stadtteil Rieselfeld Seite 16 1.1 Die Richtung der Stadtentwicklung begann schon viel früher Der hier gewählte Ansatzpunkt einer Betrachtung des modernen Freiburg liegt im Anfang des 18. Jahrhunderts. Wie viele Städte hatte Freiburg in dieser Zeit den Panzer seiner Festigungsanlagen verloren. Die Altstadt lag in ihrem straffen baulichen Korsett, das sie im Wesentlichen im 13. Jahrhundert erhalten hatte, offen in der Landschaft. Im Jahr 1800 hatte Freiburg 9000 Einwohner. 1836 folgten die ersten Fabrikgründungen im Osten der Stadt entlang des Gewerbebaches. Mit ihnen entstanden die üblichen Werkssiedlungen in Freiburg. Die erste zentrale Energieversorgung konnte bereits 1851 mit einem Gaswerk aufgebaut werden. Im Westen der Altstadt wurden die Gleise der Rheintalbahn geführt, auf denen 1845 der erste Zug in den Freiburger Hauptbahnhof einrollte. Ihnen folgte 1871 die Bahnlinie Freiburg – Breisach und 1873 die Schwarzwaldbahn. 1875 erhielt Freiburg eine zentrale Wasserversorgung. Die Stadterweiterungen des 19. Jahrhunderts zogen alsbald Zwischenbebauungen nach sich und griffen entlang der Ausfallsstraßen auf die nächstliegenden Vororte zu. Die Ortschaften Haslach und Günterstal wurden 1890 eingemeindet. Im Jahr 1880 hatte Freiburg bereits 36000 Einwohner. Freiburg konnte sich auf Grund seiner Lage am Schwarzwald immer nur nach Westen ausdehnen. So blieben die Ränder der Stadt im Osten sehr viel begrenzter (mit Ausnahme der Eingemeindungen um 1970) als im Westen. Im Westen wurde der Hauptbahnhof gebaut und wie Halbmonde legen sich die verschiedenen städtebaulichen Entwicklungsepochen um die Altstadt. Stadtportrait des Freiburger Stadtteil Rieselfeld Seite 17 1.2 Die Wende zum 20. Jahrhundert Mit der Industrialisierung, dem Ausweiten der Wohnflächen und dem neuen Verkehrsmittel wurde die bis dahin scharf konturierte Stadt aufgebrochen. Die neuen Kräfte und ihre Prosperität ereichten eine Dynamik, die die städtische Gesellschaft tiefgreifend veränderte. Wegen ihrer landschaftlichen Vorzüge und ihres baugeschichtlich ansprechenden Erscheinungsbildes zog die Stadt Stadtportrait des Freiburger Stadtteil Rieselfeld Seite 18 sehr viele vermögende Zuwanderer an. Durch ein neues Lebensgefühl kam der Wunsch nach Komfort und repräsentativer Selbstdarstellung auf, in dessen Folge das Stadtzentrum um die Jahrhundertwende „modern“ umgestaltet wurde. 1901 führte die Stadt mit dem zentralen Elektrizitätswerk im Stadtteil Stühlinger die Elektroversorgung und in deren Folge die elektrisch betriebene Straßenbahn ein. Für die Ver- und Entsorgung wurden nach neuestem Stand von Hygiene und Technik Werksanlagen und Verteilungsnetze aufgebaut. Das große Angebot an Arbeitsplätzen brachte entsprechende Wanderungsgewinne. Zusätzlich transportierte die Bahn große Pendlerströme in die Stadt. Landesverwaltung und Universität bewirkten eine große Nachfrage an Wohnungen für Beamte und Angestellte. Die etwas heterogene Bewohnung im Stadtteil Wiehre baute sich um zu Wohnstraßen in Blockbauweise, die geographisch höheren Randlagen wurden bevorzugt von sozial höheren Schichten bewohnt. In den noch vor wenigen Jahren ständisch gegliederten Stadt hatten die neuen Verhältnisse die sozialen Gegensätze verschärft und räumlich niedergeschlagen. 1.3 Die Bedeutung der Industrie geht zurück, die Stadt wächst weiter Die Industrialisierung ereichte in Freiburg trotz ihres frühen Beginns Ende des 19. Jahrhunderst nicht die Bedeutung wie in vielen anderen Städten des Reiches. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstand im Stadtteil Stühlinger ein Arbeiterwohnquartier, das aber im Vergleich zu Quartieren anderer Großstädte sehr human gebaut wurde. Auf den Einfluss der Gartenstadtidee und einer handwerklichen traditionellen Bauauffassung gehen die von städtischen Siedlungsgesellschaft gebauten, heute noch beliebten Reihenhäuser in Freiburg Haslach zurück. Die wachsende Flächennachfrage veranlasste die Stadt bei der inzwischen eng gewordenen Stadtgemarkung zu einer stringenten Eingemeindungspolitik. Zwischen 1890 und 1908 wurde Günterstal, Haslach, Zähringen und Betzenhausen eingegliedert. Littenweiler folgte 1914 und St. Georgen 1938. Freiburg zählte 1939 circa 110 000 Einwohner. Stadtportrait des Freiburger Stadtteil Rieselfeld Seite 19 1.4 Der Wiederaufbau Einen radikalen Einschnitt in der jüngeren Geschichte der Stadt bedeutete die Bombardierung 1944. Wenn man die Perioden nach 1945, in denen größere Stadtteile geplant wurden, genauer anschaut, lässt sich feststellen, dass es zwischen 1968 und Ende der 80er Jahre eine Phase gab, in der die Expansion nach außen sowie die Gründung neuer Trabantenstädte völlig aufgegeben wurde. Alle Aktivitäten und städtebaulichen Interessen wandten sich wieder der vorhandenen Stadt und ihrer Sanierung, Erneuerung und Stadterhaltung zu. Freiburg wurde im Unterschied zu so manch anderer kriegzerstörten Stadt von einer mehr traditionellen Architekturauffassung geleitet, die energisch die zerstörten Baudenkmäler sicherte und den Wiederaufbau strikt auf dem historischen Stadtgrundriss vollzog. Heute ist die identitätsstiftende Wirkung eines historischen Stadtkerns erkannt und wirkt auch in die neuen Stadtteile als Identitätsanker. Weitergeführt wurde der Aufbau mit den Großsiedlungen Freiburg–Weingarten und -Landwasser Ende der 1960er Jahre. Beide Erweiterungen wurden im Westen der Stadt angelegt für den sozialen Wohnungsbau, der untere Einkommensgruppen den Einzug in subventionierte Wohnungen ermöglichte. Dieser bisher vernachlässigte Aspekt rückte ins Zentrum der städtischen Baupolitik. Knappe Gemarkungsflächen veranlassten die Stadt, im Zuge der Gemeindereform bei Nachbargemeinden um Eingemeindung in das Stadtgebiet mit Erfolg zu werben. In der Mitte der 1970er Jahre kamen Freiburg–Lehen, Freiburg-Hochdorf und die Tuniberggemeinden Opfingen, Waltershofen, Tiengen, Munzingen sowie im Osten Ebnet und Kappel zum Stadtgebiet. Die neu eingemeindeten Stadtteile boten für den eigenen Bedarf Bauflächen an. Die wieder gestiegene Nachfrage der Gesamtstadt (sie erreichte 1987 die Zahl von 179000 Einwohnern) konnte aber in den Vororten nicht abgedeckt werden. 1.5 Die Stadt am Ende des 20. Jahrhunderts Die Darstellung der Entfaltung von Freiburg in den letzten 200 Jahren wurde hier eingefügt, um geschichtliche Aspekte zu erläutern. Sie soll Anknüpfungspunkte aufzeigen, wie wirtschaftliche Lage, Einwohnerwachstum, Stadtportrait des Freiburger Stadtteil Rieselfeld Seite 20 Bauflächenangebot, Verkehrsmittel, Versorgungs-einrichtungen oder Eingemeindungen auch für die weitere Ausformung der Stadt bestimmend bleibend werden und damit helfen, die Entwicklungen im Stadtteil Rieselfeld besser zu verstehen. Die aufgezählten Punkte bilden durch ihre gegenseitige Abhängigkeit mit fortschreitendem Wachstum ein sich verdichtendes Beziehungsgeflecht, das die Stadt und ihre Region zwangsweise zu einer neuen, die alten Gemeindegrenzen überwachsenden, Komplexität führt. Darüber hinaus wächst die ganze Region am Oberrhein, die auch Teil der „Trigenia“ ist, einer Dreiländerregion, in der Freibug neben Basel, Straßburg und Mulhouse/Colmar eine zentrale Rolle spielt. Der Städtebau der fordistischen Moderne war gekennzeichnet von Zonierung, Isolierung und Polarisierung, das städtische Leben war fast zum Erliegen gekommen und die ökologischen und sozialen Folgen der Nachkriegsstädte waren kaum noch zu bewältigen. Es dauerte dreißig Jahre, bis Stadtplaner, Soziologen und Politiker begriffen, dass die komplexe Struktur des Städtischen dem simplen Modell der in Zonen aufgeteilten Stadt weit überlegen ist. Wohnumfelduntersuchungen zeigen, dass nicht nur bauliche Belange, sondern auch sozioökonomische und soziokulturelle Aspekte in die Gestaltung neuer Quartiere einbezogen werden müssen. Die neuen Stadtquartiere sollten nicht nur als Spiegel der Gesellschaft betrachtet werden, sondern bewusst so gestaltet werden, dass sich vielfältiges gesellschaftliches Leben entfaltet kann. Die Stadt der kurzen Wege mit der „Neuen Urbanität“ wurden zur Zielkategorie. Die Wohnungsnot Ende der 80er Jahre brachte in Freiburg eine Diskussion über Wohnungsbau im großen Stil in Gange. Ende der 80er Jahre begann die Diskussion, dass größere Stadterweiterungsprogramme unumgänglich wären. Es begann nun die Auseinandersetzung um neue Leitbilder. Neben dem rein quantitativen Fehlbestand hat auch eine Bedarfsveränderung des Wohngefüges, also der Anteil von Ein-, Zwei-, und Mehrzimmerwohnungen im Gesamtangebot, zu einer Verknappung von adäquaten Wohnraum geführt. Die Verringerung der Haushaltsgrößen, so zum Beispiel der Anstieg der Ein-Personenhaushalte von 21,6 % im Jahre 1968 auf knapp 37 % heute (in Freiburg 54 %), führte vermehrt zum Bau von Kleinwohnungen. Gleichzeitig aber stieg auch der Bedarf an preiswerten, Stadtportrait des Freiburger Stadtteil Rieselfeld Seite 21 familiengerechten Großwohnungen, da die geburtenstarken Jahrgänge die Phase der Familiengründung erricht hatten. Es handelt sich beim Neubaustadtteil Rieselfeld nicht nur um das seit 20 Jahren bedeutendste Stadtentwicklungsbauvorhaben in Freiburg, sondern auch um eines der größten zusammenhängenden Wohnungsbauvorhaben in Deutschland seit Beginn der 80er Jahre. Um der zunehmenden Wohnverknappung Herr zu werden, entschied man sich (auch gegen große Widerstände innerhalb der Bevölkerung) zur Ausweisung eines neuen Wohnquartiers für 10000 bis 12000 Einwohner. Das von den französischen Streitkräften aufgegebene Kasernenareal Vauban und eben das Rieselfeld wurden für den Bau einer weiteren großflächigen Neubebauung freigegeben. Ebenso erfuhr der Flugplatz ab Mitte der neunziger Jahre eine neue Nutzung für Universität, Messe und Gewerbe. Es stellen sich nun folgende Fragen: Ist der neue Stadtteil Rieselfeld eine Vorstadt, ein klassischer Stadtteil von Freiburg, oder der Teil einer sich herausbildenden Zwischenstadt der Region am Oberrhein um Freiburg? Hat dies Auswirkungen auf die Herausbildung einer Identität und der Aneignung der Bewohner ihres neuen Viertels? Im Rieselfeld zeigen sich auch Ansätze, sich in seiner Alltagsorientierung auch auf Region und nicht nur auf die traditionelle Kernstadt zu beziehen. Das zeigte sich auch in der Diskussion um die zukünftige Führung der Stadtbahnlinie „Rieselfeld“. Im Gegensatz zu anderen Neubaustadtteilen wurde das Rieselfeld schon ein Jahr nach Einzug der ersten Bewohner eine neue Stadtbahnlinie eröffnet. Dies haben zum Schuljahresbeginn 1997/98, als das neue Keplergymnasium mit über 700 SchülerInnnen startete. Diese Linie fährt nun seit über sieben Jahren über den Hauptbahnhof, der auf der Strecke vom Rieselfeld in das Zentrum liegt. Schon länger aber ist die Anbindung des Stadtteils mit der historischen Innenstadt über eine andere neue Linie geplant gewesen, die dann die Rieselfelder an das Zentrum auf anderer Linienführung anbinden soll. Allerdings spiegelt bei vielen Milieus des Stadtteils dies nicht ihre Alltagspraxis wieder. Sie sind eher auf den Bahnhof als Verteiler und natürlich auch die Autobahn, die ebenfalls ganz nahe ist, fixiert. Von dort erreichen sie ihre Arbeitsplätze in Karlsruhe, Basel oder in anderen Orten in der Schweiz oder Stadtportrait des Freiburger Stadtteil Rieselfeld Seite 22 im Rheintal. Frankreich mit dem nahen Elsass spielt eine untergeordnete Rolle. Natürlich ist dies nicht die Mehrheit, aber eine gut ausgebildete, sich lautstark artikulierende Minderheit, die hier eine Wandlung zum „Regiobürger“, der sein Lebensmittelpunkt im Rieselfeld hat, aber sich beruflich oder privat andere „Zentren“ sucht, sichtbar macht. 1.6 Ausgangslage in den 90er Jahren Wenn die Straßenbahnlinie “sechs” von der Stadt kommend in den neuen Stadtteil Rieselfeld hineinfährt, ist die erste Haltestelle der “Geschwister Scholl-Platz”. Rechts der leere, halb mit Autos beparkte Platz, links eine Baugrube. Der Wind bläst Papier und kleine Plastikstücken vor sich her. Hier bläst fast immer ein stärkerer Wind, der aus der Rheinebene kommt, als in der Freiburger Innenstadt. Der Wind ist ein „Markenzeichen“ des Stadtteils. Prägend für die Struktur ist neben dem Wind das Wasser. Die Wasserversorgung kam an die Grenze der Leitungsfähigkeit. 1971 wurde die Lieferkapazität mit dem Bau von Tiefbrunnen und Versorgungsleitungen aus der Breisgauer Bucht sichergestellt. Als Element des ehemaligen Rieselfeldes fließt es durch die Erhaltung der vorhandenen Rieselfeldgräben im Norden und durch einen neuen kleinen wechselfeuchten Graben zur Regenwasserversickerung mit einer begleitenden öffentlichen Grünzone im Süden. Stadtportrait des Freiburger Stadtteil Rieselfeld Seite 23 Der bis in die Innenstadt hineinreichende landschaftliche Freiraum der Käsbach– Dietenbach–Niederung nördlich des Rieselfeldes greift durch den Grünkeil bis in das Zentrum des Stadtteils und verbindet sichtbar mit der Landschaft der Umgebung. 2. Zwischenstadt Das Rieselfeld ist der neue Rand der Stadt Freiburg, der noch kein fertiger Stadtteil ist und noch nicht richtig weiß, ob er sich nur an der Innenstadt oder auch schon an der sich abzeichnenden Region orientieren soll. Seitdem die Mobilität, durch Auto, Eisenbahn und die Elektronik die ehemaligen räumlichen Grenzen gesprengt hat, dehnt sich die Stadt quasi entfesselt in ihr Umland aus. Ihre Ausdehnung und der Grad ihrer Diffusität folgt den jeweiligen Verkehrs- und Kommunikationstechnologien: Der Eisenbahn folgt eine sternförmig-lineare Ausdehnung, das Auto füllt die Fläche auf, und die Elektronik führt zu grenzenloser Erweiterungen. Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es klare ökonomische Gründe für die Zusammenballung von Städten: Rohstoffvorkommen, Verkehrswege und Arbeitskräfte. Obwohl heutige Großstädte einander immer ähnlicher werden, entwickeln sie sich im Vergleich immer noch in zwei grundverschiedene Richtungen. Da gibt es die zentrifugale Stadt („Rührei-Stadt“ nach Cedric Price2 deren Auflösung nicht nur von den neuen Transporttechniken, sondern vor allem von den Lebensgewohnheiten ihrer Planer und BewohnerInnen herrührt. Dem steht das Modell des unverändert ökonomisch motivierten, konzentrierten Stadtwachstum gegenüber. Freiburg ist gerade in Begriff sich von der konzentrischen Stadt zur „Rührei-Stadt“ zu entwickeln. 2.1 Die Lage der Stadt am Oberrhein Die Probleme der Bauentwicklung auf dem Freiburger Stadtgebiet lassen sich aus den Gestaltungsvorschlägen der Flächennutzungsplanung ab etwa 1970 ablesen. Aus der Erkenntnis notorischer und bodenpreisverteuernder Flächenknappheit wurde in einem Planentwurf Ende der sechziger Jahre Stadtportrait des Freiburger Stadtteil Rieselfeld Seite 24 angestrebt, für 220000 Einwohner Bauflächen nachzuweisen. Damals wurde neben anderen Flächen schon die Bebauung des Rieselfelder vorgeschlagen. Der Verbrauch von Flächenreserven ergibt allein noch keine ausreichende Grundlage für eine künftige Raumordnung der Stadt und ihres Verflechtungsbereichs. Hierzu erforderlich sind Aussagen der Verkehrsplanung und Ökoplanung, um eine Konzeption sinnvoll zugeordneter Bau- und Freiflächen zu entwerfen. Diese Überlegungen gehen grundsätzlich davon aus, dass sich die Bebauung einer Gesamtstadt bandförmig an Verkehrslinien, hauptsächlich an Nahverkehrslinien, ansetzt, während zwischen diesen Verdichtungsbändern zum ökologischen Ausgleich land- und forstwirtschaftlichen Zonen angeordnet sind. Die Ausgestaltung einer die Stadtgrenze übergreifende Bauform sollte aber nicht nur von den nahräumlichen Gegebenheiten abgeleitet werden. Freiburg hat eine zentrale Lage am Oberrhein und liegt damit zwangsläufig im Einflussraum des immer enger werdenden Beziehungsgeflechtes der Städte in dieser Landschaft. In Karten von Deutschland und seinen Ballungsräumen treten die Zentren an Rhein und Ruhr oder das Rhein-Main-Gebiet deutlich hervor, während Freiburg in seiner Südwestecke recht isoliert erscheint. Sieht man aber aus der europäischen Perspektive den Oberrheingraben mit Basel und Straßburg zusammen, so reicht dieses Verdichtungsgebiet an die Größe der übrigen größeren Agglomerationen heran. Die Interessenslage von Freiburg wird in mehreren Gremien des Oberrheingrabens berührt, der von Basel bis Karlruhe zuständigen Oberrheinkonferenz, der für den Raum von Basel bis Freiburg geschaffenen Regio, dem eigentlichen Motor des regionalen Austausches zwischen Nordwestschweiz, Oberelsaß und Südbaden mit rund 2,2 Millionen Bewohner im Einzugsgebiet und der für den Raum Freiburg – Colmar zuständigen Gemeinschaft der Interessen Mittelelsaß/Breisgau. Freiburg profitiert vom Austausch mit den Städten in diesen Verbindungen, wobei sich den Städten Basel, Mulhouse, Freiburg in gleicher Reihenfolge die Interessenschwerpunkte Geld, Bauland, Wissenschaft generell zuordnen lassen. Das Ja zur Regio stellt an alle beteiligten Kooperationspartner die Frage nach dem Gewicht der eigenen Rolle. Hier sind für Freiburg aus der Stadtportrait des Freiburger Stadtteil Rieselfeld Seite 25 Logik des Raumes zwei Feststellungen zu treffen: Im Gegensatz zu Basel und Straßburg liegt der Stadtkern von Freiburg nicht direkt am Rhein. Da sich die Entwicklung entlang der Verkehrsbändern vollzieht, ist Freiburg etwas abseits und kann sich selbstorganisierter ordnen. Die Freiburger Bucht und der Kaiserstuhl liegen am äußerten Ende der Einflusssphären der größeren städtischen Nachbarn. Dadurch sieht sich Freiburg im Verhältnis zu Basel und Straßburg genau in der Mitte zwischen zwei wirtschaftlich und von der Einwohnerzahl deutlich stärkeren Partnern. Dieses Verhältnis hat eine lange Geschichte. Die junge Zähringerstadt (1090) hatte sich zwischen die beiden römischen Rheinstätte gedrängt und ihre Erfahrungen mit deren geistlichen Regenten gemacht. 2.2 Politische Zielsetzungen und Erwartungen Seit den 1970er Jahren ist klar, dass in Freiburg größere Bauerweiterungsflächen auf eigener Gemarkung nur noch in sehr begrenzten Umfang möglich ist. Stadtbezogenes Wachstum, das in Freiburg nicht unterkommt, findet in den Umlandgemeinden, wie Merzhausen, Umkirch oder Gundelfingen statt, sozusagen in konzentrischen Kreisen zur Kernstadt. Eine zukünftige raumgreifende Stadtentwicklung erfolgt in der dichten Siedlungszone der Breisgauer Bucht entlang der schienengebundenen Nahverkehrslinien. Dieses Konzept lässt sich von Freiburg aus nach Norden und Süden entlang der Oberrheinbahn oder nach der Westen entlang der Breisacher Bahn organisieren. Stadtportrait des Freiburger Stadtteil Rieselfeld Seite 26 Hier in diesem westlichen Raum bot sich an, keine neue Trabantenstadt für die Stadtentwicklung zu bauen, sondern ein urbaner Stadtteil. Die Stadt Freiburg hat nach dem zweiten Weltkrieg mehrere Entwicklungsphasen durchgemacht, die alle von einer sprunghaft gestiegenen Wohnungsnachfrage geprägt waren. Einem wachsenden Bedarf an Wohnungen stand ein geringer werdendes Angebot gegenüber. Dies führte 1989 zur der so genannten Flächendiskussion in Verwaltung, Politik und innerhalb der Bevölkerung. Der im Juni 1990 vom Freiburger Gemeinderat verabschiedete „Bericht zum Wohnungsbau und zur Wohnversorgung“ wies nach, dass der akute Wohnraummangel zu sozialen Zwangslagen und zu steigendem Mieten geführt hatte. 2500 Haushalte mit über 6000 Personen standen in der Notfallkartei des städtischen Amtes für Wohnungswesen; insgesamt wurde ein Bedarf von ca. 6500 preiswerten Wohnungen für Freiburg bis zum Jahre 2000 prognostiziert. Im Jahr 1998 waren stichtagsbezogen rund 12500 Personen (das sind fast 7 % der Bevölkerung in Freiburg) Sozialhilfebezieher aus etwa gleich starken Gruppen: Alleinerziehende, Arbeitslose, Senioren und Migranten. Die Auflistung der möglichen Wohnbauflächen in über 20 Aufstellungs- und Änderungsverfahren damaliger Bebauungspläne konnte diesen Bedarf jedoch nicht annähernd decken. Diese Flächenbilanz und die intensive Diskussion um Nachverdichtung in bebautem Stadtgebiet – als Alternative zur Bebauung freier Flächen, die teilweise in Landschaftsschutzgebieten lagen förderte die Entscheidung zugunsten des Rieselfeldes. Es entstand eine Debatte, was mit dem Rieselfeld geschehen sollte. Ein großer Teil der sich engagierten Bevölkerung wandte sich gegen das “Zubetonieren” der Landschaft. Es fand dazu sogar einen Bürgerversammlung statt (die in Baden–Württemberg in der Kommunalverfassung vorgesehen ist). Ein anderer Teil, das waren vor allem der bürgerliche Block ( CDU, FDP und „Freien Wähler“), wollten dort Gewerbe ansiedeln und später eine generelle Wohnbebauung durchführen. Nach langer Debatte fasste der Gemeinderat 1991 den Beschluss, knapp 80 ha des einstigen Rieselfeldes zu bebauen und die anderen 240 ha unter Landschaftsschutz zu stellen. Stadtportrait des Freiburger Stadtteil Rieselfeld Seite 27 Der Konflikt zwischen Ökologie und Ökonomie hat sich somit hier an einem konkreten Punkt festgemacht und in Freiburg zu großen Kontroversen geführt. Als Leitziele wurden erstens preiswerter Wohnraum, städtebauliche und ökologische Verträglichkeit und zweitens der Einklang von Erholung, Wohnen und Naturschutz postuliert. 3. Die Stadt als Text: Den neuen Freiburger Stadtteil Rieselfeld lesen Um den Charakter einer Stadt, eines Stadtteils wie über einen Text lesen zu können, wird vielleicht am deutlichsten durch das Lesen und Verstehen der Straßennamen. In Freiburg gibt es derzeit ca. 1320 Straßennamen. Die Mehrzahl der gültigen Straßennamen bezieht sich auf geographische Begriffe, auf Pflanzen und Tiere, auf Bauwerke und Geräte, auf Handel und Gewerbe. Aber etwa ein Drittel bezieht sich auf Menschen, die auf irgendeine Art und Weise mit der Stadt verbunden sind. Für die Benennung von Straßen ist grundsätzlich der Gemeinderat zuständig. Vorgeschaltet ist aber eine parteipolitisch, paritätisch besetzte Straßenbenennungskommission und der gemeinderätliche Kulturausschuss. Vorschläge für Benennungen kommen aus den Reihen des Gemeinderates, der Verwaltung und von Bürgern. Es existiert eine „Warteliste“, die von Zeit zu Zeit entrümpelt wird. Mitzureden hat noch das Stadtarchiv, das auch die Angaben zu regionalen und lokalen Bezügen prüft. In Freiburg gab es 1996 einen interfraktionellen Antrag (der durch Recherchen der Stelle für die Gleichberechtigung der Frau initiiert wurde), die Straßen- namen in den neuen Stadtteilen Rieselfeld und Vauban mehrheitlich mit Frauennamen zu benennen. Freiburg hat bundesweit den höchsten Anteil von Frauen im Stadtparlament, aber nur 2 % der Freiburger Straßen, die nach Personen benannt sind, tragen Frauennamen. Obwohl es einigen Widerstand der männlichen Fraktionskollegen gab, tragen nun 70 % der Straßenschilder im Rieselfeld weibliche Namen, viele von ihnen mit örtlichem Bezug3. Stadtportrait des Freiburger Stadtteil Rieselfeld Seite 28 Für die Menschen, die in der Stadt leben, sind die Straßennamen, ganz unabhängig von der Bedeutung der Namen und der Namensgeber, Ordnungsfaktoren des Alltags. Die Hauptbedeutung der Straße, in der man wohnt, ist für die Bewohner, dass sie in der Straße wohnen. Und wenn man als Bewohner mit dem Straßennamen die eigene Adresse nennt, sprecht man von sich und nicht von dem Menschen, nach dem die Straße benannt ist. Aber allmählich verbindet sich der Wohnort mit dem Namen, der Name der Straße wird in mein eigenes Leben integriert und schließlich fügt sich die eigene Adresse mit dem jenigen Namen zu einer Einheit zusammen, die den eigenen Ort in der Welt bestimmt. Auch die Haltestellen der Stadtbahnlinie sind in diesem Kontext zu lesen, zumindest zwei von dreien. Maria von Rudloff war eine engagierte Freiburger Stadträtin (geboren in Surinam/Südamerika), die sich vor allem für die Bildung der Landfrauen und für die Bereuung deren Kinder einsetzte. Sie starb in Freiburg im Jahr 1992 im Alter von 93 Jahren. Stadtportrait des Freiburger Stadtteil Rieselfeld Seite 29 Bei der Einweihung der Stadtbahnlinie Rieselfeld, mit der zentralen Haltestelle „Maria von Rudloff Platz“ fand auch ein Familientreffen der Familie von Rudloff statt, die aus ganz Europa angereist waren. Die Straßen- und Haltestellennamen im Quartier lassen “political correctnes” vermuten, und das orthogonale Grundmuster des Stadtteils wirkt wie ein Gitter, an dem sich das Milieu festhält, welches das Leben im Stadtteil bestimmt. Carl von Ossietzky -Str., Käthe Kollwitz- Straße, Willy Brandt-Allee, Maxim Gorki-Str., Bettina von Arnim Straße., Johanna Kohlund-Straße. (Frauenbildung in Freiburg), Anna Müller-Straße. und Tonio PflaumStraße. (Letzterer war ein Freiburger Arzt, der in Nicaragua die Sandinisten unterstützte und von den “Contras” erschossen wurde. In unmittelbarer Nähe baute die Vorsitzende des noch immer existierenden Nicaraguakomitees mit einer Baugruppe ihr Eigenheim). 3.1 Die Grammatik der Stadt Wer die Stadt als Text erfassen möchte und sie lesen will, der muss ihre Grammatik kennen. Kein Text ist verständlich ohne Kenntnis seiner Grammatik. „Grammatik der Stadt“ kann man gewisse Sichtbarkeiten der Stadt nennen, deren Eigentümlichkeiten augenfälliger ist als die anderer, deren Sinn schwerer zu lesen ist. Ein Hauptsatz ist sicherlich, dass man von außen nach innen lesen kann und nicht nur vom Zentrum zur Peripherie. An der Peripherie sind die Ränder der Stadt, in Freiburg sind mit den Stadtteilen Weingarten (ein Hochhausstadtteil aus den 1970er Jahren) und mit dem Rieselfeld noch klare abzeichnende Ränder zu sehen. Mindestens zehn Dörfer sind in Freiburg noch in ihrer Grundstruktur erkennbar. Die Stadt wächst von außen nach innen und umgekehrt. Es gibt Stellen der Leere und Stellen der Verdichtung an Orten und Plätzen, an denen sie in der Regel nicht erwartet. Ein Ort der Verdichtung ist das Rieselfeld. 4. Die Durchführung Die Stadt Freiburg hat seit über 100 Jahren viele Erfahrungen bei der Gründung und Aufbau von neuen Stadtteilen sammeln können Zwei Stadtportrait des Freiburger Stadtteil Rieselfeld Seite 30 verschiedene Planungsansätze sind in den letzten 100 Jahren angewandt worden. Auf der einen Seite wird ein Stadtquartier angelegt und nur durch wenig planerische Festlegung (im Wesentlichen: Baufluchten und Straßennetze definiert. Das Auffüllen des Quartiers erfolgt durch private Aktivitäten, von vielen unterschiedlichen Bauherrn und Gruppen, wie zum Beispiel im Stadtteil Stühlinger“. Die intensive Diskussion um den Bau des neuen Stadtteils Rieselfeld brachte klare politische Vorgaben, um von den Fehlern und Erfahrungen vergangener „neuer“ Stadtteile zu lernen. Die wesentlichen Vorgaben waren: Soziales und kulturelles Leben sollte sich von Anfang an parallel zum baulichen Wachsen entwickeln. Durch die Organisation von Vielfalt sollte die soziale Balance angestrebt werden. Das Rieselfeld sollte städtebauliche, soziale und ökologische Akzente setzen. Die Planung sollte offen für zukünftige gesellschaftliche Entwicklungen sein und die Einbindung unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen ermöglichen. Die konsequente Mischung und Ausbalancierung zwischen unterschiedlichen Zielgruppen der Bevölkerung, unterschiedlichen Gebäude- und Wohnungsformen, zwischen Eigentums- und Mietwohnungsbau sollte die gewünschte Vielfalt ermöglichen. Dies sollte aus der Verknüpfung von unterschiedlichen Elementen wie die ausdifferenzierten Lebensstile, die städtischen gesellschaftlichen Organisationsmuster und den baulichen Strukturen entstehen. Die Auseinandersetzung über das theoretische Konzept dieser „neuen Urbanität“ und Möglichkeiten ihrer städtebaulichen Umsetzung hält bis heute an. Das Urbanitätskonzept integriert spezifische Erlebnisinhalte und Aktivitätsmuster von Stadtbewohnern mit bestimmten Raumstrukturen und Milieus. Wie spiegelt sich nun diese jüngsten Leitgedanken in der Praxis am Städtebauprojekt „Rieselfeld“ in Freiburg wieder ? Gedacht ist an eine ausgewogene Mischung aus frei finanziertem und öffentlich geförderten Wohnungsbau uns einer Gewerbefläche für ca. 1000 Arbeitsplätze. Stichwortgeber für die neue „Vorstadt“ waren die Prinzipien der gründerzeitlichen Stadterweiterungen. Stadtportrait des Freiburger Stadtteil Rieselfeld Seite 31 Das andere Modell ist die Siedlung aus einem Guss. Von einem Gestalter und in der Regel von einem Träger wird ein durchgeplantes und bis zur Architektur festgelegtes Gesamtbauwerk errichtet. Beispiele sind die an der englischen Tradition angelegten Gartenstädte. In den 60er und 70er Jahren kam die streng reglementierte Planungsidee der Großsiedlungen wie Freiburg- Weingarten und Freiburg-Landwasser hinzu, mit all den bekannten Folgen. Augenfälligstes Merkmal des neuen Stadtteils Rieselfeldes ist im Zentralbereich die Blockbebauung. Die kompakten Viertel des mehrgeschossigen Mietwohnungsbaus, vor allem im ersten und zweiten Bauabschnitt, auf kleinen Parzellen mit Läden im Erdgeschoss, mit Plätzen und Grünanlagen, (die im letzten Viertel des letzten Jahrhunderts die Städte prägten), sind weniger nostalgischer „Aufguss“, sondern man hat die Struktur des Quartiers gewählt, die heute als Sinnbild für Urbanität steht. Mit vier Geschossen plus Attikageschoss wird im Innenbereich eine hohe Bewohnerdichte erzielt. Zu den Rändern hin öffnet sich die Bebauung allmählich. Die hier vorgesehenen Punkt- Zeilen- oder Reihenhäuser weisen mit drei bzw. vier Stockwerken aber immer noch ein relativ hohe Geschossflächenzahl auf. Die Rückkehr zur Blockrandbebauung und die Aufteilung in kleinteilige Grundstücksparzellen, um ein abwechslungs-reiches architektonisches Stadtbild entstehen zu lassen, sind sicherlich die wichtigsten wiedergewonnen Qualitäten dieses Städtebaus. Es wurde aber nicht nur die Ausweisung von 78 ha Baufläche beschlossen, sondern als Ausgleich auch wie erwähnt die verbleibenden 250 ha im westlichen Teil unter Landschaftsschutz gestellt, um den unbestrittenen hohen ökologischen Wert der verbleibenden Rieselfeldfläche zu erhalten. Charakteristisch ist dabei die weite offene Feldflur, eingerahmt vom Mooswald mit zwei Seen. Typische Landschaftselemente wie Obstwiesen, Grün- und Ackerland, Dämme, Gräben und Teiche bilden die Lebensgrundlage zahlreicher Tier- und Pflanzenarten, darunter auch viele „Rote-Liste-Arten“3. Dies führte später zur Aufnahme des westlichen Rieselfeldes in das europäische Schutzgebietnetz. Seit 1996 ist das westliche Rieselfeld als Naturschutzgebiet ausgewiesen. Allerdings ist dies keine Naturlandschaft, sondern eine vom Menschen geschaffene Kulturlandschaft, sozusagen Natur aus zweiter Hand. 3 : Liste der vom Aussterben bedrohte Tiere und Pflanzen Stadtportrait des Freiburger Stadtteil Rieselfeld Seite 32 Im heutigen Naturschutzgebiet soll Naturschutz zwar Vorrang haben, der Erholungssuchende aber nicht ganz ausgeschlossen werden. Daher werden die Besucher mit einem Naturlehrpfad vorrangig gezielt durch das Gebiet geleitet. 4.1 Das städtebauliche Konzept Das städtebauliche Konzept wurde seit der Überarbeitung des Wettbewerbentwurfes 1993 deutlich weiterentwickelt, wobei die eigentliche Grundstruktur erhalten bleib. Außerdem konnten auch die Erfahrungen aus den vorangegangenen Bauabschnitten berücksichtigt werden. Das städtebauliche Konzept sieht eine Bebauung vor, die drei, maximal vier Geschosse plus Attikageschoss hat. Mit diesem Konzept sind die Bauflächen genauso wirtschaftlich zu nutzen wie mit klassischen Hochhäusern. Auf diese Weise sollen viele Bauherrn mit unterschiedlichen Architekten zum Zuge kommen. Ursprünglich war vorgesehen, dass kein Bauherr, bzw. Bauträger mehr als 40 Wohnungen bauen darf. Das ließ sich nicht durchhalten. Aber auch der größte Investor (mit etwa 500 Wohneinheiten) hat Stadtportrait des Freiburger Stadtteil Rieselfeld Seite 33 sich bereit erklärt, an verschiedenen Standorten, in kleinen Einheiten und mit verschiednen Architekten zu arbeiten. Diese Vielfalt soll helfen, Monostrukturen des 1970er-Jahre Städtebaus zu vermeiden und statt dessen einen entwicklungsfähigen Stadtteil mit intakter Sozialstruktur entstehen zu lassen. Frauen-, kinder- alten- und behindertengerechtes Bauen sind weitere angestrebte Qualitäten. Für den gesamten Stadtteil wurde zudem ein Regenwasserversickerungskonzept erstellt. Das Niederschlagswasser soll in die offenen Gräben der ehemaligen Versickerungszisternen fließen, oder die Leitung des Regenswassers kann auf die Tiefgaragenbegrünung mit seitlichem Ablauf und anschließender Versickerung vor Ort geleitet werden. Ein besonders hoher Stellenwert wird der Niedrigenergiebauweise beigemessen. In einem 1994 beginnenden „learning by doing“ Prozess konnte erreicht werden, dass die ursprüngliche Zielzahl von 65 kWh/qm/ noch unterschritten wird und die ursprüngliche sehr skeptischen Investoren die Niedrigenergiebauweise mittlerweile als Chance zur Vermarktung begreifen. Die Bebauung erfolgt in vier Bauabschnitten. Für die ersten beiden Bauabschnitten ist eine überwiegende drei bis fünf geschossige, nicht geschlossene Blockrandbebauung vorgesehen. Ursprünglich war für das ganze Gebiet eine relative hohe Dichte angestrebt: GFZ (Geschossflächenzahl) 0,6 bis 2,6 im Mittel 1,2. Für den dritten und vierten Bauabschnitt sind niedrige Dichten vorgesehen. Stadtportrait des Freiburger Stadtteil Rieselfeld Seite 34 4.2 Soziales Leben im Rieselfeld Nicht weniger wichtig als die baulichen Maßnahmen ist für einen Stadtteil das soziale Leben. Wenn es um das Zusammenleben in den Städten geht, scheint es heute Mode zu sein, das Verschwinden sozialer Beziehungen zu konstatieren. Im Rieselfeld will man mit einem gestaffelten Förderungsprogramm und einer Vielzahl von Haustypen vermeiden, dass sich der Prozess der Segregation und/oder der Gentrifikation durchsetzt. Vom Wohnungs- und Hauseigentümer bis zum Sozialhilfeempfänger, teilweise innerhalb eines Hauses, soll sich die Struktur des Gesamtstadt auch niederschlagen und wider spiegeln. Der Stadtteil wird in Kleinstparzellen untergliedert, die jeweils einzeln an möglichst viele Investoren und Bauherrn verkauft werden. Hiervon erhofft sich die Projektleitung, die aus verschiedenen Fachämtern (wie das Stadtplanungsamt, das Bauverwaltungsamt, das Gartenamt u.a.) zusammengesetzte ist, eine größtmögliche Vielfalt der architektonischen Gestaltung sowie eine breite soziale Differenzierung der Bewohnerschaft. Nach den Vorstellungen der Stadt ermöglicht die Parzellierung im Unterschied zu baulichen Großformen und Monostrukturen eine Identifikation der Eigentümer und Bewohner mit ‘ihren’ Häusern, was dazu führt, dass sich Nachbarschaftsstrukturen, Konkurrenzen und Wechsel in der Belegung und in den Funktionen und Nutzungen ergeben. Gemeindebedarfsflächen für öffentliche Einrichtungen wie Schulen, Kirchen, Kindertageseinrichtungen, Altenwohnanlage oder Feuerwehr machten ca. 80000 qm Fläche aus. Dazu kamen noch die Freiflächen für Sport, Freizeit und die Verkehrsflächen. Wichtigster Verkehrsträger soll die Stadtbahn sein. In der Energieversorgung setzte die Stadt auf ein Fernwärmenetz mit Kraft- Wärme-Kopplung und auf Vorschläge zur Solarenergienutzung. Von der Infrastruktur her soll der Stadtteil weitgehend autark sein. Versorgungseinrichtungen in ihrer ganzen Vielseitigkeit, soziale Einrichtungen wie (Grundschule, Gymnasium, Kinderhaus und Kindergärten), Sportstätten, Kirchen, Handel und Dienstleistungen sollen sein und sind teilweise schon Garant für einen funktionale Durchmischung. Das räumliche Grundgerüst mit Blockseitenverbauung und hoher Bebauungsdichte trägt unverkennbar, zumindest im Innenbereich des Stadtportrait des Freiburger Stadtteil Rieselfeld Seite 35 Stadtteils, kernstädtische Züge. Weitere Grundbedingungen für urbanes Leben, nämlich die durch spezifische Lebensstile und städtische Organisationsmuster gekennzeichneten Milieus, lässt der Entwurf nicht erkennen. Diese müssen sich nach Ansicht der Planer von „selbst“ herausbilden. Durch Verkehrsberuhigung und -minimierung sollen urbane öffentliche Räume entstehen, die Fußgängern als Kommunikations- und Aufenthaltsbereiche dienen können. Im Zentrum des neuen Stadtteils soll in Kombination mit den dann dort vorhandenen Läden, Cafes usw. ein attraktiver Ort urbanen Lebens für die Bewohner entstehen. Private Räume, etwa in Mietergärten in den Blockinnenbereichen, sind von den öffentlichen Räumen abgegrenzt. Mit all dem war über nur der Grundsatz seitens der Stadt beschlossen. Die nachfolgenden Fragen waren von gleicher Bedeutung: Nach welchen Stadtportrait des Freiburger Stadtteil Rieselfeld Seite 36 Prinzipien und welchem Menschenbild baut man heute eine kleine Stadt von 10000 -12000 Einwohnern und 4500 Wohnungen? Wie organisiert man den Planungs- und Bauprozess sowie die Partizipation der Bürgerschaft und wie finanziert man das? Die Finanzen waren bald geklärt: Verkauf der Grundstücke, die alle im Eigentum der Stadt stehen, und daraus die Finanzierung der gesamten Infrastruktur. Diese wurde “In-sich-Finanzierung” genannt. Bei der Planung wurde Wert darauf gelegt, dass die Infrastruktur nicht hinterher hinkt, sondern parallel erfolgt, so dass die Neubürger möglichst beim Einzug auch die notwendige Infrastruktur zur Verfügung haben. So waren Kindertagesstätten, Kinderhaus, Schulen, eine Sporthalle, ein Begegnungsstätte (K.I.O.S.K. e.V.) und der öffentliche Nahverkehr das Gebot der Stunde und kein Appendix. Im Übrigen sollte Vielfalt den Stadtteil auszeichnen. Kleine Parzellen waren erwünscht mit kinder- und familienfreundlichem Zuschnitt, die eine menschliche Dimension erlauben. 4.3 Das Rieselfeld aus drei Perspektiven Aus dem ersten Blickwinkel existiert im Rieselfeld eine fast intakte Infrastruktur, wenn man von dem Dauerbrenner „Supermarkt“ absieht. Heute gibt es drei Restaurants, ein Cafe, eine Pizza-Bude, zwei Imbissläden, verschiedene kleine internationale Läden, ein afghanisches Lebensmittelgeschäft „Melwan“ und das eines Singhalesen, zwei Kioske (nicht zu verwechseln mit dem Stadtteil-Laden K.I.O.S.K. e.V.). Zweimal die Woche gibt es einen Wochenmarkt. Dazu kommen verschiedene Arzt- und Rechtsanwaltspraxen, unterschiedliche Schultypen und ein sehr großes und ausdifferenziertes Angebot für Kindertageseinrichtungen, Räume für ein dezentrales Jugendangebot, ein durch privates Engagement angebotenes Kinoangebot und verschiedene kulturelle Initiativen. Die kleinen Imbissangebote und Läden werden von eingewanderten Minderheiten betrieben. Die soziale Struktur sollte durchmischt sein und dadurch die soziale Stabilität gewährleistet sein. Eine Vielfalt von Bauherren sollte es geben: Und tatsächlich gibt es private Häuslebauer, Bauträger, Baugruppen, Stadtportrait des Freiburger Stadtteil Rieselfeld Seite 37 Eigentümergemeinschaften, Kapitalgesellschaften und Mieter. Siehe Beobachtung Supermarkt Auch aus lebensweltlicher Sicht ist der Stadtteil durch seine Vielfalt gekennzeichnet. Diese Vielfalt bezieht sich auf Lebensstile, ethnische und religiöse Orientierungen, Lebensformen und Milieus. Diese lebensweltliche Vielfalt stellt eine Dimension des Zusammenlebens im Gesamtquartier dar, wobei die unsichtbaren Grenzen, die schleichende symbolische Abgrenzung ein Faktum ist, was zum Beispiel durch die Auswahl von Spielkameraden zwischen verschiedenen Schichten und Milieus sichtbar wird. Wenn man den Stadtteil aus verständigungsorientierter Perspektive in den Blick nimmt, werden verschiedene Netze (angefangen von einfachen Alltagssituationen, in denen Verständigung stattfindet, Gruppierungen und Initiativen bis hin zu übergeordneten Netzwerken) sichtbar, die die zivilgeschichtliche Infrastruktur im Quartier ausmachen. Es gibt Diskussionen und Auseinandersetzungen an Straßenecken, auf den Spielplätzen, in und vor Geschäften. Darüber hinaus existieren verschiedene Vereine und Initiativen, wie auch Selbsthilfeorganisationen, die von den Einheimischen viel, nicht aber von eingewanderten Minderheiten genützt werden. Eine Bewohnerin sagt: „Ich fühl mich wohl im Rieselfeld, weil ich das Gefühl hab, ich hab schon meine Strukturen hier. Das ist mein Laden, mein Wochenmarkt und der K.I.O.S.K“.4 Die Qualität des Lebens im Stadtteil wird von vielen anhand solcher Eckpunkte beschrieben. Man hat Bekannte und Bekanntes im Stadtteil, Orte werden regelmäßig aufgesucht, in denen man Gesichter kennt und vielleicht sogar einige Worte wechselt, es gibt den Lieblingsstand auf dem Wochenmarkt. Dieser Teil des Alltags läuft parallel zu seinem anonymen Aspekt, dass nämlich die Mehrheit der Menschen eines städtischen Quartiers, die einem auf der Straße begegnen fremd, sind und es zumeist auch bleiben. Es zeigt sich, dass selbst die konkrete Nachbarschaft im eigenen Haus zu diesen Fremden gehören kann. Bei allen Variationen der Nachbarschaften und Freundschaften im Stadtteil ist gemeinsam, dass immer nur zum Teil die sozialen Beziehungen im Stadtteil verortet sind. Stadtportrait des Freiburger Stadtteil Rieselfeld Seite 38 4.4 Stand der Besiedelung und der Infrastruktur des Stadtteils Rieselfeld am 01.01. 2004 Bis zum Sommer 2004 wurden im Neubaugebiet 190 Wohngebäude mit zusammen 2200 Wohnungen fertiggestellt.5 Acht Jahre nach Einzug der ersten Familie leben hier laut statistischer Auswertung des Einwohnermelderegisters 5900 Menschen. Das Rieselfeld hat für Freiburger Bürger eine große Anziehungskraft. Fast drei Viertel der Neubürger auf dem Rieselfeld haben vorher in Freiburg gewohnt. Lediglich ein Viertel zieht von außerhalb zu. So hat sich der Wunsch nach dem Rückzug aus dem so genannten Speckgürtel ( das ist der Gürtel, von durch Umzug von besser verdienenden Familien in die „gesunden und naturnahen“, zu Wohlstand gekommenen Gemeinden, die die Kernstadt umgeben), noch nicht in erkennbarem Maße erfüllt, um den Suburbanisierungstendenzen entgegen zu wirken. 4.4.1 Herkunft der Neubürger im Rieselfeld Abgesehen von den bereits über 320 im Rieselfeld geborenen Kindern ist die überwiegende Zahl der Neubürger aus dem Stadtgebiet zugezogen, aus dem näheren und weiteren Umland: Aus dem Landkreis Breisgau- Hochschwarzwald und Emmendingen kamen 13,9 %. Der Zuzug aus dem übrigen Bundesgebiet (10,4 %) oder aus dem Ausland (1,0 %) hat für das Rieselfeld weniger Gewicht als in der Gesamtstadt mit ihren vielen Ausbildungsplätzen (22,1 % und 8,9 %). Da das Rieselfeld zu einem Großteil seine Einwohner aus dem übrigen Stadtgebiet abzieht, ist es auch von Interesse, woher die Rieselfelder Neubürger aus der Stadt kommen. Dabei ist bemerkenswert, dass das Rieselfeld nicht von dem benachbarten und stigmatisierten Stadtteil Weingarten die meisten Menschen abzieht, sondern von den Stadtteilen Alt- Betzenhausen (13,6 %), es folgen Hochdorf (44 von 343 = 12,8 %) und Haslach-Haid (12,0 %). Weingarten, das 2001 mit 906 Personen an dritter Stelle bei den innerstädtischen Abwanderungen stand, entließ 67 Personen in Richtung Rieselfeld, was einen Anteil von 7,4 % entspricht. Stadtportrait des Freiburger Stadtteil Rieselfeld Seite 39 4.4.2 Strukturdaten der Rieselfelder Bevölkerung Deutliche Unterschiede zur Gesamtbevölkerung zeigen sich beim Familienstand der Rieselfelder. Verwitwete (1,3 %) und Geschiedene (4,6 %) sind gegenüber der Gesamtstadt deutlich unterrepräsentiert (6,7 % und 5,8 %) Etwas über dem Stadtdurchschnitt liegt der Anteil der Nicht-Deutschen (14,9 zu 12, 4% in der Stadt). Die Altersgliederung zeigt die typische Verteilung, wie sie in Neubaugebieten bekannt ist, die sich allerdings von der Freiburger Altersverteilung wesentlich unterscheidet. Über 33 % der Bewohner sind noch keine 18 Jahre alt (gesamtstädtisch liegt dieser Wert bei 16,4 %). Auffällig stark ist die Elterngeneration vertreten. Die 25- bis 40-jährigen stellen 39,1 % der Einwohner dar (Gesamtstadt 28,8 %). Das Durchschnittsalter der Rieselfelder liegt bei dieser Dominanz junger Familien um 13 % niedriger als der gesamtstädtische Schnitt (39,1 Jahre). Stadtportrait des Freiburger Stadtteil Rieselfeld Seite 40 4.4.3 Haushaltsgröße- und zusammensetzung Zum Jahresanfang 2004 lassen sich aus dem Einwohnerregister 2192 Privathaushalte rekonstruieren. Nur 17 % der Haushalte ist ein Einpersonenhaushalt (Gesamtstadt 54 %). Alle Mehrpersonenhaushalte sind im Rieselfeld überrepräsentiert. Gut zwei Drittel aller Erwachsener auf dem Rieselfeld leben in einem Haushalt mit Kindern (67 %), in der Gesamtstadt nur jeder vierte. Die großen Haushalte, mit vier und mehr Personen kommen hier zweieinhalb mal häufiger vor als in der Gesamtstadt. 8,2 % fallen in die Kategorie, „kinderreiche Haushalte“ (mit drei und mehr Kindern - gesamtstädtisch sind es 2,5 %). Aufgrund eigener Erfahrungen des Autors (persönliche Gespräche mit Kirchen, Schulen, selbst durchgeführte Befragungen) wird die Zahl der Aussiedler etwa mit 15 % geschätzt. Die Migrantenquote ist auf dem Rieselfeld in den letzten Jahren von anfänglich 15 % kontinuierlich gesunken und liegt zur Zeit ungefähr im Durchschnitt der Gesamtstadt (12 – 13 %). Allerdings verteilen sich Aussiedler und Migranten recht unterschiedlich in den vier Bauabschnitten. (Das Rieselfeld wird in vier Teilbebebauungsplänen errichtet. Der erste Bebauungsplan von 1994 2006, der zweite von 1996 2008, der dritte von 1998.2010 und der vierte von 2001-2006): Sie sind fast ausschließlich im ersten und zweiten Bauabschnitt zu finden. Einen Aufschluss über die soziale Situation der Bewohner gibt unter anderem die Finanzierung und die Preisklasse der jeweiligen Wohnungen. Im ersten und zweiten Bauabschnitt wurde ein Drittel der Wohnungen im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus finanziert, d.h. dass dort ein Drittel der Haushalte über ein Einkommen verfügen, das zum Bezug von Sozialwohnungen berechtigt. Ein weiteres Drittel wurde nach Sonderförderprogrammen im Rahmen des sozialen Wohnungsbaues finanziert, bei dem das Einkommen der Mieter 60 % über dem üblichen für die Sozialwohnungen definierten Einkommen liegen darf. Die Mieten in den frei finanzierten Wohnungen liegen kaum höher, als bei den im Rahmen des Sonderprogramms geförderten Wohnungen. Die Eigenheime im ersten und zweiten Bauabschnitt liegen zwischen 190000 und 230000Tausend-Euro. Stadtportrait des Freiburger Stadtteil Rieselfeld Seite 41 Die hier sichtbar werdende Struktur im ersten und zweiten Bauabschnitt entspricht den ursprünglichen Zielen, der Schaffung von preiswerten Wohnraum für sozial Schwächeren, zugleich sollte die soziale Durchmischung erreicht werden. Nachdem die Mittel für den sozialen Wohnungsbau radikal sowohl vom Bund, als auch vom Land Baden-Württemberg gekürzt wurden und sich keine Investoren für den Bau von Mietswohnungen fanden, wurde für den dritten und vierten Bauabschnitt selbstgenutztes Wohneigentum geplant. Angesichts der für Freiburg günstigen Grundstückspreise und des Kinderreichtums besteht eine starke Nachfrage nach Wohneigentum für junge und Familien, die etwas später in die Familienphase eingetreten sind, die sich die Umsetzung meist in der Form der Baugruppengemeinschaft verwirklichen. Im dritten Bauabschnitt leben fast keine Alleinstehenden, 90 % der Bewohner leben in einer Paarbeziehung. Deutlich dominiert die Familie mit zwei Kindern. Diese Strukturdaten weichen in vieler Hinsicht von allgemeinen Tendenzen in Freiburg und in anderen Städten ab. Dies ist dann von Bedeutung, wenn ein Interpretationsversuch über Milieus, Lebensstile und räumlicher Identität versucht wird, was bei der Beantwortung wer eignet sich wie den Stadtteil an von Bedeutung ist. 5. Überblick über die soziale Infrastruktur 5.1 Kindereinrichtungen Ziel im Bereich der Kindereinrichtungen ist eine 100 %ige Versorgung von Kindern im Kindergartenalter sowie eine bedarfsgerechte Versorgung in der Altersgruppe der 1- bis 3-jährigen und der 6- bis 10 jährigen Kinder. Auf dieser Grundlage wurden fünf Einrichtungen konzipiert und entsprechende Grundstücke in den Bauabschnitten 1, 3 und 4 ausgewiesen. Zwei Monate nach Einzug der ersten Bewohner eröffneten in vorab fertiggestellten Bereichen der Clara-Grunwald-Grundschule die ersten Kindergartengruppen. Ab September 1998 wurde das Kinderhaus Taka-Tuka-Land mit sechs Gruppen eröffnet, in denen Krabbelkinder (1 bis 3 Jahren), Kindergartenkinder (3 bis 6 Jahren) und Hortkinder (6 bis 10 Jahren) untergebracht sind. Im September 1998 konnte die KITA Adelheid-Steinmann Straße mit vier Stadtportrait des Freiburger Stadtteil Rieselfeld Seite 42 Gruppen eröffnet werden. Während der 3. Kindergarten in Planung war, stieg die Zahl der Kindergartenkinder unvorhergesehenermaßen stark an – eine schnelle Lösung wurde notwendig. Die Stadt reagierte auch auf Druck der Bevölkerung, besonders der „AK Kinder- und Jugend“ des BürgerInnenvereins war hier sehr aktiv und brachte vorübergehend nochmals zwei Gruppen in der Clara- Grundwaldschule unter und veränderte die Konzeption der Kindergartenplanung für den Stadtteil. Die neue Konzeption war notwendig geworden durch den fast 100-prozentigen Rückgang des Mietwohnungsbaus und die starke Zunahme an Wohneigentum im Familienhaus- und Geschosswohnungsbau. Die neue Konzeption musste dabei so flexibel sein, dass nicht später durch die natürliche Altersentwicklung der Einwohner Kindergärten leer stehen würden. So wurde der KITA Adelheid-Steinmann-Straße ein zwei-gruppiger Systembaukindergarten beiseite gestellt, der später eventuell auch für die offene Jugendarbeit an den Rand des Stadtteils gesetzt werden kann. Die dritte Kindereinrichtung ist als Sportkindergarten konzipiert, der von der Freiburger Turnerschaft betrieben wird. Die soziale Struktur sollte durchmischt sein und dadurch die soziale Stabilität gewährleistet sein. Eine Vielfalt von Bauherren sollte es geben: Private Häuslebauer, Bauträger, Baugruppen, Eigentümer-gemeinschaften, Kapitalgesellschaften und Mieter. 5.2 Der Verein K.I.O.S.K. e.V. Eine Anlauf-, Moderations- und Katalysatorenstelle ist das Projekt K.I.O.S.K. wobei K für Kontakt, I für Information, O für Organisation, S für Selbsthilfe und K für Kultur steht. Seit April 1996, also bereits vor dem Einzug der ersten Rieselfelder, lief das von der Stadt finanzierte Projekt „Quartiersaufbau Rieselfeld“. Dieses konzipierte die Kontaktstelle für praxisorientierte Forschung an der Evangelischen Fachhochschule Freiburg nach dem Vorbild der skandinavischen Milieuarbeit6 und führte es im Auftrag der Stadt Freiburg durch (bis zum 30. 09. 2003, danach übernahm ein Trägerverein, der aus Bewohner des Stadtteils besteht, die Anstellungsträgerschaft). Die Idee entstand, als die Stadt Freiburg Anfang der 1990er Jahre als eine der ersten Stadtportrait des Freiburger Stadtteil Rieselfeld Seite 43 deutschen Städte wieder einen urbanen Stadtteil für 10 – 12000 Menschen plante. Die Leitfrage dabei war: Können die problematischen Entwicklungen der Neubaustadtteile der 60er und 70er Jahre letzten Jahrhunderts verhindert oder positiv gewendet werden? Zunächst galt es, das Ziel eines „normalen“ Stadtteils hinreichend präzise zu definieren, so dass einerseits konkrete Ziele für das Alltagshandeln der sozialen Fachkräfte hergeleitet werden konnten, zum anderen, dass das Erreichen der Ziele empirisch überprüfbar wurde. In Anlehnung an Hans Thierschs7 Begriff des „gelingenden Alltags“ wurde als Zielgröße die Entwicklung einer tragfähigen Alltagskultur im Stadtteil benannt. Alltagskultur wurde hier verstanden als ein System von lokalen Regeln und Traditionen, von Bewusstseinslagen, von selbstverständlichen Deutungs- und Handlungsmustern, die erkennbar, bekannt und vermittelbar sind. Allerdings ist den Akteuren auch die starke normative Ebene dieser Leitkonstruktionen bewusst gewesen. Konkret wurden beim Aufbau des neuen Stadtteils folgende Ziele verfolgt: Anregung der Bewohnerschaft, sich an Prozessen der Entstehung und Entwicklung sozialer und kultureller Infrastruktur zu beteiligen, die Alltagskultur im neuen Stadtteil aufzubauen und zu entwickeln, Anregungen und Impulse für neue Initiativen aus der Bewohnerschaft aufzunehmen und deren Umsetzung zu begleiten, dabei Eigeninitiativen zu fördern, selbstragende Netze im Stadtteil aufzubauen, und mitwirken, einen lebendiges Gemeinwesen mit guter Nachbarschaft zu schaffen. Der Grad der Verwirklichung der genannten Ziele war nicht von vornherein festlegbar und durfte auf keinen Fall im Sinne eines „je mehr desto besser“ verstanden werden, er konnte nicht von außen gesetzt werden, sondern er konnte nur in einem Prozess mit den Bewohnern entwickelt werden. Mit diesem Projekt wurde parallel zur städtischen Entwicklung ein Stadtteilleben während seines Wachstums initiiert und organisiert. Der K.I.O.S.K–Laden, der sich zunächst im ersten Bauabschnitt befand und seit 1999 im zweiten Bauabschnitt untergebracht ist, dient seit Beginn als zentrale Anlaufstelle, als Nachbarschaftstreff, Informationsbüro, Laden, Versammlungs- und Diskussionsraum mit Tagescafé. Stadtportrait des Freiburger Stadtteil Rieselfeld Seite 44 Seit dem 11.10.2003 wird diese Arbeit in dem neuen Stadtteiltreff am Maria von Rudloff-Platz fortgeführt. Dort sind neben der Stadtteilarbeit unter gleicher Trägerschaft die Kinder- und Jugendarbeit untergebracht, genauso wie die Kinder- und Jugendmediothek, eine Abteilung der Stadtbibliothek. Gemeinsam sind sie das neue Zentrum des Stadtteils, das von den Bewohner schon kurz nach der Eröffnung im November 2003 „Glashaus“ getauft wurde. Der Name spielt auf die großen Glasfassaden des Hauses an. K.I.O.S.K. ist es ist gelungen, durch vielfältige Angebote die Bewohner des Stadtteils zum Engagement für ihren Stadtteil zu motivieren. Angebote sind ein Mittagstisch von Bewohnern für Bewohner, Arbeitskreise, Diskussionsveranstaltungen, Kulturveranstaltungen, die Herausgabe einer Stadtteilzeitung und eines Veranstaltungskalenders, die Durchführung von Festen und Feiern und der Aufbau eines Trägervereins. Die Bürger übernehmen Verantwortung im Stadtteil, sei es bei einer Veranstaltung, bei einer Arbeitsgruppe oder Spielaktionen. Die monatliche „Stadtteilrunde“ des BürgerInnenvereins und K.I.O.S.K. ist ein wichtiges Informations- und Diskussionsforum. Von Gästen aus anderen Stadtteilen und auch aus der Politik wird die hohe Diskussions- und Streitkultur im Rieselfeld positiv hervorgehoben. Der Kinder- und Jugendladen SIT IN war (bis Ende 2003) auch eine Einrichtung des K.I.O.S.K.. Dort fanden unterschiedliche Angebote statt, und Stadtportrait des Freiburger Stadtteil Rieselfeld Seite 45 er fungiert als zentrale Anlaufstelle für dezentrale Gruppen- und Cliquenräume, die die Jugendarbeit aufbaut. 5.3 Schulen Die Clara–Grunwaldschule, mit Montessoripädagogik nahm im Februar 1997 ihren Betrieb auf. Die ursprünglich 4-zugige Grundschule mit 16 Klassen wurde im Schuljahr 2002/03 durch ein bereits in der Planung berücksichtigte Aufstockung auf 22 Klassen erweitert. Die Schülerzahlprognose sieht weitere 2 Klassen zum Schuljahr 2004/05 und nochmals 4 – 6 Klassen zur mehrjährigen Spitzenbedarfsdeckung zum Schuljahr 2007/08 vor. Im November 2003 entschied der Freiburger Gemeinderat positiv über eine neue Gymnastikhalle, die an der Grundschule angebaut wird. Aus Platzmangel wird diese Halle bis zur Hälfte in den Boden versenkt mit einer begehbaren Grassfläche überdeckt. Das 3-zugige (ab 2005), 4-zugige Keplergymnasium entstand durch die Verlegung des Gymnasiums aus Freiburg–Herdern in das Rieselfeld. Damit reagierten Stadt und Gemeinderat auf die Tatsache, dass mehr als 75 % der Freiburger im Westen wohnen, aber im Osten das größte Schulangebot (aber auch alle anderen kulturellen- und Bildungsangebote) vorhanden ist. Das neue Gymnasium ging baulich aus einem internationalen Wettbewerb hervor und wurde im September 1997, zeitgleich mit der Stadtbahnlinie 6, eröffnet. Die zum Kepler Gymnasium gehörende Sporthalle mit 2000 Sitzplätzen nimmt den Schulsport beider Schulen, Sportgruppen aus dem Stadtteil sowie die Basket-ballbundesligamannschaften und die Tischtennismannschaften von großen Freiburger Sportvereinen auf. Am Anfang waren die Widerstände gegen die Verlagerung in den „wilden Westen“ enorm. Es zeigte sich die Furcht, in den statusniederen Westen zu ziehen, an vielen Abmeldungen von Schülern. Heute ist das Kepler Gymnasium allerdings sehr beliebt und hat seinen Einzugsbereich vor allem aus den westlichen Stadtteilen. In der Aula der Schule finden auch außerschulische Veranstaltungen statt, da dies bis zur Fertigstellung des Stadtteiltreffs und der Kirchenräume der einzige große Saal im Rieselfeld war. Im Foyer hält die katholische Kirche ihre Gottesdienste ab, und im Keller sind Räume für die Jugendarbeit angesiedelt. Stadtportrait des Freiburger Stadtteil Rieselfeld Seite 46 Ab Winter 2003/04 zeiht eine der Freiburger Freien Waldorfschulen in den Stadtteil und wird dadurch das Schulangebot ergänzen und auch das Image des Stadtteils heben. 5.4 Stadtteiltreff mit Kinder- und Jugendmediothek Die Entwicklung dieser Einrichtung, mit deren Aufbau im Jahr 2002 auf dem zentralen Maria von Rudloff-Platz begonnen wurde, hat eine wechselvolle Geschichte. Diskutiert wurde auch mit Bewohner Nutzungen wie Stadtteilzentrum, Jugendzentrum, Stadtteilbibliothek. Letztlich kam ein 3- teiliges Konzept mit Stadtteiltreff (EG und OG), Kinder- und Jugendmediothek als Außenstelle der Stadtbibliothek sowie die Jugendarbeit im UG zustande. Seit Dezember 2003 hat der Stadtteiltreff den Namen „Glashaus“, den aktive Bewohner ganz schnell in die Öffentlichkeit lanciert hatten und die städtischen Behörden nur noch zustimmen konnten. Die Trägerschaft hat der K.I.O.S.K.– Verein übernommen. Stadtportrait des Freiburger Stadtteil Rieselfeld Seite 47 5.5 Die Kirchen Beide großen christlichen Kirchen waren von Anfang an auf dem Rieselfeld präsent und spielen im sozialen und kulturellen Leben eine große Rolle. Der gemeinsame Kirchenladen bietet den Service eines Buchladens an und ist auch Treffpunkt zu zwanglosen Kontakten. Dazu kommen die Gemeindesekretariate, mit denen die katholische St. Maria-Magdalena - Gemeinde und die evangelische Maria- Magdalenagemeinde wichtige Anlaufstellen geschaffen haben. Neue Akzente hat der im Mai 2002 begonnen und im Sommer 2004 fertiggestellte Bau des ökumenischen Kirchenzentrums gesetzt. Unter dem Motto „Zwei Kirchen unter einem Dach“ wird ein aus einem Wettbewerb hervorgegangenes bauliches Konzept mit zwei getrennten Kirchenräumen umgesetzt, welches durch Verschieben der Wände einen großen gemeinsamen Raum möglich macht. Der moderne, sehr provozierende Bau wird mit dem Stadtteiltreff und dem Wochenmarkt die Mitte des Stadtteils bilden. Allerdings endet mit der Fertigstellung der zentralen Gebäude auch eine Rieselfeld-typische Ladenkultur. K.I.O.S.K.-Laden, Jugendladen, Medienladen, Kirchenladen, zeitweise gab es einen Quartierskünstlerladen ermöglichten ein dezentrales, vernetztes Angebot, das die vielfältigen Angebote und Aktivitäten der Rieselfelder unterstützte. Stadtportrait des Freiburger Stadtteil Rieselfeld Seite 48 6. Zusammenfassung Es wird viel investiert, die zur Zeit ca. knapp 6000 “Rieselfelder” sind etabliert und der Stadtteil wächst. Die Lebensformen haben sich vervielfältigt, die Menschen leben alleine, als Paar oder in Wohngemeinschaften, als Kleinfamilie oder als Einelternfamilie, und die jeweilige Form ist oft nicht dauerhaft, sondern vielfach Veränderungen unterworfen. Deutlich wird, dass es für Familien mit Kindern auch andere Wohnstandortspräferenzen gibt als das suburbane Eigenheim. Man könnte dies auch als Flucht vor der drohenden Langeweile an der Peripherie der Stadt nennen, die doch viele junge Familien befällt wenn sie den Schritt zum Wohneigentum wagen. Ein kulturell und sozial anregendes Umfeld in unmittelbarer Nachbarschaft und das kulturelle und soziale Angebot der Stadt in leicht erreichbarer Nähe gehören also offensichtlich zu den Präferenzen dieser Bewohnermilieus. Neben der Eigentumsbildung ist die Möglichkeit, dem Stadtteil durch Planung der eigenen Wohnung und des Gebäudes eine eigene Handschrift zu geben und darüber hinaus auch an der Gestaltung des Stadtteils mitzuwirken, für viele ein weiterer Reiz. Im Rieselfeld etabliert sich eine wachsende Gruppe junger Familien und Familienformen, die sich aus Gründen des Lebensstils und seiner Ökonomie für ein Leben in der Stadt entschieden haben. Sie leben dort in selbstgewählten Nachbarschaften, die über die Auswahl von Milieus (welches den eigenen Vorstellungen soweit entspricht, dass dort investiert und gebaut wird) zustande kommt. Diese freiwillige Segregation macht in mehrfacher Hinsicht sogar Sinn. Sie ermöglicht die bewusste Organisation sozialer Netze, sowohl um bestimmte Haushaltsfunktionen gemeinschaftlich zu erledigen, als auch um Isolation und Anonymität zu verhindern. Praktische Überlegungen z.B. (Entlastung der berufstätigen Frau durch Kooperation im Wohnbereich) und das Interesse an engerer Kommunikation greifen ineinander. Ein derartig geteilter Alltag, seien es die ständigen Kontakte über die Kinder oder die Probleme und Ängste über den Ruf des Stadtteils, verlangen eine gewisse Übereinstimmung in politischen Orientierungen, Lebensauffassungen und Verhaltensweisen. Erstreckt sich diese freiwillige Segregation über das ganze Viertel oder Quartier, nimmt der Anpassungsdruck zu, und sogar das Gefühl der Enge kann sich einstellen. Stadtportrait des Freiburger Stadtteil Rieselfeld Seite 49 Ein generelles Kennzeichen moderner Gesellschaften ist die Mobilität. Sie ist ein konstitutiver Bestandteil des städtischen Lebens. Sie hat in den letzten Jahren einen besonderen Bedeutungszuwachs erhalten. Einerseits kann man gegenwärtig die Zunahme globaler Migrationsbewegungen beobachten, andererseits gewann Mobilität auch lokal, sozusagen binnengesellschaftlich an Bedeutung. Im Zuge der fortschreitenden Individualisierung und Auflösung tradierter Lebensformen sind die Lebenslagen der Einzelnen immer weniger dauerhaft. Gerade ein neuer Stadtteil lebt stark von Menschen, die zeitlich begrenzt, sich immer nur auf eine neue Phase des Lebens beziehen. Alle diese Personen sind Teile der mobilen Vielfalt, die ein Quartier charakterisieren. Diese Ortsmobilität sowie die zunehmende Ausdifferenzierung und Pluralisierung von Lebensstilen- und Formen führt zu einer dauerhaften Bewegung im Stadtteil. Im Kontext dieser Bewegung formieren sich im Alltag beständig neue Zusammenhänge und Situationen, ebenso wie neue Orte entstehen oder existierende Orte transformiert werden. Ein neuer Stadtteil hat für die ersten Jahre etwas Unbestimmtes. Es gab und gibt noch zum Teil eine Pioniersituation, das heißt, man redet und hilft sich auch bei Fragen und Problemen des Umzugs und der Neuorientierung, was in ausdifferenzierten Stadtteilen schon nebeneinander oder sogar gegeneinander geschieht. Hier liegt noch viel Potential für die Einzelnen und für das Zusammenleben, teilweise unvermittelt und immer wieder neu gemischt nebeneinander. Die bisherige Entwicklung des Rieselfeldes kann im Ganzen durchaus als Erfolg gewertet werden. Die Flexibilität der Vermarktung, die vielfältige Gebäudetypologie sowie das umfassende Dienstleistungsangebot sind Grundlage dafür. Allerdings wäre der Stadtteil mit seinem für einen Neubaustadtteil ausgeprägten Stadtteilleben, nicht das was er ist, ohne die vielfältigen Aktivitäten und Initiativen der BewohnerInnen im BürgerInnenverein, in den Kirchengemeinden, der Quartiersarbeit K.I.O.S.K., zahlreichen Institutionen und Gruppen sowie Einzelpersonen. Diese Menschen sind dabei, sich ihren Stadtteil anzueigenen. Wichtiger Faktor bei der Aneignung ist das Image eines Stadtteils. Die symbolische Bedeutung eines Wohnquartiers ergibt sich hauptsächlich aus dem Image, das sich unter anderem durch die Darstellung des Quartiers in den Medien, seine geschichtlichen Hintergründe oder durch seine bauliche und soziale Struktur konstituiert. Ein Beispiel: (Viele ältere Freiburger fragen Stadtportrait des Freiburger Stadtteil Rieselfeld Seite 50 auf Grund des Namens nach, ob es im Rieselfeld denn nicht streng rieche!). Das negative Image eines Stadtteils führt zur Stigmatisierung seiner Bewohnerschaft, was oft nicht nur die Chancen auf dem Arbeitsmarkt verschlechtert, sondern auch das Lebensgefühl und das Selbstwertgefühl verringern kann. Was geschieht aber mit den Milieus und Lebensstilgruppen, die nicht dazugehören, die auch gar nicht dazugehören können oder wollen im Stadtteil, wer verwehrt wem die Möglichkeit sich seinen Stadtteil an zu eignen? Dies sind Fragen, die in den nächsten Kapitel untersucht und so weit es geht beantwortet werden. Die Frage ist nun: Ist dies die Motivation, warum die Menschen im Rieselfeld handeln und sich so, teilweise außergewöhnlich stark, engagieren? Sie wollen und müssen so ihre Lebenswelt gestalten, um nicht abzurutschen in der Hierarchie der Wohnquartiere und so ihren Traum von einem Neuanfang, der ja immer eine Verbesserung beinhalten soll, nicht zerplatzen zu lassen? Stadtportrait des Freiburger Stadtteil Rieselfeld Seite 51 1 Siehe Wahlergebnisse der beiden Oberbürgermeisterwahlen von 1998 und 2002, Europawahl vom Juni 1999, den Gemeinderatswahlen 1999 und den Landtagswahlen von 2001 im Anhang 2 Cedric Price im Gespräch mit Philipp Oswalt; in: ARCH*, 109/110; Dez. 1991 S. 51ff. 3 Quelle: Interview mit Frau Renate Kiefer, Gemeinderätin und Mitglied im Kulturausschuss in der Rieselfelder Stadtteilzeitung Nr. 4., Juli 1997 4 (Interview mit der Bewohnerin Elvira. G. am 21.07.01) 5 Stadt Freiburg; Beiträge zur Statistik, Amt für Statistik und Einwohnerwesen der Stadt Freiburg; Freiburg, 2000 6 Ebbe, K. & Friese P.; Milieuarbeit, Stuttgart 1989 7 Thiersch Hans; Die Erfahrung der Wirklichkeit; Weinheim/München 1986 Kapitel 2 Handlungsansatz 1. Struktur des Handeln Handeln scheint in der Alltagssprache ein unproblematischer Begriff zu sein. Unter Handeln werden gemeinhin alle Tätigkeiten verstanden, die etwas bewegen oder verändern. Bereits der Ausdruck „Hand–eln“ verweist auf seine Geschichte: Etymologisch wird er hergeleitet von „mit den Händen fassen, berühren“1. Diese Bedeutung findet sich in Formulierungen das Alltags wieder, wenn es heißt: “Die reden nur, handeln aber nicht!“ Das alltagssprachliche Handeln unterscheidet also zwischen Sprechen und Handeln. „Es sind Menschen, die etwas tun oder lassen können. Und Menschen sind Menschen – und werden überhaupt erst zu Menschen – unter ihresgleichen. Mit anderen Worten: Der Mensch, der handelt, ist in Gesellschaft.“2 Ein neuer Stadtteil entsteht durch den Bau von Häusern, Straßen, Infrastruktureinrichtungen und durch den Bezug der Bewohner. Dies sind Vorarrangierungen, damit ein Stadtteil, ein Raum angeeignet werden kann. Die Bewohner knüpfen Beziehungen und entwickeln soziale Netze. Wie und warum wird der Neubürger im Stadtteil aber aktiv ? Indem man handelt, konstruiert man den noch amorphen Raum um mich herum. Wenn ich sehr aktiv werde, kann ich den Raum eher nach den eigenen Vorstellungen gestalten, denn auch dieser Stadtteil Rieselfeld wird im Handeln geschaffen. Handeln impliziert immer auch ein aktives Tun. Die Menschen, die in einen neuen Stadtteil ziehen, bringen Vergangenheit mit, leben in Erinnerung und müssen viel hinter sich lassen, damit der Neuanfang gelingen kann. Ferner wirkt die räumliche Umgebung strukturierend auf die Lebenswelt. Der Ort an dem sich jeder Mensch aufhält, ist „Nullpunkt des Koordinatensystems, innerhalb dessen die Orientierungsdimensionen, die Distanzen und Perspektiven der Gegenstände in dem ich umgebenden Feld bestimmt werden“.3 Handlungsansatz Seite 53 1.1 Wissenschaftlicher Kontext In wissenschaftlichem Kontext wird häufig auf den Handlungsbegriff Bezug genommen, der 1922 von Max Weber4 geprägt wurde. Weber unterscheidet Handeln von Verhalten durch die Einführung der Kategorie Sinn, die die Meinungen und Absichten eines Subjektes beinhaltet. Danach soll Handeln “ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden.“5 Damit unterscheidet Weber durch bewusste oder bewusstseinsfähige Intentionen das Handeln vom bloßen Verhalten. “Soziales Handeln soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder der Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird, daran in seinem Ablauf orientiert ist”: Weber differenziert also zwischen Handeln und sozialem Handeln. Sein Handlungsbegriff geht allerdings von den Meinungen und Absichten eines isoliert gedachten Handlungsbegriffs aus, der bestimmt ist von der Zweckrationalität des Handelns, die sich, im Modell des “homo oeconomicus“ wiederfindet. Mit diesem intentionalen und teleologischen Handlungsbegriff lassen sich bestimmte gesellschaftliche Prozesse nicht ausreichend erklären. Hannah Arendt hat in ihrem Buch “Vita activa“6 einen Handlungsbegriff entfaltet, der auch für die gemeinschaftliche Bewältigung von Alltagsprozessen in einen (Neubau-)Stadtteil wesentliche Impulse vermitteln kann. Mit dem Begriff “Vita aktiva“ wurden drei Arten von Tätigsein zusammengefasst: die Arbeit, das Herstellen und das Handeln. Im Folgenden soll insbesondere das Handeln beleuchtet werden. 1.2 Handeln und die Vita activa Arendt greift zwar die aristotelische Unterscheidung zwischen “Poiesis“ und “Praxis“ auf, grenzt dann jedoch die “Arbeit unseres Körpers“, die die Lebensgrundlagen schafft, vom “Werk unserer Hände“, dem Herstellen ab, das eine künstliche Welt von Dingen erzeugt. Die Arbeit unseres Körpers hat Handlungsansatz Seite 54 ihren Zweck im Überleben. Das Herstellen, das der aristotillischen Poiesis entspricht, hat seinen Zweck in der Erzeugung von Gegenständen. Beides ist zu notwendig für das Überleben der Menschen, reicht aber nicht aus, die menschliche Existenz zu begründen. Allein das Handeln unterscheidet sich wesentlich von den anderen Tätigkeiten. Es vollzieht sich ohne Zuhilfenahme von Gegenständen, Materie oder Dingen. Die einzige Voraussetzung ist das Faktum der menschlichen Pluralität oder der Vielheit, d.h. die Tatsache, dass “ein Mensch nicht allein auf Erden sei“.7 Nach Arendt ist allein das Handeln “das ausschließliche Vorrecht des Menschen; weder Tier noch Gott sind des Handels fähig“. Handeln wohnt daher immer das Miteinander oder die Intersubjektivität inne. Da nunmehr ein Miteinander nicht denkbar wäre ohne das Sprechen und Handeln, sind Sprechen und Handeln nicht voneinander zu trennen. Sprechend und handelnd schaltet sich das Individuum in die Welt der Menschen ein und entwickelt so seine Identität. Nur so lässt sich auch die Frage beantworten, wer jemand ist. Sprechend und handelnd zeigt eine Person einer anderen, wer sie ist. Das Subjekt offenbart sich und gibt sich anderen zu erkennen. Dies ist bedeutend auch für die Stadtteilentwicklung und die Aneignung des Stadtteils durch seine Bewohner. Handelnd und sprechend zeigt sich der Mensch anderen Menschen, macht sich bekannt und wird so zu einem Jemand Um im Stadtteil ein Jemand zu werden, handlet man, wird man aktiv. Ein Jemand zu sein enthüllt sich allein im Bereich zwischenmenschlicher Beziehungen und Angelegenheiten. Dieses Sich-Zeigen birgt auch Risiken in sich, die nur der auf sich nimmt, der bereit ist, sich auch künftig im Miteinander zu bewegen. Indem das Risiko der Verletzlichkeit eingegangen wird, liegt dem Handeln immer auch ein Neuanfang zugrunde. Dieser Neuanfang wird durch ein Bezugsgewebe, wie Arendt ihn nennt, geknüpft. Durch jede Handlung werden neue Fäden gesponnen, das Muster (wie zum Beispiel in einem Stadtteil) verändert sich und es entstehenden neue Gebilde, die wiederum mit anderen, sich ebenfalls ständig weiterzuentwickelnden Geweben in Verbindung stehen. Die von Arendt entwickelte Handlungstheorie bietet mit der triadischen Figur der Vita aktiva (Arbeiten, Herstellen, Handeln) eine besondere Handlungsansatz Seite 55 Reflexionsmöglichkeit für die Bewältigung von Alltagssituationen, die zumindest in der Form des Arbeitens oder Herstellen erfolgen. Sie erfüllen zwar die Funktion des „am Leben Bleibens“ oder dienen der Ausführung einer zweckgerichteten Aufgabe. Bleibt es aber auf dieser Ebene des Tuns, gelingt es weder, die eigene Subjektivität zu entfalten, noch, zur Stärkung der Gemeinschaft beizutragen. Allein das Handeln verweist auf die Wesensform menschlichen Seins, die Intersubjektivität. Sie ist jeglichem individuellen Tun vorgelagert und bestimmt daher auch wesentlich die Bedingungen alltäglicher Daseinsbewältigung. Das Öffentliche galt nach Arendt als genuin menschliche Möglichkeit, Unsterblichkeit zu erlangen, da nur das bewusste Handeln für das Gemeinwesen über eine naturhafte Vergänglichkeit des einzelnen hinausreicht. Im öffentlichen Bereich der Polis galt ausschließlich die Überzeugungskraft des Arguments. Das Öffentliche konstituierte sich als weltlicher Raum immer neu da, wo Menschen sich auszeichnen und das Vortreffliche die ihm gebührende Stätte finden kann. Die Orte der Öffentlichkeit waren somit der Platz, d.h. die Agora, der denselben Namen trug wie der Bürgerrat selbst. Es waren oft flüchtige Orte die Versammlungsorte der freien Bürger. In diesem Sinne hatten Despoten keine öffentlichen Orte, der Königspalast mit seinem Saal zur Präsentation der Herrschaft war nicht öffentlich. Zugang zum Öffentlichen, zum Politischen hatten nur die Bürger. Bei der Herausbildung des Gesellschaftlichen galt also: „Der Raum des Gesellschaftlichen entstand, als das innere des Haushaltes in das volle Licht des öffentlichen Bereiches traf. Damit war nicht nur die Scheidelinie zwischen privatem und öffentlichen Angelegenheiten verwischt, sondern der Sinn dieser Begriffe wie die Bedeutung, die eine jede der beiden Sphären für den Einzelnen als Privatmensch und als Bürger eines Gemeinwesens hatte, veränderten sich bis zur Unkenntlichkeit.“8 Die öffentlichen Räume der modernen Gesellschaft verschwinden in der postmodernen Welt allmählich. Gemäß der liberalen Tradition betrachtet das moderne Individuum, das in seinen privaten Räumen zu Hause ist, die Öffentlichkeit als sein Außen. Dieses Außen ist der Ort der Politik, wo das individuelle Handeln in Gegenwart anderer sichtbar wird und nach Anerkennung sucht. Im Zuge der Postmodernisierung werden diese Handlungsansatz Seite 56 öffentlichen Räume jedoch zunehmend privatisiert. In den urbanen Landschaften verschiebt sich der Fokus vom gemeinsamen Viertel und der öffentlichen Begegnung in der Moderne hin zu den geschlossenen Räumen der Einkaufszentren, Stadtautobahnen und abgezäunten Gemeinschaften. Der Bogen zur Neuzeit wird an dem Punkt aufgegriffen, an dem die Entwicklung nach vielen Jahrhunderten die Trennung zwischen Haushalt und Öffentlichkeit aufhebt. In der Massengesellschaft eroberte das Gesellschaftliche alle Lebensbereiche bis es schließlich „jeweils alle Glieder einer Gemeinschaft gleichermaßen erfasst und mit gleicher Macht kontrolliert“.9 Es gibt keine außerhalb der Gesellschaft stehenden Gruppen mehr. Arendt spricht von einem Gleichmachen des Öffentlichen. Für sie gibt es kein Inneres mehr, das sich entfalten kann, dieses Innere gehört dem Naturwesen Mensch an, der der Sklave seiner Triebe und Gefühle ist. Arendt stellt diesem Naturwesen den Menschen als tätiges Wesen gegenüber. Einzig als tätiges Wesen gelingt es ihm, sich aus der Versklavung an den eigenen Körper zu befreien. Es gibt nur die aktive Auseinandersetzung, nur der Kampf um Freiheit in der Gegenwart. Da die Gesellschaft wie ehemals die private Familie Handeln als etwas die Alltäglichkeit Durchbrechendes ausschließt, tritt an dieser Stelle das geregelte „Sich-Verhalten“. Ein Teil davon, das Arbeiten, das ehedem nur im Verborgenen der Privatheit stattfinden konnte, veröffentlicht sich in der Ausformung der Erwerbsarbeit nun im Gesellschaftlichen. Das Arbeiten konnte sich in der Sphäre der Öffentlichkeit deren Organisationsbedingungen und deren Anspruch an Vortrefflichkeit zunutze machen, erfuhr so revolutionäre Umwandlung und vervollkommnete sich in der Arbeitsgesellschaft. Dagegen wurde die menschliche Fähigkeit zu handeln auf eine neue Art reprivatisiert. Arendt wollte ihre Darstellung des Verschwindens der Sphäre des Öffentlichen nicht als Verfallsgeschichte verstanden wissen, sondern als „Übung“ des Denkens, als Versuch, die in den Schichten der Sprache abgelagerte Geschichte gedanklich zu durchdringen. Und im Denken assoziiert sie nicht nur die verschiedenen Tätigkeitsformen mit den Sphären des Privaten, Gesellschaftlich-Halböffentlichen und Politisch-Öffentlichen, sondern verwendet topographische Redewendungen auch für die verschiedenen Formen politischer Herrschaft. Handlungsansatz Seite 57 Dabei ist es weniger wichtig, was Gegenstand des Diskurses ist, sondern vielmehr die Art und Weise, wie dieser Diskurs stattfindet. Dies bedeutet für den Stadtteil wo und unter welchen Bedingungen kommen die Bewohner zusammen und debattieren die Belange die die Entscheidungsträger für wichtig halten. Der Raum bei Arendt ist nie notwendig materiell im topographischen oder institutionellen Sinne zu verstehen, sondern hat eine prozedurale Konzeption. Beliebige Orte „werden dadurch zu öffentlichen Räumen, dass sie zu `Sitzen` der Macht des durch Sprache und Überreden koordinierten gemeinsamen Handelns werden.10 Der öffentliche Raum ist in einer Gesellschaft nicht nur potenzieller Ort der Reflexion einer existierenden Geschlechterordnung, sondern nach wie vor auch ein notwendiger Ort des Nachdenkens und Streitens einer lebbaren Gesellschaft. Hierzu ist ein gleichberechtigter Zugang zum öffentlichen Raum und die Absicherung seiner zweckfreien Nutzungsmöglichkeiten zu allen Zeiten notwendig. Die Zweckfreiheit erscheint uns durch die weiterhin voranschreitende unreflektierte Vergesellschaftung öffentlicher Räume gefährdet, als sie, der Argumentation Arendt folgend, den politischen Charakter des Handelns im öffentlichen Raum zu Gunsten von produktiven und konsumptiven Tätigkeiten weiter ausgehöhlt. Wesentlich für Arendts Politik-Verständnis ist demnach eine strikte Trennung von privater und öffentlicher Sphäre, die mit der Trennung von Politik und Leben zusammenfällt, wobei „Leben“ bei ihr als Lebensnotdurft verstanden wird, als biologische Basis, deren Bedürfnisse im Hausinneren zu erledigen sind. Die Sphäre des öffentlichen erhebt sich über diese „niederen“ Bedürfnisse und ist in der Sphäre der Kultur angesiedelt. Hannah Arendt schränkt das Individuum, den Bewohner, den Bürger und sein Bedürfnisse, auch der ökonomischen, ein - zugunsten eines Gemeinwesens. Dies funktioniert komplexer, ist nicht nur Bedürfnis- befriedigung, während das Arbeiten im Haus von alltäglichen Sachzwängen und Zweckdenken geprägt ist, erscheint die Sphäre des Politischen als das reine Mittel. Hier wird miteinander geredet und gehandelt, obwohl der Ausgang noch ungewiss ist. Handlungsansatz Seite 58 Die als agonistisch* eingeschätzte Konzeption des öffentlichen Raumes bei Arendt wandelt sich bei Jürgen Habermas11 dann entgültig zur diskursiven. Arendts Philosophien haben eine außerordentliche Wirksamkeit entfaltet. Jürgen Habermas konnte auf Arendt zurückgreifen, die die normativ praktische Bedeutung des Arbeitsbegriffs bei Marx mit der intersubjektiven Aktivitätsform des Handelns verbunden hat. Habermas entwickelte von hier aus die “Theorie des kommunikativen Handelns“. 2. Theorie des kommunikativen Handelns nach Habermas Er verwendet nicht Arendts normativen Handlungsbegriff, sondern unterscheidet zwischen zweierlei Weisen des Handelns: kommunikatives und strategisches Handeln. Von zweckrationalem oder strategischem Handeln wird immer dann gesprochen, wenn Akteure ihr Handeln am eigenen Erfolg ausrichten. Kommunikatives Handeln dagegen zielt auf gegenseitige Verständigung. Im strategischen Handeln sind die Motive egoistischer Natur, während kommunikatives Handeln sich auf die Konstitution normativer Gemeinsamkeit richtet. Im kommunikativen Handeln steht nicht der eigene Erfolg im Vordergrund, sondern das Bemühen, die jeweiligen individuellen Ziele miteinander abzustimmen. Grundlage des kommunikativen Handelns sind gemeinsam ausgehandelte Situationsdefinitionen. Von hier ausgehend führen die Beteiligten ihre Pläne in gegenseitiger Einvernehmlichkeit durch. Stets präsenter Hintergrund der Kommunikation ist die Lebenswelt, der die Kommunikationsteilnehmer angehören. Lebenswelt und kommunikatives Handeln bedingen sich gegenseitig. So ist die Lebenswelt die Ressource, aus der sich die Beteiligten mit kulturellem Wissen, Deutungsmustern und Werten versorgen, während das kommunikative Handeln die Bedingungen für die Reproduktion symbolischer Strukturen schafft. Kommunikatives Handeln dient zur Herstellung der sozialen Integration und fördert unter dem Aspekt der Sozialisation die Herausbildung von personalen Identitäten. * agonistisch = wettkampfbezogen, stammt vom griechischen agonia= Kampf Handlungsansatz Seite 59 Kommunikatives Handeln ist freilich nicht gleichzusetzen mit Interaktion. Beide Formen des Handelns, also zweckrationales wie kommunikatives Handeln, können intersubjektiver Natur sein. Nach Habermas vollzieht sich soziales Handeln eben in zweifacher Form. Das zweckrationale oder intentionale Handeln ist dadurch gekennzeichnet, dass der Handelnde auf seinen Erfolg fixiert ist. Als Erfolg soll dabei das Eintreten eines erwünschten Zustandes durch ein gezieltes Tun oder Unterlassen verstanden werden. Das kommunikative Handeln orientiert sich dagegen an der Verständigung und dem vereinbarten Konsens. Verständigung geschieht im Wesentlichen über Sprechakte, auf dem Weg des Argumentierens. Kommunikatives Handeln und Verständigung könne allerdings nur dann gelingen, wenn die Vorraussetzungen dafür gegeben sind. Die Grundkonstellation ist das Habermassche Konstrukt einer „idealen Sprechsituation“, die an folgende Bedingungen geknüpft ist: Zum ersten haben alle Beteiligten die gleichen Möglichkeiten, einen Diskurs zu eröffnen und fortzusetzen. Es steht jedem frei, auf den anderen zuzugehen. Zum zweiten besteht Chancengleichheit in der Auseinandersetzung. Jeder kann seine Argumente, Deutungen, Rechtfertigungen, Überlegungen etc. gleichermaßen einbringen. Es handelt sich gewissermaßen um eine offene Tagesordnung. Die Situation muss also frei von Tabus und Zwang sein, mit Ausnahme des Zwanges zum besseren Argument. Kommunikatives Handeln impliziert deshalb auch, dass die Gesprächsteilnehmer sich auf gleichberechtigter Ebene begegnen können. Es darf kein hierarchisches Machtgefälle bestehen. Alle müssen also auch die gleichen Chancen haben, sich einbringen zu können. Mit der Explikation des Konstruktes der „idealen Sprechsituation“ sind die wesentlich erscheinenden Elemente der Habermasschen Theorie kommunikativen Handelns ausgeführt. Es stellt sich die Frage, was sie nützt? Habermas selbst hat 1982 seinen nachgeschobenen „Erläuterungen zum Begriff des kommunikativen Handelns“ 12 die Aufgabe gestellt, nicht nur zu klären, wie soziales Handeln möglich ist, sondern auch, wie soziale Ordnung möglich ist. Die Begriffe des sozialen Handelns müssen im Zusammenhang mit der sozialen Ordnung stehen. Oder, wie es Bronfenbrenner13 zu seinem ökosozialen Modell formuliert: Die Begriffe des Mikrobereiches müssen kompatibel zu denen des Makrobereiches sein. Habermas geht es in seiner Handlungstheorie weniger um formale Merkmale des sozialen Handelns, als Handlungsansatz Seite 60 vielmehr um „Mechanismen der Handlungskoordination“, die eine regelhafte und stabile Vernetzung von Interaktion ermöglichen. Muster von Interaktionen bilden sich nur heraus, wenn die Handlungssequenzen, zu denen verschiedene Akteure beitragen, nach Regeln koordiniert sind“14 Das heißt, mit Hilfe der Theorie des kommunikativen Handelns sollen Alltagsprobleme bewältigt werden, die zugleich Vorraussetzung sind für ein Gelingen im Gestalten des Sozialen, z.B. in einem neuen Stadtteil. Hinsichtlich der Persönlichkeit der Agierenden folgt aus reflexiven und kritischen Einstellungen die Autonomie der Selbstdefinition gegenüber eingefahrenen gesellschaftlichen Praktiken; hinsichtlich der Gesellschaft tritt im Bereich der Institutionen die konsensuelle Erzeugung von allgemeinen Handlungsnormen durch praktische Diskurse in den Vordergrund. Hinsichtlich der kulturellen Tradition wird deren Aneignung zunehmend abhängig von der schöpferischen hermeneutischen Praxis zeitgenössischer Interpreten.15 Dem Wachstum des gesellschaftlichen Systems schreibt Habermas die Kolonisierung der Lebenswelt zu und unterscheidet ähnlich zu Arendt die beiden Handlungsweisen des instrumentellen Handelns bzw. technischen Verfügens einerseits und die des kommunikativen Handelns anderseits. Bei Arendt wie bei Habermas definiert Handeln bzw. Tätigsein also Raum. Oder anders ausgedrückt: Raum ohne menschliches Tun ist ausdruckslos, ohne Bedeutung. Dieses Handeln und Tätigsein findet dann im Stadtteil unter denen statt, die die gleiche soziokulturelle Ausformung haben. Allerdings tritt bei Habermas die räumliche Umgebung, z.B. Infrastruktur oder die materielle Ausstattung, hinter die Geltung kommunikativer Prozesse zurück. Auf der Mikroebene, also jener Schnittstelle von Individuum und Gesellschaft, auf der die Bewältigung von Alltagsproblemen thematisiert wird, bietet die Theorie des kommunikativen Handelns interessante Ansatzpunkte, denn gerade in sozialen Gestaltungsbereichen, die besonders von Kontingenz und Ambivalenz geprägt sind, weil letztlich nicht vorhersehbar ist, wie der eine oder andere sich verhalten werden, ist das Risiko zu scheitern sehr hoch. Verständnisorientiert Handelnde suchen zwei Risiken zu vermeiden: „Das Risiko der fehlschlagenden Verständigung, also des Dissenses oder des Handlungsansatz Seite 61 Missverständnisses, und das Risiko des fehlschlagenden Handlungsplanes, also des Misserfolges“16. Mit dem Bemühen, von vorneherein das Risiko zu minimieren, wird eine Situation geschaffen, dass gemeinsame Handlungsstrategien entwickelt werden können. Vor dem Hintergrund der explizierten Bedeutung von Hilflosigkeitserfahrung und Kontrollverlust gewinnt die Konzeption kommunikativen Handelns an Bedeutung. Auf der Makroebene agieren der rasante gesellschaftliche Wandel, der sowohl Strukturen wie Normen erfasst, auf die Verletzlichkeit und die akute Gefährdung des Projektes der „Moderne“. Habermas lässt sich mit seiner Theorie, in der Gesellschaft als System und als Lebenswelt konzipiert ist, auf die Moderne ein, ohne sich einfach ihr anzupassen. Dabei bedenkt er gerade die Reibungsflächen, Anomalien und Pathologien, die im Theorem der „Kolonialisierung der Lebenswelt“17 zum Ausdruck gebracht werden. Die postfordistische Gesellschaft ist dadurch gekennzeichnet, dass die überlieferten Werte und Beziehungsmuster oftmals den neuen Herausforderungen nicht mehr entsprechen. Die Individuen sind mehr und mehr gezwungen, sich ihre eigenen Wege durch das Dickicht der Unübersichtlichkeiten zu schlagen. Die damit einhergehende Vielfalt von Lebensstilen und Lebensphilosophien muss nicht notwendig zum Zerfall von Sitten und Gebräuchen führen. 2.1 Kritik an der Theorie kommunikativen Handelns Die Theorie kommunikativen Handelns ist keineswegs unstrittig. Die bedeutsamste und auch empfindlichste Konstruktion der Habermasschen Theorie ist die des „herrschaftsfreien Diskurses“ beziehungsweise der „idealen Sprechsituation“. Sie ist der Dreh- und Angelpunkt seiner Konzeption, da sie die Vorrausetzungen diskutiert, die gegeben sein müssen, wenn Verständigung erzielt werden soll. Auf der Makroebene lässt sich einwenden, dass die spätkapitalistische Ökonomie der gegebenen Gesellschaftsformationen von antagonistischen Widersprüchen und Herrschaftsverhältnissen geprägt ist, dass herr- schaftsfreie Räume gar nicht möglich sind. Er selbst sieht seine Theorie nicht losgelöst von den gegebenen Herrschaftsstrukturen. Sein Modell ist auch Handlungsansatz Seite 62 keine „Erfindung“ in dem Sinne, dass etwas kreiert wurde, was es bisher noch nicht gab, vielmehr verweist sie, eher im Sinn einer „Entdeckung“, auf reale lebensweltliche Prozesse. Der Lebenswelt kommt daher in der Theorie kommunikativen Handelns eine zentrale Bedeutung zu. Sie versorgt die verständigungsorientierten Akteure (z.B. im Stadtteil) mit Hintergrundwissen, dient als Ressource des Sinns und der Motive und bildet gewissermaßen das Scharnier zwischen der Handlungs- und Gesellschaftsebene. Auf der Mikroebene lässt sich einwenden, dass sich die verständigungsorientierten Personen entweder nicht finden lassen, weil sie der strategisch orientierten Systemlogik folgen und den Eigennutz allemal in den Vordergrund stellen oder aber weil sie nicht über die Fähigkeit verfügen, an einem anspruchsvollen herrschaftsfreien Diskurs teilzunehmen. Hinzu kommt die Befürchtung, die zusätzliche Handlungsalternative, kommunikativ handeln zu können, könnte den Druck der Belastung noch verschärfen. Habermas räumt dies auch ein: „Mit der Implementierung neuer Problemlösefähigkeiten entstehen auch neue Kategorien von Bedürfnissen und Versagungen, wandelt sich die Struktur der Belastungen, die, wenn unsere Intuitionen uns nicht täuschen, das Leiden zugleich sublimer und intensiver werden lassen“. Der Einwurf, die Voraussetzungen für den so definierten Diskurs ließen sich im gesellschaftlichen Alltag kaum realisieren, ist durchaus ernst zu nehmen. Aber dagegen ist zu halten, dass sich soziale Beziehungen, insbesondere Machtkonstellationen und Gesellschaftshierarchien verräumlichen. Auch haben vergesellschaftlichte Räume ihrerseits symbolische Kraft auf Wahrnehmungen, Deutungsschemata und Einstellungen Macht ausüben und folglich gesellschaftliche Verhältnisse reproduzieren. Menschen eignen sich Menschen auf unterschiedlichste Art und Weise Räume ihre an, auch öffentliche. Gesellschaftliche Produktion von Raum und gesellschaftliche Aneignung stehen in einem komplexen Wechselverhältnis zueinander. Wenn man diese Erkenntnisse dagegen hält stimmen sie nicht überein mit dem Befund der Habermas´schen Vorstellung eines herrschaftsfreien kommunikativen Handelns grundsätzlich aller Menschen. Dieser wertete den Strukturwandel von (städtischer) Öffentlichkeit im 19. und 20. Jahrhundert mehr oder weniger als eine Verlustgeschichte. Für Habermas hat sich erst mit Handlungsansatz Seite 63 Zunahme des Warenverkehrs, der die Grenzen der alten Hausökonomie sprengt, eine Öffentlichkeit herausgebildet. Mit der Verlagerung der Arbeiten aus dem Haus, erst in den Manufakturen, dann in den Fabriken, bleibt im Haus die Familie übrig, Dieser Prozess führt zu Abgrenzung der Familie als neuer privater und intimer Raum. Empirisch arbeitende Historiker „entdeckten“ dagegen diverse Öffentlichkeiten, rekonstruierten ihr Zustandekommen, ihre Beziehungen zu anderen Öffentlichkeiten, ihre Ausdrucks- und Praxisformen sowie ihre Selbst- und Fremddeutungen. Öffentlichkeit wird inzwischen als ein umkämpfter Raum gesehen, wobei die Machtchancen der in der Arena agierenden Partizipanten höchst ungleich verteilt sind. Habermas versteht unter Öffentlichkeit eine letztlich unteilbare, das ganze Gemeinwesen vertretende Einheit. Die Öffentlichkeitssphäre ließe sich, so seine Vorstellung, unter günstigen gesellschaftlichen Umständen in ein rational argumentierendes und handelndes Subjekt transformieren. Diese idealtypisch angelegte politische Fiktion ist nicht in konkrete historisch- empirische Analysen umzusetzen. Davon kann auch die Stadtforschung hierzulande profitieren. Diese sollte im Spannungsfeld von Nähe und Distanz zum Habermasmodell ihre Fragen stellen. Die Nähe liegt im (utopischen) Leitbild eines herrschaftsfreien Raumes, in dem sich eine vernunfts- und gemeinwohlorientierte Öffentlichkeit im Rahmen einer Zivilgesellschaft konstituieren und immer wieder erneuern kann, wozu es eines nicht entfremdeten Raumes bedürfte. Die Distanz zu Habermas stellt sich her, wenn der Blick auf die Stadt als einem empirisch zu untersuchenden Sozialraum und auf die Nutzungsweisen des Raumes fällt. Dann wird, wie in den vorherigen Ausführungen angedeutet, eine Reihe von Phänomenen untersucht, die mit anderen theoretischen Überlegungen erschlossen werden müssen. So hat zum Beispiel die feministische Theorie (Rodenstein u.a.) wesentlich zur Erkenntnis beigetragen, dass die gesellschaftlichen Ressourcen Stadtraum und Öffentlichkeit für die beiden Geschlechter recht Unterschiedliches bedeutet haben. Handlungsansatz Seite 64 Zum Abschluss der theoretischen Betrachtungen zur Raumstruktur des Handelns soll noch auf Norbert Elias18 eingegangen werden, der explizit weder zu Raum noch Handeln gearbeitet hat, sehr wohl aber zu sozialen Prozessen, die als raumbildend angesehen werden können. Arendt und in Folge Habermas proklamieren Handlungskonzepte, die zwar von normativen Wertbezügen menschlicher Existenz ausgehen, wo aber gerade das Handeln die allein menschenzugängliche Systemlücke eröffnen kann und damit `Raum` öffnet. Bei Hanna Arendt hing diese Möglichkeit an den zivilen, republikanischen Tugenden der Bürger, bei Jürgen Habermas an der kommunikativen Rationalität aktiv und kritisch handelnder Individuen. Im Aushandeln des Alltags entsteht so reflexiv und konstruktiv, interpretierend und konstruierend eine stetig veränderte Wirklichkeit – Raum entsprechend eingeschlossen. Elias7dagegen kritisiert die Soziologie seiner Zeit hinsichtlich mehrerer Aspekte: Gegen das Konzept einer Einheitswissenschaft mit allumfassenden, zeit- und raumlosen Gesetzen setzt er eingedenk der Vielzahl gesellschaftlicher Entwicklungen sein Konzept der Menschenwissenschaften. So formuliert er eine Prozesssoziologie, die den angenommenen gesellschaftlichen Wandel berücksichtigt. Statt partikularisierender Ansätze sucht er eine generalisierende Synthese, die er möglich hielt aufgrund der menschlichen Fähigkeit zur wissenschaftlichen Synthese. Elias Ausgangspunkt bildet die Zeit des Absolutismus. Der Adel verlor an Macht, ausgelöst durch gesellschaftliche Differenzierungsprozesse, sowohl ökonomisch als auch politisch. Elias Betonung der Menschen im Plural statt ´des Menschen´ führt zu seinem Figurationenmodell. Figurationen sind Beziehungsgeflechte, die mit wachsender gegenseitiger Abhängigkeit des Menschen untereinander immer komplexer werden. Elias versteht unter Figurationen ein von „Individuen gebildetes Interdependenzgeflecht, das sehr gut durch gesellschaftliche „Tänze“ veranschaulicht werden kann: „Das Bild der beweglichen Figurationen interdependenter Menschen beim Tanz erleichtert es vielleicht sich Staaten, Städte oder Familien. Die gleiche Tanzfiguration kann gewiss von verschiedenen Individuen getanzt werden, aber ohne eine Pluralität von aufeinander ausgerichteten, von einander abhängigen Individuen, die miteinander tanzen, gibt es keinen Tanz“18. Wie jede andere gesellschaftliche Handlungsansatz Seite 65 Figuration ist eine Tanzfigur relativ unabhängig von den spezifischen Individuen, die sie hier und jetzt bilden, aber nicht von Individuen überhaupt. Das gleiche gilt von allen anderen Figurationen. Da die Menschen darin weder Opfer gesellschaftlicher Verhältnisse noch völlig autonom sind, sondern sich gegenseitig in Schach halten, stehen die Interdependenzketten der Figurationen für soziale Prozessmodelle. Aus figurationstheoretischer Perspektive konstituieren sich Sozialbeziehungen in einem je spezifischen „Geflecht der Angewiesenheit von Menschen aufeinander“.19 Dabei sind es die „Interdependenzen, was sie aneinander bindet“ und woraus sich bestimmte Figurationen „aufeinander ausgerichteter, voneinander abhängiger Menschen“ ausbilden. Diese Figurationen können nur plural, als Bilder vieler Menschen gedacht werden, die ihre je eigene Alltagskultur entwickeln. Während Gesellschaften als „große Figurationen“ gedacht und veranschaulicht werden, können Figurationen in sozialen Nahräumen, wie das Quartier, der Stadtteil als kleinere Einheiten veranschaulicht werden. Hier lassen sich figurationssoziologische und sozialökologische Theorieperspektiven nahtlos verknüpfen. Diese sozialen Mesostrukturen, die im Gesamtwerk von Sozialbeziehungen zu den elementaren Sozialkonfigurationen der Konstruktion des Gesellschaftlichen zählen, gehen aus sozialem Handeln hervor, das sich nicht ausschließlich auf den eigenen privaten Raum des Handelns und der ihm angehörenden Personen bezieht, sondern sich an anderen Personen der sozialen Umwelt orientiert und auf eine strukturelle Koppelung von Individuen und Mikrosystemen im öffentlichen und halböffentlichen Raum bezieht. Konkret vor Ort, im Stadtteil, geht die Entwicklung allerdings eher zu der Entstehung von differenzierten gesellschaftlichen Zonen, die in räumliche Metarmophosen als “Innen und Außen” bezeichnet werden kann. Es handelt sich dabei um ein zweigeteiltes soziales Leben, eine radikale Grenzziehung zwischen denen drinnen und denen draußen. In jeder dieser Zonen gelten unterschiedliche Spielregeln, Wahrnehmungsmuster und Formen sozialer Kontrolle. Diese Überlegungen sollen nun auf die Ebene eines neuen Stadtteil übertragen werden. Handlungsansatz Seite 66 3. Das gemeinsame Handeln im Stadtteil Rieselfeld Ein politischer Raum der Gemeinsamkeit entseht freilich nicht durch das bloße Zusammensein oder einfache Tun. Voraussetzung ist das Handeln und Sprechen, das keinen konkreten Zweck verfolgt, sondern in dem Sinne Selbstzweck wird, als es nicht der Besorgung des Privaten, sondern dem gemeinsamen Erscheinungsraum gilt, dem öffentlichen Raum im Stadtteil. Hier bildet sich das aristotelische „gut leben“, durch das Teilnehmen und Mitteilen von Worten und Taten erlangt das menschliche Zusammenleben seinen Sinn. Nicht zuletzt entwickelt sich dort, wo Menschen politisch handeln, also keine leeren Worte sprechen und Sprache auch nicht missbrauchen, um den Eigennutz zu fördern, sondern neue Bezüge entfalten und damit neue Realitäten schaffen, auch Macht. Macht ist hier nicht etwas, was jemand besitzt oder verfügt, sondern eine prozessuale Größe, die sich zwischen Menschen bildet, die gemeinsam handeln, und die sich wieder auflöst, wenn sie sich von einander entfernen. Macht kann sich hier nur im gemeinsamen Handeln von Menschen als Gruppe bilden. Macht setzt also Pluralität voraus und ist additiv zu verstehen. Mitunter kann Teilung von Macht sogar deren Wirksamkeit erhöhen. Ohnmacht entsteht am ehesten dort, wo Menschen auf das Zusammenwirken im öffentlichen Raum verzichten, aus welchen Gründen auch immer, sich auf das Privatleben zurückziehen oder beschränken. Mit den Kriterien der Freiheit und den Tätigkeiten des Sprechens und Handelns wird der öffentliche Raum beschrieben. Der Kampf um die Macht im Stadtteil ist immer ein Kampf um die Sprache. Welche Sprache, welche Worte und Erklärungen werden bei den öffentlichen Treffen, bei den Stadtteilversammlungen verwandt? Haben Gegenstimmen zu denen, die das offizielle Sprechen beherrschen und kontrollieren, keine Chance mehr eigene Ansprüche zu formulieren und sie gegen die Wortführer durchzusetzen. Sprachen entstehen in ihrer Besonderheit in ihrer inneren phonologischen – syntaktischen und lexikalischen Gliederung wie in ihrer äußeren Schichtung in Register, grundsätzlich unter unterschiedlichen gesellschaftlichen Verhältnissen. Sie werden auch unter unterschiedlichen gesellschaftlichen Verhältnissen verwendet. Im Rieselfeld hat sich von ganz zu Beginn an eine kleine Gruppe sehr aktiver Milieus, die fast alle Eigentümer sind, herausgebildet. Diese Gruppe bildet mit Handlungsansatz Seite 67 ihrer Sprache ihre Realität ab. Wenn sie von Gemeinschaft, Öffentlichkeit, Politik und anderen zentralen Begriffen sprechen, meinen Sie immer ihr Bild von Gemeinschaft, Politik usw. Dazu kommt aber noch, dass der öffentliche Raum darüber hinaus dadurch gekennzeichnet ist, dass er Offenheit, auch im Sinne des Gehört- und Gesehenwerdens verkörpert und eine gemeinsame Welt konstituiert, die auch das Kommen und Gehen von Menschen überdauert. Während das Private sich meist vor dem Licht der Öffentlichkeit schützt und sich im Alltäglichen verliert, ist der öffentliche Raum jener Ort, an dem sich der Bewohner zeigt, gesehen wird und dadurch seine Identität entwickelt. Nur im Miteinandersprechen und –handeln kann jener Raum zwischen den Handelnden entstehen, der ihnen gemeinsam ist: „Das räumliche Zwischen ist der Erscheinungsraum im weitesten Sinn, der Raum, der dadurch entsteht, dass Menschen voreinander erscheinen und in dem sie nicht nur vorhanden sind wie andere belebten oder leblosen Dinge, sondern ausdrücklich in Erscheinung treten“20. Diese Räume lassen sich im Rieselfeld konkret benennen: Es sind der Wochenmarkt, die verschiedenen öffentlichen Stadtteilaktivitäten, wie Weihnachtsmarkt, Flohmärkte, im Sommer 2004 das nun schon neunte Stadtteilfest, die in den letzten sieben Jahren häufigen Spatenstiche, Richtfeste und Einweihungen der öffentlichen Einrichtungen. Dazu gehören die Grundschule, das Kinderhaus, das Keplergymnasium, die vier anderen städtischen Kindertageseinrichtungen, das Feuerwehrhaus, die Waldorfschule und seit Herbst 2003 das Stadtteilzentrum Rieselfeld mit der städtischen Kinder- und Jugendmediothek. Hier trifft man die selbsternannte „Stadtteil- Elite“ bei Leberkäse, Kartoffelsalat und Freibier, fast schon im Monatstakt. Erst in letzter Zeit wurde es etwas ruhiger, da die Infrastruktureinrichtung nun bis auf wenige Ausnahmen fertiggesellt sind. Gemeinschaft im Sinne der „Polis“a, die sich aus einer Vielzahl von Individuen zusammensetzt, entfaltet also eine eigene Identität auf dem Wege des Sich- a Polis, griechisch, die Burg, dann die in deren Schutz entstehende Stadt, die im alten Griechenland den politischen Mittelpunkt des umliegenden Gebietes bildete. Neben den Bürgern, meist nur einige tausend, spielten die minderberechtigten ortsansässigen Fremden (Metöken) bes. wirtschaftlich eine Rolle. Als polit. und soziale Einheit verfocht die Polis das Recht, nach eigenen Gesetzen zu leben (Autonomie) und strebte nach wirtschaftlicher Autarkie. (dtv Lexikon, 1992) Handlungsansatz Seite 68 Zeigens in der Öffentlichkeit, konstituiert eine gemeinsame Welt, den Erscheinungsraum als Bühne des Miteinanderhandelns, und erzeugt Macht auf der Basis von Freiheit und Gleichheit. Vor diesem Hintergrund entstand in der Antike die Überzeugung, dass sich die Einzigartigkeit des Menschen im Politischen gründet, also auf das gemeinsame Handeln und Sprechen in der Öffentlichkeit, die allerdings auf eine kleine privilegierte Schicht von Bürgern begrenzt war. Im neuen Stadtteil fehlt eine gemeinsame Geschichte, und deshalb gilt es, das Leben auf eine weniger persönliche Basis zu stellen. An diese Stelle tritt das Gemeinsame. Handlungsansatz Seite 69 Das Werk Hannah Arendts bietet die Möglichkeit zu begreifen, was mit der modernen Angst vor dem Preisgegebensein in der Großstadt auf sich hat, mit der Angst vor der Selbstpreisgabe in einer Diskussion oder in der Unterhaltung mit anderen (Stadtteil)Bewohner. Die Angst, Verbindung aufzunehmen, rührt Arendts Meinung nach aus einem Mangel an Willenskraft, an Bereitschaft, sich mit der Welt auseinander zu setzen. Der Ort der Auseinandersetzung ist der öffentliche Raum. Dieser öffentliche Raum wird im Allgemeinen gleichzeitig durch gesellschaftliches Handeln, normative Regulation, materiell-physische Beschaffenheit und ästhetisch- symbolische Repräsentationen konstituiert:21 Die Handlungsebene gesellschaftlicher Praktiken bestimmt die Öffentlichkeit eines städtischen, stadtteilbezogenen Platzes durch geschichtliche Überlagerungen und Veränderung von Handel, Dienstleistungen und bestimmten produktiven Gewerbe, wie Markt, Geschäfte, Gastronomie, Büros und Werkstätten. Politische, kulturelle und soziale Kommunikation wie Kundgebungen, Kulturveranstaltungen, Versammlungen Straßenkunst und zufällige Begegnungen, öffentliche Infrastruktur, wie Behörden, Kirchen, Nahverkehrshaltestellen oder Wohnfunktionen sind ebenso sinngebende Teilhabe im öffentlichen Raum. Normative Regelungen wirken durch ordnungspolitische Interventionen (Gestaltungssatzungen, Vereinsstrukturen, zeitliche wie inhaltliche Gestaltung und Durchsetzung der öffentlicher Ordnung). Die normative Orientierung des politischen, wirtschaftlichen und soziokulturellen Handelns in der Vergangenheit und Gegenwart, wie z.B. die (örtliche) Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Gewerbe-, Religions- und Meinungsfreiheit, Toleranz, Leistungsprinzipien und kulturelle Vorstellungen von Sicherheit, Hygiene oder Sauberkeit. Materiell-physische Bestimmungen des öffentlichen Raumes ergeben sich aus Massen und Grundrissen des Raumes und der Plätze, materiellen Gebäudestrukturen, Begrünung, Möblierung, stadttechnischer Infrastruktur und Kunstgegenständen, anwesenden tierischen und menschlichen Lebewesen und ihrer Ausstattung. Fahrzeuge, Kinderwägen, Fahrräder, Bühnen, Plätze, Plakate, Kleidung, sowie aus dem Zustand und der Qualität der Materialien. Handlungsansatz Seite 70 Die ästhetisch-symbolische Repräsentation in der Öffentlichkeit entsteht durch das geschichtliche Zusammenwirken aller bisher genannten Faktoren. Symbole und ästhetische Ausdrucksformen im öffentlichen Raum unterliegen einem ständigem kulturellen Bedeutungswandel. Er kann dazu führen, dass in der Vergangenheit wichtige Elemente des Raumbildes ihre Funktion verlieren, ändern oder erneuern. Erfolgt die Entstehung von Raumbildern nicht einzeln sondern in der Bündelung bestimmter Milieus, wobei die Entstehung von Raumbildern keineswegs zufällig ist, sondern sozial strukturiert ist, so wird ein gesellschaftlich prägendes Raumbild „erschaffen“, das sich dann auch andere Gruppen und Milieus zu eigen machen. Es entsteht im Stadtteil ein Wettlauf, eine Konkurrenz um diese Raumbilder. Welche Bilder auch immer herangezogen werden, auffällig ist ihr Bezug auf den Raum und ihre Mischung aus Abstraktion und Buchstäblichkeit. Das gilt zum einen für Modellierungen sozialer Ungleichheit, wie sie etwa von Pierre Bourdieu in den theoretischen Konzeptionen seiner empirischen Untersuchungen22 vorgenommen worden sind. Nach der sozialen Stellung oder Lage, indiziert durch die unterschiedliche Verfügung über lebensentscheidende Ressourcen, werden die einer spezifischen Gesellschaft Zugehörigkeit in einem Raum der (beruflichen oder gesellschaftlichen) Position verortet, dem in gewisser Entsprechung, vermittelt über den klassischenspezifischen Habitus, ein Raum von Lebensstilen und Milieus gegenübersteht. Öffentliche Räume sind immer auch Machträume, jedenfalls wird dies von den Bevölkerungsgruppen so wahrgenommen, die im öffentlichen „Nahkampf“ durch ihre schwächere gesellschaftliche Position und wegen Abgrenzungsbedürfnissen der bestimmenden Gruppe dies so erleben. Am Bespiel der Kinder- und Jugendarbeit im Rieselfeld kann dies aufgezeigt werden und zwar in der Kinder- und Jugendarbeit des Stadtteilvereins K.I.O.S.K.. Angetreten, eine dezentrale und sozialräumliche Kinder- und Jugendarbeit aufzubauen, d.h. für die verschiedenen Cliquen und Gruppen Plätze und Räume zu schaffen, wie die Kellerräume des Keplergymnasiums, Bauwägen für Mädchen und Jungencliquen und einen zentralen Anlaufpunkt, den Jugendladen „SIT IN“, hat sich diese Konzeption als nicht durchführbar erwiesen. Nachdem schon bald, d.h. seit etwa Ende 1997, sich die Keplerkelleräume eine Gruppe von Aussiedlerjugendlichen angeeignet hatte, waren diese Räume für Jugendliche aus anderen Milieus tabu. Dieses Bild Handlungsansatz Seite 71 verfestigte sich schnell im Stadtteil, die Jugendarbeit des K.I.O.S.K. arbeitet mit den „Russen“ und auch mit anderen „schwierigen“ Jugendlichen. Daraus entwickelte sich auch der erst geheime und dann offen ausgesprochene Auftrag der „Machtelite“ des Stadtteils: „Bringt diese Jugendlichen von der Straße“, damit unser Stadtteil kein negatives Image bekommt. Allerdings wird auch immer wieder der Anspruch von diesem Milieu formuliert, auch für „ihre“ eigenen Jugendlichen müsste mehr „laufen.“ Hier wird für das Rieselfeld die Regelungen über soziale Normen, Werte und „optische Hygiene“ von denen festgesetzt, die für sich die Macht in Anspruch nehmen. Als Beispiel für gemeinsames gesellschaftlichen Handelns sollen durch die Beschreibung von Beobachtungen aus dem Bereich der Entwicklung des Stadtteils Rieselfeld herangezogen werden. 4. Beobachtungen: 4.1 Stadtteilrunde/BürgerInnenverein Auch die Entwicklung des Stadtteilvereinslebens ist ein Beispiel für gemeinsames gesellschaftliches Handeln, das normative Regulation hervorbringt. Schon früh, das heißt ab Sommer 1997, entwickelte sich ein monatlicher „Jour Fixe“, ein offenes Treffen für alle Bürger und Bürgerinnen, die sich im Stadtteil engagieren wollen. Man traf (und trifft) sich im K.I.O.S.K.- Stadtteilladen, immer am zweiten Montag im Monat um 20.15 Uhr. Im Nachhinein zeigt sich, dass der Namen des Treffens viele Interessierte ausschloss, da viele mit dem Begriff „Jour Fixe“ nichts verbinden konnten. Die Organisation, die dieses Treffen neben dem professionellen Stadtteilverein „K.I.O.S.K.“ vorantrieb, war der ARFO (Arbeitskreis Rieselfelder Foren), auch das kann man als ein Wort- Ungetüm bezeichnen. Zwei Jahre versammelten sich regelmäßig zwischen 10 und 25 Bewohner, um sich den Fragen und Problemen des Stadtteils anzunehmen. Durch dieses Engagement wurde eine Handlungs- und Aktionsstruktur errichtet, die Strukturen im Stadtteil schafften, aber auch ein Machtinstrument wurden. Da es noch keine Wahlen für ein Sprechergremium gab, kamen die Bewohner an die informellen Schaltstellen der „Stadtteilmacht“, die die zeitlichen Ressourcen und die kommunikativen Handlungsansatz Seite 72 Fähigkeiten besaßen. So war es nur eine Frage der Zeit bis diese „Führer“, es waren fast nur Männer, die Initiative ergriffen und einen „Bürgerverein Rieselfeld“ gründeten (Bürgervereine sind in Freiburg der politische Ansprechpartner für Politik und Verwaltung in den Stadtteilen. Sie sind nicht gewählt, werden aber doch als die Vertretung der Bürgerschaft angesehen). Als Ausdruck der besonders jungen und aktiven Bewohner im Rieselfeld, die einem postmodernen Milieu angehören, wurde der Verein nicht klassisch Bürgerverein sondern entsprechend den bedienenden Milieus, „BürgerInnenverein“ genannt. Durch die Bearbeitung von Problemen, wie es am Anfang ganz erheblich das Verkehrsproblem war oder die Einbeziehung der Bürgerschaft bei den entstehenden Infrastruktureinrichtungen, wurden diese Ansprechpartner natürlich eingeladen, informiert und mit weiteren Terminen versehen. Die Folge war, dass sie immer mehr zur Informations- und dadurch zur Machtelite des Stadtteils wurden. Im nächsten Monat, bei der nächsten Stadtteilrunde konnten sie dann über ihre Treffen mit städtischen Behörden und anderen Beteiligten und den daraus resultierenden Ergebnissen berichten, ihre Einschätzungen und weitere Perspektiven einbringen. Sie fanden fast zwangsläufig mehr Gehör und ihre Vorschläge mehr Zustimmung als die Bewohner, die nicht so in diesen Strukturen verankert sind. 4.2 Nutzung des öffentlichen Raumes Der öffentliche Raum wird von verschiedenen Nutzungstypen unterschiedlich genutzt. Die öffentlichen Räume im Stadtteil Rieselfeld haben eine Vielzahl von räumlichen Wirkgefügen. Deren Lebendigkeit erwächst, planerisch meist nur bedingt unterstützbar, aus dem komplexen, z.T. widersprüchlichen und unordentlichen Nebeneinander von zufälligen und zweckorientierten Nutzungen. Auf dem zentralen, aber erst im Entsehend begriffenen, Maria von Rudloff- Platz findet zweimal die Woche ein kleiner Wochenmarkt, vor allem mit den Produkten aus der Region, statt. Dieses Angebot ist auch durch den noch immer fehlenden Supermarkt im Stadtteil besonders wichtig. Aber nicht alle Handlungsansatz Seite 73 Bewohnergruppen finden den kurzen Weg dort hin. Angehörige der sozial schwächeren Milieus beklagen zwar den fehlenden Supermarkt, blenden den Wochenmarkt als Möglichkeit für ihre Einkaufsmöglichkeit faktisch aus.b Sie fühlen sich dort fremd, was die Gesprächskultur, die Gesprächsinhalte, die Begrüßungszeremonien betrifft. Nicht zu vergessen, dass es auch ein Frage des Preises ob ich auf dem Wochenmarkt oder im Discounter einkaufe. Dieser Platz mit seiner Funktion als Marktplatz wird von ihnen nur als Zaungast beobachtet, oder man überquert ihn schnell von der Straßenbahn kommend. Den Platz neben der Funktion des Einkaufens auch als Bühne für Kommunikation und Selbstdarstellung zu sehen, bleibt den Mittelschichten vorbehalten, die diesen Samstagsvormittageinkauf richtiggehend zelebrieren. Mann und Frau trifft sich, tauscht den neusten Stadtteiltratsch aus, mobilisiert für die nächsten Aktivitäten und sonnt sich in dem Gefühl „dazu zu gehören.“ Die gleiche Beobachtung kann auch unter ethnischen Gesichtspunkten gemacht werden. Diese Gruppen ziehen, natürlich auch unter ökonomischen Gesichtspunkten, die nahen Einkaufszentren auf der grünen Wiese vor. Nur am Abend und in den frühen Nachstunden ändert sich die Belegung des Platzes. Dann sitzen auf den Bänken der Bus- und Straßenbahnhaltestelle die Jugendlichen der Russlandaussiedler und vereinzelt auch andere Migrantenjugendliche. Aus den Autos mit offener Türe schallt laute Musik und „man“ hängt einfach rum, meist bis sich ein oder mehrere Anwohner beschweren. b Diese Einstellung wurde durch viele Gespräche der Quartiersarbeiter mit Bewohnern in den Jahren 1998 bis 2003 gewonnen. Handlungsansatz Seite 74 4.3 Handeln durch Verhalten im öffentlichen Raum Anders verhalten sich Mitglieder modernen aufstrebenden Milieus im Stadtteil, vor allem auch im öffentlichen Raum. Oft sind beide Elternteile berufstätig und daher viel unterwegs, um gut koordiniert den vielschichtigen Alltag bewältigen zu können. Sie bewegen sich selbstbewusst und gezielt zwischen den zentralen Punkten und Plätzen im Quartier hin und her. Im ökumenischen Kirchenladen wird ein „Fairprodukt“ erstanden, im Bioladen eingekauft, im K.I.O.S.K. wird eine Infobroschüre über Sommerferienprogramm mitgenommen und die nächsten wichtigen Termine mit den städtischen Behörden mitgeteilt, wenn man sich nicht schon per E–mail informiert hat. Zufällige oder zweckfremde Aufenthalte scheitern, zumindest unter der Woche, an mangelnder oder nicht gegönnter Zeit. Hausfrauen und vereinzelt Hausmänner nehmen sich schon mehr Zeit auf den zentralen Plätzen des Stadtteils, um sich kurz auszutauschen und sich zu verabreden. Die Nutzung zentraler Plätze im Stadtteil durch vor allem weibliche Mittelschichtsangehörige ist auch deshalb von den weißen Dominanzmilieus geprägt, weil die Zahl der Migranten wesentlich niedriger ist und durch die Fertigstellung des dritten und vierten Bauabschnittes sogar stetig abnimmt, zur Zeit noch ca. 10 % des Gesamtstadtteils ausmacht, nachdem der Anteil in den ersten beiden errichteten Bauabschnitten noch ca. 15 % betragen hatte. Handlungsansatz Seite 75 Aneignung und Gestaltung sozialer Realität, “wer kommuniziert mit wem über was und wie?“. Ausgeschlossen werden im öffentlichen Raum auch bestimmte Gruppen durch bestimmte Benutzungsregeln. Darunter werden Verhaltensregeln verstanden, die es erlauben, die sozial anerkannten Verhaltensweisen, die für den jeweiligen Ort adäquat sind, anzuerkennen und anzuwenden. Die Lautstärke, wie Kinder reglementiert werden, während man in der Schlange vor dem Marktstand warte, das Flüstern im „Raum der Stille“ im Kirchenladen, das Verhalten an der Straßenbahnstelle und so weiter. Es handelt sich um ein Handlungsprogramm, um bestimmte Normen oder Programme, wie man sich unter bestimmten Umständen verhält.. Dabei ist der Einzelne identifizierbar, da er sich mit den Gegebenheiten des sozialen Ortes auskennt. Die Art, wie der Bewohner das Verhaltensprogramm über die Kenntnis eines Ortes anwendet oder erst durch die Nutzung erschafft, verursacht eine innere Dynamik, die dann wieder andere ausschießt. Die Mutter (oder der Vater), die ihr Kind völlig anders sanktioniert zum Beispiel, wird den Wochenmarkt als einen Ort erleben, den andere kontrollieren. Selbst sucht man sich dann einen Ort, an dem man nicht auffällt, man fährt also doch lieber zu dem großen Einkaufsmarkt auf der grünen Wiese (s.o.). 4.4 Außengestaltung Stadtteiltreff Der Stadt- und Stadtteilraum wird zunehmend von einzelnen dominanten privaten Interessen bestimmt und verliert seine ursächliche Funktion, die Pluralität von Benutzungsmöglichkeiten. Er wird derart geformt, dass er sich für bestimmte soziale Gruppen besonders gut eignet, aber nur für sie. Insofern unterliegt er auch immer mehr ästhetisch- symbolische Repräsentationen. Der zur Zeit entstehende Stadtteiltreff wird mit einer spezial Glasfassade, hinter der mit großen Schriftzügen auf die Funktionen des Hauses hingewiesen wird, versehen. Die Arbeitsgruppe, die die Schriftzüge diskutierte, rekrutierte sich ausschließlich aus Funktionsträgern der derzeit im Stadtteil agierenden Institutionen, andere bekamen den Arbeitsgruppentermin überhaupt nicht mitgeteilt. So vermitteln die Begriffe ein durchaus breites ansprechendes Programm, zeichnen in ihrer Summe aber ein klassisches Handlungsansatz Seite 76 bildungsbürgerliches Milieu aus. Die „Hinterglasbegriffe“ auf den vier Seiten lauten: Handlungsansatz Seite 77 Südansicht (Haupteingang): KULTUR, INFO, MEDIOTHEK, www.RIESELFELD.FREIBURG.de Ostansicht: CAFE, BIOTOP, BILDUNGKUNSTKULTUR Westansicht: THEATERFILM, SURFENMULTIMEDIA, FOYER Nordansicht: MUSIC, VHS, INTERGAMESTATION „Corinas Imbiss“, eine Würstchenbude, die eine Frau aus (Ex) Jugoslawien betreibt, der genau gegenüber steht, wird voraussichtlich der Treffpunkt sein von denen, die sich bei „BILDUNGKUNSTKULTUR“ nicht sofort angesprochen fühlen. Hier bestimmen die hauptsächlichen zukünftigen Nutzer nicht nur den Innenraum, sondern auch über ästhetisch–symbolisch Repräsentation den Außenraum. Der exkludierende Charakter fördert dadurch eine Privatisierung des öffentlichen Stadtraumes und bedeutet eine Ausweitung der aufgeräumten häuslichen Logik in den Außenraum. In der modernen Gesellschaft steht demnach der kollektive Haushalt (Oikos), und mit ihm die Ökonomie, im Vordergrund. Das private Leben wird mehr und mehr von ökonomischen Dynamiken durchzogen und hat längst öffentlichen Charakter angenommen. Aneignung und Gestaltung sozialer Realität, „wer kommuniziert mit wem über was und wie?“ Der Stadtteil Rieselfeld, der neue Stadtraum wurde in kürzester Zeit von seinen neuen Bewohnern durch Handeln und Sprechen angeeignet. Bei genauerer Betrachtung ist es aber eine kleine, sehr aktive Gruppe, die sich durch verschiedenen Praktiken die Macht auf den verschiedensten Ebenen errungen hat und diese auch anwendet. Im folgenden Kapitel wird untersucht, wer diese Gruppen sind und wie und warum sie sich so organisieren und konstituieren. Handlungsansatz Seite 78 4.5 Macht im öffentlichen Raum Im Dezember 2003 wurde nach Ablösung des Projektes „Quartiersaufbau Rieselfeld“ von der Kontaktstelle für praxisorientierte Forschung e.V. an der Evang. Fachhochschule Freiburg, die das Projekt initiiert und sieben Jahre begleitet hatte, ein neuer Vorstand für den K.I.O.S.K.- Trägerverein aus der Bürgerschaft des Stadtteils gewählt. Dieser Verein betreibt die Trägerschaft für den neuen Stadtteiltreff mit der Stadtteilarbeit und der Kinder- und Jugendarbeit. Dabei sind zwei Faktoren sehr aufschlussreich. Erstens rekrutiert sich der neue Vorstand aus den Männern „der ersten Stunde“, d.h. aus Bewohnern, die seit Anfang an aktiv die Strukturen im Stadtteil mitaufgebaut haben, und zweitens nur aus Bewohnern, die Eigentümer sind und bereits in anderen Gremien und Institutionen des Stadtteils Funktionen übernommen haben. Das sind konkret Mitglieder, die auch als Vorstand und Vorsitz im BürgerInnenverein, Vorsand im kath. Kirchengemeinderat, Vorstand im Sportverein eine entscheidende Rolle im öffentlichen Leben des Stadtteils gespielt haben. Bei der Vorstellungsrunde, warum man(n), (es sind nur zwei Frauen von sieben Vorständen) kandiere, war unisono zu hören: „Als ich ins Rieselfeld zog, war mit klar, hier muss ich aktiv werden, ich muss handeln, ich will mich engagieren“. 5. Zusammenfassung Mit dem gelebten Raum verbindet sich die Vorstellung eines Handlungsraumes, der mit der leiblichen Bewegung verbunden ist. Durch körperliches Agieren werden „Wirkzonen“ entwickelt. Diese Wirkzonen formen die Lebenswelt von Menschen an Orten und in Räumen. Die Lebenswelt des Stadtteils ist der Inbegriff der Wirklichkeit für die Bewohner, die erleben, erfahren, erleiden und handeln. Sie ist aber auch eine Wirklichkeit, die im Tun bewältigt wird. Vor allem für die Lebenswelt des Alltags gilt, dass Menschen handelnd eingreifen und sie dadurch verändern. Der Alltag im Stadtteil ist jener Bereich der Wirklichkeit, in dem Menschen die gesellschaftlichen Gegebenheiten als die Bedingung des eigenen Lebens unmittelbar begegnen. Handlungsansatz Seite 79 Die alltägliche Wirklichkeit ist vielschichtig strukturiert. Ferner gibt es eine grundlegende Differenz von Alltag und Lebenswelt. Bereits Husserl++ hat zwischen Lebenswelt und Sonderwelten unterschieden, wobei die Lebenswelt die grundlegendere Welt sein soll. Alltag wäre dann, gleichsam im phänomenologischen Sinne lediglich eine Sonderwelt. Lebenswelt ist so der Hintergrund des Alltäglichen. Dabei wird die Lebenswelt weder verengt als vortheoretische Anschauung noch als reine raumzeitliche Körperwelt ohne alle kulturellen Prädikate gesehen. Die Selbstverständlichkeit mit der der Mensch in seiner natürlichen Lebenseinstellung sich im Alltag bewegt, gründet sich auf Gewissheiten, seinen gewohnten sozialräumlichen Kontext und nicht zuletzt auf das Hintergrundwissen eines kulturell überlieferten und sprachlich organisierten Vorrates an Deutungsmustern, einschließlich der für die Alltagsbewältigung erforderlichen Fertigkeiten, Techniken und Praktiken. Diese muss er in einem neuen Gemeinwesen teilweise neu entwickeln oder anderswo schon entwickelte Techniken modifizieren. Die Lebenswelt ist so das Fundament des alltäglichen Lebens. Notwendig fundiert diese natürliche Grundierung des Erwachsenen von Anfang an auf Sozialität. Lebenswelt fundiert elementar auf Gemeinschaftlichkeit. Alltag und Lebenswelt wurden bisher weitgehend durch Vertrautheit, Routine und Sicherheit charakterisiert, als das, was beständig ist, sich wiederholt und gewissermaßen den Agierenden den sicheren „Boden unter den Füßen“ verkörpert. Selbst der entfremdete Alltag und die kolonialisierten Lebenswelten wurden als Grundlagen alltäglicher Orientierung dargestellt. Dies ist die Motivation warum gerade in dem Neubaustadtteil so viele Menschen handeln und ihren Alltag in den neuen Zusammenhängen konstituieren wollen. Alle sind es aber doch nicht, sondern nur eine bestimmte Gruppe, ein bestimmtes Milieu, das in konkreten sozialen, politischen, kulturellen, ökonomischen und technologischen Kontexten agiert. Das Milieu agiert im öffentlichen Raum. Dort gibt es Aneignungsmöglichkeiten oder Aneignungsbarrieren für die handelnden Subjekte. Diese Aneignungsprozesse stellen eine permanente Interaktion zwischen zwei Formen des Sozialen dar. Die Interaktion der materiellen Objekthaftigkeit des physischen Substrats und der Subjekthaftigkeit der Akteure. Die Dualität zwischen Handlung und Struktur ist auch eine Dualität, die sich im Raum widerspiegelt. Die handelnde Aneignung von Räumen schafft und verändert Raum, wie die räumlichen Handlungsansatz Seite 80 Strukturen selbst auf die handelnden Strukturen einwirken. Dies konstituiert sozial-räumliche Lokalität, die von den Milieus gelebt werden, die durch ein Geflecht von sozialer, habitueller und räumlicher Nähe ein Zugewinn an Sicherheit und Macht erreichen. Die Entwicklung und Konstituierung von Milieustrukturen sind Inhalt des nächsten Kapitels. Handlungsansatz Seite 81 1 Duden, Bd. 7 1989 S. 267 2 Schütz Alfred; Strukturen der Lebenswelt; Konstanz 2003 3 Schütz Alfred; Strukturen der Lebenswelt; Konstanz 2003 S. 54 4 Weber, Max; Wirtschaft und Gesellschaft. Mehrfach überarbeitete Fassung der Originalfassung von 1922 Tübingen 1922 5 Arendt, Hanna; Vita aktiva oder vom tätigen Leben Münschen 1985 S. 15 6 Arendt, Hanna; Vita aktiva oder vom tätigen Leben München 1985 S. 49 7 Arendt, Hanna; Vita aktiva oder vom tätigen Leben München 1981 S. 151 8 ebenda 9 Arendt, Hannah; Vita activa oder vom tätigen Leben; München 1985 S. 42 10 Arendt, Hanna; Vita aktiva oder vom tätigen Leben München 1981 S. 192 11 Habermas, Jürgen; Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns; Frankfurt a. M. 1984 12 Habermas, Jürgen; Theorie des kommunikativen Handelns 2; Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft; Frankfurt a.M. 1981 b S. 157 13 Bronfenbrenner, Ulrich; Die Ökologie der menschlichen Entwicklung. Natürliche und geplante Experimente. Stuttgart 1981 14 Habermas, Jürgen; Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns; Frankfurt a. M. 1984 S 589 15 Habermas, Jürgen; Theorie des kommunikativen Handelns 2; Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft; Frankfurt a.M. 1981 b S. 157 16 Habermas, Jürgen; Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns; Frankfurt a. M. 1984 S 589 17 Habermas, Jürgen; Theorie des kommunikativen Handelns 2; Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft; Frankfurt a.M. 1981 b 18 Elias, Norbert; Über den Prozess der Zivilisation: Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Band 1, Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes; Bern/München 1969 a 19 ebenda S. 68 20 ebenda 21 Arendt, Hannah; Vita activa oder vom tätigen Leben; München 1985 S.192 22 Läpple 1991; Sturm, Gabriele; Wege zum Raum. Methodologische Annäherungen an ein Basiskonzept raumbezogener Wissenschaften. Opladen 2000 23 Bourdieu, Pierre; Die feinen Unterschiede. Frankfurt 1982 Kapitel 3 Milieuansatz Das Handeln der Rieselfelder Neubürger erzeugt Orte und Räume und bildet ortskonkrete Milieubildungen heraus. Die Klärung des Verhältnisses von Milieu und Raum muss vor dem Hintergrund des gravierenden Umbruchprozesses aller Rieselfelder betrachtet werden. Sie fangen alle neu an, sie haben gemeinsam Alltagsbeziehungen und Mentalitäten die ähnliche Gruppen und Milieus entstehen lassen. Diese Milieus verteilen sich im neuen Stadtteil auch räumlich und sind somit ebenfalls Ausdruck von gesellschaftlichen Konflikten und Machtverhältnissen. Dies wird im folgenden Kapitel näher untersucht. 1. Milieutheorie Die Milieutheorie entspringt, wie viele theoretischen Systeme einem polemischen Interesse: Sie ist Gegengift gegen die nach wie vor grassierenden Individualisierungstheoreme und anderen. Milieu gilt als Vermittlungsinstanz zwischen sozial-räumlichen Strukturen und den Verhaltensdimensionen der Bewohnergruppen.1 Der Milieubegriff charakterisiert Ressourcen und Restriktionen der aktiven Lebensgestaltung und Alltagsbewältigung, auch im Stadtteil und im Quartier. Dabei sieht der Lebensstil- und Milieuansatz neue soziale Gruppierungen im Entstehen, die sich nach ihrem Lebensstil abgrenzen lassen. Milieus sind eine eigenständige und notwendige Strukturkategorie zur Analyse sozialer Räume und ihrer Transformationsprozesse.2 Eine Kernaussage des Milieuansatzes besteht darin, dass Milieuverhaftungen der Menschen in vielen Fällen Resultat ihrer eigenverantwortlichen Lebensführung sind und insoweit sozialstrukturell stark differieren als auch kontingent sind. Es ist daher offen, in welchem Maße für ein ausgewiesenes Gebiet überhaupt Milieustrukturen identifizierbar sind und für welche sozialen Kategorien von Bewohnern welche Milieuverhältnisse zutreffen. Eine Beschränkung der sozial rekonstruierten Milieus auf Stadtteile und Quartiere mit Verwaltungsgrenzen erscheint nicht sinnvoll. Vielmehr ist von Milieureichweiten höchst unterschiedlicher Art auszugehen. In einem all zu oft übersehen Maße wird die sozialräumliche Qualität eines gebauten Raumes Milieuansatz Seite 83 durch das lokale Milieu geprägt, in dem es sich befindet, wobei es sich hier um eine Wechselwirkung handelt. Dabei wird einerseits den unterschiedlichen ethnischen, geschlechtsspezifischen und persönlichen stilistischen Eigenheiten der Publikumsgruppen Entfaltungsmöglichkeiten eröffnet, anderseits wird zugleich versucht, diese Stilmöglichkeiten in einen übergreifenden Rahmen habitueller Übereinstimmung zu integrieren „Von Klassen und Schichten zu Lagen und Milieus“ gibt eine Analyse und Erklärung für die Renaissance des Milieukonzeptes, gerade im Kontext von lokal- und stadtteilspezifischen Differenzierungen. In den 1980er Jahren wurde ein weitgehender Konsens darüber hergestellt, dass die tradition, nur an vertikalen Dimensionen des Einkommens, der Berufsstellung und des Bildungsniveaus sozialer Ungleichheit orientierten Klassen- und Schichtkonzepte nicht mehr ausreichend die soziale Situation in fortgeschrittenen Gesellschaften abbilden. Die sozialwissenschaftliche Gegenwartsanalyse hat dem gegenüber eine Individualisierung und Pluralisierung von Milieus und Lebensstilen diagnostiziert, die an die Stelle traditioneller, relativ fest gefügter Schichtungsblöcke treten. Der Milieuansatz setzt theoretisch an der umfassenden Ästhetisierung der Alltagswelt an, die als Charakteristikum hochentwickelter Konsum- gesellschaften auf dem Weg in die Postmoderne gilt. Der Begriff des Ästhetischen zielt dabei weniger auf Fragen des Geschmacks, schon gar nicht auf den vermeintlich gehobenen, sondern reflektiert vielmehr die Einsicht, dass für die Alltagswelt der Menschen, für die Fragen:„Wie möchte ich leben? Wie soll die Gesellschaft aussehen, der ich angehöre? Wie grenze ich mich ab gegenüber anderen?“ die soziokulturelle Struktur einer Gesellschaft von entscheidender Bedeutung sind. Dies bedeutet, subjektiv zu treffende alltagskulturelle Optionen entscheiden heute nicht nur über Lebensweise, Lebensziele des Einzelnen und von Gruppen, sondern prägen zunehmend auch die strukturierenden Merkmale der von Gesellschaften und die damit verknüpften individuellen wie auch gesellschaftlichen Verhaltensmuster, Einstellungen und Verhaltens-optionen. Milieuansatz Seite 84 Die Ästhetisierung der Alltagswelt wirkt entgrenzend und auf eine neue Weise strukturbildend zugleich. Entgrenzend, weil sie mit dem Angebot nie gekannter Freiheitsgrade, soziale und kulturelle Zugehörigkeit selbst zu bestimmen, gesellschaftliche Differenzierungen alter Art, einreißt, mit ihrem Globalisierungsanspruch nationalstaatliche Grenzen ignoriert und angesichts der Allgegenwärtigkeit hyperrealer Welten, in die man sich zurückziehen kann, zunehmend auch physikalische Grenzen überwindet. Die derzeitige Renaissance des alten Milieubegriffs geht zurück auf den Wandel sozialer Ungleichheit von einem rein vertikal zu verstehenden Gefüge von sozialen Schichten bzw. Klassen hin zu einer Pluralisierung von Lebensstilen und Milieus, in denen stärkere subjektive Orientierungen aufgenommen sind. Die Globalisierung, die durch die Transformationsprozesse unterfüttert wurde, radikalisierte eine Grundbedingung für soziale Entwicklungsprozesse. Diese Entwicklungsprozesse finden sich eingespannt zwischen den Strukturierungsprozessen Krise und Routine, wobei Krise hier kein moralisierender und alarmierender Begriff sein soll, sondern eher ein Strukturbegriff. Entsprechend können Milieus einmal mehr die chronische Krisenanfälligkeit sozialer Organisationen abfedern, andererseits sind sie selbst durchzogen von kleinen bis großen bestandskritischen Unwuchten und Konvulsionen. Auch Milieus strukturieren und restrukturieren sich durch Krisen hindurch. Zur Grundstruktur der Milieus in ihrer relativ natürlichen Normgestalt gehört, dass sie über „zufälligen Gestaltbildungen mit erhöhter Binnenkommunikation und relativen klaren Angemessenheitsregelen führen und zwar nach großenteils implizit gewussten Wohlgeformheits-typiken“.5 Milieus sind strukturbildend, weil sie als Katalysator eines gesellschaftlichen Transformationsprozesses wirken, der als sozialästhetische Segmentierung bezeichnet wird. Folgende Beobachtungen können hierbei gemacht werden: Die dem Schicht- bzw. Klassenmodell als dem Differenzierungsparadigma der Moderne zugrunde liegenden sozioökonomischen Lebensbedingungen werden in der Alltagswelt postindustrieller Gesellschaften in sehr Milieuansatz Seite 85 unterschiedlicher ästhetisch-stilistischen Inszenierungen wirksam, sichtbar und erfahrbar. Gleiche sozioökonomische Lebensbedingungen produzieren im Alltag offensichtlich ungleiche Stilwelten. Bestimmte Stilwelten scheinen sich losgelöst vom Schicht- bzw. Klassenzusammenhang und den ihn generierenden Merkmalen zu entfalten, während andere wiederum schicht- bzw. klassenspezifisch sozialhierarchischen Linien folgen. Die Unterschiedlichkeit von Lebensstilen ist die Alltagswirklichkeit von Menschen – und somit für die Prozesse subjektiver Sinnkonstitution – vielfach bedeutsamer als die Unterschiedlichkeit sozioökonomischer Lebensbedingungen. Subjektiv erfahrene Identität wird weniger von schicht- bzw. klassenspezifischen Merkmalen geprägt als von alltagsästhetischen Optionen, Gemeinsamkeiten der grundlegenden Wertorientierungen und der Lebensweisen. Über die Milieuzugehörigkeit des Einzelnen bestimmen subjektive alltagsästhetische Beziehungswahlen. Diese werden von objektiven Merkmalen wie Alter, Einkommen, Bildung und natürlich Herkunftsmilieu beeinflusst, aber nicht entschieden, auch nicht von der Berufsgruppenzugehörigkeit. Die Tendenzen, postmaterieller Wertewandel und Fragmentierung der Gesellschaft werden oft unter dem Begriff Individualisierung zusammengefasst. Die Individuen, so scheint es, sind nun weder durch materielle Interessen, die als gesättigt gelten, noch durch die kulturellen Traditionen ihrer Schichten, die als fragmentiert gelten, genötigt, sich zusammenzuschließen. Stattdessen wählen sie ihre Lebensstile und Milieus aufgrund freier Entscheidung immer mehr selbst. Beck und Giddens5 sprechen von „reflexiver Modernisierung“. Die Individualisierung bedeutet damit auch Verlust von Traditionen und Bindungen zwischen den Individuen wie auch zu den großen Institutionen. Die suggestive Kraft dieser Thesen beruht auf einer Überhöhung von durchaus vorhandenen Tendenzen und Problemen. Beispielweise untersucht Gerhard Schulze (1992) die Zunahme postmaterieller Züge und Erlebnisorientierung in den jüngeren Generationen sehr anschaulich und zutreffend. Aber die Folgerung, dass damit nun die ganze Gesellschaft eine Milieuansatz Seite 86 „postmaterialistische Gesellschaft oder Erlebnisgesellschaft“ geworden ist, ist nach Meinung des Autors eine starke Verallgemeinerung. Die Neigung aus großen ökonomischen Daten große Epochentendenzen abzuleiten, führt dabei zu Trugschlüssen. Denn wie die Menschen den wirtschaftlichen Wandel verarbeiten, ist nicht nur durch die ökonomische Lage bestimmt. Es hängt auch vielmehr davon ab, welche Mentalitätsstrukturen sie haben. Hier sei die Hypothese aufgestellt, dass auch bei gleichen äußeren Lebensbedingungen je nach Typus der Mentalität und Lebensführung verschieden gehandelt wird. Die Menschen unterscheiden sich nach der Art, wie sie haushalten und Knappheiten bewältigen, welchen Freizeit- und Konsumgeschmack sie entwickeln, wie sie ihre Ausbildungs- und Berufswege gestalten und wie sie mit anderen Menschen umgehen oder zusammenleben, kurz, nach der Ethik ihrer alltäglichen Lebensführung. Nach Vester6 ist die Theorie der Auflösung der sozialen Milieus ein Fehlschluss. Es gibt vielmehr immer noch gesellschaftliche Großgruppen, die durch eine bestimmte Stellung im sozialen Raum definiert werden. Diese Großgruppen sind in einem gewissen Sinn Nachfahren der alten sozialen Stände, Klassen und Schichten. Warum werden sie dann nicht so genannt sondern Milieus? Der Grund ist ein Missverständnis zu vermeiden. Klassen und Schichten werden im allgemeinen mit der Einteilung in ökonomische Gruppen gleichgesetzt, wie sie zum Beispiel die Statistik benutzt. Die ist aber nach den großen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umwälzungen des letzten Jahrhunderts nicht mehr ausreichend. Infolge großer beruflicher und regionaler Wanderungen sind die meisten Milieus heute gemischt. Insbesondere besteht jedes der neuen Milieus nach Vester in den unteren Dreiviertel der Gesellschaft sowohl aus Arbeitern und Handwerkern als auch aus Angestellten und Dienstleistenden sowie kleineren Selbständigen. Das ist oft innerhalb der gleichen Familie so. Die Berufsgrenzen sind also keine Milieugrenzen. Denn die geschmacklichen, die moralischen Normen entstehen im Zusammenleben in der Familie und anderer primärer Netzwerke, wie Freunde und Nachbarn, lange bevor ein Mensch eine Berufstätigkeit aufnimmt. Es ist sogar eher so, dass sie die Wahl eines Berufszweiges beeinflussen. Wenn ein angestrebter Beruf nicht erreicht werden kann, wird ein anderer bevorzugt, der möglichst ähnliche Qualifikationsprofile und Milieuansatz Seite 87 Arbeitsverhältnisse bietet und in dem man Kollegen findet, die geschmacklich und moralisch auf einer Wellenlänge sind. Die sozialen Wanderungen führen nicht wie Beck vermutet, zu einer starken sozialen Fragmentierung, sondern sie führen oft in berufliche, kulturelle und auch räumlichen Zusammenhänge, wie eben auch in einem neuen Stadtteil, der denen des Herkunftsmilieus ähnlich sind, wie im Rieselfeld zu beobachten ist Insgesamt wird in den vielen verschiedensten Milieustudien deutlich, dass die sozialen Milieus in der Bundesrepublik keine ungeordnete Vielfalt bilden. Sie lassen sich vielmehr als räumliches Beziehungsgefüge darstellen und in die historischen Traditionslinien der gesellschaftlichen Großgruppen einordnen. Zugleich werden die neueren Spannungs- und Konfliktlinien deutlich. Es wird sich eine Bedeutung von Milieustrukturen nur dann ergeben, wenn sich zahlreiche milieuhaften Beziehungen von Bewohnern überlagern, also das konstituieren, was von Chombart de Lauwe7 in den 1950er Jahren und später von Pierre Bourdieu als „sozialer Raum“8 bezeichnet wurde, und als dieser nicht planbar (sie Kapitel: Raumansatz). Soziale Milieus sind also keine frei im Raum schwebenden Assemblages, zusammengefügt von der gemeinsamen Vorliebe für oft kurzatmige Lebensstilmoden, um sich dann wieder zu verflüchtigen und neue Strukturen zu bilden. Soziale Milieus bilden vergleichsweise stabile, wenn auch veränderbare sozialästhetische Strukturen, wie Zeitreihen-untersuchungen in Deutschland und Europa in den 1980er und 1990er Jahren des letzten Jahrhunderts belegt haben9. Milieuwahlen sind somit nicht individueller Beliebigkeit überlassen, sondern werden auf dem Hintergrund objektiv strukturierender Merkmale getroffen, die der Einzelne zwar mehr denn je beeinflussen und verändern kann, wie zum Beispiel Bildung, Arbeit und Einkommen, denen er aber nach wie vor auch ausgeliefert ist, so zum Beispiel dem Milieu, in das er hineingeboren wurde. Milieugrenzen sind fließend, sie lassen sich nicht so exakt gegeneinander abgrenzen wie Berufsgruppen oder soziale Schichten. Dies ist kein methodischer Nachteil des Ansatzes, den dieser in Kauf nimmt, sondern folgt der Einsicht, dass die Strukturen der Alltagswirklichkeit selbst unscharf sind. Alltagsweltlicher Bezug, Ganzheitlichkeit, Stabilität und Unschärfe gehören somit zu den wesentlichen theoretischen Grundlagen des Milieuansatzes. Milieuansatz Seite 88 2. Soziale Milieus in Deutschland Die theoretische Konzeption des Milieuansatzes10 lässt sich durch eine Abbildung wiedergeben: Das Strukturmuster der deutschen Milieumodelle ist in Form eines zweidimensionalen soziokulturellen Raumes abgebildet. Der in der Alltagswirklichkeit multidimensionale Raum wurde hier aus Darstellbarkeitsgründen auf die beiden Dimensionen der soziale Lage (vertikal) und der subjektive Wertorientierungen, die den jeweiligen Stil des Lebens prägen (horizontal) reduziert. Milieuansatz Seite 89 In Deutschland wurden in dieser Untersuchung zehn Milieus identifiziert . Die Spannweite der an den „klassischen“ soziostrukturellen Variablen wie Bildung, Beruf und Arbeit orientierten Dimensionen der sozialen Lage reicht vom traditionslosen Arbeitnehmermilieu bis hin zu dem eher konservativ orientierten Etablierten oder dem postmateriell eingestellten intellektuellem Milieu. Die Wertedimension wird aufgespannt von der alltagskulturellen Position des postmodernen Milieus bis hin zum traditionellen Arbeitermilieus. Die Milieus werden kurz hoch verdichtet dargestellt, um dann die Milieus herauszunehmen, die für die Entwicklung in dem Neubaustadtteil Rieselfeld eine zentrale Rolle spielen. 2.1 Etabliertes Milieu: Das etablierte Milieu, das heute knapp 9% der über 15ährigen Bevölkerung in Deutschland repräsentiert, kann man als eher konservativ orientiertes Elite- Milieu mit traditioneller Lebensführung bezeichnen. Die meisten Angehörigen des etablierten Milieus verfügen über eine überdurchschnittlich hohe Formalbildung. Es finden sich dort viele leitende Angestellte und höhere Beamte sowie selbständige Unternehmer und Freiberufler. Im Vordergrund der Wertorientierungen stehen traditionelle gesellschaftliche Werte und eine meritokratische Lebensphilosophie: Beruflicher und materieller Wohlstand durch Leistung, Zielstrebigkeit und wo nötig auch Härte. Ein ausgeprägtes Leistungsträgerbewusstsein prägt die subjektiv wahrgenommene Stellung im gesellschaftlichen Gefüge des Landes. Wichtig sind ein distinguierter Lebensstil, gute Umgangsformen, Understatement und Diskretion. Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und kulturellen Leben, aktives Engagement in Vereinigungen und Verbänden gilt vielen Milieuangehörigen als ethische und soziale Verpflichtung. 2.2 Traditionelles bürgerliches Milieu: Noch vor zwanzig Jahren, zu Beginn der 1980er Jahre, gehörten dem traditionellen bürgerlichen Milieu, dem Kernmilieu der traditionellen Mitte des Milieuansatz Seite 90 Landes, das kurzerhand das „Kleinbürgerliche“ genannt wurde, rund 30 % der erwachsenen Bundesbürger an. Zusammen mit dem traditionellen Arbeitermilieu bildete diese Lebenswelt über Jahrzehnte gleichsam den natürlichen Mittelpunkt der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Heute stellt sie allerdings nur noch 15% der Gesamtbevölkerung ab dem 15. Lebensjahr. Niedrige bis mittlere Formalbildung und klassische Ausbildungsberufe wie Facharbeiter, kleinere und mittlere Angestellte und Landwirte finden sich hier am häufigsten. Ein großer Teil des Milieus befindet sich heute aber schon im Ruhestand oder bereitet sich darauf vor. Der Altersschwerpunkt liegt deutlich bei den über 50jährigen. Der gerade in diesem Milieu lange akzeptierten Rollenverteilung zwischen Mann und Frau folgend, haben die Frauen des Milieus ihren Beruf häufig schon recht früh aufgegeben, zugunsten von Haus und Familie. Geregelte familiäre und finanzielle Verhältnisse, traditionelle Tugenden wie Fleiß, Pflichterfüllung, Verlässlichkeit, Ordnung und Anstand stehen hoch im Kurs. Das Sicherheitsbedürfnis in allen Lebenslagen ist in diesem Milieu besonders stark ausgeprägt. Viele haben den Eindruck, trotz ernsthafter Bemühungen, mit der „schönen neuen Welt“ wie Internet, englischsprachige Bedienungsanleitungen, SMS und ISDN nicht zurecht zukommen. „Man kann eh´ nichts ändern“, ist eine häufig gehörte Reaktion. 2.3 Traditionelles Arbeitermilieu: Hinsichtlich der Altersgruppe, Grundorientierungen und alltagsästhetischen Orientierungen steht das traditionelle Arbeitermilieu in einer ausgeprägten „Verwandtschaftsbeziehung“ zum traditionellen bürgerlichen Milieu. Dieses ist in den neuen Bundesländern ist zahlenmäßig noch häufiger vertreten. Typisch für dieses Milieu ist Volksschul- bzw. Hauptschulabschluss, abgeschlossene Berufsausbildung oder Hausfrauentätigkeit. Hier ist der Facharbeiteranteil auch am höchsten. Ein befriedigender Lebensstandard, ein gutes Auskommen, soziale und materielle Absicherung stehen ebenso im Mittelpunkt der Wertorientierungen und Lebensziele wie die klassischen Solidarwerte der gewerkschaftlichen Arbeiterkultur des Industriezeitalters, Solidarität, soziale Integration, Anerkennung bei Freunden, Nachbarn und Kollegen. Gegenseitige Hilfe im sozialen wie auch im örtlichen Nahbereich Milieuansatz Seite 91 sind alltagskulturell nach wie vor hoch im Kurs, genauso wie das traditionelle Vereinsleben wie Sport-, Gesangs- oder Schützenverein. 2.4 Traditionsloses Arbeitermilieu: Das traditionslose Arbeitermilieu ist mit rund 11% der Bevölkerung in Deutschland eines der stärksten Milieus, das durch die Wiedervereinigung zudem an Bedeutung gewonnen hat Man kann es als das Milieu der wirtschaftlich und sozial Randständigen mit vergleichsweise geringen Chancen am Arbeitsmarkt nachindustrieller Gesellschaften bezeichnen. Angehhörige dieses Milieus finden sich in allen Altersgruppen. Die Formalbildung ist meist gering, der Arbeitslosenanteil überdurchschnittlich hoch. Geld und Konsum spielen eine entscheidende Rolle. Entsprechend stark ausgeprägt ist die konsum-materialistische Grundorientierung, die dann im Alltag oft zu Frustrationen führt. Die wenig begünstigte objektive soziale und wirtschaftliche Lage verbindet sich bei nicht wenigen mit dem Bewusstsein gesellschaftlicher und kultureller Marginalisierung. Insbesondere im Blick auf diesen Personenkreis spricht man in der politischen Soziologie daher auch oft von den „Modernisierungsopfern“. 2.5 Aufstiegsorientiertes Milieu: Dieses Milieu, man kann es auch „Statusorientiertes Milieu“ nennen, war in der Vergangenheit in den alten Bundesländern sowohl zahlenmäßig wie auch gesellschaftlich und politisch von großer Bedeutung. Es umfasste jene, die die wirtschaftliche Dynamik des Landes unter allen Umständen für den persönlichen, finanziellen und sozialen Aufstieg nutzen wollten. Das Erreichen des Lebensstandards gehobener Schichten gilt den meisten Milieuangehörigen auch heute noch als Maßstab des persönlichen Erfolges. Andere Lebensansprüche treten zumeist hinter dieses primäre Ziel zurück. Prestige, Luxuskonsum und die Zugehörigkeit zu Welt der „Reichen und Schönen“ stellen zentrale Werte dar. Die jüngren und mittleren Altersgruppen sind überrepräsentiert, höhere und mittlere Bildungsabschlüsse überwiegen. Milieuansatz Seite 92 Während man in dem arrivierten Teil des Milieus, also jene, die es geschafft haben, in hohen und höchsten Einkommensklassen findet, haben die Angehörigen im unteren Drittel des Milieus ihre milieutypischen Aufstiegs- und Erfolgserwartungen den neuen (widrigen) Verhältnissen anpassen müssen. Durch die Wiedervereinigung hat das Milieu an Bedeutung verloren. Mit etwas mehr als 15% der Bevölkerung ist es dennoch nach wie vor die zahlenmäßig bedeutendste Lebenswelt in Deutschland. 2.6 Modernes Arbeitnehmermilieu: Zusammen mit dem modernen bürgerlichen Milieu bildet das moderne Arbeitnehmermilieu die moderne Mitte des Landes. Beide Milieus zusammen repräsentieren seinen neuen sozialen Schwerpunkt, der von Jahr zur Jahr gesellschaftlich und politisch an Bedeutung gewinnt. Vom Alter her dominieren die jüngeren und mittleren Jahrgänge unter 50 Jahren. Das moderne Arbeitnehmermilieu ist im gesamten Milieuvergleich eines der jüngsten des Landes. Fast 40% der Milieuangehörigen sind noch keine 30 Jahre alt. Entsprechend hoch ist der Anteil Lediger, Auszubildender, Schüler und Studenten. In beiden Milieus ist der Anteil der Berufstätigen bei beiden Geschlechtern jedoch ausgesprochen hoch. „Moderne Arbeitnehmer“ verfügen in der Regel über mittlere und höhere Formalbildung und sie sind häufig in High-Tech-Branchen oder in modernen Dienstleistung- und Sozialberufen tätig. Vorrangiges Lebensziel ist für fast alle Milieuangehörigen ein selbstbestimmtes, möglichst angenehmes und harmonischen Leben zu führen mit Selbstverwirklichung und ohne materiellen Verzicht. Dazu gehört eine Arbeit, die Spaß macht, die sinnvoll ist und angemessen bezahlt wird, damit man sich das leisten kann, was einem gefällt, wie ausgehen, Sport treiben, Veranstaltungen und Feste besuchen. Aber man will sich auch zurückziehen und erholen können. Man ist dabei ausgesprochen gemeinschaftsorientiert, der Freundeskreis als virtuelles Dorf, die emotionale Sicherheit, menschliche Nähe spielen eine große Rolle. Hinzu kommt eine grundsätzliche Offenheit anderen Lebensweisen und Erfahrungen gegenüber; man möchte Milieuansatz Seite 93 ausprobieren, den eigenen Horizont erweitern - jedenfalls nicht stehen bleiben. 2.7 Modernes bürgerliches Milieu: Das moderne bürgerliche Milieu kann man in der Tat als moderne Metamorphose des eher konservativen traditionellen bürgerlichen Milieus verstehen. Die mittleren Altersgruppen zwischen 30 und 50 Jahren überwiegen hier allerdings, mehr als die Hälfte der Milieuangehörigen ist noch keine 50 Jahre alt. Mehrpersonenhaushalte sind überrepräsentiert, häufig mit Kleinkindern oder Kindern im schulpflichtigen Alter. Das moderne bürgerliche Milieu ist eine ausgesprochen harmonieorientierte Lebenswelt. Innerlichkeitswerte und soziale Beziehungen haben einen hohen Stellenwert. Man strebt ein harmonisches, angenehmes und behütetes Leben an, ohne Risiken und Extreme. Die innere Zufriedenheit, und nicht so sehr der äußere Erfolg, gelten als Maßstab des Erreichten und können als „modernes Biedermeier“ bezeichnet werden. Das auch für dieses Milieu nicht untypische Sicherheitsdenken umfasst daher materielles wie auch soziales und emotionales Wohlergehen. Kinder gelten als sinnstiftender Lebensinhalt, die Familie als Glücksgemeinschaft von (nicht unbedingt verheirateten) Erwachsenen. 2.8 Intellektuelles Milieu: Das intellektuelle Milieu umfasst ein breites Alterspektrum, von Schülern und Studenten bis hin zur Generation der „jungen Alten“. Wie die Bezeichnung des Milieus bereits andeutet, finden sich hier überdurchschnittlich viele Menschen mit hoher bis höchster Formalbildung. Soziokulturell vielfach geprägt von Alt- und Nach-68gern, werden hier häufig „grüne“, im engeren Sinne postmaterialistische Überzeugungen und Lebensphilosophien, alte Solidargemeinschaften gepflegt, wenn nicht länger in Form der großen Entwürfe, so doch als Versuch, deren Menschenbild im postmodernen Mikrokosmos von neuen sozialen Bewegungen und Projekten zu leben. Milieuansatz Seite 94 Persönliche Selbstentfaltung- und verwirklichung und sinnstiftende Identität in Beruf und Freizeit bilden wichtige Lebensziele, ebenso der verantwortungsbewusste Umgang mit sich und der Welt, soziale Gerechtigkeit, ökologische und politische Korrektheit. Als selbstverständlicher Anspruch an sich selbst und an andere gelten darüber hinaus Weltoffenheit und Toleranz. 2.9 Hedonistische Milieu: Das hedonistische Milieu ist ein jugendkulturelles Milieu mit Alterschwerpunkt um die 30 Jahre. Dies soll allerdings nicht heißen, dass es nicht auch Milieuangehörige gibt, die diese Altergrenze bereits überschritten haben, sich aber (immer noch) mit den unkonventionellen Lebensformen identifizieren. Eskapismus und Stilprotest gelten als Weg zur Identität. Einfache und mittlere Bildungsabschlüsse sind überrepräsentiert, zudem findet sich ein vergleichsweise hoher Anteil von Personen ohne abgeschlossene Berufsausbildung. Darüber hinaus zahlreiche Auszubildende und überdurchschnittlich junge Arbeitslose. Freiheit, Ungebundenheit und Spontanität sind zentrale Werte. Man möchte das Leben genießen, intensiv leben, nach Möglichkeit den Zwängen des Alltags entfliehen. Die ständige Suche nach Kommunikation, Abwechslung und Unterhaltung prägt die Freizeitansprüche. Normen, Konventionen und Verhaltenserwartungen der Gesellschaft, wie der Eltern, Lehrer, Ausbilder und Chefs, werden zurückgewiesen. Vielfach pflegt man demonstrative Unangepasstheit, im Outfit, im Verhalten oder in der Sprache. Die alternativen, teils postmaterialistisch gefärbte Lebensphilosophie der „frühren Jahre“ des Milieus ist heute aber einer recht unverkrampften Konsumbegeisterung gewichen, der man im Alltag mangels entsprechender finanzieller Mittel allerdings nur ungenügend frönen kann. Milieuansatz Seite 95 2.10 Postmodernes Milieu: Das postmoderne Milieu ist ein junges, formal zumeist hochgebildetes Avantgarde- Milieu mit Schwerpunkt in den großen Städten. Mehr als 70% dieser Milieuangehörigen sind unter 40 Jahre alt. Entsprechend hoch ist der Anteil an Single-Haushalten. Mit avantgardistischen Selbstbewusstsein scheinen Angehörige dieses Milieus in der Tat von den großen Sinnentwürfen der Moderne Abschied genommen zu haben, um ihre gesamte physische und soziale Umwelt aus der Sicht der Bedürfnisse selbst zu interpretieren. Der Einzelne ist der „Ingenieur“ seines Universums, die Außenwelt mit Kunst, Konsum, Philosophie aber auch Religion ist ein Baukasten. Multiple Identitäten gehören dabei ebenso zum Konstruktionsschema wie die beständige Wandelbarkeit. Widersprüche in den eigenen Lebensentwürfen werden toleriert, ja sogar alltagsästhetisch gepflegt. Man liebt es mit unterschiedlichen Lebensstilen zu experimentieren, in verschiedenen Welten und Kulturen zu leben. Diese Aufzählung soll als Grundlage dienen um nun im Rieselfeld diejenigen Milieus zu benennen die dort eine entscheidende Rolle bei der Aneignung des Stadtteils spielen. Zuvor wird aber kurz auf den Begriff Lebensstil eingegangen, da er oft in ähnlichen Zusammenhang wie der Milieu gebraucht wird. 3. „Lebensstil“ und soziale „Milieus“ Ähnlich schillernd wie der Lebensstilbegriff bleibt auch der Milieubegriff in der Literatur. Selten werden Milieu- und Lebensstilbegriff in der Literatur explizit auseinandergehalten. So meint zum Beispiel Gerhard Schulze, „statt von Milieus zu sprechen, könnte man auch andere Ausdrücke verwenden, etwa Lebensstilgruppen, Subkulturen, ständischen Gemeinschaften, soziokulturelle Segmente, erlebbare gesellschaftliche Großgruppen“.11 Einen ebenso umfassenden wie vielseitigen Entwurf; die Komplexität von Lebensstilen zu beschreiben, legte Pierre Bourdieu mit seinem Werk „Die feinen Unterschiede“12 vor. Allerdings sind die Wurzeln der Lebensstilforschung auch bei Max Weber13 und Georg Simmel14 zu finden, Milieuansatz Seite 96 auch wenn beide nie eine explizite Definition des Terminus, wie wir ihn heute kennen, formulieren. Bourdieu verknüpft Lebensbedingungen und Lebensstil in seinem Konzept des „Habitus“, in dem der Lebensstilbegriff nicht vollkommen losgelöst ist vom Klassenbegriff. Vor allem ist es Bourdieus Anliegen, Bezüge zwischen sozialer Ungleichheit und alltagsästhetischen Geschmackspräferenzen, wie sie sich in Lebensstilen manifestieren, aufzudecken. Habitus wird als Grundlage des Lebensstils beschrieben. Er ist strukturiertes und strukturierendes Prinzip, das Verhalten in verschiedenen Bereichen (Bourdieu spricht hier von Feldern) steuert. Ein Feld ist als Thema des Handelns zu verstehen. Essen ist z.B. ebenso ein Feld wie Musik, Kunst, Sport und Politik. Der Habitus macht den charakteristischen Lebensstil einer sozialen Gruppe sichtbar, bleibt aber nicht immer in statischer Weise erhalten, sondern er wird in der täglichen Praxis, im täglichen Handeln mit den Gruppenmitgliedern immer weiter geformt und gestaltet. Der Habitus bewirkt, dass Akteure in einer bestimmten Weise handeln, die sie von anderen in typischer Wiese unterscheidet. Der Habitus ist zugleich Produkt der allgemeinen Lebensbedingungen wie Produzent von alltagspraktischen Mustern, die in Lebensstilen ihren Ausdruck finden. Er ist sozusagen das inkorporierte Milieu, die verleiblichte soziale Ungleichheit, die Distanz im Körper. Der Habitus vermittelt zwischen Struktur und Individuum: „Jede spezifische Lage ist gleichermaßen definiert durch ihre inneren Eigenschaften oder Merkmale wie ihre relationalen, die sich aus ihrer spezifischen Stellung im System der Existenzbedingungen herleiten ... soziale Identität gewinnt Kontur und bestätigt sich in Differenz. In den Dispositionen des Habitus ist somit die gesamte Struktur des Systems der Existenzbedingungen angelegt, so wie diese sich in der Erfahrung einer besonderen sozialen Lage mit einer bestimmten Position innerhalb dieser Struktur niederschlägt.“15 Der Habitus ist der Begriff für ein Handlungs- und Haltungskonzept, das sich in allen Situationen durchhält und für soziale Zuordnung wie auch für soziale Abgrenzung sorgt und zwar unterhalb der Schwelle des Bewusstseins. Die praktischen Handlungen werden mithin nicht durch „Werte“ angeleitet, sondern durch die Formung der Körper und deren Einordnung in die Sozialwelt. Der Körper artikuliert sich aber über die Sinne und dadurch über Milieuansatz Seite 97 seinen Geschmack. „Der Geschmack ist amor fati, eine Wahl des Schicksals, freilich eine unfreiwillige Wahl, durch Lebensumstände geschaffen, die alles außer der Entscheidung für den Notwendigkeitsgeschmack als pure Träumerei ausschließen.“16 Es ist der Stil, den jemanden an den Tag legt, der entscheidend ist um sich im Kampf um die Aneignung durch zu setzen, der Stil ist das strategische Distinktionsmittel. 4. Die Rieselfelder Milieus Nach derzeitiger Einschätzung sind im Rieselfeld drei Milieus besonders hervorzuheben, das heißt nicht unbedingt zahlenmäßig (hierzu müsste man eine quantitative Untersuchung z.B. mit standardisierten Fragebögen durchführen), sondern in ihrem Auftreten und ihrer Ausprägung. Das sind das traditionslose Arbeitermilieu, das moderne Arbeitnehmermilieu und das moderne bürgerliche Milieu. Das „moderne bürgerliche Milieu“ ist das dominante Milieu, das im Rieselfeld den Aneignungsprozess am konsequentesten - auch aus Eigeninteresse - vorantreibt. Auch die anderen Milieus treten in Erscheinung, aber mit diesen genannten Milieus ist die Aneignung des Stadtteils am Besten nachzuzeichnen. Dies lässt sich auch am Wahlverhalten aufzeigen, das mit deutlicher Signifikanz „Bündnis 90/Die Grünen“ und ihnen nahestehenden Gruppierungen bevorzugt*. Dieses Milieu geht auch diszipliniert zur Wahl, während anderen diese Manifestation ihrer Lebenswelt und Überzeugung weniger wichtig erscheint. * Auffallend war bei der Kommunalwahl am 13.Juni 2005 im Rieselfeld das schwache Abschneiden der beiden Volksparteien. Während die CDU und die SPD im Stadtdurchschnitt 26,1 und 17,2 % bekamen, schnitten sie im Rieselfeld mit 16,6 % und 16,2 relativ schwach ab. Ganz im Gegensatz zu den Grünen und der Linken Liste. Die Grünen schnitten im Stadtdurchschnitt mit 25, 8 % ab, im Rieselfeld fielen 33,8 % auf die Grünen, die Linke Liste ist im Rieselfeld fast doppelt so stark (6,3 % zu 12,1 %) wie im Stadtdurchschnitt. Bei den anderen Listen und Parteien die Unterschiede zur Gesamtstadt recht gering. FDP 2,5 %, Junges Freiburg 1,1 %, Unabhängige Frauen 1,2 % und die Kulturliste 0,3 %. So ist das Rieselfeld mit dem Stadtteil Vauban und Wiehre, der Stadtteil mit den meisten Stimmen für Gruppierungen die nicht aus dem traditionellen Spektrum kommen sondern „ihre“ Milieus bedienen. (Clemens Back in der Rieselfelder Stadtteilzeitung, Nr. 31/Juni 2004) Milieuansatz Seite 98 Die Wahlergebnisse sind auch deshalb immer wieder Inhalt von bissigen Kommentaren, da die Grünen und andere alternative Gruppen und Listen noch bis zum Baubeginn im Jahr 1994 überhaupt gegen die Bebauung des Rieselfeldes agierten und nun nicht die Parteien davon profitieren, die die Bebauung planten, sondern die erklärten Gegner des Projektes. 5. Milieus und kulturelle Formen im Stadtteilleben Rieselfeld Städte bieten räumliche Kontexte für soziale Interaktionen an und stellen auf unterschiedlichste Weise Ressourcen bereit, damit Menschen ihre Lebensführung organisieren können. Theoretisch ausgearbeitet liegen Raumkonzepte seit den Arbeiten von Läpple17 und Bourdieu vor. Machtressourcen und Kapitalsorten konstituieren den sozialen Raum und deren Aneignungs- und Nutzungsweisen. Der soziale Raum ist zugleich in die Objektivität der räumlichen und in die subjektiven Strukturen eingeschrieben. Die ungleiche Verteilung von Ressourcen gesellschaftlicher Macht- und Einflusschancen charakterisiert demnach nicht nur die physischen bzw. die lokalen sozialen Räume. Darüber hinaus werden sie in räumlichen Klassifizierungen und Metaphern zum Ausdruck gebracht, um so die auf die soziale Ungleichheiten zurückzuführenden sozialen und kulturellen Distanzen zu verdinglichen. Zudem noch, und hier findet die Kategorie des sozialen Milieus Eingang in Bourdieus Theorie des Wechselverhältnisses von Gesellschaft und Raum, ist davon auszugehen, dass die räumlich objektivierten gesellschaftlichen Bedingungen sich in subjektiven Orientierungen und Bewältigungsmustern gesellschaftlicher Akteure niederschlagen. Bourdieu verweist hier ausdrücklich auf die soziale Konstruktion und Reproduktion gesellschaftlicher Wirklichkeit, auf deren mehr oder minder bewusste Symbolisierung und Verräumlichung. Physische Räume sind demnach immer schon bewertet und klassifiziert, d.h. sie sind Objekte gesellschaftlicher Machtkämpfe. So, wie ihre Aneignung mit sozialen Vor- und Nachteilen verbunden ist, repräsentieren ihre Nutzer und Bewohner entweder privilegierte oder benachteiligte soziale Positionen. Die räumliche Verteilung von spezifischen Bewohnergruppen bzw. von sozialen Milieus ist somit immer Ausdruck gesellschaftlicher Konflikte und Machtverhältnisse. Milieuansatz Seite 99 Unter Umständen genügt es bereits, einem Menschen an einem bestimmten Ort zu begegnen, um mit einiger Sicherheit sagen zu können, dass dieser Ort seine Umgebung ist. Je mobiler eine Gesellschaft ist, desto unsicherer ist allerdings diese Schlussfolgerung. Auch andere Hinweise, die früher aussagekräftig waren, geben nicht mehr viel her: Dialekt, Kleidung, Konsumstil, Alltagsästhetik, alles unterliegt einem Prozess der Entregionalisierung. Im sozialräumlichen Quartierskontext liegt der Akzent dieser Milieudimension in der räumlichen Organisation und Gestaltung. Um diese Milieus zu beschreiben wurde oft ein territorial abgegrenztes Gebiet zum fixen Ausgangspunkt der Milieuanalyse gewählt. Dies wirkt in dem Maße verfälschend, in welchem sich Milieustrukturen ohne direkten räumlichen Bezug ausbilden. Stattdessen sollte der räumliche Kontext erst Ergebnis der Milieuanalyse sein, denn für verschiedene Milieus kann es unterschiedliche räumliche Ausdehnungen geben. Die Milieuanalyse vermittelt oft den Eindruck, das Milieu sei, eben als Dauerhaftes, in seinem momentanen Zustand zu erhalten. Dabei sind in Milieustrukturen selbst dynamische Strukturen wirksam, die eine Milieutransformation ermöglichen. Nachdem sich die Umgebung von Milieus bis auf wenige Ausnahmen verflüchtigt hat, wird der Raum immer mehr als Szenerie genutzt. Bei diesem Typus der Beziehung zum Raum finden Milieus ihren Raum nicht mehr automatisch vor, sondern sie wählen ihn aus. Räume werden durch eine Art „Definition“ zu Milieuzeichen gemacht. Umgekehrt wird man durch die Benutzung von Räumen als zugehörig zu bestimmten Milieus definiert. Szenerien sind zum einen Treffpunkte, wo man relativ sicher sein kann, seinesgleichen zu finden und von seinesgleichen gefunden zu werden. Zum anderen sind sie Darstellungsorte für die gerade herrschenden symbolischen Moden. In dieser Funktion sind Szenerien austauschbar, oft unterliegen sie selbst modischen Konjunkturen. Nachdem sie eine Zeitlang „in“ waren, erfahren sie einen Signifikantverfall, während die Karriere anderer Räume beginnt, die innerhalb weniger Monate zur Szenerie werden. Solche Art von Lokalität verkörpert demnach ein raum-zeitliches Muster ohne eigene Substanz. Milieuansatz Seite 100 Ist damit bei „modernen Milieus“ eine Emanzipation vom Raum zu beobachten? Bedeutet Raumbezug immer traditionale Nichtbewegung? Im Rieselfeld kann diese Frage noch nicht abschließend beantwortet werden, da diese Frage auch von gesamtgesellschaftlichen Faktoren wie Arbeitsmarktpolitik und wirtschaftliche Entwicklung abhängen. Da Milieus sich aber über Raumbezug definieren und dies für sie wichtig ist, zeigt mit welcher Intensität sie Symbole im Stadtteil setzten. Im sozialräumlichen Quartierskontext liegt der Akzent der Milieudimension in der räumlichen Organisation und Gestaltung. Das Angebot von individuell und kollektiv zu nutzenden Einrichtungen schafft Gelegenheiten zu Aktivitäten und Kommunikation der Quartiersbewohner. Die räumliche Verteilung und Organisation dieser Nutzungsangebote ermöglicht oder aber verhindert solche „Gelegenheitsstrukturen“, also vorher unbeabsichtigte Begegnungen von Bewohnern, die aufgrund ihrer sozialen Situation und ihres kulturellen Hintergrundes diese Kontakte ausfüllen. Am anschaulichsten wird diese Funktion, wenn die Wegführung in einem Quartier nachgezeichnet wird, die Begegnungen unter den Bewohnern vermehren oder vermindern kann. Über diese direkte Kontaktförderung oder – verhinderung hinaus hat die sozialwirksame Raumstruktur weiterhin durch ihre spezifische Gestalt die Funktion, die Orientierung zu erleichtern. Schließlich kann die Raumstruktur symbolische Bedeutungen für das Quartiersleben gewinnen und damit eine Aneignung der Quartiersumwelt befördern. Hat einmal eine soziale Gruppe über gewisse Zeit Gelegenheit gehabt, einer Umgebung ihren Stempel aufzudrücken, und zum anderen die bauliche Umwelt genügend Projektionsmaterial für Symbolisierungen geliefert, dann können sich Identifizierungsprozesse herausbilden, die dauerhaft Abhängigkeit an das Quartier vermitteln und damit die Integration der Bewohner befördern. Dies ist im Rieselfeld in den ersten Jahren der Besiedlung geschehen und zeichnet sich klar ab. Die Gestaltung der Gärten, die Möblierungen rund um die Häuser und Wohnungen, das Kommunikationsverhalten, das Verhältnis von Distanz und Nähe, gelebt im Milieuansatz Seite 101 halböffentlichen Raum, auf dem Laubengang, die Kultur des Feierns, dies zeigt dies sehr deutlich im Rieselfeld. U. Hradil spricht auf lokaler Ebene von Mikromilieus18, d.h. darunter fallen Lebensstilgruppen, deren Mitglieder miteinander in unmittelbaren Kontakt stehen, wie Familien, Kollegenkreise, Jugendgruppen und Nachbarschaften. Hier wird ein enger Kommunikationszusammenhang aufgrund von räumlicher Nähe als konstitutiv für die Milieugruppierung vorausgesetzt. Bei der Analyse lokal begrenzter, stadtteilbezogener Milieus wird weniger auf gesamtstädtische Territorien abgehoben, obwohl auch das, vor allem bei kleineren Gemeinden, vorkommt, sondern Teilräume und Quartiere von größeren Städten, die als Stadtviertel eine unverkennbare individuelle Gestalt und auch fast immer eine vom Stadtdurchschnitt abweichende Sozialstruktur aufweisen, sogenannte Wohnmilieus. Daneben existieren zunehmend räumliche Entgrenzungen sozial-räumlicher Milieus, die auf bewussten Wahlentscheidungen basieren, sogenannte Wahlmilieus. So ist die Jean Monet Str. im Rieselfeld ein großer, langezogener Wohnbogen, der den inneren Teil des Rieselfeldes von der stark befahrenen, vierspurigen Bescaconallee abschirmt. In diesen Wohnungen, die praktisch Milieuansatz Seite 102 als Lärmwall dienen, leben größtenteils Mieter, die aus unteren sozialen Schichten kommen, während der Anna-Müller Weg dahinter von den Milieus bewohnt wird, die als das dominierende, das moderne bürgerliche Milieu bezeichnet werden kann. Ungleiche soziale Lebenslagen spiegeln sich hier auch räumlich im Stadtteil wieder. Wie verhält es sich mit Situationsprägungen im Stadtteil? Schon ein erster Blick macht deutlich, dass das Stadtteilleben, nach der überkommenen Terminologie, weitgehend kleinbürgerlich geprägt ist, d.h., die in ihr dominierenden Milieus sind eher die, die auf der sicheren Seite des gesellschaftlichen Milieutableaus zu finden sind. Ein Blick in den K.I.O.S.K.- Laden, dem bis Ende 2003 wichtigen Bewohnertreff, in den Kirchenladen, der Vorläufer des ökumenischen Kirchenzentrums, oder in die Programmheftchen und Gemeindebriefe belegen das. Bei wichtigen Anlässen bemüht man sich das Niveau des „etablierten Milieus“ zu erreichen und macht dann hervorragende klassische Musik. Aber man kann sich natürlich auch fragen, warum der künstlerische Spielraum nicht weiter genutzt wird und nicht mehr populäre Musik integriert wird. Milieuansatz Seite 103 Entscheidungen über solche Fragen, die in der Regel schnell auf der Basis geteilter Vorlieben bestimmender Personen getroffen werden, sind mehr als nur Geschmacksfragen, sie stellen Zuordnungen zu bestimmten Milieus her, verorten damit im Stadtteil auch gesellschaftliche Ungleichheit. Diese gesellschaftliche Ungleichheitsordnung ist durch In- und Exklusion ganzer Milieus definiert. Milieus haben mit den Formen von Erfahrungen zu tun, d.h. mit dem, was in jedem Erfahrungsakt sozusagen „nebenbei“ passiert. Wir blicken in der Regel in unseren Tätigkeiten auf die sogenannten Inhalte und rufen auch immer. „Lasst uns über Inhalte reden!“ Das Wichtigste sind aber oft nicht die Inhalte, sondern das, was sie „einrahmt“, was den Erfahrungszusammenhang konstituiert und somit das Milieu. Das Wichtigste passiert nebenbei. So geschieht im Leben des Stadtteils bei einem Fest alles mögliche: Vom Jazzdance über das Waffelnbacken der Senioren bis zum Kinderchor der Jugendmusikschule. Bei allem ist „Rahmung“ des Stadtteilfestes entscheidend. Diese Rahmung ist nicht primär diskursiv, sie vollzieht sich eher selten durch verbale Interpretationen, sondern geschieht durch körperliche Anwesenheit, vor allem prägender Leute oder sei es durch quasikörperlich wirkende Faktizitäten, wie Gebäude, Plätze, Musik oder Rituale. Und wenn geredet wird, dann sind es die Sprechakte, die die Situationen entscheiden, also das, wer hat etwas zu sagen (wer spricht) und nicht nur, was gesagt wird. So ist durch quantitative Befragungen im Rahmen des Projektes „Quartiersarbeit Rieselfeld“ im Frühjahr 2002 herausgefunden worden,19 dass sich viele Aussiedlerfamilien, die am Sonntag in den Gottesdienst gehen, von der Form des Gottesdienstes beider christlichen Kirchen, nicht angesprochen fühlen. Das wären „Mitmach-Gottesdienste“, „Krabbelgottesdienste“, Kindergottesdienste und natürlich das Provisorium in der Eingangshalle der Grundschule, in dem die Gottesdienste stattfinden, spielen ein Rolle. So geht „man“ ins benachbarte Weingarten, in dem der Ablauf des Gottesdienstes noch konventioneller erfolgt. Sie sind somit eine der wenigen Anlässe, in denen die Brücke in den Nachbarstadtteil geschlagen wird. Situationen im Stadtteil, insbesondere, wenn sie sich zu Strukturen verdichten, wie zum Beispiel zu Ritualen, sind nicht nur für sich selbst da, sondern sie Milieuansatz Seite 104 sollen Zeichen setzten, mit dem Ziel, einen nach ihren Vorstellungen geprägten Stadtteil zu formen. Natürlich gibt es da auch die gemütliche Runde mit Wein und Bier, bei der es ganz entspannt zugeht und zelebriert wird, wie integrativ die Strukturen doch sind. Dass dies so ist, weist bereits auf Milieubezüge hin, da mit solcher symbolischen Verweispraxis die Macht im Stadtteil ganz klar angestrebt wird. Gerade bei konzentrierter Symbolnutzung gilt, dass sich die Frage nach ihrer Artikulation mit Milieukennzeichen stellt. Wessen Erfahrungen werden positiv aufgenommen, welche werden abgewertet ? In der Regel geschieht dies „nebenbei“, nicht bewusst im Vordergrund, sondern ganz selbstverständlich, schon am Tonfall, den z.B. ein „wichtiger Bewohner“ anschlägt. Wer gelernt hat, darauf zu achten, kann gerade bei „offenen“, liberalen Führungspersönlichkeiten enorme Abwertungen anderer entdecken. So entscheiden sich oft an „Nebensächlichkeiten“ ganz zentrale Ausrichtungen. Dies kann z.B. bei der Person des katholischen Pfarrers im Rieselfeld nachgezeichnet werden: Er steht nicht nur seiner Pfarrei vor, sondern hat auch einen Vorstandsposten im BürgerInnenverein Rieselfeld, und im K.I.O.S.K.- Trägerverein. So bedeckt er sich Alltagsgeschäft hält, so sehr achtet er darauf, dass bestimmte Verhaltensformen und Verhaltenrituale im öffentlichen Diskurs eingehalten werden. Und so hat sein Wort besonderes Gewicht, ohne dass er sich im Alltagshandeln verschleißt. Habituelle Übereinstimmung und habituelle Stilbildung resultieren aus dem Prozess des „Machens“ selbst und führen, wenn ihre Emergenz nicht befriedigend gelingt, auch zu einer Neukonstellation. Der kollektive Aktionismus ist das Medium, innerhalb dessen erprobt werden kann, inwieweit und in welcher Hinsicht die persönliche Stilelemente sich zu kollektiven Stilen verdichten und steigern lassen. Das schafft habituelle Sicherheiten und damit auch Sicherheiten bei der Wahl der Bereiche von Lebensorientierungen. Zugleich ist die Suche nach habitueller Übereinstimmung auch eine Suche nach der Gemeinsamkeit jenseits einer individuellen Selbstpräsentation und zweckrationaler Abstimmung. Im Alltag des Stadtteils zeigt sich dieses Bedürfnis nach Übereinstimmung bei der Kultur des Feierns und findet seinen homologen Ausdruck im Verständnis Milieuansatz Seite 105 der Beziehung z.B. zwischen der Rieselfelder Samba-Trommelgruppe und Publikum. Auch dort geht es nicht, zumindest primär um eine Selbstpräsentation (Show), sondern um die Inszenierung habitueller Übereinstimmung, verdeutlicht noch durch gleichfarbige, orangegebatikte T- shirts. Das Konzert auf den letzten zwei Stadtteilfesten wurde dann zum gelungenen Event, wenn das Publikum am Aktionismus in engagierter Weise beteiligt werden kann und auch eigene Stilelemente entfalten kann, wie z.B. durch rhythmisches Mitklatschen, an dem auch die Mitglieder der Sambagruppe beteiligt waren. Die am Rande stehenden Milieus, wobei am Rande mehrdeutig aufzufassen ist, murmeln was von einem „blöden Fest“ und kommen erst dann, wenn die Darbietungen zu Ende sind, es sich auf „Sitzen und Trinken“ reduziert hat. Bourdieu macht in subtilen Analysen deutlich, dass die soziale Ordnung durch und durch vermachtet ist. „Symbolische Wirkung dürfte auf der Macht über andere und insbesondere über deren Leib und Glauben fußen, verliehen von der kollektiv anerkannten Fähigkeit, durch verschiedenste Mittel auf die zutiefst verborgenen verbal-motorischen Zentren einzuwirken, um sie zu neutralisieren oder sie zu reaktivieren, indem man sie mimetisch fungieren lässt20. Milieuansatz Seite 106 Er liest in dieser Hinsicht Max Webers Pionierarbeiten konsequent herrschaftssoziologisch, mit der Spitze, dass gerade Uneigennützigkeit das zentrale Mittel der Durchsetzung von Privilegien sei. Er entwickelt so eine Theorie der symbolischen Gewalt, was für alle zugänglich sein soll und so auf der Oberfläche auch zu sein scheint, ist in Wirklichkeit besetzt von Milieus. „Offenheit für alle“, „niedrige Zugangsschwellen“ und ähnlich klingende Bekundungen verschleiern mehr, als sie freilegen. Nicht zufällig beginnen Bourdieus empirische Partizipationsstudien mit dem Publikum der Museen, sind sie es doch, die am vehementesten Offenheit proklamieren und gleichzeitig tatsächlich am deutlichsten nur ganz bestimmte Besuchergruppen rekrutieren. Milieus wirken auch wie Atmosphären, die Gefühle strukturieren, zur einen Seite hin sind sie aktivierend, sie setzen Kräfte in Gang, zur anderen Seite aber hin sind sie auch passivierend, weil sie diejenigen, die nicht dazugehören, mundtot machen und zum Schweigen bringen. Menschen können nur frei reden und sich entfalten unter Bedingungen, die ihnen entsprechen und die ihnen vertraut sind, d.h. in der Regel in ihren Milieus, wo sie freundlich aufgenommen und verstanden werden und davon ausgehen können, dass sprachliche Andeutungen und Eigenschaften aber auch Gesten und Blicke zumindest wahrgenommen, bestenfalls aber auch verstanden und wertgeschätzt werden. Frei sprechen zu können braucht eine materielle und symbolische Grundlage in einer Situation, die freies Verhalten ermöglicht. Die Möglichkeit zu sprechen erweitert sich mit der Möglichkeit zu handeln und sich körperlich zu entfalten. Wer Menschen zu ihrem Selbstsein verhelfen will, der muss die Gestaltung von Atmosphären immer im Blick haben. Es sind Situationen, die Menschen dazu verhelfen, zu reden und zu handeln, diese ganz selbstverständlich besetzen, deuten und gestalten dadurch Zeit und Raum. 6. Netzwerke im Stadtteil Auch wenn soziale Netzwerke nicht das „sine qua non“ des Aneignungsprozesses sind sie doch ein Muster von sozialen Beziehungen Milieuansatz Seite 107 und präzisieren das entstehende Lokalmilieu. Es gibt eine thematische Nähe von Netzwerkanalysen und Milieutheorie. Insgesamt versuchen Netzwerkanalysen den oft schwierigen Weg, die interne Rekonstruktion eines räumlichen Strukturierungen aufzuzeigen, die aber auch milieubedeutsam sein können. Auf den ersten Blick wirkt das Konzept sozialer Netzwerke eher dünn, bezeichnet es doch nicht anderes als das Muster sozialer Beziehungen, in das ein Individuum eingebunden ist. Im Netzwerk stellen die Knoten die Personen dar, während die Linien die Beziehungen zwischen ihnen symbolisieren. In der Regel werden soziale Netzwerke von einer spezifischen Person ausgehend dargestellt, das sind die individuumzentrierten Netzwerke. Die unterstützende Funktion von Netzwerken ist je nach Struktur- und Integrationsmerkmalen unterschiedlich: Enge Netze sind Netze mit homogener Orientierung, verbindliche Erwartungen und Beziehungen, selbstverständliche Unterstützungsleistungen und ausgeprägtem kontrollierenden Aspekt. Nachbarschaften sind Teil des Netzwerkes des Einzelnen und zwar als Teil eines Netzwerkes des einzelnen Bewohners (personenzentrierte Betrachtungsweise) und Nachbarschaften als soziales Netzwerk, als Summe der gesamten Netzwerkrelation in einem Stadtteil oder Wohnquartier (totale Betrachtungsweise). Da ein neuer Stadtteil ein Spiegelbild eines modernen Gesellschaftssystems ist, gehören in der Regel viele soziale Gruppierungen und Milieus dazu. Diese Gruppen haben unterschiedlich fassbare Bindungen an räumlich abgegrenzten Einheiten, die sich auch durch Symbolisierung ausdrückt. Hier wird diesen verschiedenen Subsystemen Identifikationen angeboten werden müssen, oder sie schaffen sich ihre Symbolisierung. Diese Subsysteme können auch als völlig eigenständiges Netzwerk neben anderen Systemen, wie Nachbarschaften, Beruf und Freundschaften existieren. Auch die Gruppen im Stadtteil bestehen aus einer netzförmigen Beziehungsstruktur von habituell, ideologisch ähnlich und organisatorisch lose gekoppelten Gruppen gleicher Thematik, obwohl Überlappungen bestehen. Diese Netzwerke zeichnen sich durch eine hohe zeitliche und räumliche Milieuansatz Seite 108 Beziehungsdichte aus, die durch geringe räumliche Distanz zu schneller Kontaktaufnahme und Kommunikation führen kann. Nicht unberücksichtigt und unterschätzt werden darf in diesem Zusammenhang die jeweilige Position der Neubürger in ihrem Lebenszyklus. Denn das Beziehungsgefüge und die Struktur von nachbarschaftlichen Netzwerken verändern sich im Laufe des Lebenszyklus ständig. Die Aktivitäten der Menschen finden im räumlichen Kontext statt und in konkreten Orten statt. Diese Materialität führt dazu, dass ihre Lebensführung geordnet und strukturiert wird. Soziale Beziehungen, einschließlich Macht und Organisation können als Netzwerke behandelt werden. Die Netzwerkeffekte entstehen in Strategien des sozialen Ordnens und Konstruierens, durch netzartige Interaktionen aus menschlichen und nicht-menschlichen Aktoren. Die Aktor- Netzwerktheorie ist seit 1980er Jahren entwickelt worden. Sie lehnt sich an Law21 und Giddens 22Theorien der Strukturierung an. Man geht von der Annahme aus, dass menschliche und nicht-menschliche Aktoren interagieren und zwar gleichberechtigt und auf eine Weise, die sich als „Übersetzungsnetzwerk“ interpretieren lässt. Die moderne Trennung zwischen Natur und Gesellschaft bzw. zwischen Technik und Sozialem wird tendenziell aufgehoben. Dadurch entseht eine andere Betrachtung des Handelns und man kann genauer analysieren, auf welche Weise soziale Netze sich durchsetzen. Es geht also um die Untersuchung von Inszenierung und Macht. Dabei gibt es viele Berührungspunkte von der Akteur-Netzwerktheorie zu Bourdiues Konzepten des „Habitus“ und des „sozialen Raumes“23 Das in Rechnung zu stellen, was als nicht-menschliche Akteure bezeichnet wird, geschieht in den Sozialwissenschaften üblicherweise im Sinne eine einer Gegenüberstellung zwischen Subjekten und Objekten, zwischen Sozialem und Natur/Technik. Die Akteur- Netzwerktheorie geht davon aus, dass keine grundlegende Differenz zwischen Menschen und Objekten besteht. Sie weist kulturgeschichtlich nach, dass es für die Moderne gerade kennzeichnend ist, vollkommen neue Mischungen zwischen Wesen, nämlich Hybriden zwischen Natur und Kultur in Form von Quasi-Objekten oder sozio- technischen Netzen hervorzubringen. Die alltägliche Symbiose von Mensch und Auto mag dies veranschaulichen: Systeme von Naturkräften werden durch das Verhalten der Benutzer „humanisiert“ (menschlich kontrolliert), im selben Vorgang werden Milieuansatz Seite 109 aber auch die Menschen, die sich zum Mittler der physikalischen Energie machen, selbst in aktive Naturkräfte verwandelt. Eine Person entsteht als Effekt, der durch ein Netz aus heterogenen, interagierenden Substanzen generiert wird. Die Akteur-Netzwerktheorie wird auch als „soziology of translation“ bezeichnet. Der Begriff Übersetzung ist in der Tat zentral, jedoch auch leicht miss zu verstehen. Der Kerngedanke sagt, dass die beteiligten Aktoren sich wechselseitig im Interaktionsprozess spezifische Rollen zuschreiben und dass deren Zusammenwirken zu einer einheitlichen Ausrichtung führen wird. „Übersetzung“ bezeichnet eine jeweilige Definition bzw. Inskription des Beitrages der anderen Akteure im Interesse der Einheitlichkeit. Dazu müssen Engpässe und Widerstände, die die einzelnen Aktoren verkörpern, überwunden werden. Insbesondere lassen sich seitens der steuernden Akteure konvergente, d.h. erfolgreich „übersetzte“ Zusammenführungen erzielen durch Schritte des „auf Linie bringen“ der verschiedenen Leistungen, so dass ein geteilter Raum mit hoher Äquivalenz und Gemeinsamkeit entstehen kann24 Hierbei spielen Taktiken des Einfußes und der Macht, oft in vielfältigen kleinen Formen des Druckausübens oder des Feilschens eine wichtige Rolle. Regeln, Normen und Abmachungen zur besseren Koordinierung kommen hinzu. Das ist die Stunde der „Intermediäre“, der technischen Artefakte, der vermittelnden Personen, des Geldes, der Symbole und anderer beziehungsstiftender Instrumente, die von den interagierenden Akteuren in Zirkulation gebracht werden. Es geht bei diesem Prozess nicht nur um ein Wechselspiel von An- und Einpassung der Akteure, um eine Überschreitung individueller Elemente hin zu einem sozio- technischen Gefüge oder Netz, sondern immer um Prozesse der Macht und der Konstruktion des Sozialen. Vor allem der „übersetzende Akteur“, der die Initiative ergreift oder die ersten Mit-Akteuren gewonnen hat, vermag seinen Einflussbereich ausbauen. Wer die Mittel der Repräsentation kontrolliert, wer die Variablen der Größe und Dehnung des Netzwerkes beherrscht, der erweist sich als machtvoll. Die Quellen der Netzwerkmacht liegt in den Bindungen der Akteurnetzwerke selbst. Je dichter und leistungsfähiger die Netzwerke sind, desto eher tritt die Milieuansatz Seite 110 ursprüngliche Heterogenität in den Hintergrund. Gelingt es dem Netzwerkarrangement geschlossen aufzutreten, kann es wie ein individueller Akteur auftreten, es wird punktualisiert. Mit der Häufigkeit der Netzwerkmuster im Handlungsvollzug, mit ihrer Routinisierung nimmt ihre Punktualisierung zu. Für andere Akteursgruppen erscheinen sie mehr und mehr als in sich abgeschlossene, berechenbare Einheiten. 7. Beobachtungen aus dem Stadtteil 7.1 Netzwerke im Stadtteil Wenn man Netzwerk-Bindung auf den Stadtteil Rieselfeld überträgt, dann ist vor allem die Dichte des Netzwerkes auffällig. Die Akteure der „ersten Stunde“, der Initiator des BürgerInnenvereins, der Leiter des Projektes „Quartiersaufbau Rieselfeld“, der katholische Pfarrer, sie alle sind als Vorstandmitglieder untereinander vertreten und bestimmen wer noch unter ihrer Regie was zu sagen hat und in Amt und Funktion kommt. Durch diese Personalunionen sind für viele Bewohner überhaupt nicht bewusst, dass der BürgerInnenverein Rieselfeld und der Verein K.IO.S.K. e.V. zwei eigenständige Vereine mit jeweilig spezifischen Aufgaben sind, der BürgerInnenverein als politische Vertretung des Stadtteils gegenüber Gesamtstadt, der K.I.O.S.K.-Verein als die Initiatoren des sozialen und kulturellen Lebens im Rieselfeld. Sie wirken nach Außen als abgeschlossene Einheit. Geschichten über die besonders aktiven Baugruppenhaushalte gibt es viele. Die soziotechnischen Bedingungen einer solchen speziellen Lebensführung lassen sich relativ genau beschreiben. Ausgangspunkt ist eine neue, offene Situation in dem entstehenden Stadtteil. Das Individuum aus dem beherrschenden Milieu betritt den Gestaltungsraum, der ausgefüllt und strukturiert werden muss. Dies beginnt mit der nach den finanziellen Möglichkeiten zustande gekommen Erwerb eines Eigenheimes, auch wenn dies kollektiv geschehen ist. Die Verfügung über diesen selbst gestalteten und gemeinschaftlich entwickelten Wohnraum ist bereits an institutionalisierte Milieuansatz Seite 111 soziale Beziehungen geknüpft. (Bauherrengemeinschaft, Lieferverträge für Strom und Wasser, Postzustellung) gebunden. Insoweit zählen „Intermediäre“ wie Vertragstexte, Architektur, Symbole wie auch Haushaltsgeräte zu den untrennbaren Bestandteilen der Alltagsorganisation. Zusätzlich löst die Verfügung über eigenen Wohnraum Interaktionen im sozialen Umfeld, zu Nachbarn, Geschäften, Verkehrsmittel aus. Auch sind sie teilweise von „Intermediären“ wie Geld und Konsumgütern abhängig, die zwischen den Beteiligten zirkulieren. Vor allem kommen von Anfang an eine Fülle weiterer soziotechnischer Mittel ins Spiel, die wesentlich zu der bestimmten Lebensführung der „Baugruppenfamilien“ beitragen: Das Internet, die bestimmten Zeitungen, das Handy, der Timer, die Solaranlage, der Kinderfahrradanhänger usw.. Im Aufzählen zeigt sich, dass diese Liste beliebig verlängerbar ist. Worauf es ankommt, ist der Umstand, dass die jeweilige Ausstattung und ihr Gebrauch offenbar variieren mit den finanziellen Mitteln, den selbst definierten Wohn- und Lebensvorstellungen, Informations- und Kommunikationsbedürfnissen. Mehr noch als in der Einkommenshöhe selbst, besteht in Hinsicht auf das Zurückgreifen dieser Ressourcen ein strukturelles Gefälle zu anderen Haushalten, die eher traditionell geprägt sind. Durch die Sozialisation der Mitglieder dieser Baugruppen, werden auch eher einzelne soziotechnische Mittel ausgeliehen und getauscht. Dies erhöht natürlich das Gesamtangebot im Wohnnahumfeld. Das Vorhandensein von intakten Sozialbeziehungen in der Nachbarschaft, von den Vorteilen der möglichen Inanspruchnahme dieser Mittel, ergibt sich ein großer Vorteil, sich den öffentlichen Raum im Stadtteil, der ja noch formbar ist, anzueignen. Die Nutzungschancen dieser Milieus erhöhen sich immens. Man kann seine Vorstellungen zur Freizeit- und Erlebnisgestaltung einbringen. Es entwickelt sich nun im Stadtteil ein Verhältnis zwischen den Repräsentationen einer ortsbezogenen Dauerhaftigkeit, die zwar maximal acht Jahre ausmachen kann, wie sie üblicherweise einem sozial-räumlichen Milieubegriff zugeschrieben werden und den Repräsentationen einer dynamischen flüchtigen Moderne als einem offenkundigen Charakteristikum der entwickelten und sich transformierenden Gesellschaft. Milieuansatz Seite 112 7.2 Symbole setzen Umgebungen tragen die Spuren des Milieus, die sie bewohnen. Im Laufe der Zeit entsteht Lokalkolorit, ein Gewebe von Symbolen, Erinnerungen, Mythen und raumbezogener Regeln. Im Rieselfeld gibt es, organisiert von K.I.O.S.K. e.V. und unterstützt vom städtischen Gartenamt und dem Projektmanagement, das Konzept der „Baumpatenschaften“. Im Zentrum steht das Angebot an Bewohner, Paten für einen von ihnen gewählten Straßenbaum zuwerden. Sowohl Einzelpersonen und Familien als auch Gruppen (Schulklassen, Kindergartengruppen, ...) können eine Patenschaft übernehmen. Die Übernahme von Baumpatenschaften soll ein Stück Inbesitznahme des unmittelbaren Wohnnahumfeldes ermöglichen und damit die Annahme des neuen Stadtteils fördern. Die Vermutung liegt nahe, dass die Übernahme von Verantwortung für einen Teil des öffentlichen Straßenraumes sich prägend auf den allgemeinen Umgang mit öffentlichen Räumen auswirkt. Es ist ein Versuch, Identifikation der Bewohner, vor allem auch der Kinder ohne eigenen Garten, mit dem Stadtteil zu erzeugen. Im Sommer 2003 gab es über 140 solcher Patenschaften im Stadtteil. (Das sind über 50 % aller Baumpatenschaften in der Gesamtsstadt Freiburg.) Diese Baumscheiben(?müsste erklärt werden, kommt noch mal) werden nun bepflanzt, gepflegt, gegossen und gesäubert. Außerdem wird, nach Wunsch, ein kleines Metallschild mit den Namen der Paten angebracht. Interessant ist nun die Art der Bepflanzung und Gestaltung dieser kleinen Freiflächen. Da wuchert vor dem Haus der alleinerziehenden, esoterisch orientierten Mutter eine ungebändigte Wildwiese, in der nächsten Baumscheibe(s.o.) stehen die Stiefmütterchen in Reih und Glied. Dazwischen ist Rindenmulch gestreut, damit das Unkraut keine Chance hat. Vor dem Hauskomplex des Genossenschaftsprojektes „Stadt- und Frau“ findet man eine mit weißen Steinchen gelegte Schlange, kleine Bambuspalisaden und angemalte Hölzer erzeugen die Atmosphäre eines kleinen japanischen Gartens. Die Baumscheibe einer Sozialarbeiterin ist abwechselnd mit hell- und dunkelvioletten Steinen umrandet und in der gleichen Straße, die nur aus Milieuansatz Seite 113 Baugruppen mit ihren Stadtwohnungen besteht, sind zwischen großen Rosensträuchern geschnitzte Holzskulpturen versteckt. Es gibt einen bunten Mix aus Baumscheiben, die strikt mit einheimischen Arten bepflanzt sind und Anlagen mit exotischen Gewächsen. Nur schleppend läuft dagegen die Aktion Baumpatenschaft im dritten und vierten Bauabschnitt, da hier die meisten Bewohner über einen eigenen Garten verfügen, der ihnen die Verwirklichung ihrer Gartenträume ermöglicht. Dies erzeugt offensichtlich einen Rückzug in die eigenen vier „Zäune“ und eine Verantwortung über den öffentlichen Raumwird nicht übernommen. So wird der Gang durch den Stadtteil ein Flanieren durch das Sichtbar- machen der einzelnen Milieus vom privaten Raum in die Öffentlichkeit. Auch die Möblierung vor und um das Haus, einschließlich der Vorhangkultur am dazugehörigen Fenster, der gehäkelte Schwan, oder gar kein Vorhang, lassen eine eindeutige Milieuzugehörigkeit erkennen. So ist eben eine Baumscheibe nicht einfach eine Baumscheibe, sondern sie entfaltet durch ihr (Pflanzen-)Material und durch die Anordnung des Materials unterschiedliche Wirkungen, die auch eine symbolische Wirkung für ein bestimmtes Milieu aufweisen. Milieuansatz Seite 114 7.3 Bürgerbeteiligung bei dem Stadtteiltreff im Rieseselfeld Die Forderung nach Bürgerbeteiligung ist mehr als 30 Jahre alt. Der Aufruf „Mehr Demokratie wagen“ von Willy Brandt (Regierungserklärung im Oktober 1969) bezog sich auf alle Gesellschaftlichen Bereiche. Auch die Planung in Stadt und Land wurde vom Demokratisierungsbegehren erfasst. „Die Demokratisierung des Planungsprozesses ist eine wichtige Vorraussetzung, demokratisch-staatsbürgerschaftliches Engagement zu ermögliche“ hieß es 1970 in der Begründung zur Vorlage des Städtebauförderungsgesetzes. Niederschlag fand es dann 1971 im Städtebaufördergesetz in den § 4 und § 8, was damals ein weitreichender Schritt war. Das Demokratieversprechen ist längst verblasst. In den 1990er Jahren gab es wieder neue Schübe. In fast allen Kommunal- und Länderfassungen wurden Elemente direkter Demokratie eingeführt, die Diskussion um ökologischen Stadtumbau und nachhaltige Entwicklung führte zu mehr Beteiligungsforderungen, Kommunen führten „Runde Tische“ ein, Mediationsverfahren und die Diskussion um den Agenda- 21 Prozess führten bei Verwaltung und Politik zu verstärkten Anstrengungen der Bürgerbeteiligung. „Es kommen immer nur die gleichen“, hört man dann aber immer wieder von den Initiatoren. So war es auch im Rieselfeld. Zum damaligen Zeitpunkt, 1999, wohnten ca. 1200 Haushalte mit ca. 3000 Menschen im Rieselfeld. Es gab einen Beschluss der Gemeinderätlichen Arbeitsgemeinschaft Rieselfeld, dass die Bewohner an der Planung und Ausgestaltung des Stadtteiltreffs mit einer integrierten Kinder- und Jugendmediothek beteiligt werden sollten. Als durchführende Institution wurde die Gesellschaft für Kommunalentwicklung Baden-Württemberg bestimmt. Es wurden schriftliche Einladungen an alle Haushalte verschickt, mit denen man sich per Coupon verbindlich anmelden musste. Der Zeitrahmen des Beteiligungsverfahren war sehr eng gesteckt, von Mitte April bis Mitte Juni 1999 waren sieben Sitzungen und ein Abschlussworkshop an einem Wochenende eingeplant. Die Einladungen steckten ca. eine Woche vor Beginn des Beteiligungsprozesses in den Briefkästen. Was war die Folge? Genau 20 Bewohner beteiligten sich an diesem Prozess. Ausschließlich „Aktive“, die sich auch schon im Vorfeld mit diesem oder anderen Milieuansatz Seite 115 Stadtteilthemen beschäftigt hatten. Auf intensive Intervention von der Quartiersarbeit von K.I.O.S.K. hin, gelang es noch zwei Jugendliche zu aktivieren, Kinder von zwei Familien, die auch schon bei dem Beteiligungsverfahren dabei waren. Detlev Ipsen25 stellt die These auf, dass „soziale Klassen prinzipiell unterschiedliche Handlungsstrategien wählen, um ihre Lebenswelt nach ihren Interessen zu gestalten. Die unteren sozialen Schichten bevorzugen praktische Aneignungsformen, die mittleren symbolische.“ Daraus ergibt sich, dass bei Partizipationsversuchen das symbolische Handlungsschema der Mittelschicht den unteren sozialen Schichten aufgezwungen wird. So blieben die Milieus im Rieselfeld, die abstrakt über ein Gebäude und Betriebsträgermodell diskutierten, das vier Jahre später fertig werden soll, durch solch ein Selektionsverfahren unter sich. Die genannten Schichten und Milieus, die direkte Aneignungsformen bevorzugen, waren dann auch da, als es um den Bau und Ausführung des sogenannten „Drachenspielplatzes“ ging, der unter anderem einen begehbaren Drachen aus Lehm beinhaltete. Hier legten sie mit Hand an, schaufelten, hämmerten und beendeten die Aktion mit einem großen Grillfest. Die konkreten Lebenssituationen führen zu einer anderen Rangordnung der Probleme. Die Alltagsfragen der Masse der Bürger liegen quer zu dem Beteiligungsangebot. So bleibt die aktive, selektive „Elite“ unter sich. Wenn dieser Prozess weiter nachgezeichnet wird, ergibt sich folgende interessante Entwicklung. Genau aus dieser Beteiligungsgruppe für den Stadtteiltreff rekrutiert sich der Vorstand für den Trägerverein, der dieses Haus ab Winter 2003/4 betreibt. Es ist ein Art „self-fullfilling prophecy“ der Beteiligungsmöglichkeit. „Es kommen ja eh immer nur die gleichen“, genau durch die Selektion und die bestimmten Kommunikationsprozesse kommen tatsächlich immer die gleichen. Dieses sozial aktive Milieu erzeugt einen zu beobachtenden Dominoeffekt im Aneignungsprozess des Stadtteils. Am Beispiel dieser aktiven Milieus lässt sich die so konstituierende Bildung sozialer Netze verdeutlichen. Im Rieselfeld bilden örtliche Kristallisationspunkte, wie die neuen Vereine, Gremien, Partizipationsmöglichkeiten, die durch bewusste Wahl der Interaktion genutzt Milieuansatz Seite 116 werden. In ihren vielfach definierten sozio-technischen Besonderheiten bieten sie offenbar eine günstige Ausgangsbasis für handlungsorientierte Stützstrukturen. Ist man aktiv, konstituiert man sein Wohnnahumfeld, werden Netzwerke bzw. Stützstrukturen erzeugt, die wiederum die Möglichkeit erzeugen, Bündnisse oder Allianzen im Stadtteil einzugehen, um Anliegen, die die Mitglieder der Milieus beschäftigen, weiter zu verfolgen. Dadurch übernehmen die Akteure Verantwortung im öffentlichen Raum, werden als Machtelite anerkannt und haben dadurch für die nächste „Runde“ im Stadtteil die besten Ausgangsbedingungen. Durch die jahrelange praktische Anschauung, die der Autor in dem Stadtteilentwicklungsprozess Rieselfeld gemacht hat, kann die Behauptung aufgestellt werden, dass je mehr die eine Gesellschaft sich auf Selbstverantwortung und aktiver Teilnahme ihrer Bewohnerschaft verlässt, desto schlechter sind die Chancen für die Nichtaktiven sich bei den bestehenden Partizipationsmöglichkeiten sich einzubringen und so sich den Stadtteil anzueignen. Bei anhaltendem Trend wäre, ausgerechnet durch mehr Partizipationsmöglichkeiten, nicht lediglich von wachsender Segregation zu sprechen, sondern sogar von einer möglichen Exklusion (siehe Exlusionsansatz) bestimmter Bevölkerungsgruppen aus den Entscheidungsprozessen im Stadtteil. 8. Bewertende Zusammenfassung Milieus stehen als Strukturkategorie nicht eigenständig da, sondern dienen als „Einbettungsstrukturen“, das heißt, sie sind mit anderen Faktoren wie Infrastruktur, Quartiersstrukturen, Armutsentwicklung, Organisationsformen oder als Distinktionsmöglichkeit gültig. In Bezug auf einen Stadtteil ist vor allem wichtig zu sehen, dass sozialräumliche und ortskonkrete Milieubildungsprozesse die Verbindung von Milieu und Raum aufzeigen. Die „postmoderne“ Unterstellung einer Verflüchtigung und Virtualisierung von Raumbezügen kann im Rieselfeld so nicht aufrecht erhalten bleiben. Der Raumbezug der Milieus läuft ganz stark über kulturelle Codierungen und damit über Exklusions- in Inklusionsprozessen ab. Diese wiederum fördern die Milieuansatz Seite 117 Hierarchisierung im Stadtteil und unterstützen die Herausbildung eines Milieus im Stadtteil, die durchaus als Deutungsmacht im Quartier angesehen werden kann. Milieuansatz Seite 118 1 Matthiesen, Ulf; Lebensweltliches Hintergrundwissen. In: Wicke, Michael (Hrsg.): Konfigurationen lebensweltlicher Strukturphänomene. Opladen 1997 S. 157- 178 2 Matthiesen, Ulf; Milieus in Transformationsprozessen. Position und Anschlüsse in: Die Räume der Milieus; Ulf Matthiesen (Hg.) Berlin 1998 3 Schulze, Gerhard; Die Erlebnisgesellschaft, Kultursoziologie der Gegenwart, Franfurt a.M. 1992 S. 174 4 Giddens, Anthony; Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung; Frankfurt 1988 5 Vester, Michael; Die sozialen Milieus der Bundesrepublik Deutschland, In: Vögele Wolfgang, Helmut Brenne u. Vester Michael (Hg.) , Soziale Milieus und Kirche, Würzburg 2002 S. 90 6 Vester, Michael; Was wurde aus dem Proletariat? Das mehrfache Ende des Klassenkonfliktes: Prognosen des sozialstrukturellen Wandels, In: Friedrichs, Jürgen; Lepsius, M. Rainer; Mayer, Karl, Ulrich (Hg.) Die Diagnosefähigkeit der Soziologie , Opladen 1998 (Sonderheft 38, der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie) S. 164 - 206 7 Chombart de Lauwe, P.; Aneignung, Eigentum, Enteignung, in : arch+ !977 8 Bourdieu, Pierre; Sozialer Raum und Klassen; Frankfurt a.M. 1991 9 Ueltzhöffer, Jörg; Flaig, Bodo Bertold; Spuren der Gemeinsamkeit? Soziale Milieus in Ost- und Westdeutschland, In: Weidenfeld, Werner (Hg.) Deutschland, Eine Nation – doppelte Geschichte, Köln 1993 S. 61 – 81 10 Bürgerschaftliches Engagement, Studie 1997. Ein Bericht des Sozialwissenschaftlichen Institutes für Gegenwartsfragen Mannheim (SIGMA); hrsg. von der Geschäftsstelle Bürgerschaftliches Engagement des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Sozialordnung Baden-Württemberg, Stuttgart 2000 11 Schulze, Gerhard; Die Erlebnisgesellschaft, Kultursoziologie der Gegenwart, Franfurt a.M. 1992 12 Bourdieu, Pierre; Die feinen Unterschiede. Kritik der feinen Unterschiede; Frankfurt/Main 1989 13 Weber, Max; Die Stadt. Eine soziologische Untersuchung; in Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 47 1920 14 Simmel, Georg; Die Großstädte und das Geistesleben; in: Simmel, Das Individuum und die Freiheit, Berlin 1984 15 Bourdieu, Pierre; Sozialer Raum und Klassen; Frankfurt a.M. 1991 16 ebenda 17 Läpple, Dieter; Essay über den Raum. In: Häußermann H. u.a.; Stadt und Raum; Pfaffenweiler 1991 18 Hradil, Stefan; Alte Begriffe und neue Strukturen. Die Milieu-, Subkultur- und Lebensstilforschung der 80er Jahre; Opladen 1992 19 Der KIOSK e.V. führte im Rahmen der Quartiersarbeit von Februar bis Mai 2002 gezielt narrative Interviews durch, um an die Bedürfnisse der Aussiedler und Aussiedlerinnen im Stadtteil heranzukommen. 20 Bourdieu, Pierre; Sozialer Raum und Klassen; Frankfurt a.M. 1991 21 Law, John; Notes on the Theory of the Aktor-Network, In: Systems Practice, 1992 Vol. 5 S. 379-393 22 Giddens, Anthony; Die Konstitution der Gesellschaft; Frankfurt a.M. 1992 (zuerst 1984) 23 Bourdieu, Pierre; Sozialer Raum und Klassen; Frankfurt a.M. 1991 24 Collon, Michel; Techno-Economic Networks and Irreversibility, In: Law, John (Hg.); A Sociology of Monsters? Essays on Power, Technology and Domination; London/New York 1991 S. 132 - 161 25 Ipsen, Detlev; Partizipation und Klassenlage, In: Planen mit Bürgern für Bürger. Berichte und Protokolle des Münchner Forums; Heft 85, München 1987 S. 82ff Kapitel 4 Raumansatz 1. Konstituierung von Räumen In einem neu gebauten Stadtteil entstehen Orte und Räume als Aneignungsräume. Im folgenden Kapitel wird die Rolle des Raumes und die Verfügbarkeit über den Raum betrachtet, da die Entstehung des Raumes ein soziales und prozesshaftes Phänomen ist. Das menschliche Dasein ist in Raumstrukturen eingebunden. Menschen sind im alltäglichen Handeln, mit Planen, mit der Ausübung von Kunst, in der Wissenschaft u.v.m. an der Konstruktion von Räumen beteiligt. Diese Raumkonstruktion in einem neuen Stadtteil ist besonders aufschluss- reich für den Beobachter, da hier die Räume neu geschaffen werden. Eine zentrale Frage ist, wo sich die Aneignung des Stadtteils unter welchen Bedingungen abspielen? Nach Martina Löw1 ist Raum eine relationale Anordnung von Lebewesen und sozialen Gütern an Orten. Raum wird konstituiert durch zwei analytisch zu unterscheidende Prozesse, das Spacing und die Syntheseleistung. Unter Spacing versteht sie das Plazieren von sozialen Gütern und Menschen, das Errichten, das Bauen von Häusern, das Vermessen von Grenzen oder das Positionieren von Waren. Ebenso das Positionieren Menschen gegenüber anderen Menschen, das Vernetzten von Kommunikationsmöglichkeiten. Es ist ein Positionieren in Relation zu anderen Platzierungen2. Räume sind institutionalisiert, wenn (An-)Ordnungen über individuelles Handeln hinaus wirksam bleiben und genormte Syntheseleistungen nach sich ziehen. Die These ist, dass diese gegenwärtige Neukonfiguration von Räumen ein Schauplatz von Machtspielen oder besser: von Machtkämpfen ist, die sich auf den unterschiedlichsten Ebenen, im Stadtteil, abspielen. Über die Konstitutionen von Räumen und Orten eignen sich die Bewohner einen neuen Stadtteil an. Die Aneignung ihres Quartiers läuft über die Konstitution des Raumes, was wiederum durch die Platzierung von sozialen Gütern und Menschen bzw. durch das Positionieren von symbolischen Markierungen Raumansatz Seite 120 geschieht. Räume werden aber erst einmal durch Orte erzeugt, die wiederum durch das Tun von Menschen entstehen. 1.1 Stadt-Räume und Orte - Die Lokalisierung von Räumen an Orten Vom gesellschaftlichen Raum zu unterscheiden sind konkrete Orte. Diese Orte bezeichnen immer eine abgrenzbare und damit eine erfahrbare Einheit des Raumes. Ein Ort ohne Begrenzung ist nicht denkbar. Wie die Grenzen im Einzelnen ausschauen, wo sie gezogen werden, ist nach Ipsen3 eine „gesellschaftliche Definitionsleistung, das heißt: Grenzen entstehen durch die Kommunikation darüber, wo die Grenze liegt und woran sie zu erkennen ist. Die Zeichen der Grenzen machen sich zum einen an materiellen Gegebenheiten fest. Zum anderen ähneln die Grenzen einem Kraftfeld, das sich um besonderen Gebäude, einen Platz oder anderen städtischen Wahrzeichen wie Kirchen, Denkmäler, Brunnen aufbaut“. Die Gestimmtheit des Ortes korrespondiert mit der Eigenart des ihn umgebenden Raumes und umgekehrt.4 Die Unterscheidung von Raum und Ort ist eine wesentliche Begriffsbestimmung. Ein Ort bezeichnet einen Platz, eine konkrete Stelle, der benennbar ist, meist geographisch markiert. Orte entstehen im Spacing, sind einzigartig. Die Benennung forciert die symbolische Wirkung von Orten. Die Konstitution von Räumen bringt systematisch Orte hervor, so wie Orte die Entstehung von Raum erst möglich machen. Der Ort ist somit Ziel und Resultat der Platzierung. An einem Ort können verschiedene Räume entstehen, die nebeneinander sowie in Konkurrenz zueinander existieren bzw. in klassen- und geschlechtsspezifischen Kämpfen ausgehandelt werden. Dangschat fordert eine Unterscheidung von Raum als theoretisches Konstrukt und Ort als empirische Konkretisierung von Raum5. In einem ersten Schritt definiert er Ort als die Stelle, den Platz, das Wohnviertel, die Stadt, die Region, das Land6. Als Merkmal des Ortes bestimmt er außerdem, dass er immer nachzeichenbare Grenzen hat und dass seine Inhalte, sein Image sowie sein Gebrauchs- und Tauschwert immer festgestellt werden können. Dies führt zur Überlegung, welche Orte für wen zugänglich sind. Womit unterscheidet sich der eigene Ort von einem fremdem Ort? „Die Raumansatz Seite 121 Unterscheidung zwischen dem eigenen und dem fremdem Ort hat immer mit Macht zu tun. Solange die Zuordnung der Räume akzeptiert wird, bleibt die Macht latent. Sie kann jedoch gewaltförmig werden, wenn man den eigenen Ort durch andere Ansprüche auf den gleichen physischen Ort gefährdet sieht oder wenn eine „Fremde Person oder Gruppe einen von ihm bzw. ihr noch nicht besetzten Ort infiltriert.“7 Diese grundsätzlichen Beobachtungen können jedoch verstärkt in einem entstehenden Stadtteil nachgezeichnet werden. Da immer neue Orte entstehen, die es einfach noch nicht gab, gibt es natürlich auch immer wieder neue Ort zu besetzen. Bei dieser Besetzung spielen natürlich die Mittel eine Rolle, die eine Aneignung erleichtern. Das sind Zeit, Kapitalien, Sprache oder Symbole. Um den Raum des Stadtteils Rieselfeld aneignen zu können, müssen eben erst Orte existieren. Denn damit Bewohner eines Stadtteils einen Bezug zu einem Raum bekommen, müssen Orte erfahren werden. Die alltägliche Konstitution von Raum ist dagegen an Wahrnehmungsprozesse gebunden. Aus dem praktischen Bewusstsein heraus werden wahrnehmend soziale Güter und Menschen miteinander verknüpft. Diese Synthesen sind nicht nur vom Habitus und gesellschaftlichen Strukturen bestimmt, sondern auch durch die Außenwirkung der sozialen Güter und Menschen beeinflusst. Seit den Untersuchungen von Jean Piaget8 und Norbert Elias9 wird sowohl entwicklungspsychologisch als auch soziologisch davon ausgegangen, dass Individuen ihre Handlungen und Wahrnehmungen im Einklang mit ihren konkreten Erfahrungen und ihrem Umgang mit der materiellen Welt der Dinge organisieren. Die Betonung der Wahrnehmung für die Konstituierung von Räumen ist deshalb so bedeutend, da nur so zum Ausdruck kommt, dass Menschen die sozialen Güter, die sie verknüpfen oder platzieren, nicht nur sehen, sondern auch riechen, hören oder fühlen. Geräusche sind an der Herausbildung von Räumen, z.B. durch das Erklingen von Kirchenglocken, das Ausrufen von Waren oder das Tönen von Maschinenmotoren beteiligt. In der Wahrnehmung verdichten sich – wie gesagt- die Eindrücke zu einem Prozess, einem Spüren der Umgebung, in der man sich befindet, bei dem die sozialen Güter eben nicht nur platziertes Objekt sind, sondern durch ihre Auswirkung das Spüren der Betroffenen beeinflussen. Raumansatz Seite 122 Das „Spacing“ orientiert sich an diesen wahrnehmend gebildeten Synthesen. Dies gilt jedoch nur für die alltägliche Konstituierung von Raum. Dies gilt nicht bei der Konstituierung von Raum durch elektronische Medien. Hier werden über Abstraktionsleistung Räume hergestellt. Im Umgang mit Cyberspace-Technologien werden zwei Räume gleichzeitig konstituiert, mit der Zuspitzung, dass beide in Teilen wahrgenommen werden. Der Boden auf dem man steht, die Gerüche der umgebenden Menschen werden ebenso wahrgenommen wie die Geräusche und Farben der Computersimulation. Durch diese Überlappungen verwischen Wirklichkeit und Simulation. Trotz der konstatierenden Elastizität und Flexibilität öffentlicher Verhaltensweisen, sind erhebliche Differenzen beim öffentlichen Auftritt festzustellen, und sie werden nicht zuletzt auch als Machtausdruck sichtbar. Daraus lässt sich ablesen, wer sich unter welchen Umständen ungezwungen in welchem öffentlichen Raum bewegen kann. Es darf vermutet werden, dass sich an der Nutzung jeweiliger öffentlicher Räume unterschiedliche Lebensstile und Bewältigungsstrategien der modernen Alltagsanforderungen ablesen lassen. Nicht auf allen öffentlichen Plätzen stellt sich die gleiche bunte und vielgesichtige Öffentlichkeit dar, die Bahrdt10 als das „Rendezvous der Gesellschaft mit sich selbst“ bezeichnet. Dieser Vorstellung nähert sie sich am ehesten auf zentralen Plätzen, auf denen Multifunktionalität, Anonymität und Vielfalt vorherrschen. Wie kann man aber das Geschehen im öffentlichen Raum so zerlegen, dass er als Ort ästhetischer Korrespondenz11 fungiert. Der Raumbegriff unterliegt selbst der modernen-postmodernen Re- formulierung6 und zwar in doppelter Weise. Zum einen hat sich in der Entwicklung der Globalisierung, über wirtschaftliche Restrukturierung, über Universalisierung des sozialen und kulturellen Horizonts das Bild von einer Dynamisierung gesellschaftlicher Raumbeziehungen herausgebildet, das zwar die bloße Bindung an Territorialität preisgibt, jedoch eine Verhaftung an Lokalität nicht preisgeben kann. Denn auch der vollmobile „global player“ braucht Arbeitsstätten, Hotels, Wohnung, Verkaufsräume. Zum anderen ist eine andere Raumbeziehung entstanden, die im faszinierenden Blick auf die Raumansatz Seite 123 Hypermoderne leicht übersehen wird; die neuen Räume der gesellschaftlichen Exklusion, auch in den westlichen Großstädten. Mit den Modernisierungsprozessen gehen in der Moderne zunehmend die Sicherheit der räumlichen Orientierungskraft verloren. Nicht nur die oftmals erzwungene Mobilität, die häufig gar nicht das Gefühl des Zuhause-Seins aufkommen lässt, zerstört die Verankerung im Raum. 1.2 Der soziale Raum Bourdieu entwickelt, indem er mit dem klassischen Ökonomismus des Marxismus und dem traditionellen „Objektivismus“ der Wissenschaft bricht, eine Art Sozialtopologie, um ein Kräftefeld zu umschreiben, in dem nicht nur das Gewicht sozialökonomischer Bestände zum Tragen kommt, sondern auch die Potentiale einer kulturellen Kompetenz und die symbolische Macht gewaltgesellschaftlicher Definitionsmacht sichtbar werden (1985,1991).12 Bourdieu denkt die Welt als einen mehrdimensionalen Raum, in dem bestimmte Unterscheidungs- und Verteilungsprinzipien in Form von Eigenschaften oder Merkmalen wirksam werden, die ihren Trägern Stärke und Macht verleihen. Der Soziale Raum wird als ein Kräftefeld beschrieben, „das heißt als ein Ensemble objektiver Kräfteverhältnisse, die allen in das Feld eintretenden gegenüber sich als Zwang auferlegten und weder auf die individuellen Intentionen der Einzelakteure noch auf deren direkte Interaktionen zurückführbar sind“.13 Als Konstruktionsprinzip dieses Feldes wirken Eigenschaften, die verschiedene Sorten von Macht und Kapital bilden. Kapital wird in unterschiedlicher Form gedacht. Es tritt in seiner objektivierten Form als materielles Eigentum und in seiner inkorporierten Form als kulturelles, soziales oder symbolisches Kapital auf. Ausgehend von diesen Kapitalien entsteht ein sozialer Raum. Aufgrund der jeweiligen Stellung des Akteurs bilden sich „Spiel-Räume“, die ihrerseits wiederum eigene Prinzipien und Hierarchien entwickeln. In dem sich solchermaßen konstituierenden mehrdimensionalen Raum verteilen sich die Akteure auf der ersten Ebene je nach Gesamtumfang an Kapital, über das sie verfügen. In der zweiten Dimension breiten sie sich dagegen je nach der Zusammensetzung dieses Kapitals aus, d.h. dass hier die jeweilige Bedeutung der einzelnen Kapitalsorten in Bezug auf das Gesamtvolumen wirksam werden. Raumansatz Seite 124 In diesem räumlich gedachten Modell drückt die Stellung eines Akteurs, entsprechend der Verteilung der verschiedenen Kapitalsorten, den jeweiligen Stand der Kräfteverhältnisse aus, die sich zum Beispiel als Statusmuster, Renommée oder Prestige widerspiegeln. Die konkret eingenommene, nach Bourdieu statistisch messbare Stellung eines Akteurs gibt zugleich Informationen über dessen persönlichen Motivation, die emotionale Lage sowie dessen soziale Beziehungen und Positionen. Den allgemeinen Raumstrukturen entsprechend wird auch „die Existenz eines objektiven, Nähe und Ferne, Vereinbares und Unvereinbares festlegenden Raumes geltend“ gemacht.14Entfernungen, Abstände, Niveauunterschiede lassen sich nicht beliebig verändern oder überwinden. „Was existiert, das ist ein Raum von Beziehungen, ebenso wirklich wie der geographische, worin Stellenwechsel und Ortsveränderungen nur um den Preis von Arbeit, Anstrengungen und vor allem Zeit zu haben sind.“15 Diese Vorraussetzungen haben natürlich nur eine begrenzte Anzahl von Stadtteilbewohnern. Diese Bewohner müssen ihre eigene Stellung im System Stadtteil, und somit ihre gesellschaftliche Identität, immer wieder durch Repräsentationsarbeiten durchsetzen. Bourdieu beschreibt die soziale Welt in der Sozialtypologie als Form eines „mehrdimensionalen Raumes”. Die Ordnung alltäglicher Lebens-erfahrungen erfolgt nach Position und Aktionsraum des Individuums in typischen Lebenskonstellationen. Erfasst werden soziale Positionen und Lebensstile, die mit Hilfe des Habitus-Konzeptes miteinander verbunden sind. Das Ganze funktioniert auf dem Fundament des Distinktionstheorems. “Zeichen setzen, Symbole schaffen und so Differenzen schaffen zu anderen Zeichen und Symbolen. Der soziale Raum und die in ihm sich spontan abzeichnenden Differenzen funktionieren auf der symbolischen Ebene als Raum von Lebensstilen oder Ensemble von Ständen, durch unterschiedliche Lebensstile ausgezeichnete Gruppen.”16 Die Frage ist nun nicht mehr, wer bin ich wirklich, sondern wo bin ich in der Wirklichkeit und von wem werde ich wahrgenommen? Die Wahrnehmung der umgebenden Welt läuft als Prozess nicht für alle Menschen gleich ab, sondern ist geprägt vom Habitus, als ein Wahrnehmungsschema. Raumansatz Seite 125 1.3 Der Habitus und der Raum der Lebensstile Der Ausdruck Habitus entstammt der mittelalterlichen Philosophie des Thomas von Aquin im 13 Jahrhundert. Er ist der lateinischen Sprache entnommen, in der er Gehabe, Haltung, Verhalten, Erscheinungsbild oder Beschaffenheit bedeutet17. Bourdieu lehnt sich an die Etymologie an, wenn er mit Habitus das im sozialen Raum begründete, inkorporierte System der Differenzierung und Aneignung bzw. Ablehnung der „feinen Unterschiede“ beschreibt. Mit Habitus werden demnach die im Alltaggeläufigen Deutungs- und Handlungsmuster bezeichnet, die im Sozialisationsverlauf auf der Grundlage der sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Lebensbedingungen erworben werden. Sie bilden im Individuum ein relativ stabiles System von Einstellungen, Haltungen und Handlungsorientierungen, das der Stellung im sozialen Raum entspricht. Bourdieu spricht von Einverleibung und einer leibhaft gewordenen Geschichte der gesellschaftlichen Ereignisse: „Der Leib ist Teil der Sozialwelt – wie die Sozialwelt Teil des Leibes.“18 Dieses Einverleiben milieuspezifischer Strukturen wird auch in der Alltagssprache ausgedrückt mit der sprichwörtlichen Wendung, „in Fleisch und Blut übergegangen“. Von Kindesbeinen an lernt das Individuum die in seinem Milieu ausgeprägten „Eigenschaften“, mit denen sich die Einzelnen wie die Gruppen umgeben: z.B. Häuser, Möbel, Gemälde, Bücher, Autos, Spirituosen, Parfüms, Kleidung, aber auch Praktiken, mit denen ihr Andersein dokumentieren – in beispielsweise sportlichen Betätigungen, den mit Spielen, den kulturellen Ablenkungen.19 Vor diesem Hintergrund wird die Metapher des sozialen Raumes noch einmal verdeutlicht. Über Nähe und Distanz drückt sich der Abstand zwischen den Akteuren eines sozialen Feldes aus. Ende der 1960er Jahre wird dies in dem Lied von Franz–Josef Degenhardt „Spiel nicht mit den Schmuddelkinder“ vortrefflich ausgedrückt. Habitus umfasst nach Bourdieu aber noch die Leistungen „der Hervorbringung klassifizierbarer Praxisformen und -werke zum einen, der Unterscheidung und Raumansatz Seite 126 Bewertung der Formen und Produkte (Geschmack) zum anderen, so konstituiert sich die repräsentierte soziale Welt, mit anderen Worten der Raum der Lebensstile“.20 Er ist also Erzeugungsprinzip und Klassifikationssystem von Lebensweisen und Lebensstilen. In ihm drücken sich objektive, soziostrukturell begründete Handlungsmöglichkeiten ebenso aus, wie die subjektive Selbstinszenierung. Vor allem aber erfasst der Habitus auch die lagespezifischen Differenzen in Gestalt von Unterschieden. Über den Habitus ist also nicht nur erfahrbar, was jemand ist, sondern auch, was er nicht ist. Die Rolle des Habitus ist damit nicht etwas, was wir im Prinzip annehmen oder ablegen können, sondern eine umfassende Form des Weltbezuges, die die grundsätzlichen Bedingungen unseres Handelns, Fühlens und Denkens formatiert; selbst unsere körperlichen Empfindungen und schließlich auch unsere Sprache. Es gibt keine unschuldigen Wörter, wenn Sprache nicht nur bestimmte Informationen, sondern immer schon Informationen über einen Sprachstil vermittelt, der seinerseits, insofern er in Konkurrenz zu anderen Sprachstilen steht, zugleich als Sprachkapital bezeichnet werden kann. 1.4 Raum als Umgebung Der Raum wird vom Menschen durch dessen soziale Tätigkeit eingerichtet. Er ist eine ästhetische Angelegenheit, ein Geschehen nicht nur der Symbole, in dem sich Menschen aus Orten und deren Bezüglichkeit schafft. Evident ist der Raum als Umgebung dann, wenn man jemandem ansieht, wo er hingehört. Unter Umständen genügt es bereits, einem Menschen an einem bestimmten Ort zu begegnen, um mit einiger Sicherheit sagen zu können, dass dieser Ort seine Umgebung ist. Je mobiler eine Gesellschaft ist, desto unsicherer ist allerdings diese Schlussfolgerung. Auch andere Hinweise, die früher aussagekräftig waren, geben nicht mehr viel her: Dialekt, Kleidung, Konsumstil, Alltagsästhetik, alles unterliegt einem Prozess der Entregionalisierung. Es ändert sich aber auch der Ort, wenn sich die Funktionen ändern. Ein Platz der in der Bauzeit als Parkplatz für die Baumaschinen diente und Abends als Treffpunkt für Jugendliche verändert sich in dem Moment, wenn der Platz gestaltet wird und dann als Treffpunkt für Bewohnerinnnen und Bewohnern des Stadtteils fungiert. Raumansatz Seite 127 „Im Rahmen der Debatten über die Bedeutung des Raumes gewinnt eine neue konzeptuelle Polarität an Bedeutung. Auf der einen Seite gibt es die – unter vielen anderen, aber besonders von Paul Virilio vertretene – eine These einer Außerkraftsetzung und Vernichtung von Raum durch Beschleunigung und Geschwindigkeit. Dagegen steht die These, dass die Bedeutung von Raum in den heutigen Gesellschaften weder obsolet noch relativ abgenommen hat.“ 21 Im Gegenteil, je mobiler und beschleunigt wir leben, desto wichtiger werden Nachbarschaften, heimische Quartiere und Vertrautheitsinseln. „Michael Foucault, der Theoretiker der Disziplinargesellschaft (siehe Exklusion, Inklusionsansatz), konzentrierte sich darauf, Räumlichkeit als in Machtverhältnissen anwendbare instrumentelle Ressource zu begreifen. Macht durch Raum besitzt in seinen Studien den Vorrang, während die Macht im Raum kaum berücksichtigt wird“.22 Es soll hier keineswegs die Tatsache geleugnet werden, dass die weltweite Entwicklung von Computernetzen, Datenautobahnen, hypermodernen Telekommunikationsmedien und das sich ständig verbessernde Transportwesen die Dimension und die Reichweite von Raum offensichtlich und erheblich beeinflussen und verändern. Telekonferenzen, Telearbeit und viele andere „Tele“-Phänomene machen das Zusammensein, die Kopräsenz im Raum, obsolet. Raum kann hier durch einfachen Knopfdruck überwunden werden. Dieter Läpple stellt in diesem Zusammenhang die fundamentale Frage: „leben wir nun tatsächlich in einer Periode, in der das dominante gesellschaftliche „Zeitregime“ den Raum entmachtet oder gar außerkraftgesetzt hat?“ 23 Virilio beantwortet diese Frage eindeutig mit „Ja“. „Für ihn gibt es durch die Beschleunigung kein „Hier und Da“ mehr, sondern nur noch die geistige Vermischung des „Nahen mit dem Fernen“, der Gegenwart mit der Zukunft, des Realen mit dem Irrealen. Aus diesem Grund gelangt er zu der Schlussfolgerung, dass durch die Technologien die Distanzen und Zeitstrecken geschrumpft, die gestern noch das Territorium und das Alltagsleben unserer Gemeinschaften, auch im Stadtteil, strukturierten“23. 23 Raumansatz Seite 128 „Es ist unbestritten, dass die neuen Kommunikations- und Transporttechnologien auch neue räumliche, sogar bisher undenkbare, Wahrnehmungs- und Handlungsfelder eröffnen. Die Individuen, die unter diesen Bedingungen ihre primäre Sozialisation erleben, werden in jedem Fall diese neue Tendenzen in ihren Wahrnehmungsapparat und damit in ihr subjektives Raumkonzept integrieren“24 Von räumlichen Strukturen kann man sprechen, wenn die Konstitution von Räumen, das heißt entweder die Anordnung von sozialen Gütern bzw. Menschen oder die Synthese von sozialen Gütern bzw. Menschen zu Räumen in Regeln eingeschrieben und durch Ressourcen abgesichert ist, welche unabhängig von Ort und Zeitpunkt rekursiv in Institutionen eingelagert sind. Räumliche Strukturen sind wie zeitliche Strukturen auch Formen gesellschaftlicher Strukturen, die gemeinsam die gesellschaftlichen Strukturen bilden. Handlungen und Strukturen sind von den Strukturprinzipien Geschlecht und Klasse durchzogen. Die Möglichkeiten, Räume zu konstituieren, sind abhängig von den in einer Handlungssituation vorgefundenen symbolischen und materiellen Faktoren, vom Habitus der Handelnden, von den strukturell organisierten Ein- und Ausschlüssen sowie von den körperlichen Möglichkeiten. Räume bringen Verteilungen hervor, die in einer hierarchisch organisierten Gesellschaft zumeist ungleiche Verteilungen bzw. unterschiedliche Personengruppen begünstigende Verteilungen sind. Räume sind daher oft Gegenstand sozialer Auseinandersetzungen. Verfügungsmöglichkeiten über Geld, Zeugnis, Rang oder Assoziationen sind ausschlaggebend, um (An- )Ordnungen durchsetzen zu können, sowie umgekehrt, die Verfügungsmöglichkeit über Räume zur Ressource werden kann. Atmosphären sind die in der Wahrnehmung realisierte Außenwirkung sozialer Güter und Menschen in ihrer räumlichen (An-)Ordnung. Über Atmosphären fühlen sich viele Menschen in räumlichen (An-)Ordnungen heimisch oder fremd. Atmosphären können die Platzierungspraxis verschleiern. Raumansatz Seite 129 2. Der Raum im Stadtteil Rieselfeld Als Beispiel kann der Raum des neu entsehenden Stadtteils, hier des Rieselfeldes herangezogen werden. Dieser wird konstituiert über die Straße, in der man wohnt, die soziale Institution, die nördlich des eigenes Hauses ist, z.B. das Bachufer, das den eigenen Garten begrenzt, zwar nicht zum Grundstück gehört, aber dem Erleben nach zum eigenen Raum dazugehört. Weder in der Wahrnehmung noch in der Erinnerung unterscheidet man zwischen dem Ort, an dem das Haus steht, und dem Haus als sozialem Gut, obwohl es verschiedene Aspekte eines Kontextes sind. Die Konstitution von Raum geschieht durch die strukturierte Anordnungen von sozialen Gütern und Menschen an Orten. Und Orte werden im Handeln geschaffen (siehe: Raumstruktur des Handelns). Dabei findet der Handlungsvollzug in vorarrangierten Räumen statt und geschieht im alltäglichen Handeln, im Rückgriff auf institutionalisierte Anordnungen und räumlichen Strukturen. Diese an sich nicht sichtbaren Gebilde (man sieht die sozialen Güter und deren Plazierungen, aber nicht den Raum als Ganzes) sind dennoch stofflich wahrnehmbar. Man kann den Beginn neuer Räume und auch das Ende von Räumen spüren und sinnlich wahrnehmen.23 Der soziale Raum „Rieselfeld“ hat eine sozialräumliche Struktur, die u.a. dadurch gekennzeichnet ist, dass zwei unterschiedliche Sphären konstitutiv in ihn eingehen. Die Sphäre des „Privaten“ und die Sphäre des „Öffentlichen“. Das Private wird zunächst räumlich durch die jeweilige eigene Wohnung bestimmt, während das Öffentliche alle anderen Räume, auch die halböffentlichen Räume umfasst. Die Wohnung ist der Ort, in dem das Eigene als das Private und das Fremde als das Öffentliche gesehen wird. Aus Heideggers Existentialphilosophie und den Analysen der Phänomenologen ist bekannt, das Räume „gestimmt“ sind. Wenn für bestimmte Milieus bestimmte Straßenbahnhaltestellen im Rieselfeld „unheimlich“ sind, ein Innenhof „nüchtern“ wirkt und der Sonnenuntergang über dem Kaiserstuhl „romantisch“(alles Zitate von Rieselfelder Bewohnerinnen und Bewohnern) wirkt, so ist das auf seine Gestimmtheit zurückzuführen. Nun könnte man meinen, dass Gestimmtheit nur eine Raumansatz Seite 130 Projektion von Gefühlen auf die umgebenden Räume ist, gebe es dabei nicht das „Umgestimmt-Werden“ durch Räume. Man betritt zum Beispiel kurz vorLadenschluss den Bio-Laden im Rieselfeld und wird durch ruhige Musik, angenehme Gerüche in ein gute Stimmung der Gelassenheit gebracht. Oder man sieht an der oben genannten Straßenbahnhaltestelle, an der man gutgelaunt gekommen ist und dort eine Gruppe von Jugendlichen antrifft, denen die Langeweile ins Gesicht geschrieben steht und die anfängt, die Plexiglasscheiben zu zerkratzen und dabei aggressiv Blickkontakt sucht. Räume entwickeln demnach eine eigene Potentialität, die Gefühle beeinflussen können. Diese Potentialität kann auch als „Atmosphäre“ eines Raumes bezeichnet werden. Niklas Luhmann gehört zu den wenigen, die Raum und Atmosphäre in einen Zusammenhang bringen. Ihm Zufolge ist Atmosphäre der „Überschusseffekt“25 der Einheit der Differenz von Objekt und Stelle. Atmosphäre seien an die „Einzeldinge“ gebunden, da sie verschwinden, wenn die Dinge verschwinden. Dennoch realisiere sie sich erst durch die Besetzung der Stellen mit Dingen. Die Einheit der Unterscheidung von Objekt und Stelle werde in der Atmosphäre sichtbar. Luhmann spricht daher auch von der Atmosphäre als der Sichtbarkeit der Unsichtbarkeit des Raumes. Luhmann akzentuiert die Unterscheidung von sozialem Gut und den durch die Platzierung entstandenen Ort. Er hat dabei vorrangig „Einzeldinge“ vor Augen, da für ihn die Platzierungen von Menschen, die fast immer in Aushandlung mit anderen Menschen erfolgen. Dennoch verweist seine Problemformulierung auf das entscheidende Phänomen, dass räumliche Anordnung spezifische Fluida produzieren. Die Anordnung, die Raum unterliegt, ist im Gegensatz zu Luhmann nicht nur eine Stelle von Orten, sondern von Menschen und sozialen Gütern an Orten. Bedeutsamer wird der Unterschied bei flexiblen sozialen Gütern oder bei Menschen. Platziert man den Fahrradanhänger und die Kinderspielsachen jeden Tag an die gleiche Stelle vor dem Haus, so entsteht ein Ort für „meine Sachen“. Auch können über die abgestellten Fahrräder alle Anwohner wissen, dass dieser Ort nicht anders besetzt werden darf. Castell unterscheidet drei Formen von Orten: flüchtige Orte im Netz, privilegierte und periphere Orte. Dabei sind flüchtige Orte keineswegs nur digitale Netzorte, denn jede Platzierung bringt Orte hervor, viele davon auch nur vorrübergehend. Jede Raumansatz Seite 131 Platzierung bringt hat aber auch einen symbolischen und einen materiellen Aspekt. Die Konstituierung des Raumes, bestehend z.B. aus dem Wohnhaus, dem Geschäft um die Ecke und dem Bachufer, bringt Orte hervor, die entweder einen Namen tragen (z.B. „Wohnhof“) oder personifiziert werden (Die „Anna- Müller-Wegler“). An diesen Orten kann man sich erinnern, ohne die einzelnen Aspekte der Raumkonstituierung voneinander zu trennen. Auch das Bachufer ist ein Raum durch die Synthese von Wasser, Steinen, Parkbänken und von gebauten Staudämmen. Der Raum ist die Verknüpfung von Elementen. Auch wenn ein Element nicht mehr existent ist, bleibt der Raum bestehen. In einem sich ständig veränderten Stadtteil, der noch mitten in der Bauphase ist, bekommen Räume eine ständig wechselnde Bedeutung. In den ersten zwei Baujahren eine Grube, ein Abenteuerspielplatz für Kinder, dann aufgeschüttet und planiert der vorläufige Marktplatz und schließlich wieder Baustelle für das ökumenische Kirchenzentrum und den Stadtteiltreff mit einer Mediothek. Die Räume entstehen durch die spezifischen Wahrnehmung der Beteiligten, die wiederum abhängig vom Habitus ist. Durch den Habitus werden gesellschaftliche Lokalisierungen manifestiert, die den ständigen und stetigen Kampf um diese Räume erklären. Einige Orte stehen auch für Geschichte des Stadtteils, auch wenn es bisher erst eine achtjährige Geschichte ist. Der Architekt Sigfried Giedion spricht in seinem Buch „Raum, Zeit und Architektur“ von der„... Essenz des Raumes, wie er in seiner Vielfalt erfasst wird, besteht in den unendlichen Möglichkeiten seiner inneren Beziehungen. Eine erschöpfende Beschreibung von einem einzigen Augenpunkt aus ist unmöglich. Sein Aussehen wechselt mit dem Punkt, von dem aus er gesehen wird.“26 Dass das Handeln der Menschen immer weniger an Räume gebunden ist, trifft keineswegs auf die gesamte Gesellschaft, sondern ausschließlich auf eine Minderheit der Bevölkerung zu. Vielen bleibt diese angebliche Unabhängigkeit vom Räumlichen oder der Tendenz zur Schrumpfung von Raumdimensionen verborgen. Viele Bewohner müssen in ihrem Alltag feststellen, dass ihre körperliche Präsenz im Raum eine erhebliche Bedeutung besitzt und dass im Raum und um den Raum heftige territoriale und symbolische Kämpfe ausgefochten werden. Raumansatz Seite 132 2.1 Möglichkeiten der Aneignung Da die unterschiedlichen Elemente von Aneignung in enger Beziehung zu den Räumen und deren jeweils unterschiedlichen Möglichkeiten der Aneignung stehen, kann ein Überblick über Aneignungsmöglichkeiten und -restriktionen vom privaten zum öffentliche Raum gegeben werden. Die Handlungsspielräume der Individuen haben sich seit der postfordistischen Phase der letzten Jahrzehnte enorm erweitert. Das Mehr an Gestaltungsfreiheit führt zu einer größeren Selbstverantwortung in der Lebensplanung. Der Lebenslauf individualisiert sich und damit steigt die Eigenverantwortlichkeit. Die Bewegungen im Leben durch sozial-strukturierte Bewegungen sowie die Aneignung und Nutzung der in diesen sozialen Räumen angeordneten Ressourcen liegen in der Verantwortung der oder des Einzelnen. Jeder Einzelne hat die Bewegungen im Lebensverlauf, “die Aufnahme und Aneignung von sozialen Ressourcen, die immer sozialen Räumen zugeordnet sind, eigenständig zu planen und zu organisieren.”27 Um die Bedingungen zu erforschen, unter denen individuelle, aber auch kollektive Aneignung gelingen kann, werden die handelnden Subjekte in ihren konkreten Lebenswelten und Milieus in den Blick genommen. Es interessiert an dieser Stelle ihr Umgang mit Spielräumen, die ihnen zu Verfügung stehen und mit deren Grenzen, und zwar auch so, wie diese sich ihnen darstellen. Auch die Bewältigung von kollektiven Anforderungen, Möglichkeiten und Beschränkungen, die Lebenslagen objektiv prägen, ist immer noch einmal subjektiv vermittelt durch die individuellen Wahrnehmungen und Deutungen der Situation durch die Beteiligten. Das Erkenntnisinteresse zielt auf Möglichkeiten und Grenzen der Aneignung objektiv vorhandener und subjektiv zugänglicher Räume. Bourdieu sieht in der Aneignung von Räumen den Kampf um Macht als eine Dimension der Hierarchisierung der Gesellschaft. “Die Fähigkeit, den angeeigneten Raum zu dominieren, und zwar durch materielle oder symbolische Aneignung der in ihm verteilten öffentlichen und privaten Raumansatz Seite 133 seltenen Güter, hängt ab vom jeweiligen Kapital. Kapital ermöglicht gleichermaßen, sich unerwünschte Personen und Dinge vom Leib zu halten, wie sich den begehrten Personen und Dingen zu nähern und damit die zu ihrer Aneignung notwendigen Aufwendungen so gering wie möglich zu halten. Umgekehrt werden die Personen ohne Kapital physisch oder symbolisch von den sozial als selten eingestuften Gütern ferngehalten und dazu gezwungen, mit den unerwünschten Personen und am wenigsten seltenen Gütern zu verkehren.”28 “Die sozialräumliche Gliederung der Stadt ist Effekt der Konkurrenz um knappe materielle und räumliche Ressourcen.”29 Da der Wohnstandort jedes Menschen Ergebnis der Konkurrenz aller Stadtbewohner um das knappe Gut “bestgeeigneter Wohnstandort” ist, spiegelt sich soziale Ungleichheit auf Grund der mit jeder sozialen Position verbundenen Menge an Ressourcen unmittelbar im Raum. Räumliche Nähe/Distanz - d.h. Nähe zu mehr oder weniger attraktiven Strukturen - drückt dabei soziale Nähe/Distanz aus. Wenn nun ein Stadtteil im Entstehen ist, die räumliche Zuordnung noch nicht richtig ablesbar ist, verunsichert dies alle Akteure. Baustellen und halbfertige Straßenzüge ähneln sich zu sehr, um sich abzugrenzen. Tatsächlich haben sich die Städte und Stadtregionen in Deutschland und in den anderen postfordistischen Gesellschaften zum Gegenteil der klassischen europäischen Stadt entwickelt. Wenn es nicht gelingt, eine neue Form der Inklusion zu schaffen, werden wir bald eine gespaltene (städtische) Gesellschaft haben (siehe Exklusion, Inklusionsansatz). Das wird nicht sofort und überall sichtbar sein. Die Arbeitslosen, die Alten, die Ausgegrenzten gehen nicht auf die Straße und protestieren. Eine gespaltene Gesellschaft, eine sozial gespaltene Stadt kann eine Weile an der Oberfläche sehr ruhig sein. Das kann man in vielen Städten Lateinamerikas und Nordamerikas studieren. Soziologen sprechen dabei von Cooling-out, vom Auskühlen sozialer Spaltungen. Man konzentriert einfach bestimmte Problemgruppen in bestimmte Stadtteile und Quartiere, wie ansatzweise in Freiburg im benachbarten Stadtteil Weingarten geschehen, baut unsichtbare Mauern herum und verkehrt dann mit den Menschen über staatliche Instanzen (Behörden, Polizei, ...). Raumansatz Seite 134 Daher werden Lebensstile zunehmend distinktiv, d.h. im Sinne des “sich- sozial-Abgrenzens” und “andere sozial Ausgrenzens” eingesetzt. Lebensstilisierung ist zugleich Symbol und eine (bedeutsamer werdende) Dimension sozialer Ungleichheit. Lebensstilisierungen in ihrer symbolischen Funktion sind daher immer demonstrativ, provozierend und konfliktreich und bedienen sich notwendigerweise der städtischen Räume als Bühnen der (Selbst-) Darstellung. „Hier begegnen wir zwei Wahrnehmungsweisen von Raum: Raum als Ressource in der Machtausübung und Raum als Bezugsrahmen menschlicher Aktivität. Beide Raumauffassungen sind mit Machtprozeduren auf unterschiedliche Weise gekoppelt. Die erste deutet auf Macht durch Raum hin, während die zweite sich auf Macht im Raum bezieht. In der sozialen Produktion der Wirklichkeit kommen die beiden Erscheinungsformen allerdings nur selten getrennt vor. Denn eine Machtintervention durch Raum lässt Räumlichkeiten entstehen, die dann den Subjekten als äußerer Bezugsrahmen ihrer Handlungen erscheinen kann“.30 Dies heißt allerdings nicht, dass Subkulturen, Migrantenkulturen, insbesondere deren Jugendkulturen, sich nicht im öffentlichen Raum präsentieren. In Freiburg geschieht dies in dem “übriggelassenen” öffentlichen Räumen, der “bad side”, an den Hinterseite der Wohnblocks im Rieselfeld, in denen mittlerweile sehr konzentriert verschiedene Gruppen von Aussiedlern wohnen. Unter diesen sozial Ausgegrenzten und Immigranten bilden sich subkulturelle Beziehungsstrukturen heraus, durch die sie ihre Lebenssituation zwar festigen, sich aber gleichzeitig gegenüber der “Normalgesellschaft” abkapseln. Dies zeigt sich zum Beispiel am Kirchenbesuch der Aussiedlerfamilien, die, wie sie erklären, nicht das Angebot der ökumenischen Kirchengemeinde im Rieselfeld annehmen, sondern in das benachbarte Weingarten, einer Trabantenstadt aus den 1960er und 1970er Jahren mit der heute typischen Problemlage, abwandern. Dort gibt es Kristallisationspunkte ihrer sozialen Beziehungen und dadurch gegenseitige Hilfen und ein “Heimisch-Sein“ (siehe: Migration). Die Stadt hatte immer auch eine Bedeutung als öffentlicher Raum, sie war Verhandlungsbühne für soziale und politische Prozesse, Platz für das Raumansatz Seite 135 Entwickeln von zivilen Umgangsformen und idealtypischer Ort für Integration und Desintegration. Im Namen von Modernisierung und Mobilität kommt es in den Städten zu einer neuen Kategorie sozialer Ungleichheit, und die Stadt zersplittert in Funktionsmodule: Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Versorgung finden an unterschiedlichen Orten innerhalb der Stadtregion statt. Identitäten einer Stadt bilden sich heraus selbst wenn Gebäude und Infrastruktur nicht mehr existieren, enthalten im Lebensstil, in den Gewohnheiten und im Gedächtnis ihrer Bewohner . Im Rieselfeld zeigt sich die umgekehrte Situation, dass es Gebäude und Infrastruktur gibt, aber noch keine “spezifische Sinnesart, noch kein Ensemble von Gewohnheiten und Traditionen sowie von verfestigten Einstellungen“, also eine anthropomorphe Vorstellung von Stadt und Quartier, der singulären Beschaffenheit des Stadtteils, der den bewohnten Raum nach Bourdieu sozial konstruiert. Zum öffentlichen Raum gehört der Straßenraum. In den Großstädten dient heute nicht nur dem schnellen Transport von Waren und Menschen, sondern in unserer differenzierten Gesellschaft erfüllt er noch andere Funktionen. “Religiöse Vereinigungen nutzen Straßen und Plätze im Rahmen von Prozessionen, um den Gläubigen an hohen Feiertagen sakrale Artefakte nahe zu bringen. Politisch motivierte Streiks unterbrechen den fließenden Verkehr und drücken Antihaltungen und Blockierwillen gegenüber den Entscheidungen staatlicher Instanzen aus. Militärische Formationen usurpieren die großen Boulevards zu Demonstrationen eigener Macht- und Gewaltpotentiale und bringen das Individuelle im Gleichschritt zum Verschwinden. Punks provozieren bei Chaos-Tagen das öffentliche Ruhe- und Ordnungsbedürfnis. Hunderttausende euphorisierte Jugendliche ertanzen sich während mehrtägiger Love-Parades mit Hilfe von Techno-Rhythmen die großen Raumansatz Seite 136 Prachtstraßen. Karnevalsumzüge machen darauf aufmerksam, dass die Mächtigen dieser Welt aus der verkehrten Perspektive der Narren gesehen und entsprechend verulkt werden kann.” 33 Auch der Rieselfelder Straßenraum dient als Sportraum: Jogger, Inliner, Skateboardfahrer benutzen den öffentlichen Raum als Bühne für ihre differenzierte Bewegungs- und Körperkultur. Beach-Volleyballer spielen auf dem mit Sand aufgeschütteten Plätzen hinter dem Keplergymnasium als lebende Synthese von Sonne, Sand und Lebensfreude. Die „Rieselfeldmeile”, ein nun schon seit vier Jahren stattfindender Volkslauf des neuen Stadtteils mit über tausend Läufern (von 400 über 600, 800 und 1400 in den vorigen Jahren), ist Freiburgs größter Lauf geworden. Dabei werden die neuen Straßen im Stadtteil zu Orten der sozialen Verdichtung. Das Lauffest nivelliert die Anwesenden und vereint sie kurzfristig zu einem gemeinsamen Erlebten. Der gemeinsam erlaufene und “erschwitzte” Raum bietet Orientierung, und man kann sich vergewissern, dass man da ist und sein Revier abgesteckt hat. Die Inszenierung der Laufgemeinschaft ist gerade in einer Gesellschaft, die das einzelne Subjekt hochgradig individualisiert und vereinzelt, eine wichtige Quelle für eine kurzfristige kollektive Identitätsvergewisserung. Raumansatz Seite 137 Die Wiedereroberung von Straßen und Plätzen deckt Verschüttetes auf, Ängste vor dem Verlust der Selbstverwirklichung, vor dem Alleinsein. Denn in einer abstrakten Welt, kann man durch die Körperlichkeit demonstrativ auf seine körperorientierten Fähigkeiten verweisen, aber auch auf Leistungsindividualismus und Konkurrenzbereitschaft. 2.1.1 Aneignung in der Wohnung Der Prozess der Aneignung beginnt mit dem Einzug in der Wohnung, im neuen Stadtteil, mit dem Kennenlernen sowie der Nutzung durch bloßen Aufenthalt. Es folgt die Einrichtung mit Gegenständen, Veränderungen an Aussehen und Funktionsfähigkeit des Raumes. Anstrich, Bilder, Möblierung machen den Raum zum zu Hause, seine Nutzungsmöglichkeiten werden immer vielfältiger und individueller. Dabei ist die Wohnung heute der Ort der Nicht-Arbeit. Ihr Grundriss, ihre Ausstattung und ihre Lage im sozialräumlichen Gefüge des Stadtteils organisieret mehr oder weniger direkt dieses Leben. Schließlich ist die Wohnung auch symbolische Gestaltung von Vorstellungen über die richtige Art zu leben. Diese Vorstellungen fallen allerdings erst im 20. Jahrhundert mit dem Leitbild „familiengerechtes Wohnen“ zusammen. Haushaltsformen jenseits von Kleinfamilien und Kernfamilien, Wohnfunktionen jenseits von Hausarbeit, Erholung und Konsum, Aneignungsformen jenseits individuellen Eigentums oder Miete (Ausnahme: Das Genossenschaftsprojekt „Stadt und Frau“, ein von Frauen geplantes und durchgeführtes Wohnungsprojekt) kommen in den Wohnungspräferenzen allenfalls am Rande vor. Neu hingegen ist, vor allem in Freiburg, das neue Wege in der Bauform jenseits von Einfamilienhaus und Geschosswohnungsbau gegangen werden. Dies sind die so genannten Baugruppen, das heißt, mehrere Familien, bis zu 16 oder 18 Wohneinheiten, tun sich zusammen und bauen gemeinsam ein Raumansatz Seite 138 Haus mit einem Architekten. Dies ermöglicht ein individuelles Bauen, mit einer nötigen Absprache innerhalb der Gesamtgruppe über allgemeingültige Entscheidungen. Dies sind Heizung, Versorgungsleitungen, Außenfassade und Ähnliches. Warum gerade in Freiburg diese Bauform so Erfolg hat, darüber können nur Vermutungen angestellt werden. So trifft hier aus der „Generation der Erben“ das Geld, auf ein durch jahrelanges Wohngemeinschaftsleben, poststudentisches, sozialisiertes Selbstverwirklichungsmilieu, das sich den Traum vom Eigenheim nur in Verbindung mit rudimentären Kollektivideen „erlaubt“. Im privatem Bereich sind die Möglichkeiten der Aneignung natürlich am Weitesten gespannt, insbesondere dem Eigentümer stehen mehr Möglichkeiten offen als dem Mieter. Gemessen am Kriterium der Selbstbestimmung ist der private Raum das Territorium par excellence, ein angeeigneter Raum im besten Sinne. Nach vielen persönlichen Hausbesuchen in den letzten fünf Jahren der Tätigkeit des Autors als Quartiersarbeiter und durch viele Gespräche ist deutlich, dass der individuellen Gestaltbarkeit oft finanzielle Grenzen gesetzt sind. Dies geschieht sowohl bei Eigentümer, wie auch bei Mietern. Die neue Wohnung als Ganzes ist das Ziel, die Einrichtung ist oft nur ein „Füllen“ mit Möbeln, da das Geld knapp wird. 2.1.2 Aneignung im Garten Meist auf der hinteren, privateren Seite des Hauses gelegen, ist der Garten. In ihm gibt es viele Möglichkeiten der Aneignung durch Nutzung, Veränderung und Möblierung. Aber er kann auch als Übergang nach außen wirken. Der eigene Garten, aber auch die Mietergärten, die es im beschränktem Maße auch gibt, oder die Erdterrasse geben Anlass, sich auch um angrenzende Flächen zu kümmern. Wenn man erst mal draußen ist, ergibt sich auch eher die Anteilnahme und Gelegenheit zur Nutzung und Einmischung der öffentlichen Flächen. Man fühlt sich ebenso für öffentliche Bereiche vor der Haustüre bzw. hinter dem Gartentor mit verantwortlich. Raumansatz Seite 139 Ein Rieselfeld typisches Beispiel sind hier die Baumpatenschaften. Von K.I.O.S.K. aus werden diese Baumpatenschaften in Zusammenarbeit mit dem Städtischen Gartenamt organisiert. Zurzeit (Frühjahr 2004) gibt es ungefähr 140 solcher Patenschaften. Mit der Sichtung und Interpretation der Bepflanzung könnte eine eigene Milieustudie erstellt werden. So gibt es kleine japanische Gärtchen, üppige und fast Friedhofsbepflanzungen. Die Frage, die sich stellt: Gibt es eine (Stadtteil-) Identität auch ohne soziokulturelle Ausgrenzung? Und wenn schon Identität nicht ohne Nicht- Identität, Übereinstimmung nicht ohne Differenz zu erfahren ist, gibt es eine Differenz ohne Diskriminierung? Wenn das Besondere sich unterscheidet, was ist das offenkundige Allgemeine im Stadtteil Rieselfeld? Diese Frage kann im Rieselfeld noch nicht abschließend beantwortet werden. 2.2 Besetzung des öffentlichen Raumes Wir erleben den Raum, indem wir ihn gebrauchen. Das gilt auch für das Feld der Kommunikation. Wir verändern unsere Umwelt über ihren Gebrauch. Öffentlicher Raum in der Stadt zeichnet sich dadurch aus, das ihn alle Stadtbewohner zur gleichen Zeit und zu unterschiedlichen Zwecken betreten und nutzen können, solange sie in ihren Verhaltensweisen die “distanziert anerkennende Gleichgültigkeit“ in formalen Regeln des Umgangs mit anderen Stadtbewohnern wahren. Raumansatz Seite 140 Bei der Besetzung des Raumes muss die Situierung der Akteure mit einbezogen werden, d.h. die Hierarchien und der soziale Abstand der Akteure untereinander. Jüng32ste Entwicklungen sowohl in den Innenstädten, Einkaufspassagen, als auch in öffentlichen Parks, im Umkreis von Haltestellen des ÖPNV oder in Wohngebieten scheinen jedoch darauf hinzudeuten, dass wachsende Anteile der Stadtbevölkerung den öffentlichen Raum nicht mehr als allgemeinen Besitz und Freiraum, sondern als Angst- und Gefahrenraum empfinden, den sie nur ungefährdet benutzen können, wenn er zumindest in symbolischer Weise angeeignet wurde. Eine symbolische Aneignung erfolgt zuerst einmal dadurch, dass alles Fremde, alle fremden Lebensstile und alle Nutzungsformen, die nicht der eigenen oder der dominierenden Lebensform entsprechen, eliminiert werden. Eine nächste Stufe ist erreicht, wenn bauliche oder gar ordnungspolitische Maßnahmen getroffen werden, um Fremde abzuhalten. Perfektioniert wird diese Aneignung des Öffentlichen, wenn der symbolischen Aneignung eine rechtliche folgt, wenn also der öffentliche Raum in privaten Besitz übergeht und so Nutzung und Zugang reglementiert werden, unerwünschte Nutzung zur unerlaubten und sanktionierten werden kann. Im Rieselfeld kann noch eine Zwischenstufe beobachtet werden, also ein vorrechtliche Ebene. Am Rieselfeldgraben, einem renaturiertem Bach, an dem auf der einen Seite die Stadthäuser eines postmodernen hedonistischen Milieus, auf der anderen Uferseite die klassischen Wohnblocks von verschiedenen Bauträgern gebaut, führen jeweils im öffentlichen Raum Trampelfade den Bach entlang. Auf der Seite der Eigentümer wurde dieser Weg innerhalb von ca. zwei Jahren durch Bepflanzung und pflanzliche Wucherung (natürlich einheimischer Arten) dieser Raum zu dem eigenen Garten sukzessive angeeignet. Kein Mensch weiß noch von diesem Weg oder würde sich getrauen, durch die “Privatsphäre der Gärten“ zu gehen. Der gegenüberliegende Pfad hat sich zur “Hundewiese“ entwickelt, der sich durch seine “Häufchen“ für Kinder nicht mehr zum Spielen eignet. Raumansatz Seite 141 2.3 Nutzungsstrukturen Wenn die Stadtteilbewohner den öffentlichen Raum nutzen, hinterlassen sie Spuren. Spuren werden im Rieselfeld hinterlassen durch die Fährten der Fußgänger durch die noch unbebauten Flächen, von den einzeln stehenden Häusern zu den öffentlichen Gebäuden wie Kindergärten und Straßenbahnhaltestellen. Diese Trampelpfade nehmen natürlich den kürzesten Weg durch die in Brachlandgrundstücken gewachsene Spontanvegetation wie wilde Kamille. Daneben entstehen auch immer wieder kleine Hütten, die von Kindern aus herumliegenden Baumaterial zusammengenagelt werden. Dies geschieht sehr zum Leidwesen des “vermarktungsgestressten“ Projektmanagements des Rieselfeldes, das die Unaufgeräumtheit anmahnt, um potentielle Investoren nicht zu verschrecken. Die räumliche Verteilung von Spuren als Nutzungsstrukturen ermöglicht oder verhindert so genannte passive Kontakte, also unbeabsichtigte Begegnungen unter den Bewohnern, die auf Grund ihrer sozialen Situation und ihres kulturellen Hintergrundes diese Kontakte ausfüllen. Die Wege von einzelnen Häusern, die dem sozialen Wohnungsbau zuzurechnen sind und an solchen Grundstücken liegen, führen dann direkt zu den Haltestellen der Stadtbahn. Das heißt nicht, dass das dominante Minderheitenmilieu nicht auch diese Abkürzungen nimmt. Tatsache ist allerdings, dass diese Gruppierungen entweder vermehrt das Fahrrad benützen und/oder den PKW, darunter auch das car-sharing-Auto ist. Der öffentliche Raum wird hier durch Zeichen konstituiert und als selektive Gebrauchsanweisung strukturiert: wer geht wo im Stadtteil. Raumansatz Seite 142 Daneben werden im neuen Stadtteil auch Zeichen gesetzt, mit dem jeder sein Areal markiert. Zeichen sind eine sinnlich wahrnehmbare Gegebenheit: ein Gegenstand, eine Erscheinung, ein Vorgang oder eine Handlung, die eine vereinbarte Bedeutung oder Information trägt. Zeichen repräsentieren immer eine Gegebenheit. Konventionelle Zeichen sind willkürliche Repräsentanten (z.B. Wörter) und bedürfen der Interpretation. Zeichen im Rieselfeld sind u.a. selbstgemalte Verkehrszeichen, Schilder gegen Hundekot in den Scheiben der Baumpatenschaften, Graffiti, Hüpfkästen, Straßenkreide, Plakate der Stadtteilveranstaltungen, Aufkleber, Kleidung, Statussymbole wie Fahrradkinderanhänger einer prominenten Marke, Schaufenstergestaltung, Fensterschmuck, Baumscheiben, Car - sharing - parkierung. Ein Symbol steht stellvertretend für einen Vorgang oder Gegenstand, der nicht unmittelbar wahrnehmbar ist, eher abstrakt. Fast alle materiellen Objekte, Formen und Farben, Melodien oder Sprachformen und Verhaltensweisen können Symbolfunktion übernehmen. Als Codes in den Interaktionen wirken sie als Ausschlusskriterium für Nichteingeweihte. Es geht um Rituale in einem neuen Stadtteil. Diese einzurichten, diese zu installieren, ist Bestandteil der Inbesitznahme eines Stadtteils. Wer wird warum aktiv? Eigentlich kommen ja viele der Aktivbürger aus Altbauten und Gründerzeitquartieren wie dem Stadtteil “Wiehre“, sie waren stolz auf ihre “großstädtische“ Lebensart, auf bunte und tolerante gemischte Nachbarschaften, auf quirlige Quartiere. Und nun im Eigentum, im neuen Stadtteil: Welches Bedürfnis steht jetzt im Vordergrund? Dem nach Differenzierung, nach Statussignalen und einfach nach Altersvorsorge? Die Suche nach Sicherheit, etwas überdeckt durch die Sorge nach dem Allgemeinwohl sind die Antworten, die zur Zeit aus zu machen sind. Im alltäglichen Handeln der Konstruktion von Raum exsistiert eine Gleichzeitigkeit der Syntheseleistungen und des Spacing. Das Bauen von Häusern im Stadtteil, das Errichten und Platzieren, also das Spacing ist ohne Syntheseleistungen, also ohne die gleichzeitige Verknüpfung der umgebenden sozialen Gütern und Menschen zu Räumen, nicht möglich. Raumansatz Seite 143 3. Beobachtungen 3.1 Beobachtungen zu Spacing Durch die Fertigstellung des neuen Stadtteiltreffs, schnell von den Bewohnern des Stadtteils „Glashaus“ genannt, hat sich ein neuer zentraler Raum im Stadtteil gebildet. Nicht nur der klassische architektonische Raum, sondern die Verknüpfung von Handeln und Platzierung erzeugt den Raum „Stadtteiltreff“. Jahrelang organisierte sich die Gruppe des Rieselfeldes, die den Stadtteil und sich selbst weiterbringen wollten, im BürgerInnenverein Rieselfeld. Die Mitgliedschaft im Stadtteilverein K.I.O.S.K., der die Aufbauphase von der Evangelischen Fachhochschule Freiburg aus organisierte, war für die Bewohnerinnen und Bewohner nicht sonderlich attraktiv. Das hing einerseits an der Dominanz der „Wissenschaft von außen“ zusammen, anderseits versprach das Engagement keinen Platzierungsvorteil im Kampf um die Macht im Stadtteil. Erst als im Jahr 2003 das neue, moderne Glashaus fertiggestellt, die Trägerschaft mit der Stadt Freiburg abgeklärt war, versprach ein Posten im neuen Trägerverein (der trotzdem weiter K.I.O.S.K. e.V. hieß) Machtpositionen im Stadtteil. So wird jetzt über den handelnden Vorstand Macht ausgeübt und dadurch Raum konstituiert. Schließlich geht es um die Vergabe von Räumen, um die Möglichkeit der vielen verschieden Rieselfelder Gruppen, Vereine und Initiativen, sich zu treffen, und um die Planung und Durchführung von einem eigenen kulturellen Programm. Diese Aussicht veranlasste drei von sechs Vorständen des BürgerInnenvereins Rieselfeld, sich auch als Vorstand für den K.I.O.S.K.- Trägerverein wählen zu lassen. Hintergrund ist der Gedanke, dass sich die städtische Wirklichkeit in der Moderne durchaus gestalten und verbessern lässt. Diese (angebliche) Gestaltungsfähigkeit des städtischen Raumes geht dann fließend in bestimmt unbeabsichtigte Kontrollansprüche über, meint wenn ich mich schon so engagiere, dann möchte ich auch bestimmen was wie im Quartier läuft. Es ist die Tendenz zur Kombination von Engagement und Optimismus auf der einen Seite und der Anspruch von sozialer Kontrolle anderseits, der viele aktiv werden lässt. Raumansatz Seite 144 3.2 Beobachtungen zu verschiedenen Formen der Aneignung Der erste Rieselfelder Gewerbetag war am 7. 02 04 ein Zusammenschluss von über 20 Geschäften, Praxen und Betrieben, die sich gemeinsam der Bevölkerung präsentieren wollten. Das auslösende Ereignis war die Einweihung der neuen Räume des Fitnessstudios „Motion“, das die Räumlichkeiten des alten Stadtteilladens K.I.O.S.K. übernommen hatte. Dieser war im Herbst 2003 in den neuen Stadtteiltreff umgezogen. Mit diesem Gewerbetag wollte man synergetisch Werbemittel einsetzen. Das Angebot erstreckte sich von frisch gebackenen „Süßigkeiten“ über Ponyreiten des Bauernladens, Autogrammstunde des örtlichen Fussballbundeslegisten SC Freiburg e.V. im Sportladen, Sonderangebote in den gastronomischen Betrieben bis zu anschließenden Fitnessübungen. Im Stadtteiltreff wurde von der Kochgruppe des K.I.O.S.K.-Vereins ein Brunch angeboten. Überraschend viele Bewohner und Besucher flanierten von einem Angebot zum anderen, man kaufte die Schnäppchen, die es gab, informierte sich und konsumierte. Auffallend dabei war die kollektive Aneignung des Stadtteilraumes von den Bewohner und Milieus, die sonst nicht so sehr in der Öffentlichkeit auftauchen. Und die, die sonst immer präsent sind, waren, natürlich mit Ausnahmen, nicht zu sehen. Sie haben weniger Interesse, sich „körperlich“ zu platzieren durch Hin- und Herlaufen, zwischen den einzelnen Geschäften und Läden, sich den Raum anzueignen. Die anderen schon. Denn Menschen zeigen sich körperlich in der Welt. Mit dem Körper bewegen und platzieren sie sich. Der Körper steht im Zentrum vieler Raumkonstruktionen. 3.3 Aneignung durch symbolisches Kapital Nach nunmehr acht Jahren, von 1996 bis 2004, gibt es eine größere Anzahl von Gruppen und Institutionen im Rieselfeld, die das soziale, kulturelle und politische Leben bestimmen und mit denen Sozialkapital gebildet werden kann. Da gibt es den BürgerInnenverein, Kennzeichen des BürgerInnenvereins ist die offene Struktur der Arbeitskreise (Ak), d.h. man muss nicht Mitglied sein, um dort mitzuarbeiten. Aktuell gibt es folgende Ak´s: Verkehr, Kultur, gegen den Bau eines Großstadions, Fernwärme, Raumansatz Seite 145 Bürgerbeteiligung bei zukünftigen Stadtteiltreff, Kinder und Jugend. Wer besetzt nun die Funktionsstellen in diesem und in den anderen Stadtteilgremien? Dies sind Zurzeit neben dem BIV (BürgerInnenverein), der A-Capella-Chor, der Sportverein, „Sport vor Ort“, inzwischen auch als Verein konstituiert der katholische Kirchengemeinderat, dies sind die Elternbeiräte von der Grundschule, dem Kinderhaus, der Kindertagesstätte (Kita) und immer mehr auch das Keplergymnasium. Die Schnittstellen der Positionen mit den aktiven Personen sind auffallend in ihrer Überlappung. Man ist der Vorsitzender des BIV, gleichzeitig Ansprechpartner der sog. “Parkgruppe“, Mitgründer des Chors, Vorstandmitglied bei K.I.O.S.K. e.V., Ansprechpartner bei der Aktion “Bachpatenschaft”. Die Milieuzugehörigkeit könnte dem sesshaft gewordene Selbstverwirklichungsmilieu zugeordnet werden. Um sich aber nicht dem klassischen Bild des “Häuslebauers nach Schwäbisch Hall“ zu sehr zu nähern, haben diese Milieus entschieden, sich zu einer Baugruppe zusammen zu schließen. Natürlich ist das auch eine Geldfrage, aber vor allem ist dies eine Einstellungsfrage. Man sitzt dicht aufeinander, ist aber sehr individuell und ökologisch ausgerichtet, hat eine Wildwiese vor und hinter dem Haus, hat durch jahrelange Wohngemeinschaftserfahrung sich eine hohe soziale Kompetenz erworben und ist aktiv. Ähnliche Profile können erstellt werden vom zweiten Vorsitzender des BIV, Hauptinitiator des Projektes “Stadt und Frau“. Es ist ein Genossenschaftsmodell, in dem Frauen die Wohnungen geplant haben, aktive Mitgliedschaft im K.I.O.S.K., aktiv im Bereich Quartierskünstler, politisch aktiv, Initiator des Projektes: Kinderkino im Stadtteil, stellv. Elterbeiratsvorsitzender des Keplergymnasiums und Teilnahme am AK-Verkehr. Diese Aufstellungen sind bei allen Aktiven im Stadtteil machbar und ergeben große personelle Überschneidungen und könnten vor allem dem oben genannten Milieu zugeordnet werden. Gleiches kann man für die Kirche nachzeichnen, die durch die Bevölkerungsstruktur aus jungen und aktiven Gemeinden bestehen. Raumansatz Seite 146 Als Datenquelle für diese Beobachtung dienten die Listen aller Aktiven im Stadtteil, die bei den beiden Kirchengemeinden, beim BIV und beim KI.O.S.K.– Verein von 2000 bis 2003 tätig waren, ca. 150 Personen. 3.4 Kultur des Feierns Lebensstile werden zunehmend distinktiv, d.h. im Sinne des “sich-sozial- Abgrenzens” und “andere-sozial-Ausgrenzens” eingesetzt. Lebensstilisierung ist zugleich Symbol und eine (bedeutsamer werdende) Dimension sozialer Ungleichheit. Lebensstilisierungen in ihrer symbolischen Funktion sind daher immer demonstrativ, provozierend und konfliktreich und bedienen sich notwendigerweise der städtischen Räume als Bühnen der (Selbst-) Darstellung. Dies will im Allgemeinen durch Bildung von Sozialkapital (vgl. Robert Putnam 1995, James Coleman 1988 u. 1990 und Pierre Bourdieu 1983) erreicht werden. Bei der Entwicklung der “Kultur des Feierns” im Stadtteil Rieselfeld lässt sich dies gut nachzeichnen: Die Stadt Freiburg richtet einmal im Jahr ein Stadtteilfest aus, das hauptsächlich für die Investoren zur Vermarktung der restlichen Bauabschnitte ausgerichtet wurde. Als Rahmenprogramm gilt nun schon seit vier Jahren die klassische Variante: Bierzelt, Blasmusik, Kinderkarussell, Weinbrunnen und Wurststand. Während nun das dominierende Stadtteilmilieu dieses Fest seit nunmehr vier Jahren weitestgehend meidet (bis auf die Gruppe der Aktiven), kommen die sonst eher unsichtbaren Milieus aus ihren Wohnungen und nutzen dieses Angebot. Wenn Macht als Befähigung angesehen wird, Ressourcen über Zeit und Raum hinweg zu mobilisieren, dann ist wahrscheinlich, dass 2002 die Wende gebracht hat. Ab diesem Jahr haben die aktiven Milieus die Stadtverwaltung und das Projektmanagement überzeugt, dem kommerziellen Beschicker zu kündigen und durch eigene Stände und kulturelle Beiträge zu ersetzen. Das bedeutet einerseits eine wünschenswerte Identifikation mit dem Stadtteil, anderseits wieder ein Schritt zur Ausdifferenzierung im Quartier. Dies ist ab dem Sommer 2002 gelungen, und ein breit gefächertes Angebot vom Jazzdance, Jugendmusikschule und Raumansatz Seite 147 über Sambatrommlern bediente die Milieus, die das Fest organisierten. Am Rand schlenderten die Bewohner, die sich nicht dazugehörig fühlen, lästerten über das „blöde Fest“ und setzten sich zu einem Bier am Abend, als kein künstlerischer Beitrag mehr kam. Dann verwandelte sich das Stadtteilfest zu einem normalen „Hock“ mit Bier und Musik, und das Publikum veränderte sich schlagartig. Diese klassenspezifische Segmentierung zeigt, das aus einem öffentlichen Raum eine hierarchisch differenzierte Teilöffentlichkeit entsteht. 3.5 Aneignung durch Kommunikation Auch wenn natürlich nicht alle Aktiven des Stadtteils in den so genannten Stadthäusern mit ihren Baugruppen wohnen, sondern auch im klassischen Geschosswohnungsbau, so findet die Aneignung des halböffentlichen und des öffentlichen Raumes (d.h. auch der Spielstraße durch Möblierung vor den Häusern, Spielsachen auf und neben der Straße) auch durch Kommunikation dort statt. Man steht vor dem Haus, die Kinder bemalen mit Straßenkreide die Fahrbahn, bauen aus Bobby-cars Straßensperren, und die Eltern tauschen die neuesten Neuigkeiten aus. Auch die Berufstätigen, die aus dem Büro kommen und ihren Wagen im Car-port abgestellt haben, werden erst mal integriert, bevor sie in der Wohnung „verschwinden dürfen“. So verbindet der halböffentliche Raum, das Treppenhaus zum Laubengang, der die einzelnen Wohnungen erschließt, die Privatsphäre des Wohnhauses mit der öffentlichen Sphäre der Straße. Sie dient dem gesellschaftlichen Verkehr, stellt einen Raum dar, der allen offen ist, die dazugehören ein Ort des Durchgangs und der Begegnung, aber somit auch der Kontrolle. Dies ist die Grundlage, von der aus der Stadtteil mit den Aktivitätsmustern überzogen wird. Dabei agieren die Bewohner in einen amorphen, noch unstrukturierten Raum hinein, regen damit Prozesse an und hoffen, damit Strukturen zu schaffen, die ein Netz hervorbringen, ein Image erzeugen, die es ermöglichen, ihre Wünsche, Erwartungen und Ängste zu beeinflussen. Es soll kein negativ stigmatisierter Stadtteil sein, der ihren Lebenstraum zerstört. Gleichzeitig will man aber, ja man muss tolerant sein, und die anderen Milieus im Stadtteil haben auch ihre Existenzberechtigung . Raumansatz Seite 148 3.6 Konstituierung des Raumes Der Stadtteil Rieselfeld ist nach acht Jahren in vieler Hinsicht komplett, was die Infrastruktur betrifft. Nur einen ganz normalen Supermarkt gibt es noch nicht. Es gibt eine Reihe von kleinen Einzelhandelsläden, einen Bioladen, einen Wochenmarkt, aber einen so genannten Vollsortimenter, gibt es nicht. Das liegt einerseits an der räumlichen Nähe zu einigen großen Einkaufsmärkten auf der grünen Wiese vor der Stadt, anderseits gibt es einen Richtwert von 5000 Einwohnern, die ja Zurzeit noch nicht ganz erreicht sind, damit ein solcher Markt rentabel ist. Dazu kommt, dass keine Pendler an einer Durchgangsstraße die Kundschaft ergänzen würden. Dieses Fehlen führte in den letzten Jahren zu einer Vielzahl von Beschwerden seitens der Bewohner und dadurch zu Aktivitäten seitens des Projektmanagements Rieselfeld und der Politik. Immer wieder keimte Hoffnung auf, wenn mit einem Investor verhandelt wurde, immer wieder sah man sich auf dem Weg eines ganz normalen Stadtteils. Gerade die Bewohner, die nicht durch Berufstätigkeit den Stadtteil tagsüber verlassen, die kein Auto besitzen oder die durch verschiedene Ursachen nicht mobil sind, wie alte Menschen, Behinderte, aber auch Alleinerziehende, sahen sich benachteiligt. Das dominierende Milieu (siehe Kap. 3, Milieus) aber geht mit solchen Beeinträchtigungen anders um. Einerseits nimmt man bei der Fahrt vom Arbeitsplatz die notwendigen Einkäufe aus der Stadt mit, andererseits gründet man über Internet und E-Mail Einkaufskooperativen, die einen völlig anderen städtischen Raumbezug ermöglichen. Im Herbst 2001 ist die Firma „EDEKA“ bereit, am Rand des Stadtteils einen Supermarkt zu errichten. „Gut unterrichtete Kreise“ sehen durch persönliche Verbindungen des Baubürgermeisters und der EDEKA-Leitung die Gelegenheit kommen, nun doch zum Zuge zu kommen. Allerdings ist der Standort ungünstig - nicht an der zentralen Achse des Stadtteils, der Rieselfeldallee mit der Stadtbahn als „Rückrat“, sondern eher am Rande, ca. 400 Meter abseits, Richtung Ausfallstraße. Raumansatz Seite 149 Während bei dem „Normalbürger“ die Freude überwiegt, fußläufig den Einkauf zu erledigen, formierten sich die Befürworter eines Supermarktes an der Rieselfeldallee. Die städtebauliche Idee wird aufgegeben, die bestehenden kleinen Geschäfte würden ausbluten, die „Meile wird tot sein“. Dies waren bei zwei großen Bewohnerversammlungen, die eine im Stadtteilladen K.I.O.S.K. und dann im Foyer des Keplergymnasiums (da der Platz im K.I.O.S.K.-Laden nicht mehr ausreichte) stattfanden, die häufigsten Argumente gegen den geplanten EDEKA-Standort. Die Argumente sind dabei keineswegs falsch, obwohl ein kleiner Supermarkt, denn der geplante Standort im Zentrum des Stadtteils war wesentlich kleiner konzipiert, macht noch keine lebendige Flaniermeile. Es war und ist aber erstaunlich, wer sich hier wie in Position bringt. Obwohl zahlenmäßig in der Minderheit, wie eine vom BIV Rieselfeld durchgeführte Umfrage im Dezember 2001 in Erfahrung brachte (ca 30 % für die Rieselfeldallee, ca. 70 % für den Edeka Standort), dominierten die aktiven Milieus die Versammlungen und die öffentliche Diskussion vollständig. Bei diesem Dienstleistungsmilieu, die heute die so genannte neue Mitte ausmachen, argumentativ und sprachlich versiert, dem Gesamtwohl des Stadtteils verpflichtet, sorgten sich vor allem die Männer, wo und wie ihre Frauen in Zukunft einkaufen können und sollen. So waren bei der Bewohnerversammlung im Dezember 2001 im Foyer des Kepler-gymnasiums von knapp 100 Besuchern, ungefähr 70 Männer die oben erwähntes Problem diskutierten. Dieser Sachstand verunsicherte das Projektmanagement Rieselfeld und die Politik derart, dass im Stadtrat noch mal darüber beraten und abgestimmt werden muss, allerdings mit der Gefahr, dass der potentielle Betreiber inzwischen wieder abspringt, da er nur für einen gewissen Zeitraum die Option Rieselfeld aufrecht erhält. In Folge wäre für lange Zeit jegliche Hoffnung auf einen Supermarkt für den Stadtteil zu begraben. Fortsetzung der Beobachtung Sommer 2003 Im Sommer 2003 sind die 5000 Einwohner im Rieselfeld erreicht, die für die Betreiber eines Supermarktes oder Discounter eine Voraussetzung zur Ansiedlung waren. Allerdings ruht die Planung des Supermarktes immer noch, Raumansatz Seite 150 da Ersatzstandorte an der Rieselfeldmeile noch vom Stadtplanungsamt geprüft werden. Stattdessen ist nun sowohl ein Interessent für einen Discounter und ein Investor für das Gebäude, in dem der Discounter untergebracht werden soll, gefunden. Sehr zur Erleichterung der zuständigen Behörden und der Stadtpolitik. Standort ist der Geschwister-Scholl–Platz, der zweite „urbane“ Platz im Stadtteil, der mit künstlerischen Bodenbildern, einem kleinen Stadthaus und Bäumen und Bänken ein Treffpunkt werden sollte. Dies war von Anfang an so geplant, auch mit dem Discounter, auch wenn fünf Jahre eine Baulücke und ein provisorische Platz keine Augenweide waren. Damit die städtische Baugesellschaft „Stadtbau GmbH“ überhaupt als Investor auftritt, plant sie über dem Discounter 57 Sozialwohnungen. Der Betreiber des Discounters hat auch noch mal nachgelegt und die sonst üblichen Tiefgaragenplätze abgelehnt, da sie unbeliebt seien. Stattdessen fordert er 60 Parkplätze auf dem Geschwister–Scholl-Platz. Dies führt erwartungsgemäß zu erheblichen Protesten der Anwohner des Platzes. Interessant ist dabei die Spaltung der beteiligten Gruppen und Milieus im Stadtteil. Nun ist ein Teil von der Bebauung des Platzes betroffen, denn sie haben hier Eigentum erworben und befürchten durch den Betrieb eines „Billigdiscounters“ mit darüber liegenden Sozialwohnungen einen Wertverlust ihrer Immobilie. Die Parkplätze vor der Haustür stört auch andere Anrainer, die sich bereits in einer Initiative organisiert haben. Der Teil der Machtelite, die nicht davon betroffen ist, unterstützt die Ansiedlung des Discounters (und der Sozialwohnungen), da er den Gesamtstadtteil im Blick hat und eine Optimierung der Lebensverhältnisse anstrebt, da diese Verbesserung der Infrastruktur wieder ein positives Bild auf sie zurückwirkt. Stand Herbst 2004 Die rechtlichen Einsprüche der Anrainer hatten vor Gericht keinen Erfolg, im November 2004 war Baubeginn für das umstritten, den Stadtteil spaltende und polarisierende Projekt. Nach Beobachtungen des Autors versuchen einige der Hauptgegner nun ihre Wohnungen zu verkaufen, andere haben resigniert. Raumansatz Seite 151 3.6. Neue Orte Ein neuer Ort im Stadtteil ist der fertiggestellte, zentrale Maria–von Rudloff– Platz vor dem Stadtteiltreff Glashaus. Begrenzt wird er von quer liegenden schwarzen, glänzenden Granitblöcken, die eigentlich als Sitzgelegenheiten dienen sollen. Ein Tag nach Beendigung der Bauarbeiten war dieser Platz mit „Skatern“ aus ganz Freiburg bevölkert. Sie genossen die gute Anbindung mit der Stadtbahn, schließlich ist der Platz auch Haltestelle für die Linie sechs direkt aus der Stadtmitte, und der Platz ist eben und glatt. Auffallend dabei war allerdings das plötzliche, vollkommene Verschwinden von den Cliquen von Jugendlichen, die zwar nicht den Platz (er war ja noch mit Bauzäunen abgesperrt), aber die Räume am Rand des Platzes belegt hatten. Dies sind Gruppen aus sozial schwachen Milieus, Migrantengruppen, die sogenannten „Tjabbos“.Sie waren wie vom Erdboden verschluckt, sie hatten den Skatern nichts entgegen zu setzen. Aber kaum ist das Wetter mal schlecht und die Skatergruppe bleibt aus, wird der Ort wieder von den Einheimischen besetzt. Beschwerden über Lärmbelästigungen von Anwohnern gibt es allerdings bei beiden Gruppen. Der urbane öffentliche Raum wird hier definiert über die dort stattfindenden Nutzungen. Er wird erst über seine Nutzungen öffentlich. Es ist aber offensichtlich, dass öffentlicher Raum nicht für alle gleich nutzbar sind. Die sozialen Akteure nehmen einen bestimmten Platz ein, die mit einer sozialen Hierarchisierung einhergeht. 4. Zusammenfassung Die Möglichkeit sich Räume anzueignen ist abhängig von den Möglichkeiten, wie im Raum gehandelt werden kann. Die Handlungen wiederum sind abhängig von den materiellen und symbolischen Faktoren, vom Habitus der Handelnden und den strukturellen Ein- und Ausschlüssen. Räume sind hierarchisiert und erzeugen Hierarchien. Die sozio-kulturelle symbolische Dimension, also die Möglichkeit zur Präsentation im Raum und die Bilder der einzelnen handelnden Person, sind von besonderer Bedeutung für das Raumansatz Seite 152 Aneignen und das Zusammenleben im Stadtteil. Der Stadtteil dient als Bühne, auf dem sich verschiedene Milieus mit ihren Lebensstilen ausdrücken und Einheimische wie Migranten ihre Anwesenheit im Stadtteil demonstrieren. Raumansatz Seite 153 1 Löw Martina, Raumsoziologie; Frankfurt a.M. 2001 S. 158 2 ebenda 3 Ipsen, Detlev; Die Kultur der Orte, Ein Beitrag zur sozialen Strukturierung des städtischen Raumes. In: Löw, Martina (Hg.); Differenzierungen des Städtischen, Opladen 2002 S.242 4 Ipsen, Detlev; Die Kultur des Ortes. Ein Beitrag zur sozialen Strukturierung des städtischen Raumes. In: Löw, Martina (Hg.); Differenzierungen des Städtischen, Opladen 2002 5 Dangschat Jens; :“Raum als Dimension sozialer Ungleichheit und Ort als Bühne der Lebensstilisierung? Zum Raumbezug sozialer Ungleichheit und von Lebensstilen,“ In: Schwenk, Otto G. (Hg.): Lebensstil zwischen Sozialstrukturanalyse undKulturwissenschaft. Opladen 1996 S. 104 6 ebenda 7 Ipsen, Detlev; Die Kultur der Orte, Ein Beitrag zur sozialen Strukturierung des städtischen Raumes. In: Löw, Martina (Hg.); Differenzierungen des Städtischen, Opladen 2002 S.237 8 Piaget Jean; Meine Theorie der geistigen Entwicklung. Frankfurt a.M. 1983 9 Elias, Norbert; Über den Prozess der Zivilisation.. Soziogenetische u. psychogenetische Untersuchungen; Band 2: Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation, Frankfurt a.M. 1976 10 Bahrdt, Hans Paul; Umwelterfahrung, Soziologische Betrachtungen über den Beitrag des Subjekts zur Konstitution von Umwelt, München 1974 11 Reinhard Knodt; Ästhetische Korrespondenzen, Denken im technischen Raum Stuttgart 1994 S. 55 12 Pierre, Bourdieu; Sozialer Raum und ‘Klassen’. Lecon sur la Lecon. Frankfurt a. M. 1985; ders. Physischer, sozialer und angeeigneter Raum. In Wentz, M. (Hrsg.): Stadträume. Frankfurt a. M./New York 1991, S.25-3413 Bourdieu, Pierre; Sozialer Raum und Klassen, Frankfurt a. M 1985 S. 10 14 ebenda S. 12 15 ebenda S. 13 16 ebenda S. 21 17 Duden, Bd. 7; 1989 S. 261 18 Bourdieu, Pierre; Sozialer Raum und Klassen, Frankfurt a. M 1985 S. 69 19 Bourdieu, Pierre; Die feinen Unterschiede; Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt 1989 S. 282 20 Bourdieu, Pierre; Die feinen Unterschiede; Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt 1989 S. 278 21 de Marinis, Pablo; Überwachen und Ausschließen. Machtinterventionen in urbanen Räumen der Kontrollgesellschaften, Pfaffenweiler 2000 S. 100 22 de Marinis, Pablo; Überwachen und Ausschließen. Machtinterventionen in urbanen Räumen der Kontrollgesellschaften, Pfaffenweiler 2000 S. 101 23 de Marinis, Pablo; Überwachen und Ausschließen. Machtinterventionen in urbanen Räumen der Kontrollgesellschaften, Pfaffenweiler 2000 S. 101 24 de Marinis, Pablo; Überwachen und Ausschließen. Machtinterventionen in urbanen Räumen der Kontrollgesellschaften, Pfaffenweiler 2000 S. 101f 25 Löw Martina; Raumsoziologie; Frankfurt a.M. 2001 S 204 26 Heidegger, Martin; Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1985 (org.1954) 27Luhmann, Niklas; Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1998 S. 181 28Giedion , S; Raum, Zeit, Architektur, Ravensburg 1965 S. 280 29 Virilio, Paul; Revolutionen der Geschwindigkeit, Berlin 1993 30 de Marinis, Pablo; Überwachen und Ausschließen. Machtinterventionen in urbanen Räumen der Kontrollgesellschaften, Pfaffenweiler 2000 S. 90 31 Bourdieu, Pierre; Sozialer Raum und Klassen, Frankfurt a. M 1985 S. 10 32 ebenda S. 12 33 Castells, Manuell 1994 Space of Flow , Raum der Ströme, in Noller u.a. Frankfuirt/Main u. New York S. 120-134 Kapitel 5 Integration, Desintegration 1. Integrationsansätze Ein beliebtes Schlagwort im heutigen Europa lautet Integration. Gleichzeitig erleben wir die ungelösten Probleme mit sozial ausgegrenzten Gruppen, mit klassischen ethnischen Gemeinschaften sowie die Spannungen mit religiösen, z.B. islamischen Einwanderungsgruppen, vor allem in den Städten. Wie soll man mit der Minderheitenfragen heute umgehen? Was für eine Entwicklung müssen wir rechnen? Beschreiben Assimilation versus Multikulturalität die Problematik ausreichend? Wie kann und müssen die Akteure im neuen Stadtteil Rieselfeld agieren, um diese Integrationsleistung zu schaffen? Ist das Entwickeln einer Metakultur1 für den Stadtteil, neben der Dominanzkultur und den Minoritätskulturen, machbar und sinnvoll? Ist Integration überhaupt mehr als die symbolische Konstruktion von Identität. Zugehörigkeit ist dasintegrative Moment im Stadtteil zu sehen. Integration wird im Allgemeinen über die Sicherstellung zweier zentraler Bedingungen definiert. Zum einen geschieht dies über die Teilnahme an materiellen und kulturellen Gütern eines Kollektivs, zum anderen über das Vorliegen eines spezifischen subjektiven Zugehörigkeitsgefühl zu einem sozialen Kollektiv. Integration bezieht sich nicht auf eine soziale Einheit Stadt oder Gesellschaft, sondern auf die Mehrdimensionalität gesellschaftlichen Lebens. Integriert in eine Gesellschaft werden Menschen über ihre Teilhabe an verschiedenen gesellschaftlichen Funktionssystemen, an Bildung, Gesundheit, Wirtschaft, Wohnen, Familie, Recht und anderen. Es handelt sich um Funktionssysteme, an deren Gestaltung die Stadt nur einen kleinen Teil hat. In der wissenschaftlichen Debatte zu Integration und Desintegration wird heute daher weniger von einer Integration in die Stadt, sondern von einer Integration/Desintegration der Stadt gesprochen. Es stellt sich eine doppelte Integrationsfrage, zum einen die der Mehrheitsgesellschaft selbst, zum anderen die der Minderheiten. 2 Traditionelle Minderheiten haben sich oft durch Isolation gehalten. Sie haben in der Abgeschiedenheit der Landschaft ihre Kultur und Sprache bewahren können. Unter großen Druck sind Minderheiten durch die Urbanisierung Integration, Desintegration Seite 155 geraten. Die Industrialisierung förderte die Migration und anschließende Assimilation an die dominante Mehrheitskulturen. Der Streit um den Status wurde zum Streit ums Territorium. Desintegrationsphänome betreffen alle Gruppen und Individuen einer Gesellschaft. Von einem integrierten Kern, wie groß dieser auch sein mag, in den Randgruppen zu integrieren wären, kann heute kaum mehr die Rede sein. Die Integrationsleistung, die die Stadt dabei leisten muss, stößt durch verschiedenste gesellschaftliche Entwicklungen immer mehr an ihre Grenzen. Auffallend in der Diskussion ist die weit verbreitete Vorstellung von einer Stadtgesellschaft, die alles besser machen soll, die das leisten soll, was die Gesellschaft im Ganzen nicht fertig bringt. Auch in den Städten gab und gibt es kein immerwährendes harmonisches Miteinander aller Schichten, Gruppen und Milieus. Als Hintergrund standen die beiden großen Integrationsideen der alten Bundesrepublik, die sich offenbar überlebt haben: zum einen die „Schicksalsgemeinschaft“ nach dem Zweiten Weltkrieg. Das war eine Gesellschaft des Weitermachens und des Wegduckens, wo nicht Stände und Klassen, sondern Kategorien der Betroffenheit wie Vertreibung, Flucht und Gefangenschaft die Verhältnisse bestimmten. Diese konservative Vorstellung will an der herrschenden Kultur festhalten, sie verlangt von Zuwanderern die Anpassung an unsere (Leit-)Kultur, das heißt Assimilation. Die Zuwanderer sollen ihre Fremdheit ablegen und sich so unauffällig integrieren. Die Anpassungsleistung liegt beim Individuum. Die zweite Integrationsidee ab Mitte der 1960er Jahre war das Modell der „Arbeitnehmergesellschaft“, in der sich ein universalistisch begründetes Anrechtssystem mit einer kapitalistischen Angebotswelt harmonisierte, ein großes Modell, das den sozialdemokratischen Drive in allen unseren Parteien und gesellschaftlichen Großgruppen bestimmt hat. Hier geht man von einer offeneren Vorstellung aus, das heißt, dass sich im Prozess der Zuwanderung auch die Aufnahmegesellschaft verändert, sie sich auch an die neuen Mitglieder anpassen muss. Sie zerfällt dadurch nicht in verschiedene Kulturen, sondern entwickelt eine neue Identität. Die Integration, Desintegration Seite 156 Anpassungsleistung liegt also auf beiden Seiten. In beiden Fällen ist die Homogenität der Kultur das Leitbild der Integration. Wir stehen heute vor der Notwendigkeit, eine neue Integrationsidee für die Bundesrepublik im Allgemeinen und den Städten im Besonderen zu erfinden. 2. Die individualisierte Gesellschaft Im Mittelpunkt der Integrationsdebatte seht vor allem die Individualisierungsthese mit der Behauptung der Herauslösung aus traditionellen Beziehungen und Zusammenhängen. Anschließend muss diskutiert werden, was tritt an die Stelle der alten sozialen Strukturen oder kommt es zu einer allseits beklagten Vereinzelung, die nicht mehr bereit ist, ihre egoistischen Nutzungskalküle gemeinschaftlichen Werten und Normen unter zu ordnen. Der Bielefelder Rechtsextremismusforscher Wilhelm Heitmeyer beklagt, dass Individualisierung Desintegration befördere, die zu anomischen Zuständen führe. Dabei kommt er zu folgender Formel: “Je mehr Freiheit, desto weniger Gleichheit, - je weniger Gleichheit, desto mehr Konkurrenz, je mehr Konkurrenz, desto weniger Solidarität, - je weniger Solidarität, desto mehr Vereinzelung, - je mehr Vereinzelung, desto weniger soziale Einbindung, je weniger soziale Einbindung, desto mehr rücksichtlose Durchsetzung“3. Eine solche Diagnose provoziert die Frage, wie das freigesetzte Individuum in die Gemeinschaft zurückgeführt werden kann. Die Suche nach neuen Integrationsmechanismen erscheint nur dann sinnvoll, wenn Individualisierung mit Atomisierung und Singularisierung und gleichzeitig mit Egoismus gleichgesetzt wird. Radikal entgegengesetzt argumentiert Hondrich: „Während sich die öffentliche Meinung an Reizworten wie Desintegration und Entsolidarisierung abarbeitet, zeigen Langzeit- und Vergleichsanalysen eine geradezu erstaunliche Bestätigung und Funktionsfähigkeit von integrativen Mechanismen: die Jugendkriminalität steigt nicht, die Alten verarmen nicht, sondern stehen sich besser als je zuvor, die Gefühls- und Hilfsbeziehungen zwischen den Generationen lösen sich nicht, sondern festigen sich, die Vereine und privaten Initiativen sterben nicht, sondern vermehren sich, die Universitäten leisten nicht weniger, sondern mehr für die gesellschaftliche Integration.“4 Integration, Desintegration Seite 157 Diese Aufzählung macht deutlich, dass die ewige Klage über das Auseinanderbrechen der Gesellschaft durch Egoismus und Entsolidarisierung keineswegs so evident ist, wie es in der öffentlichen Wahrnehmung gilt. Zwar sind die von z.B. bei Heitmeyer analysierten Phänomene nicht zu leugnen, doch Individualisierung automatisch immer mit Vereinzelung, erweiterte Handlungsspielräume mit der Auflösung des Sozialen gleichzusetzen, wird den vielfältigen widersprüchlichen und ambivalenten Folgen der Individualisierung nicht gerecht. Denn die Folge ist, dass distanzierter und im gewissen Sinne gewollter gleichgültiger Umgang im städtischen pluralisierten und durch verschiedene Lebensstile ausgezeichnetem Miteinander abgelöst wird durch ein Bedrohungsgefühl durch jeweils andere. Dies sind alle, die nicht der eigenen Lebensform, dem eigenen Lebensstil entsprechen. An die Stelle eines distanziert gleichgültigem, an formale Regeln gebundenen Umgangs, können einerseits Ausgrenzungen und Verdrängungen, zum anderen wechselseitige Abschottungen oder, wo das nicht gelingt, aggressive Konfrontationen treten, wie sie zurzeit vor allem zwischen Einheimischen und Migranten erwartet werden, sich aber auch zwischen anderen Gruppen andeuten. So stehen sich zwei Positionen gegenüber, die eine will durch relativ große Gleichheit die Möglichkeit der Selbstverwirklichung garantieren (trotz immer größer werdender Wertepluralität) und damit die Integration sichern und soziale Stabilität gewährleisten. Die andere Forderung besteht darin, eine Wiederbelebung von Pflichten an der Gemeinschaft, das auch bei größerer sozialen Ungleichheit bei ökonomischen und politischen Chancen desintegrative Vorgänge verhindern soll. In der Stadt gewinnt dieses Problem normativer Integration eine besondere Brisanz. Zum einen sind die Städte das Versprechen für Wohlstand, Chancengleichheit und Optionserweiterungen, zum anderen schließen verstädterte Wohnformen informelle Eigenarbeit, z.B. in Formen einer ergänzenden Substenzwirtschaft aus. Urbanität zeichnet sich durch einen Lebensstil der Individualisierung, der Selbstverwirklichung und der Durchsetzung von privaten Egoismen aus und nicht durch Gemeinschaftsbildung und empathischen Annahme des Nächsten. Die Integration, Desintegration Seite 158 typische städtische Form der normativen Integration ist daher als „partiale oder unvollständige Integration beschrieben worden“. 5 Eine Integration, in der Konflikte durch eine Art akzeptierender Gleichgültigkeit gegenüber allen anderen Individuen vermieden werden, nicht durch Gemeinschaftsbildung, emotionale Nähe und Verpflichtung. Es wird somit befürchtet, dass sich die prekäre Lage zwischen Ablehnung und Anerkennung, die mit urbaner partialer Integration in den letzten Jahrzehnten herauskristallisieret hat, sich immer mehr in Richtung Ablehnung und Ausgrenzung des „Anderen“ oder des Fremden verschiebt. Diese Tendenz ist, nicht nur in deutschen Städten, seit einiger Zeit gegenüber Migrantengruppen zu beobachten. Es bestehen zwar auch ohne ethnischen Minderheiten innerhalb der Stadtbevölkerung soziale Ungleichheiten, die sich in sozioökonomischen und soziokulturellen Kategorien äußern, sie treten aber verstärkt durch ethnische Unterschiede zutage. Unsicherheiten über die eigene soziale Position, Abstiegsängste oder Abstiegserfahrungen, Konkurrenz um knappe Güter wie Wohnraum und Arbeitsplätze führen zur Verurteilung, Ablehnung und sogar Aggressivität. 3. Migration Ein kurzes Kapitel über Hintergründe der Migration soll den Zusammenhang von Stadt und Migration beleuchten. Migration meint fast immer in die Stadt, wobei Migration immer automatisch als Zuwanderung von außen, meist aus Nicht-EU Ländern verstanden wird. Auf dem Gebiet der Bundesrepublik gab es 1950 etwa acht Millionen Vertriebene, zwischen 1950 und 1961 kamen noch mal 2,6 Millionen DDR- Übersiedler hinzu. Dies bedeutet, wenn man davon ausgeht, dass nicht alle in der Bundesrepublik blieben, dass knapp 10 Millionen Zugewanderte6 in der bundesrepublikanische Gesellschaft aufgenommen wurden. Die Fremdheit der Zugewanderten, die blieben, löste sich über kurz oder lang in eine Form nicht bedingter Assimilation auf. Dies unterscheidet diese Gruppe von den ausländischen Migranten. Ihre Fremdheit war nur relativ und stand der Integration nicht im Wege. Zwischen 1961 und 1997 sind insgesamt 23,1 Millionen ausländische Staatsbürger in das frühere Bundesgebiet bzw. nach Deutschland zugezogen, Integration, Desintegration Seite 159 und 17 Millionen haben es wieder verlassen. Von diesen Migranten sind höchsten ein Drittel in der Bundesrepublik geblieben, und dies in einem Zeitraum von 36 Jahren. Es sind zwar viele Migranten geblieben, es sind aber etwa zweieinhalb mal so viele wieder weg- gezogen. Dies berührt auch die Frage der Integration. Es kann nämlich vermutet werden, dass auch ein erheblicher Teil derer wieder zurückgegangen sind, die einen misslungenen Integrationsversuch hinter sich hatten. Dies ist hier erwähnt, weil diese Zahlen belegen, dass zumindest prozentual und absolut die Migranten, die einen dauerhaften Wohnsitz im Zielland wünschen, beträchtlich kleiner ist, als die Gesamtzahl der ausländischen Einwohner vermuten lässt. Dies aber hat Auswirkungen auf die Frage der Ausgestaltung von Integration, auf die Einschätzung von Binnenintegration und Segregation. In den Ballungsräumen der Bundesrepublik leben heute große Anteile ausländischer Bevölkerung (acht von zehn Migranten leben in Großstädten, bei der deutschen Bevölkerung sind es nur sechs von zehn7), wozu zumindest kulturell auch die Gruppe der Aussiedler gehören. Ansonsten sind es überwiegend Menschen aus der Türkei und den anderen Anwerbeländern. In Stuttgart, Frankfurt und anderen Großstädten liegt ihr Anteil bei ca. 30 Prozent, in einigen Stadtteilen bei 60 und mehr Prozent. Integration, Desintegration Seite 160 Die Phänomene der Migration haben auch dazu beigetragen, die Kategorie Raum in den Blickpunkt zu rücken. Es ist interessant, welche lebenspraktischen Phänomene und identitären Handlungsmuster der urbane Raum für Menschen mit Migrationshintergrund hervorbringt. In den 1920er und 1950er bis 1970er Jahren wurden wohnungs- und migrationspolitisch günstige Bedingungen gesehen: Wirtschaftswachstum, Arbeitskräftebedarf, sozialpolitisch motivierte Wohnungspolitik und Ausländerintegration. Allerdings war in der BRD die offizielle Meinung gegenüber den „Gastarbeitern“ ebenso freundlich wie unoffen, denn als Gäste codiert hatten sie keinen Zugang zu gleicher Anerkennung. 4. Widersprüchliche Konzeptionen einer Integrationspolitik Es besteht weitgehend Einigkeit, dass die Migranten eine gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglicht werden sollte, was aber unter Teilhabe genau, ihre Voraussetzungen, ihre Formen und ihre Rahmenbedingungen verstanden wird, ist sehr umstritten. Zwei Grundpositionen lassen sich ausmachen, eine die aus allen Migranten „gute Deutsche“ machen will und eine Gegenposition, die von einer „Andersartigkeit auf Dauer ausgeht“. Bei der ersten Position geht es primär darum: Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft ohne Alternative, die Beherrschung der deutschen Sprache, Eingliederung in das Arbeitsleben und Akzeptanz der Normen der Bundesrepublik Deutschland. Dies bedeutet, dass bis zur Erhaltung der deutschen Staatsbürgerschaft der Migrant Bürger „zweiter Klasse“ ist, dem nicht nur zentrale politische Teilnahmerechte wie das Wahlrecht fehlen, sondern der auch bei Normverletzungen mit gravierenden Sanktionen zu rechnen hat. Während also im Prozess der Integration erhebliche Risiken bestehen, die das Ziel des Integrationsvorgangs, die Erreichung der Staatsbürgerschaft, unerreichbar machen können, ist ein Abschluss des Integrationsvorgangs unterstellt, in dem eine Unterscheidung zwischen „deutscher“ und „ausländischer“ Bevölkerung allmählich verschwindet. Diesem Modell liegt ein Bild einer homogenen Gesellschaft zu Grunde, die nur geringe Abweichungen oder Pluralität akzeptieren. In der Realisierung dieses Modells werden die entscheidenden Anstrengungen und Vorleistungen von Migranten Integration, Desintegration Seite 161 erwartet, dem trotz schlechterer Lebensbedingungen eine Befolgung der deutschen Normen abverlangt wird. Die zweite Position geht von einer sehr pluralen, normativ heterogenen Gesellschaft aus. Hier ist nicht die Angleichung an die deutsche Bevölkerung im Vordergrund, sondern die Wahrung von Unterschieden sind Bestandteil der Integration. Die Aufgabe von Politik und Gesellschaft ist es, den Migrantengruppen die Beibehaltung und Pflege ihrer jeweiligen kulturellen Eigenarten zu garantieren, dazu gehört auch die notwendige Infrastruktur. Das Andere ist zwar oft fremd, aber nicht minderwertig. Einer Integration durch mehr oder weniger gezwungener Homogenisierung stellt dieses Modell die Förderung der kulturellen Identität in den Vordergrund, die es ermöglicht, sich selbst mit der notwenigen Verhaltenssicherheit, mit der Kultur der Aufnahmegesellschaft auseinander zu setzen. Alltagskonflikte sind auch hier unvermeidlich, aber auch kennzeichnend für moderne Gesellschaften und sollen nicht nur das Zusammenleben mit Migrantengruppen, sondern auch das der unterschiedlichsten Gruppen der deutschen Bevölkerung prägen. Eine Bewältigung der Konflikte soll durch möglichst frühzeitige und uneingeschränkte Gewährung aller bürgerlichen Rechte für alle Gruppen erreicht werden, was mit dem neuen Einbürgerungsrecht (im Jahr 2000) eingeleitet wurde. Es ist offensichtlich, dass beide Positionen Vor- und Nachteile aufweisen. Das erste Modell schreibt zwar den Migranten einen riskanten Weg der Integration vor und überträgt ihnen die Hauptlast und Kosten eines potentiellen Scheiterns auf, versucht aber die Anforderungen an Toleranz und damit die Konfliktanfälligkeit einer gesellschaftlichen Konstellation zu begrenzen. Es geht weiterhin von der nicht ganz unberechtigten Vorstellung aus, dass ein gewisser Grundbestand an Normen nicht zur Disposition steht, auch die der Verhinderung von Diskriminierung von Frauen als Beispiel nicht. Das Konfliktmodell dagegen kann zwar den Versuch zur Realisierung sozialer Gerechtigkeit in Anspruch nehmen, geht aber erhebliche dauerhafte Risiken ein, angesichts von Konflikten von unterschiedlichen Lebensformen und Kulturen und von Relativierungen von unverzichtbar angesehenen Normen. Simmel sah es als Kennzeichen einer urbanen Kultur an, dass sich Fremde leichter integrieren lassen, wenn sich die Individuen gegenseitig in ihrer Integration, Desintegration Seite 162 Fremdheit respektieren. Die Großstadtmenschen leben lieber anonym, sie ignorieren sich als Person wechselseitig. Unterhalb des klassischen Konfliktpotentiales hat sich im letzten Jahrzehnt eine neue Situation herausgebildet. Die Medien, vom Satellitenfernsehen bis zum Internet, bieten den ethnischen Gruppen und ihren verstreut lebenden Angehörigen ungeahnte Existenzmöglichkeiten. Mit „Links“ kann man sich in den gesamten Kulturraum weltweit mühelos einklinken. Man braucht kein eigenes Territorium mehr, um kulturell zu überleben. Der Minderheitler, egal wo er sich befindet, ist heute nicht mehr allein. Im virtuellen Raum kann sich jeder als Teil einer Mehrheit fühlen. Er kann sein kulturelles Zentrum wann immer kontaktieren. Er kann z.B. die Infoblätter und Zeitschriften bestellen, er kann Bücher über das Internet ordern. „In den ethnischen Nischen des urbanen Raumes werden der Territorialgesellschaften unsichtbare Gemeinschaften untergeschoben.“8 Das bedeutet, dass man angesichts der weltweiten Migration nicht mehr auf Assimilation setzen muss, wie große Teile unserer politischen Klasse immer noch meinen, sondern das Integration anders definiert werden muss. Es entsteht ein neuer Zustand der Inkohärenz. Jeder der irgendwohin auswandert - und es wandern ja nicht nur Osteuropäer, Asiaten und Afrikaner nach Deutschland ein, sondern mehr als hunderttausend Deutsche aus Deutschland aus -, geht nicht wirklich fort. Jedenfalls verlässt er seine Kultur nicht automatisch. Durch die mögliche virtuelle Nähe zur eigenen Kultur und den gleichzeitigen alltäglichen Kontakt mit der lokalen Lebenswelt bilden sich Mischformen der Mentalität. Immer mehr Menschen leben in den Wertvorstellungen von (mindestens) zwei Kulturen in unterschiedlichster Ausgewogenheit oder im Konflikt. Sie sind weder in der einen noch in der anderen ganz zu Hause. Das ist auch bei Migranten der zweiten und der dritten Generation zu sehen. Als Folge ist zu beobachten, dass die Minderheiten durch die Vernetzung in beide Richtungen in den Wettbewerb mit der Mehrheitskultur gehen. Die neuen Minderheiten sind urban und schwer festzulegen. Sie bilden in immer größeren Maße eine Zwischenschicht, deren Identität erschüttert ist und täglich neu formuliert werden muss. So wird man in Zukunft immer öfter auf eine „hybride Form“ von Kultur stoßen. Mehrfache Identitäten werden zur Regel, gefördert durch eine Mischung der Erstsprache und der Verkehrssprache. Integration, Desintegration Seite 163 Dies ist im Rieselfeld nicht nur bei den klassischen Migranten, sondern auch bei den Aussiedlern der Fall. In Russland gelten sie als „Deutsche“, in Deutschland als die „Russen“, untereinander aber unterscheiden sie sich nach ihren verschiedenen Herkunftsgebieten. Der aus Siebenbürgen stammende ungarische Schriftsteller Geza Szöcs9 spricht hier von „kontextueller Identität“. 5. Integration und Desintegration im Stadtteil Im Hinblick auf stadtteilbezogene Konzepte lassen sich grob zwei Ideal-Typen unterscheiden. Im ersten Fall steht die interkulturelle Öffnung bzw. Orientierung der Institutionen (Kindertageseinrichtungen, Schulen bis hin zu der Verwaltung) im Mittelpunkt. Angestrebt wird eine „Normalisierung“ im Sinne einer gleichberechtigten Nutzung der sozialen Infrastruktur. Institutionen lassen sich daraufhin evaluieren, ob und inwieweit sie interkulturelle Qualität und Kompetenz gewährleisten. Im zweiten Fall steht die soziale Benachteiligung und soziale Teilhabe von ausländischen und deutschen Kindern und Jugendlichen im Zentrum. Da Integration Teilhabe an bestimmten Gütern bedeutet, müssen diese Güter näher definiert werden. Teilhabe an den sozialen und kulturellen Gütern beihaltet den Zugang zur Bildung, zur Gesundheit, zur Wirtschaft, zum Wohnen und Zugang zum Rechtsystem. Der Zugang zur Bildung im Stadtteil Rieselfeld ist in erster Linie der Zugang zu den Schulen, den Kindertageseinrichtungen und der Erwachsenenbildungsmöglichkeiten. Bei den Schulen sind es die Grundschule, die für alle Kinder des Quartiers zuständig ist, das Keplergymnasium, das bisher nur zu ca. 25 bis 30 % von Rieselfeldern besucht wird, und ab Herbst 2003 die Walldorfschule, die von einem anderen Vorort in das Rieselfeld umzieht. Im Gymnasium sind fast keine Migrantenkinder oder Kinder von sozial benachteiligten Gruppen. Bei der Walldorfschule ist schon allein das Schulgeld von über 200.- € ein Selektionsmittel. Bei den Kindertageseinrichtungen sieht es anders aus. Hier sind alle Gruppen und Milieus vertreten, da der gesetzliche Anspruch auf einen Platz den Zugang für alle ermöglicht. Integration, Desintegration Seite 164 Die Angebote der Erwachsenenbildung, die von der Volkshochschule Freiburg, den Kirchengemeinden und anderen Bildungsträgern angeboten werden, richten sich eindeutig an die akademische Mittelschicht im Stadtteil, so dass auch hier der Zugang für die „Anderen“ erschwert ist. Bei der Gesundheitsvorsorge und dem Zugang zum Gesundheitssystem sind zumindest auf der Ebene des Stadtteil noch keine erkennbaren Ausschlussmechanismen festzustellen. 6. Segregation im Stadtteil Rieselfeld Beim Zugang zu einer Wohnung ist von besonderer Bedeutung für ethnische Minderheiten die Frage der residentieller Segregation. Sowohl Vermischung mit der aufnehmenden Gesellschaft als auch weitgehende Segregation können Vor- und Nachteile mit sich bringen. Es drohen Segregationen in den Städten, die ähnlich wie die der frühindustriellen Stadt massive Ausgrenzung darstellen, Konstellationen mit oft unsichtbaren, aber kaum zu überwindenden Mauern. Der Segregierung liegen nach Jens S. Dangschat drei hauptsächliche Prozesse zugrunde. Die Spaltung zwischen Einheimischen und Migranten, wie schon erwähnt, die Spaltung zwischen dem Segment der stabil Beschäftigten und dem Segment der Arbeitslosen (einschließlich der prekär Beschäftigten) und die Ausdifferenzierung und Heterogenität nach Lebensstilen und Formen des kulturellen Lebens.10 Auf ihre kumulierenden Effekte kommt es an. Hier treffen sich die Stränge der Verräumlichung und der „Vererbbarkeit“ sozialer Ausgrenzung wieder. Kinder, die in abgeschriebenen Vierteln einer sozial vom Mainstream der Gesellschaft isolierten „Underclass“ geboren wurden und aufwachsen, haben die geringsten Chancen, die für sich ererbte (sozial und räumlich) Randständigkeit verlassen zu können. Am Fall von Umzüglern aus dem benachbarten Stadtteil Weingarten kann dies nachgezeichnet werden. Sieben Familien aus dem ehemaligen Jugoslawien zogen aus dem stigmatisierten Stadtteil in den statushöheren Nachbarstadtteil. Dort sind sie allerdings wieder am Rand, in einem Gebäude, das von der öffentlichen Meinung des Stadtteils als sozial schwierig eingestuft wird. Bei genauerer Untersuchung ist dies allerdings nicht nachweisbar. Durch die Vernetzung und informelle Organisation, die diese Familien durch ihren gemeinsamen Lebensabschnitt fast automatisch erreicht haben, treten sie Integration, Desintegration Seite 165 geschlossen gegenüber der städtischen Wohnbaugesellschaft nun verstärkt und selbstbewusst auf, was dort den Eindruck erweckt, in diesem Haus gäbe es mehr Probleme als anderswo. Integration, Desintegration Seite 166 6.1 Genderaspekt im Stadtteil In diesem Zusammenhang muss als Segregationsaspekt vor allem die Rolle der Teilzeiterwerbstätigen, der Hausfrauen und der Alleinerziehenden in peripheren Wohnstandorten betrachtet werden. Durch eher schlechte Infrastruktureinrichtungen, in der Regel ohne Zugriff auf einen PKW und daher auf Fußmärsche, Fahrradfahren oder den öffentlichen Nahverkehr angewiesen, müssen sie einen wesentlich höheren Zeitaufwand einplanen, um räumliche Distanzen zu überwinden. Die Stadtbahn fährt zwar relativ häufig im Rieselfeld, und Fahrrad fahren ist in Freiburg schon fast ein gesellschaftliches „Muss“, trotzdem führt dies wiederum zu einer verminderten Möglichkeit, sich im Stadtteil einzubringen, sich zu engagieren und ihn sich somit anzueignen. Borst11 betont als einen zweiten Aspekt der „gender segregation“ die Ausdifferenzierung der Lebensverhältnisse von Frauen. Die Flexibilisierungen des Arbeitsmarktes, die zunehmende Stärkung des tertiären Sektors und nicht zuletzt das ausgeweitete Bildungssystem führt zu stärkeren Erwerbsarbeit von Frauen, allerdings vor dem Hintergrund sich ausweitender Disparitäten zwischen den Frauen - die „Zuverdienerinnen“, oftmals Migrantinnen, erledigen einen Teil der Reproduktionsarbeit der „karriereorientierten Frauen“. Das führt zu einer Polarisierung und Heterogenisierung weiblicher Alltagserfahrung und Raumnutzungsmuster durch die Segregation zwischen Familien an der Peripherie. Für die Bewohner eines Stadtteils bedeutet das nun, dass auch sie über ihre sozialräumliche Positionierung Formen der sozialen und gesellschaftlichen Unterscheidung erfahren. So kann mittlerweile allein die Angabe einer Wohnadresse im Rieselfeld schon Anlass für Stigmatisierung sein. Eine neue Entwicklung ist die Positionierung über den Bauabschnitt. Vor allem der erste Bauabschnitt dient zur Abgrenzung. Die räumliche Positionierung und die damit verbundenen Erfahrungen der Bewohnerinnen und Bewohner offenbaren somit immer die Formen der gesellschaftlichen Ein- und Ausgrenzungen. Die Mechanismen, die verschiedene gesellschaftliche Gruppen an bestimmten Orten festhalten, sind für deren Positionierung im Sozialraum verantwortlich. Integration, Desintegration Seite 167 Über die durch die wirtschaftlichen sowie kulturellen Ex- und Inklusionsmechanismen bewerkstelligte physische Verortung des Menschen wird also auch ihre soziale Position innerhalb eines Machtgefüges verfestigt. Menschen werden allerdings nicht nur in sozialräumliche Strukturen eingeordnet, sondern Räume und Orte stellen vielmehr auch ein wichtiges Moment der Auseinandersetzung mit sozialen Strukturen dar. Menschen „verlandschaften“ und verorten ihr kulturelle Identität.12 Sie geben ihrer kulturellen und sozialen Positionierung einen imaginären geographischen Rahmen. Diese geographische Rahmung äußert sich zunächst in der sozialräumlichen Verortung von Individuen innerhalb von vorstrukturierten Bezugseinheiten wie beispielsweise Quartiere, Straßenzüge oder Wohnungen. Zudem eröffnen sich den Bewohnern über Formen des Sich- Einrichtens und Positionierens in räumlichen Kontexten auch Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit sozialen Strukturen. Die Beschreibung sozialer Ungleichheiten im Stadtteil richtet sich vor allem auf die eingeschränkten Zugangs- und Aneignungsmöglichkeiten von Raum. Das ist erstens die offen und versteckte Verweigerung der Akteure des Zugangs zum öffentlichen und damit gesellschaftlichen und politischen Raum. Die Strukturen der bestehenden Vereine und Gruppen sind wenig einladend für, die verschiedenen Initiativen und Arbeitskreise, die sich aus engagierten Bewohnern gebildet haben, bleiben bewusst unter sich Diese Auseinandersetzungen gestalten sich eben niemals frei und unabhängig, vielmehr erweisen sie sich als ständiger Aushandlungsprozess, als Kampf um die jeweils relevanten Bedeutungsmodi eines Raumes, um Ausschluss- und Zugehörigkeitskriterien. Raumaneignungen sind somit immer Ausdruck von sozialen Erfahrungen, und sie bieten die Möglichkeit des Umgangs mit diesen Erfahrungen. Migranten positionieren sich durch eine räumlich–symbolische Selbstkontextualisierung, die durch für sie bedeutsame Eigenschaften der Räume im Quartier nahegelegt sind. Dabei entstehen immer neue Gruppen, immer neue Migrantensubkulturen bilden sich, und das städtischen Geflecht differenziert sich immer mehr aus. Die Stadt lebt also von und in dem Paradox, sich zugleich hochgradig zu differenzieren und hohe Integrationsleistung zu erbringen. Wie prekär sich dieses Paradox auswirkt, sehen wir an dem Spannungsfeld zwischen Integration, Desintegration Seite 168 Liberalität und autoritären „law und order“, an fließenden Grenzen zwischen Toleranz und Anomie.13 Diese Konfrontationen laufen in dem neuen Stadtteil noch sehr stark auf der symbolischen Ebene ab. 7. Integration und öffentlicher Raum Öffentliche Räume in modernen Städten sind sensible Gebilde, an denen der Zustand der erreichten gesellschaftlichen Integration ablesbar ist. Die Integrationsleistung ist enorm, die bei aller Problematik im Detail dort erbracht wird. Klagen darüber, dass dieses Integrationspotential keine wirkliche Integration sei und die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen nicht wirklich miteinander lebten und kommunizieren, müssen differenziert betrachtet werden. Segregationstendenzen, Kriminalität und Gewalt-erfahrungen haben die Großstädte und einzelne Quartiere immer ausgezeichnet und es ist fraglich, ob eine wirkliche Integration aller Bevölkerungsgruppen mit allen jemals stattfinden und überhaupt Ziel sein kann. Dass die öffentlichen Räume die komplexe Vielfalt einer individualisierten Gesellschaft einigermaßen friedlich integrieren, ist nach wie vor ihre konstitutive Leistung und ein Grund für ihre zunehmende soziokulturelle Anziehungskraft. Auf der anderen Seite ist es oft nicht der klassische öffentliche Raum, wie zum Beispiel ein Stadttheater, das als Beweis für den Zugang zum öffentlichen Raum dienen kann. Öffentlichkeit findet im Rieselfelder Alltag eher in halbprivaten Szenen statt, in den Versammlungsräumen der Quartiere, bei Empfängen, bei Veranstaltungen im Stadtteil. Diese Ereignisse ermöglichen oder verunmöglichen speziellen Gruppen den Zugang zu bestimmten Entscheidungszentren, die die Lebenswelt der Bewohner betrifft. Pierre Bourdieu hat darauf hingewiesen, dass sich gesellschaftliche Differenzierungsprinzipien und soziale Strukturen der Distinktion in den Raumaneignungen und Raumpositionierungen von Menschen widerspiegeln.14 Dabei ist der angeeignete Raum ein Ort, an dem sich Unterscheidungspraxen in subtiler Form als wahrnehmbare, durchaus wirkungsvolle Größe vollziehen. In einer hierarchisierten Gesellschaft gibt es Integration, Desintegration Seite 169 keinen Raum, der nicht hierarchisiert wäre und somit Hierarchien und soziale Unterscheidungen zum Ausdruck brächte. Auch stellt sich die Frage, welche Rolle Räume bei der Positionierung von Individuen innerhalb eines sozialen Systems spielen. So ist der Sinn für einen Ort Teil des kulturellen und symbolischen Systems, mit dem wir uns die Welt erklären. Räume etablieren symbolische Grenzen um eine Kultur. Sie markieren, wer dazu gehört und wer nicht. Der Raum ist somit Ort der Konstruktion und der Repräsentation sozialer Identität, während die Bedeutung von Räumen auch als Produkt sozialer und kultureller Unterscheidungspraxen zu verstehen ist. 8. Stadt-Räume und Orte Trotz der konstatierenden Elastizität und Flexibilität öffentlicher Verhaltensweisen, sind erhebliche Differenzen beim öffentlichen Auftritt von verschiedenen Bewohnergruppen festzustellen und werden nicht zuletzt auch als Machtausdruck sichtbar. Daraus lässt sich beobachten, wer sich unter welchen Umständen ungezwungen in welchem öffentlichen Raum bewegen kann. Es darf vermutet werden, dass sich an der Nutzung jeweiliger öffentlicher Räume unterschiedlicher Lebensstile und Bewältigungsstrategien der modernen Alltagsanforderungen ablesen lassen. Nicht auf allen öffentlichen Plätzen stellt sich die gleiche bunte und vielgesichtige Öffentlichkeit dar, die Begegnung der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und Milieus, die ein Rendezvous mit sich selbst abhalten. Dieser Vorstellung nähert sie sich am ehesten auf zentralen Plätzen, auf denen Multifunktionalität, Anonymität und Vielfalt vorherrschen. Wie kann man aber das Geschehen im öffentlichen Raum so zerlegen, dass er als Ort ästhetischer Korrespondenz15 fungiert. Friedrich Bollnow spricht in diesem Zusammenhang auch von einem atmosphärischen Bann und entwarf um 1960 die Theorie, nach der Raum nach hodologischen Gesichtspunkten betrachtet werden kann: „Im Sinne der Wege, die wir in Verfolgung unserer alltäglichen Arbeit und unseren urbanen Lebens zurücklegen. Zu einem hodologischen Raum gehören ästhetisch, neben den alltäglichen realen Strecken, die wir leiblich zurücklegen und den Punkten, die wir dabei verknüpfen und in unsere Handlungen mit einbinden, auch abstrakte Mittel-Zweck-Verhältnisse, die Integration, Desintegration Seite 170 unser Selbstverständnis, unsere potentiellen Bewegungen und Entwicklungsmöglichkeiten bestimmen, oder unter dem Blickwinkel der Hodologie löst sich also der Bann des Geschehens in eine Vielzahl von Wege auf, die wir auf urbane Strukturen übertragen und für eine Beschreibung nutzbar machen können“16. 9. Beobachtungen 9.1 Das Konzept der Etablierten-Außenseiter-Beziehung Das Konzept der Etablierten-Außenseiter-Beziehung (EAB) wurde von Norbert Elias und John Scotson17 entwickelt. Es gilt als klassische Form für eine grammatikalische Struktur im urbanen Zusammenleben von Menschen. Elias und Scotsons Arbeit beruht auf der Studie eines Außenstadtbezirkes einer mittelenglischen Industriestadt. Dieser Ort besteht aus einigen freistehenden Einfamilienhäusern, einer alten und einer neuen Arbeitersiedlung. Elais/Scotson waren verwundert über die Spannungen zwischen der alten und der neuen Siedlung, konnten aber keine Gründe dafür erkennen. Sie fanden als mögliche Ursache schließlich „nur“ die unterschiedliche Siedlungsdauer. Ihre Erklärung für die Spannungen zwischen den Etablierten und den Außenseitern aus der neuen Siedlung baut auf dem Integration, Desintegration Seite 171 Begriff des „sozialen Alters“ und der daraus resultierenden Hierarchie auf. Auf den Punkt gebracht sagen beide, dass die Kohäsion der Etablierten zusammen mit der Stigmatisierung der Außenseiter zu Status- und Machtunterschieden führt, die wiederum Kohäsion und Stigmatisierung reproduzieren. Die Kohäsion der Etablierten entsteht dadurch, dass die alteingesessenen Familien bereits einigen Generationen in der alten Arbeitersiedlung leben und deshalb gemeinsam Identifikation, Normen und Hierarchien entwickelt haben. Diese wiederum wurde durch soziale Kontrolle durchgesetzt und reproduziert. Die Etablierten können ihre Kohäsion als soziale Kapital für materielle Vorteile nützen oder aber Schlüsselpositionen in den lokalen Institutionen für sich monopolisieren. Dabei betrachten die Etablierten die bestehenden Status- und Machtunterschiede, ebenso wie ihr soziale Alter, als Beweis ihrer moralischen Überlegenheit. Beides erhöht die Kohäsion der Etablierten und führt zusätzlich zur Stigmatisierung der Außenseiter. Im Rieselfeld ist eine Siedlungsgeneration noch kürzer, vielleicht zwei oder drei Jahre, und die Etablierten setzen ihre Normen und Lebensstile generell noch stärker als soziales Alter ein, da das gesellschaftliche Feld noch nicht abgesteckt ist. Die Status- und Machtunterschiede sind dabei mittlerweile so stark und gefestigt, das man sich gegenüber den Außenseitern der Wagenburg (am Rande des Stadtteils leben seit 1992 ca. 20-30 Menschen in alten Bauwägen, siehe Beobachtung unter 9.4) sogar ganz integrativ geben kann. Die Etablierten im Stadtteil schreiben sich selbst ein besonderes Gruppencharisma zu, welches in ihren Augen ihre Tugendhaftigkeit und Überlegenheit bestätigt, während sie den Außenseitern eine besondere „Gruppenschwierigkeit“ nachsagen, die die Unterlegenheit letzterer „beweist“. Besonders die Tatsache, alteingesessen zu sein, wird als außergewöhnliche Qualität hervorgehoben. So stellen sich bei allen Vorstellungsrunden bei den unterschiedlichsten Sitzungen, Treffen und Versammlungen die anwesenden Stadtteilbewohner als Erstes mit ihrer Wohndauer im Quartier vor, bevor sie andere Merkmale wie Alter oder Beruf nennen. Als zweites Merkmal wird dann die Art und Intensität der Aktivitäten und der Bauabschnitt genannt. Die Eigenschaft des Alteingesessenen mangelt natürlich den Zuzüglern . Die höhere Kohäsion der Etablierten führen zum Ausschluss der Stigmatisierten von den formellen und informellen Netzwerken, obwohl natürlich viel für sie Integration, Desintegration Seite 172 getan wird. Dies hat zur Folge, dass Schlüsselpositionen im Stadtteil, überspitzt formuliert, nicht unbedingt nach Fähigkeiten und Leistung besetzt werden, sondern nach Siedlungsdauer. Zumindest die ersten drei, vier Jahre hat dies sicherlich eine große Rolle gespielt, seit dem Entstehen des dritten und vierten Bauabschnittes spielen aber die andere Machtfaktoren, wie das kulturelle und soziale Kapital wieder die entscheidende Rolle. 9.2 Beobachtung: Integration durch Abgrenzung Ein spezifisch subjektives Zugehörigkeitsgefühl zu einem sozialen Kollektiv, das die Integration fördert, kann durch die Zugehörigkeit zu einem Verein im Stadtteil erreicht werden. Hier ein Beispiel des neuen Sportvereins im Rieselfeld : In den ersten Jahren des Rieselfeldes kam es immer zu missverständlichen Situationen, da die Nachbarstadtteile auf Grund ihres demographischen Entwicklung, ihre schon teilweise leeren Sportanlagen anpriesen und die Kinder und Jugendlichen des Rieselfeldes zum Eintritt ihre Sportvereine animieren wollten. „Es wäre doch Geldverschwendung, wieder neue Anlagen zu bauen, die dann nach einigen Jahren auch halb leer stünden, man könnte seine langjährigen Erfahrungen einbringen und würde doch dem neuen Stadtteil viel Arbeit und Mühen abnehmen.“ Diese oder ähnliche Argumente kamen von angrenzenden Stadtteil Weingarten aber auch aus Freiburg–West und Freiburg-St. Georgen. Der Hinweis, erst mal selbst anzukommen, man wolle sich selbst organisieren und über einen eigenen Sportverein eine Stadtteilidentität erreichen, erzeugte Verletzungen und Zurückweisungen, besonders bei dem - um sein Image kämpfenden – Nachbar-Stadtteil Weingarten. Im Sommer 2002 war es soweit: der Verein „Sport vor Ort“ wurde gegründet und war innerhalb eines Jahres mit 500 Mitgliedern der größte Rieselfelder Verein. Er ist auch der Verein, der nicht nur in seiner Satzung den Anspruch, alle Rieselfelder zu vertreten, stehen hat, sondern tatsächlich alle Gruppen und Milieus des Stadtteils anspricht. Er ist daher die „Integrationsmaschiene“, die so etwas wie eine übergeordnete Metaebene und ein `Wir-Gefühl´ erzeugt. Die Vorstände des neuen Vereins rekrutieren sich allerdings eindeutig aus den dominanten Milieus der Eigenheimbesitzer und der ersten Siedlungsgeneration, also der sich überall durchsetzenden Machtelite. Integration, Desintegration Seite 173 9.3 Residentielle Segregation Im Weiteren muss auf die peripheren und damit auf schlechter erreichbaren und monotoner ausgestatten Wohnungen hingewiesen werden. Die Wohnungen der am Rande Wohnenden, stehen wirklich am Rand des Stadtteils. Der große Wohnbogen in der Jean Monetstraße ist ein bogenförmig gebauter Wohnkomplex, über mehrere hundert Meter lang, der auch gleichzeitig als Schallschutz für die dahinter liegenden, im Kern des Rieselfeldes lebenden Milieus ist. Die Belegungspolitik der Bauträger führte dazu, dass in den relativ schlecht isolierten Wohnungen gerade die Familien leben, die auf Grund ihrer Herkunft und Kultur oft ein anderes Lärmbewusstsein haben als der Durchschnittsdeutsche, wobei der Lärm wegen der billigeren Miete in Kauf genommen wird. So werden mittlerweile bestimmte Straßenzüge und Wohnblocks von zahlreichen Rieselfeldern die „Russenhäuser“ genannt. Innerhalb von nur zwei bis drei Jahren hat sich über einen Segregationsprozess die Bewohnerstruktur zugunsten der „Russlandsdeutschen“ verändert. Solche „Subquatiere“ sind eine Begleiterscheinung fast aller Einwanderungsprozesse. Hier kommt das Modell segregierten Stadt zum Tragen: die Stadt als Mosaik ethnischer Dörfer, die allerdings in Reinform in großen Einwanderungsstädten anzutreffen sind. Dieses Modell kann in der Tat doppelt notwendig sein, einerseits um Konflikte zu vermeiden, indem soziale und kulturelle Distanzen durch räumliche Distanz neutralisiert werden. Anderseits dienen sie als Vorraussetzung zur Bildung informeller Hilfsnetze, die den Neuankömmling die ersten Schritte in der Fremde erleichtern. So wird im Sommer 2004 der erste Laden von und für Aussiedler im Rieselfeld eröffnet. 9.4 „Man leistet sich eine Wagenburg“ Am Rande des Rieselfeldes existiert nun seit 12 Jahren eine Wagenburg auf dem ehemaligen Gelände der Firma „Biohum“, darum in Freiburg „die vom Biohum“ genannt. Diese Gruppe sind , neben einem Stellplatz für Landfahrer, die ersten Rieselfeldbewohner, die ihren Platz besetzten. Am Waldrand, abgeschirmt durch das Laub der Bäume, lebten dort bis zu 60 Menschen. Im Integration, Desintegration Seite 174 Gegensatz zu anderen Wagenburgen in und um Freiburg und in anderen Groß- und Universitätsstädten sind dies aber keine bewussten Aussteiger, die anders wohnen und leben wollen und sich oft auch politisch artikulieren, sondern es sind hier sozial marginalisierte, oft alkoholabhängige Obdachlose. Zurzeit leben auch nur noch 25 Personen auf dem Gelände, die vom Freiburger Sozial- und Jugendamt, Abteilung Obdachlosigkeit, betreut werden. Nach fünf Jahren des Nebeneinander rückt der vierte Bauabschnitt des Rieselfeldes immer näher. Die Vermarktung lief im Jahr 2001 an und das Projektmanagement befürchtet, dass potentielle Bauinteressenten durch die „Punker und Penner“ und von ihren vielen freilaufenden Hunden abgeschreckt werden, letztere in den letzten Jahren allerdings auch ein Problem für Spaziergänger und spielenden Kindern. Paradoxerweise legalisierte die Stadt Freiburg den Besetzungszustand, indem sie den „Biohumbewohnern“ 150 Meter weiter im Wald ein Ersatzgrundstück, mit Wasser und Stromanschluss, anbot. Vorausgegangen war eine dreijährige Suche nach einem Ersatzstandort, bei der über 130 alternative Plätze in und um der Stadt untersucht wurden. Es wurde von Seiten der Verwaltung alles getan, damit mit dieser Gruppierung keine Solidarisierungsbewegung z.B. von Seiten der alten Freiburger Hausbesetzerszene in Gang gesetzt wird. Im Rahmen einer Filmvorführung über diesen Prozess wurde der Vertreter des Rieselfelder BürgerInnenvereins gefragt, ob er sich auch als Vertreter der Wagenburg versteht. Anders gefragt, sind wir auch Rieselfelder? Diese Frage wurde im Stadtteil diskutiert und mit ja beantwortet. Nun werden sie integriert, wenn sie sich an die Normen des Stadtteils halten. Was bedeutet dieser Disziplinierungsversuch, was treibt Bewohner sich eine Wagenburg „zu halten“, statt sie einfach abzulehnen, was auch viele im Stadtteil tun, die nicht zu den aktiven Milieus gehören, die bestimmen, was Norm ist oder wird? Es ist die Motivation durch Handeln den Ablauf im Stadtteil zu bestimmen, aber auch ein Integrationsangebot zu machen, an Alle, die die Normen akzeptieren. 9.5 „Rund um den Samowar“ Seit dem Frühjahr 2003, bildete sich, ausgehend von einer russischen Praktikantin bei K.I.O.S.K., eine Gruppe von Russlanddeutschen. Diese treffen sich regelmäßig zu Gesprächskreisen, gemeinsamen Essen, Vorträgen Integration, Desintegration Seite 175 und eben zum Tee trinken. Mittlerweile sind sie eine feste Gruppe um die zehn bis fünfzehn Personen, die sich auch mehr und mehr an Stadtteilaktivitäten beteiligen. In den letzten Monaten, ca. ab Ende 2003 wird die Samowargruppe auch immer verstärkt zur Bewirtung von Festen, Tagungen oder sonstigen Anlässen nachgefragt. Dies steigert das Selbstwertgefühl der Teilnehmerinnen (meist besteht die Gruppe aus Frauen), da sie unter dem Zustand des „kulturellen Niemandslandes“ leiden. Sie sind Deutsche werden aber als Russen bezeichnet, lehnen die russische Herkunft ab, sind aber doch stolz und geprägt von der russischen Kultur (Siehe dazu Punkt 4 : Widersprüchliche Konzeptionen einer Integrationspolitik). Hier wurde unter professioneller Unterstützung ein Hilfsnetz geknüpft, das die Vorraussetzung für eine Integration in den Stadtteil bieten kann. Auffallend ist dabei die Ferne der Stadtteilelite zu solchen Aktivitäten. Hier erschöpft sich wohl das Integrationsangebot an der reinen Teilhabe beim Stadtteilleben. Die soziale Anerkennung bleibt ihnen noch verwehrt. Sie würde erst kommen, wenn Mitglieder dieser Gruppe auch in die formellen Strukturen aufgenommen werden. Dies scheinen die Aussiedler auch zu spüren, da sie seit der Eröffnung des neuen Stadtteiltreffs vehement versuchen, über kulturelle Angebote einen festen Platz im Haus zu bekommen. Dies ist einerseits natürlich mit dem Bedarf zu erklären, auch eigene größere Veranstaltungen durchzuführen, anderseits aber auch mit dem Anspruch, näher an der Macht zu sein und damit mitbestimmen zu können, was im Stadtteil läuft. Hier kann Integration über diese „Suchstrategie“ laufen, das heißt, dass diejenigen öffentliche Orte ausfindig gemacht werden, die unter dem jeweilig vorhandenen Kapitaleinsatz den größtmöglichen Erfolg der Erzielung von Raumprofiten ermöglicht. Bei dieser Form der Aneignung liegt der Focus auf dem kulturellen und sozialem Kapital. Es geht dabei um temporäre Nutzungen von Gebäuden (wie eben das Stadtteilzentrum) oder Plätzen, die kulturellen Veranstaltungen Raum geben. Das neue Stadtteilzentrum kann aber als kollektives Raumsymbol gerade für diese Gruppe gesehen werden. Diese Symbole finden sich nicht nur auf der Ebene der Gesamtstadt wieder, wie sich in Freiburg das Münster anbietet, sondern entwickeln sich auch in Teilräumen der Stadt auf der Ebene der Stadtteile. Sie dienen der kollektiven Selbstvergewisserung und raumbezogenen Identität einer lokalen Identität. Gerade für Migranten kann so Integration, Desintegration Seite 176 ein kollektives Raumsymbol zu einem individuellen Symbol werden, weil sie als Wegweiser für die eigene Lebensgeschichte und sozialen Integration dienen können. Für diese Gruppe ist gerade das „Neue“ die Chance, da es ja für alle Bewohner einen Neuanfang gegeben hat. 10. Zusammenfassung Migration, so wie sie alle industrialisierten Länder seit Jahrzehnten kennen, ist keine zeitlich befristete Ausnahmesituation sondern ein Dauerereignis und eine Daueraufgabe der Moderne. Insofern gehört ein systematischer und Integration, Desintegration Seite 177 aufgeklärter Umgang damit zu den Strukturaufgaben gesellschaftlicher Sozialpolitik, die auf sozialen Frieden und Wohlergehen der Bevölkerung absieht. Migration fand während der letzten Jahrzehnte vor allem als Flüchtlingsmigration und als Familiennachzug statt. Die Arbeitswelt kann zunehmend weniger als Ort der Orientierung und der Integration fungieren. Die Wahrnehmung der neuen Heimat findet weitgehend kleinräumig und im nahen Umfeld satt. Für viele Migranten ist eine Isolation von einheimischen Strukturen kennzeichnend, obwohl diese Strukturen in einem entstehenden Gemeinwesen noch offener sind. Gerade deshalb gilt: Integration findet im sozailen Nahraum statt oder gar nicht. Im sozialen Nahraum befinden sich die zentralen Kontakt- und Berührungsflächen von Familien ausländischer Herkunft mit der Aufnahmegesellschaft, die jedoch bewusst erschlossen und ausgebaut werden müssen. Integration im Nahraum, im Stadtteil, im öffentlichen Raum erfolgt durch die teilnehmende Dimension, die Mitbestimmung und Raumaneignung umfasst. Beteiligungsprozesse bieten die Möglichkeit, dass alle oder zumindest möglichst viele im Stadtteil vorhandenen Gruppen und ihre Interessen sichtbar werden, gleichzeitig trägt die Aneignung von Räumen dazu bei, dass diese Räume zu „Heimat“ werden. Diese Aneignungsmöglichkeiten werden meist von den sozial engagierten Milieus genützt, also dort, wo das Wohnnahumfeld schon als Raum konstituiert ist. Darauf lassen sich dann weitere Kooperationsformen aufbauen. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass sich die Potentiale des Stadtteils offensichtlich dann weniger entfalten lassen, wenn Kommunikation und andere Aneignungspraktiken auf relativ geschlossene Lebenswelten im Quartier treffen, wie am Beispiel der Aussiedler gezeigt. Damit stellt sich das Problem der Erreichbarkeit dieser Gruppe. Hier deutet sich ein Widerspruch an. Offensichtlich gelingt es den sozial engagierten, dominierenden Milieus besser, sich mit den bestehenden Angeboten zu vernetzen und ihre Daseinsgestaltung im Rieselfeld zu optimieren. In Orientierung an der Kapitaltheorie Bourdieus zeigt sich, dass es den engagierten Gruppen offensichtlich gelingt, sich über tragfähige Netzwerke Integration, Desintegration Seite 178 und Bündnisse im Stadtteil aufzubauen und dadurch die Kontrolle im Stadtteil zu erhalten. Um eine Integration im Stadtteil zu fördern, ist nicht die Angleichung der minoritären Kulturen an die Dominanzkultur anzustreben, sondern das Ermöglichen von Nischen. In diesen Nischen können die Bewohner von Minderheitenkulturen Teilhabe erproben und „einüben“. Auch wenn die Gefahr besteht, dass durch so eine Segregation, soziale Desintegration sich entwickelt und eine solche Binnenintegration der verschiedenen Ethnien zur Zementierung der Verhältnisse führt, ist die Chance zur Generierung einer Rieselfelder Kultur18 gegeben. Durch die Vernetzung dieser Kulturen und die Teilhabe kann eine Integration im Stadtteil erfolgen. Das eigentliche Problem in der jetzigen Situation in den Städten und auch im Stadtteil Rieselfeld ist die Tendenz der permanenten Ausgrenzung in der deutschen Gesellschaft, die Einheimische und Zugewanderte aber gleichermaßen betrifft. Dieses Ausgrenzen fördert wiederum die Hierarchisierung innerhalb des Stadtteils, von einem relativ sozial gemischten Stadtteil zu Quartieren, im Rieselfeld durch die verschiedenen Bauabschnitte abgebildet, in denen die Verlierer des sozio-ökonomischen Wandels abgedrängt werden. Hier haben wir es mit der Fragestellung von Exklusion und Inklusion zu tun, die im nächsten Abschnitt behandelt werden soll. Integration, Desintegration Seite 179 1 Ipsen, Detlev; Die sozialräumlichen Bedingungen einer offenen Stadt. Eine theoretische Skizze. Oldenburger Universitätsreden, Oldenburg 1999 2 Heitmeyer, Wilhelm; Auf dem Weg in eine desintegrierte Gesellschaft; In: Derselbe Hrsg; Was treibt die Gesellschaft auseinander? Frankfurt a.M. 1997 S. 9 –29 3 Das Desintegration- Theorem. Ein Erklärungsansatz zu fremdenfeindlich motivierter, rechtsextremistischer Gewalt und zur Lähmung gesellschaftlicher Institutionen, In: Ders.: Hrsg.: Das Gewalt- Dilemma. Gesellschaftliche Reaktionen auf fremdenfeindliche Gewalt und Rechtsextremismus. Frankfurt a.M. 1994 S. 29 – 72 4 Hondrich, Karl Otto; Soziologie. Eine Kolumne. Standorte in der Standortdebatte; In: Merkur 51 S. 52 – 59 5 Bahrdt, Hans Paul; Die moderne Großstadt. Soziologische Überlegungen zum Städtebau, Hamburg 1969 6 Datenreport 1999; Zahlen und Fakten über die Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2000 7 Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, 1996 S. 245 8 Wagner, Richard; Abschied vom Territorium, Frankfurter Rundschau; 19.07.2003 9 Szöcs, Geza; Lacht wie ihr es versteht, Frankfurt 1999 10 Dangschat, Jens S.; Segregation, in: Häußermann, Großstadt, a.a.O. Sag mir wo Du wohnst und ich sage dir wer Du bist: PROKLA 109; 1997 11 Borst, Renate; Die zweite Hälfte der Stadt. Suburbanisierung, Gentrifizierung und frauenspezifische Lebenswelten, in: Borst et al. (Hrsg.), 1990 S. 235 - 268 12 Hall, Stuart; New Cultures for old. In: Massey, Doren/Pat Jess (Hrsg.) 13 Ipsen, Detlev; Die Kultur der Orte. Beitrag zur sozialen Strukturierung des städtischen Raumes, Manuskript 2002 14 Pierre Bourdieu; Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum. In Wentz, M. (Hrsg): Stadt-Räume. Frankfurt 1991 S. 25-34 15 KnodtReinhard; Ästhetische Korrespondenzen, Denken im technischen Raum Stuttgart 1994 S. 55 16 ebenda S. 56 17 Elias Norbert/John Scotson; The Established and the Outsiders. A Sociological Enquiry into Community Problems. London 1994 18 Detlev, Ipsen; Die sozialräumlichen Bedingungen der offenen Stadt. Eine theoretische Skizze; Oldenburger Universitätsreden, Oldenburg 1999 Kapitel 6 Exklusion und Inklusion 1. Macht und Raum Individuum und Stadt-Raum sind auf das engste miteinander verbunden. Es sind Menschen und ihre Vergesellschaftungsformen, die Stadt-Räume produzieren. Aber Stadt-Räume werden auch von Menschen vorgefunden. Stadt-Räume, der öffentliche Raum und Verhaltensweisen in ihnen sind an vorherrschende gesellschaftliche Praktiken gebunden, auch oder gerade in einem neu entstehenden Stadtteil. Die Formen des familiären Zusammenlebens, des sozialen Miteinanders, der Ökonomie und Produktionsweisen sind strukturierend für die öffentlichen Räume, die so etwas wie „soziale Körper“ darstellen, die den Zustand einer Gesellschaft dokumentieren. An ihnen sind auch Herrschaftsformen, Macht- und Gewaltpraktiken ablesbar. Im öffentlichen Raum drücken sich ebenso soziale Ängste und die Anstrengungen ihrer Überwindung aus. Eines der Ziele dieses Kapitels ist es, mit der Theorie von Michael Foucault1 aufzuzeigen, dass das gängige Bild, nach dem Macht eine einzige, in sich vereinigte Instanz darstellt, die undifferenziert auf den sozialen Körper wirkt, kritisch zu reflektieren ist. Die Macht wirkt eben nicht bloß repressiv, sondern tritt auch als produktive Instanz von Körpern, Normen, Wahrheiten und Wirklichkeiten auf. Entscheidende, konzeptionelle Teile für dieses Kapitel wurden aus dem Buch von de Marinis, „Überwachen und Ausschließen, Machtintervention in urbanen Räumen der Kontrollgesellschaft“, übernommen, ins besonders hier der Teil I: Von den Disziplinargesellschaften zu den Kontrollgesellschaften und Teil II 4 und 5. Sowohl die individuellen Verhaltensmöglichkeiten als auch die Stadtstrukturen unterlagen in den letzten Jahrzehnten weitreichenden Transformationsprozessen, die auch gegenwärtig andauert. Es ist daher erforderlich, diese Transformationen in den Stadträumen des menschlichen Verhaltens zu verstehen zu versuchen. Das Flechtwerk, Gesellschaft, Macht und städtischer Raum sollen mit der Machtanalyse Foucaults analysiert werden; der Versuch soll unternommen werden, es, soweit möglich, auf das Rieselfeld zu übertragen. Exklusion und Inklusion Seite 181 „Den Ausgangspunkt von Foucaults Machtanalyse bilden keineswegs die einzelnen Individuen, die souverän ihre Entscheidungen treffen, selbst wenn sie sich ganz darüber im Klaren sein sollten, sondern die Relationen von Individuen und Gruppen untereinander und hauptsächlich gegeneinander.“2 Seitdem mit dem wirtschafts- und sozialpolitischen Umbrüchen unter Bedingungen globalisierter Interdependenz Armut und Ausgrenzung als neue soziale Frage in die hochindustrialisierten oder gar postindustriellen Länder zurückkehrt, tritt zunehmend in das Bewusstsein, dass auch dort ein erheblicher Teil der Bevölkerung sein Leben unter den Bedingungen sozialer Exklusion fristen muss. Dies ist für europäische Gesellschaften ein gewöhnungsbedürftiges Novum. Woran lassen sich solche mit Globalisierungsbedingungen zusammenhängende Prozesse der Exklusion festmachen? Es existiert offensichtlich eine zunehmende Zahl von Menschen, die in den jeweiligen Gesellschaften als „Überzählige“, Überflüssige, Nichtbeschäftigbare, Erwerbslose oder nur prekär Beschäftigte leben. Dabei ist Prekarisierung nicht nur die Schaffung von Sonderverhältnissen neben einem unberührten Normalarbeitsverhältnis, sondern gehört zu jenen Prozessen, die zusammengenommnen historisch neu definieren, was als Norm für Arbeitsverhältnisse zu gelten haben. Die gleichzeitige Schwächung traditioneller Organisationsformen und sozialer und politischer Partizipationsmöglichkeiten hat schließlich Individualisierungsschübe im negativen, rein desintergrativen Sinne gefördert. Die Problemwahrnehmung und das Problemverständnis durch die „Mehrheitsgesellschaften“ sind ungenügend. In der Debatte wird dabei neben dem Begriff Armut immer öfter der Begriff der sozialen Ausgrenzung oder der Exklusion aufgegriffen. Dabei treten zwei unterschiedliche Formen auf. Die eine Form, die unter dem Begriff Ausgrenzung läuft, bezeichnet allgemein die Beschränkung des Zugangs zu einer oder mehreren Ressourcen (z.B. Bildung, Arbeit, Wohnraum), die nicht unbedingt von längerer Dauer sein muss. Sie macht sich, wie auch die andere Form, an stigmatisierten Opfern fest. Die Opfer der Ausgrenzung sind jedoch gleichzeitig in die Gesellschaft eingebunden und elementarer Bestandteil  Innerhalb der Sozialwissenschaften gibt es eine zunehmende Thematisierung von Exklusionsphänomenen. Die kaum mehr zu überblickende Diskussion um „Exklusion“, die „Ausgeschlossenen“, die „Entbehrlichen“, die „Unterklasse“ zeigt es auf. Exklusion und Inklusion Seite 182 derselben – in diesem Fall geht mit der Exklusion Inklusion gleichermaßen einher. Die andere Form, die der Ausschließung oder der sozialen Exklusion, deutet auf einen tieferen Bruch zwischen den „Opfern und Tätern“ hin. Die von dieser Form der Benachteiligung Betroffenen werden langfristig vom Zugang zu zentralen Gütern abgeschnitten bzw. der Zugang zu diesen Gütern auf legalem Weg stark beschränkt. Die Zugangsbeschränkung hat mehrere Dimensionen, von denen der Zugang zum formellen Arbeitsmarkt und zu den Bildungseinrichtungen wohl die Zentralen sind. Ist der Ausschluss von diesen Gütern erst einmal da, folgen weitere Ausschließungen und Deprivationen nach. Desweiteren sind die sozial Exkludierten für die übrige Gesellschaft nicht mehr notwendig, sie sind nicht funktional, sie verursachen vielmehr unerwünschte Kosten. Die Exklusion ist nicht von Inklusion in die Gesellschaft begleitet. In starker Anlehnung an Michel Foucault Sozialdisziplinierung2 werden vom Autor versucht, die Faktoren Raum, Macht und Bewohner in Beziehung zu setzen. Es wird von Foucault die Hypothese aufgestellt, dass wir uns in einem Übergang von der Disziplinar- zu einer Kontrollgesellschaft befinden. Disziplinierung und Kontrolle sind Machttypen und haben so einen konstitutives Moment bei der Entstehung einer neuen Sozialität, wie in einem neuen Stadtteil. 2. Von der Disziplinargesellschaft zur Selbstkontrollgesellschaft „Den Ausgangspunkt von Foucaults Machtanalyse bilden keineswegs die einzelnen Individuen, die souverän ihre Entscheidungen treffen, sondern die Relationen von Individuen und Gruppen untereinander und hauptsächlich gegeneinander. Metaphorisch gesprochen heißt das, den Widerstand als chemischen Katalysator zu gebrauchen, mit dessen Hilfe man die Machtverhältnisse ans Licht bringt, ihre Positionen ausmacht und ihre Ansatzpunkte und Verfahrensweisen herausbekommt. 3“ Bei der Analyse von Machtbeziehungen spielt also der gesamte Komplex Macht–Widerstand eine Schlüsselrolle. „Gerade dies unterscheidet Foucaults Machtkonzeption von anderen, die eher von einer fundamentalen Asymmetrie Exklusion und Inklusion Seite 183 der Machtbeziehungen, einer unilateralen Bewegung von oben nach unten ausgehen“.4 Die Stadt und in ihr der öffentliche Raum wird prinzipiell als Konfrontationsraum multipler Machtstrategien unterschiedlicher Subjekte angesehen. Die Hypothese ist: Wir haben es in der Gegenwart mit einer neuen Form der Machtausübung zu tun. Es taugen die vertrauten Waffen nicht mehr für Kämpfe der Gegenwart.4 Macht wird in erster Linie als Relation verstanden, d.h. als Kräfteverhältnis.5 Von der amerikanischen Stadtsoziologin Saskia Sassen6 stammt ein Szenario für die Stadt der Zukunft, das von neuen Kämpfen in der städtischen Gesellschaft berichtet. Die neuen Metropolen sind ihrer Ansicht nach lebendige, aber in sich gespaltene Gebilde. So hat die Expansion des finanzindustriellen Komplexes nicht nur Beschäftigungsmöglichkeiten für hochqualifizierte und hochbezahlte Fachleute, sondern gleichzeitig für niedrig bezahltes und unqualifiziertes Personal geschaffen. Foucaults Ausführungen über die Macht bilden die Basis für die Betrachtung von Umwälzungen von der so genannten Disziplinargesellschaft in eine Kontrollgesellschaft. Es geht dabei eher um das „Wie“ der Macht, als um das „Was“ der Macht. Denn „die Macht hat kein Wesen, sie ist operativ. Sie ist kein Attribut, sondern ein Verhältnis“7. Von Disziplinargesellschaft zu sprechen bedeutet, dass Herrschaft in der Gesellschaft auf ein weitläufiges Netzwerk von Dispositionen und Apparaten beruht, das Verhaltensweisen, Gewohnheiten wie auch produktive Tätigkeiten hervorbringt und reguliert. Damit diese Gesellschaft funktioniert und ihre Regeln und Mechanismen des Ein- und Ausschlusses befolgt werden, bedarf es Institutionen der Disziplinierung, wie etwa Gefängnisse, Fabriken, Heime, Kliniken, Schulen, Institutionen und so weiter. Sie gliedern das gesellschaftliche Terrain und implementieren Logiken, die der disziplinären Vernunft entsprechen. Die Disziplinarmacht herrscht, indem die Möglichkeiten und Grenzen des Denkens und des Handelns geregelt sind und normales und/oder abweichendes Verhalten definiert, sanktioniert und vorgeschrieben ist. Foucault hat die Disziplinierungsgesellschaft dem 18. und 19. Jahrhundert zugerechnet. Sie erreichten ihren Höhepunkt zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Exklusion und Inklusion Seite 184 Nun werden die großen Einschließungsmilieus organisiert. Das Individuum wechselt immer wieder von einem geschlossenen Milieu zum nächsten über, jedes mit eigenen Gesetzen: zuerst die Familie, dann die Schule („du bist hier nicht zu Hause“), dann die Kaserne (du bist hier nicht in der Schule“), dann in der Fabrik, von Zeit zu Zeit in der Klinik, möglicherweise einmal im Gefängnis, das Einschließungsmilieu schlechthin. „Foucaults Ausführungen über die Macht basieren auf einer Art von „Machttypologie“, wobei unterschiedliche, historisch aufeinanderfolgende Machttypen – und die ihnen korrespondierenden Gesellschaftstypen – miteinander verglichen werden. Der Machttypus der Disziplin bildet für Foucault den Maßstab aller anderen vergangenen Machtkonfigurationen. Doch was bedeuteten diese Disziplinierungen für die Individuen? Es geht neben der Feststellung der Faktizität veränderter Machtverhältnisse um die Frage, in welcher Weise Individuen mit ihren alltäglichen Handlungsweisen, Ängsten, ihrem Verhalten reagieren und wie sie vor diesem Hintergrund miteinander umzugehen vermögen, „privat“ und „öffentlich“. Auf gesamtgesellschaftlicher Ebene werden individuelle Lebensläufe und damit zwangsläufig auch Sinn- und Wertorientierungen einem nachhaltigen Wandel unterworfen. Wer unfähig ist, sich diesen veränderten Bedingungen anzupassen (z.B. vorgegebenen Produktionsprozessen), wird nicht zwangsläufig physisch bestraft, sondern seine Überlebensfähigkeit steht in Frage. Ohne Arbeit, ohne Möglichkeit, sich zu verdingen, bleibt für diese Gruppen keine Möglichkeit ihre Existenz zu sichern. Nicht mehr wie früher selbstverständlich eingebunden in religiöse Sinnzusammenhänge und ständische Lebensbedingungen, die unausweichlich sind, sondern zunehmend gezwungen, sich als Arbeitskraft zu verkaufen oder der Armut anheimzufallen, werden die aus diesen Prozessen freigesetzten Individuen selbstverantwortlicher für ihr Schicksal. Diese Strukturveränderungen setzen sich zunächst nachhaltig in den Städten durch, die die bevorzugten Standorte arbeitsteiliger Produktion und nachfolgender Industrialisierung waren. Exklusion und Inklusion Seite 185 Doch nicht nur für verarmte, ihre Subsistenzgrundlage verlierende Schichten verändern sich die Lebensbedingungen. Der „Rationalisierungsprozess“ setzt sich merklich bei allen Bevölkerungsschichten durch und nötigt alle Individuen zur intellektuellen Durchdringung der vorgefundenen Lebenschancen. Der Mensch als solcher muss diszipliniert werden; der Verstand muss fähig sein, Chancen zu erkennen und Strategien der Lebensbewältigung zu entwickeln. Individuen müssen zunehmend eigenverantwortlich ihr Schicksal meistern und in weiten Bereichen lernen, sich funktional zu verhalten. Das „Funktionieren“ wird zur Überlebensstrategie, dem Individuum bleibt nicht die Wahl. „Die Methode Foucaults zur Erklärung der Machtmechanismen ist dabei die der „aufsteigenden Analyse“, die von unten nach oben vorgeht: „Von den unendlich kleinen Mechanismen ausgehen, die ihre Geschichte, ihren Ablauf, ihre Technik und Taktik haben, und dann ergründen, wie diese Machtmechanismen von immer allgemeineren Machtmechanismen und von Formen globaler Herrschaft besetzt, kolonisiert, umgebogen, transformiert, verlagert, ausgedehnt usw. wurden und werden.“ 8 Strategie und Taktik sind die Stützpfeiler eines Machtkonzeptes, dem das Modell des Krieges zu Grunde liegt. Das heißt, dass „die Macht nicht als Eigentum, sondern als Strategie aufgefasst wird. Dass ihre Herrschafts- wirkungen nicht einer Anweisung zugeschrieben werden, sondern Dispositionen, Manövern, Techniken, Funktionsweisen“. Dieses Konzept beschreibt ein bestimmtes Bild des Sozialen, der gesellschaftlichen Verhältnisse und des Individuums. Auch die Konzeption der Macht als Produktion – und nicht als Unterdrückung – ist es, die Foucaults Ansatz von anderen Machtkonzeptionen unterscheidet. Ein solcher Ansatz eröffnet den Weg einer Mikroanalyse komplexer Situationen der Konfrontation wie denjenigen, die sich in urbanen Räumen abspielen. Diese Analyse der Macht geht den Spuren lokaler, begrenzter Rationalitäten nach.“ 9 „Dabei geht das Prinzip der Sozialdisziplinierung auf eine lange Tradition zurück und erlebte durch die Rezeption von Foucault ein Wiederaufwertung. Im Rahmen der Auseinandersetzung mit der Geburt der modernen – aus der traditionellen hervorgegangen und von dieser sich abhebenden - Gesellschaft hat sich die wissenschaftliche Soziologie die fundamentale Frage gestellt, was die Gesellschaft zusammenhält. Sie ist – implizit oder explizit – auf das Exklusion und Inklusion Seite 186 Konzept der Disziplin(ierung) gestoßen und hat es zur Schlüsselkategorie erklärt. Auf eine ausführliche Kritik aller, die sich mit Disziplin befasst haben, kann hier nicht eingegangen werden, stellvertretend soll Max Weber10 genannt werden. Ergänzt werden kann die Liste der Theoretiker der Sozialdisziplinierung um einen Autor, der traditionell eher als Nebenfigur der soziologischen Gelehrten auftritt: Herbert Spencer sagt: „Die Fähigkeit zu anhaltender fleißiger Arbeit ..., die den Wilden völlig fehlt und die nur unter dem Zwange jener harten Zucht, welche der kriegerische Gesellschaftstypus eingeführt hat, erworben werden konnte, hat sich der zivilisierte Mensch in hohem Masse zu eigen gemacht.“11 „Neuere soziologische Ansätze wie die von Norbert Elias, Anthony Giddens oder Pierre Bourdieu, haben an diese Problematik – sowohl auf direktem wie auf einer indirekten Weise – wieder angeknüpft.“ 12 „Bei Norbert Elias ist Disziplinierung an sich keine zentrale Kategorie, obwohl seine Ausführungen über Machtbalancen, die Verschiebung von Fremd- zu Selbstzwängen, die Phänomene der mit dem Zivilisationsprozess sich ausdehnender Trieb- und Affektregelung gewisse Prallellen zur Theorie der Disziplinierung aufweisen.“13 Elias betont dabei einen anderen Aspekt ausdrücklich: Die Hauptmotivation ihrer Lebensführung in der höfischen Gesellschaft waren für die Individuen, die die Gesellschaft bildeten, die Aufrechterhaltung oder der Erwerb eines elitären Status. Individuen am Hof unterstellten sich dem Konkurrenzkampf und der Überwachungssituation in der Hoffnung darauf, durch das eigene Verhalten die Möglichkeit zu erlangen, Machtchancen ergreifen zu können. Nicht die Not ums Überleben, nicht die Armut sind die Urheber dieser Motivation, sondern einzig und allein die Aufrechterhaltung des Lebenssinns: den höherrangigen Status gegenüber den von unten aufstrebenden bürgerlichen Schichten zu verteidigen. Das Verhalten muss abgeschätzt, beobachtet, bewertet und modelliert werden. Es wird Gegenstand der Reflexion und damit der Selbstverantwortung. Prestige- und Machtchancen fallen in den Bereich der individuellen Selbstverantwortung. Der Kampf bezieht sich in zunehmenden Maße auf die „Seele“, die Fähigkeit Selbstkontrolle auszuüben und im Sinne der Erwartung des Umfeldes das eigene Verhalten zu modellieren, denn die Angst vor dem Verlust oder auch Exklusion und Inklusion Seite 187 nur vor der Minderung des gesellschaftlichen Prestiges ist eine der stärksten Motoren zur Umwandlung von Fremdzwängen in Selbstzwänge.15 Die Argumentation von Foucault und Elias, so verschieden sie sonst sind, konvergieren darin, dass die neue soziale Differenzierung und gleichzeitige Nivellierung und Egalisierung spezifischer Bevölkerungsgruppen zu einem kontrollierenden und distanzierteren Umgang der Menschen miteinander führt. Selbstverantwortung und auch bewusste Selbstkontrolle des „neuen Einzelnen“, privat und öffentlich, werden unausweichlich. „Bei Anthony Giddens16 grundlegenden soziologischen Texten ist Disziplinierung ebenso kein Schlüsselbegriff. Trotzdem widmet er eine kritische Auseinandersetzung dem Foucaultschen Verständnis von Disziplin im Raum und in der Zeit.“ „Bei Pierre Bourdieu findet sich ebenfalls keine explizite Theorie der Disziplinierung. Seinem „verräumlichten“ Vokabular - soziale Räume, Machtfelder, usw. - entspricht gleichwohl ein markantes Interesse an Machtprozessen als den privilegierten Mitteln zur Produktion und Reproduktion gesellschaftlicher Ordnung.“16 „Wie angedeutet, präsentiert Foucault die Disziplinierungsgesellschaft als jene gesellschaftliche Formation, die auf die Souveränitätsgesellschaft folgt. Dies war die Gesellschaft der absolutistischen Monarchie, die gekennzeichnet war durch die absolute Macht des königlichen Souveräns, über Leben und Tod der Untertanen zu entscheiden. Es handelte sich in erster Linie um eine Machtökonomie der Abschöpfung der Kräfte, und gerade dies stellt einen großen Unterschied zur darauffolgenden Disziplinarordnung dar.“15 Im 18. Jahrhundert etablieren sich allmählich in der (städtischen) Öffentlichkeit andere Interaktionen, die auch die Umgangsweisen des Körpers und der Körperlichkeit beinhalten. Foucault thematisiert diesen Transformationsprozess. Nicht zuletzt setzte die Entwicklung neuer Produktionsanlagen in Manufakturen und Fabriken, in denen nun Arbeitsprozesse in einzelne Arbeitsschritte zerlegt wurden, einen vollständig neuen rationalen Umgang mit der Ware Mensch, seinen Fähigkeiten und Fertigkeiten voraus. Exklusion und Inklusion Seite 188 „Diese Gegebenheiten machten auch den Einsatz neuer Macht- und Kontrollmechanismen notwendig. Es handelte sich um einen Machttyp, der aus einem sehr vielschichtigen „Komplex von Instrumenten, Techniken, Prozeduren, Einsatzebenen, Zielscheiben“20 bestand. Im Unterschied zur Souveränitätsmacht, bei der die Zentralinstanz zumindest ein Machtmonopol bildet, ist die Anwendung der Disziplinarmechanismen immer lokal, und sie hat in jeder Institution spezifische Auswirkungen, die später zusammengefügt werden und in weitreichende Strategien einmünden können, um auf diese Weise Gesamteffekte zu zeitigen“.16 „Foucault geht in seinen Untersuchungen den Spuren dieser zur damaligen Zeit neuen Disziplinierungstechniken in sehr verschiedenen Kontexten nach: Schulen, Fabriken, Krankenhäuser, Arbeitshäuser, Gefängnisse. Sie werden von ihm „Einschließungsmilieus“ genannt. Es ist ihnen gemeinsam, dass sie „eine Aufgabe auferlegen oder einen Nutzeffekt bewirken, eine Bevölkerung kontrollieren oder das Leben verwalten“17. „Wenn das Netz dich auf der einen Seite ausschließt, dann nimmt es dich auf der anderen Seite wieder an.“18 Festzuhalten ist, dass im Vergleich zur Willkür und Diskontinuität der Einsperrungsmechanismen der Souveränitätsgesellschaften sich die Disziplinargesellschaften als unendlich effektiver erweisen. Mit der beschriebenen Transformation wird eine Systemarisierung der Lebensführung erforderlich. Dies thematisiert Max Weber in seiner Untersuchung „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ (1920). Weber zeigte an den kapitalistisch am meisten entwickelten Ländern des 16. und 17. Jahrhunderts, wie sich die Rationalisierung des gesamten Lebens mit der Durchsetzung der protestantischen Askese, z. B. in der Form des Calvinismus, verband. Der Calvinist unterstehe, um die Angst um die „Seligkeit“ loszuwerden, einer beständigen systematischen Selbstkontrolle. Das Ziel bestehe darin, „den Menschen der Macht der irrationalen Triebe und der Abhängigkeit von Welt und Natur zu entziehen, der Suprematie des planvollen Wollens zu entwerfen, seine Handlungen beständiger Selbstkontrolle und der Erwägung ihrer ethischen Tragweite zu unterstellen“.23 Hier kommt ein individueller Reflexionsprozess zum Ausdruck, der die Normierung des Selbst einer systematischen Lebensführung auf ein Ziel hin (Heilserwartung) ermöglicht. Dieser Prozess der Herausbildung Exklusion und Inklusion Seite 189 systematischer Selbstkontrolle vollzieht sich nicht ohne äußere Kontrolle (d.h. Fremdkontrolle), dies ist primär die Kontrolle der Kirche. „Selbst grundsätzliche Kritiker wie Habermas und Giddens zeigen eine Faszination für die detaillierte Mikrophysik der Macht von Foucault. Die Kritiken sind prinzipieller Art und kommen von überall. Geschichtswissenschaftler werfen ihm historische Ungenauigkeit vor, Soziologen behaupten, mit einem solchen Konzept seien stabile Interaktionen und effektive Sozialisationsinstanzen tatsächlich nicht denkbar. Abgesehen von den skizzierten grundsätzlichen Kritiken, ist Folgendes festzuhalten: Bei Foucaults konzeptueller Charakterisierung der Disziplinargesellschaft handelt es sich in erster Linie um eine idealtypische Darstellung, und nur als solche wird sie hier verwendet. Was dabei hauptsächlich relevant erscheint, ist die Konzentration auf die Mechanismen der Produktion von Subjekten, denn die disziplinierende Macht ist eine Form der Subjektivierung, die eine Einschließung der von ihr zu fabrizierten Subjekte in dafür bestimmte Räume, Orte und Territorien erforderlich macht. Die Disziplinierungsgesellschaft produziert die fügsamen und produktiven Körper, die sie benötigt. Aber was ist, wenn gerade die Einschließung oder die dieser zugrundeliegenden Erwartungen ihre Bedeutung verlieren?“25Dem wird sich der nächste Abschnitt widmen. 3. Inklusion und Exklusion in der Kontrollgesellschaft Der Übergang von der Disziplinargesellschaft zur Kontrollgesellschaft wird von Deleuze26 und Foucault auf Anfang der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts datiert. Die Kontrollgesellschaft ist als eine am Rand der Moderne entstandene und der Postmoderne zugewandte Gesellschaft zu verstehen, in der die Herrschaftsmechanismen „demokratisiert“ sind, das heißt, sie sind dem gesellschaftlichen Feld immer stärker immanent und auf die Köpfe und Körper der Bürger verteilt. Die Art und Weise herrschaftskonformer gesellschaftlicher Integration und Exklusion ist entsprechend zunehmend von den Subjekten Exklusion und Inklusion Seite 190 internalisiert. Machtausübung findet nach Foucault durch maschinistische Systeme statt, die direkt auf die Köpfe wirken (Kommunikationssysteme, Informationsnetzwerke etc.), die Körper organisieren (Sozialsysteme, kontrollierte Aktivitäten etc.) und einen Zustand autonomer Entfremdung herbeiführen. Die Kontrollgesellschaft könnte man also durch die Intensivierung und Verallgemeinerung der normalisierenden Disziplinarmechanismen charakterisieren, die - nunmehr verinnerlicht - unsere gewöhnlichen und alltäglichen Praktiken regeln. Doch im Gegensatz zur Disziplin dehnt sich die Kontrolle über die strukturellen Orte sozialer Institutionen durch flexible und modulierende Netzwerke hinaus aus.27 Denn trotz vieler griffiger Formulierungen, wie die „neue soziale Frage“ oder die „Zwei-Drittel-Gesellschaft“ wurden die Exlusions- und Fragmentierungsprozesse in den siebziger und achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts eher am Rande thematisiert. Dies galt nicht nur für die politische, sondern auch für die sozialwissenschaftlichen Diskussionen. In den letzten zehn Jahren hat sich der Schwerpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit und der sozialwissenschaftlichen Analysen wieder verlagert. Es wird wieder über „soziale Ausgrenzung“, gespaltene Gesellschaft“ oder „Wiederkehr der Armut“ geredet. Die Massen- und die Langzeitarbeitslosigkeit sind ebenso gestiegen wie die Zahl der Armen und Obdachlosen. Dies schlug sich dann in einer breiten Diskussion über die Krise und Zukunft der Arbeit, das Verhältnis von Gesellschaft und Gemeinschaft nieder. Der Hauptstreitpunkt dabei ist, ob diese verschärften sozialen Ungleichheiten, die sich natürlich auch räumlich zeigen, mit dauerhaften oder nur vorübergehenden Formen von Armut und Exklusion einhergehen. So sieht z.B. die Bremer Studie „Zeit der Armut“28 die genannten Phänomene in hohem Maße verzeitlicht, individualisiert und sozial entgrenzt. Dem gängigen Klischee wird, wonach sozial benachteiligte Gruppen dauerhaft ausgeschlossen sind und sich lethargisch in den gesellschaftlichen Randbereichen einrichten, energisch widersprochen. Zwar habe sich die Zahl Exklusion und Inklusion Seite 191 der Sozialhilfeempfänger seit den 1970er Jahren vervierfacht, doch nur ein kleiner Teil von ihnen verharre in sozial prekären Lebenslagen. Für die meisten bildeten materielle Notlagen und Existenzrisiken eher ein „biographisches Durchgangsstadium“. Das Gegenbild dazu liefert eine Perspektive der Ungleichheitsforschung gemäß derer die anhaltend hohe, zum Teil noch ansteigende Massenarbeitslosigkeit, Armut und die Ausdehnung prekärer Beschäftigungsverhältnisse neue und dauerhafte Spaltungslinien erzeugen. Dabei sind zwei bemerkenswerte Hinweise in der These der Verdichtung von Exklusionseffekten enthalten: die Tendenz zur sozialen Vererbbarkeit kumulierter Benachteiligungen und ihre räumliche Konzentration. Welche der beiden Betrachtungsweisen nun „recht“ hat, soll und kann hier nicht abschließend beurteilt werden. Wichtiger ist, dass die sozialen Probleme im Kontext gesellschaftsstruktureller Umbrüche eine neue, andere Qualität erreichen. 4. Neue Polarisierung im Stadtteil In allen Großstädten gibt es heute Problemviertel mit seit langem als überwunden geglaubten Verelendungs- und neuen Ausgrenzungsphänomenen. Die gesellschaftliche Spaltung zwischen „drinnen und draußen“ verfestigt sich mit der Existenz dieser Quartiere, in denen die wesentlichen Bedingungen für Marginalisierungsprozesse zusammentreffen: „objektive Benachteiligungen“ wie Langzeitarbeitslosigkeit, geringes Bildungsniveau, schlechte Wohnverhältnisse und der Abbruch von Beziehungen zur so genannten Normalgesellschaft, verbunden mit dem Verlust von Fähigkeiten, einer Erwerbsarbeit überhaupt nachgehen zu können. Mit der Verteilung von Zeit ist generell eine neue Ungleichheit angesprochen. Neben der geschlechtsspezifischen Ungleichverteilung von Zeit bei Erwerbsarbeit und Familienarbeit gibt es eine vergleichbare zwischen Erwerbs-Arbeitslosen und Arbeits-Rastlosen. Unter den Erwerbstätigen nimmt Exklusion und Inklusion Seite 192 die Intensität wie die Dauer von Erwerbszeit deutlich zu. Das zeigt die Entwicklung der bezahlten und unbezahlten Überstunden. Hier bahnt sich eine neue Polarisierung zwischen Erwerbslosen und Erwerbstätigen an. Die ersteren sind „unterfordert“ und materiell wie immateriell zunehmend ausgeschlossen aus der Gesellschaft, obwohl sie viel Zeit haben, während die im Beruf Stehenden tendenziell überfordert sind. Gemeinsam ist ihren Problemen, dass sie zu Lasten von individueller Gesundheit und familiärem Zusammenhalt gehen. Wahrscheinlich beschäftigt sie auf Dauer auch die Arbeitsproduktivität; die einen – registrierte Arbeitslose und nicht nichtregistrierte arbeitssuchende Frauen – werden in ihren Qualifikationen nicht „abgeholt“, die anderen werden ausgebrannt. Dies kann allein deswegen auch die demokratischen Strukturen auf kommunaler Ebene gefährden. Denn dadurch sinkt die Möglichkeit und die Bereitschaft zur Ausübung von Ehrenämtern und freiwilligen Aktivitäten in Sport, Feuerwehr, Bürgervereinen, Verbänden und Gruppen. Die „zeitreichen“ Arbeitslosen werden in Ehrenämtern zunehmend weniger akzeptiert, die „zeitarmen“ Beschäftigten sind seltener dafür zu gewinnen. In diesem Zusammenhang entwickelt sich möglicherweise ein weiterer Widerspruch zwischen dem Primat des Politischen und Gesellschaftlichen einerseits und den Tendenzen einer faktischen „Durchökonomisierung“ von Lebensbereichen andererseits. Im Einklang mit einer heute stattfindenden Flexibilisierung der Produktionsweise, welche nicht mehr eine integrierende Vollbeschäftigung auf der Ebene eines tariflich abgesicherten Arbeitsmarktes und wohlfahrtsstaatlich intervenierender Regulation seitens des Staates versprechen kann, entsteht eine soziale Dynamik, die sich hauptsächlich dadurch auszeichnet, dass immer breitere Sektoren der Gesellschaft von einer ökonomischen, sozialen, politischen und symbolischen Teilhabe ausgeschlossen werden. Stichwort wie „Post- und Neofordismus“, „flexible Akkumulation“ und „Toyotismus“ prägen die aktuellen Diskussionen über die sich wandelnde Rolle des nationalen Staates im Zeitalter der Transnationalisierung und Globalisierung der Ökonomie: Die Bedeutung solcher Prozesse auf der Ebene der sozialen Kontrolle wird keineswegs geleugnet. Im Gegenteil, es bestehen präzise Exklusion und Inklusion Seite 193 Wechselwirkungen zwischen ökonomischen Transformationen und der jeweils praktizierten Politik sozialer Kontrolle. Letztere ist nicht nur Effekt, sondern auch Vorraussetzung der Ersten. Ohne an dieser Stelle eine fundiertere Analyse leisten zu können, bleibt in diesem Zusammenhang festzuhalten, dass die Formen sozialer Kontrolle sich in Grundbedingungen einer ökonomischen Entwicklung anpassen müssen, welche weniger expandiert als diversifiziert, spezialisiert und gleichzeitig permanent Arbeitskräfte aussondert. Andererseits sind diese Formen sozialer Kontrolle konstitutiv für ökonomische Formen. 4.1 Soziale Kontrolle im Stadtteil „Diese knapp beschriebenen Entwicklungen haben entscheidende räumliche Implikationen. Sie spiegeln sich in der Form und Entwicklung der Stadt, der gebauten Umwelt wider. Zu unterstreichen ist allerdings die Tatsache, dass die beschriebenen Formen der Modulation nur jene Individuen betreffen, denen es gelungen ist, „drinnen“ zu bleiben, und dies nicht nur im metaphorischen Sinn. Diese Individuen werden einerseits „durch das werbende Spiel mit Identitäts- und Lebensstilsymbolen, mit Chancen auf Genuss, Gewinn und Ekstase“ permanent motiviert und andererseits mit Nachdruck aufgefordert, den Anschluss nicht zu verpassen und sich an die wachsende Flexibilitäts- und Mobilitätsbedingungen der Gegenwart anzupassen. Zygmunt Baumann nennt diese in der Kontrollgesellschaft mühsam erworbene Fähigkeit „Fitness“. Fitness ist die Fähigkeit, über den Weg der Selbstkontrolle und der Kontrolle von Verhaltensfehler „auf Kurs zu bleiben“. Doch dies ist nur die eine Seite der Medaille in den heutigen Kontrollgesellschaften. Die andere Seite ist die, das diejenigen, die schon „out“ sind, oder im Begriff sind herauszufallen, die nicht mehr oder noch nie Teilhabe haben oder hatten am Leben im Stadtteil, dauerhaft draußen bleiben. Inklusion und Exklusion schließen sich nicht aus, sie bilden beide eine nicht zu trennende Konfiguration. Ein Vergleich zwischen den verschiedenen Exklusion und Inklusion Seite 194 skizzierten Machtformen lenkt den Blick auf die Bedingungen der Sichtbarkeit bzw. der Unsichtbarkeit der in Machtverhältnissen intervenierenden Subjekte. Um es mit der Begrifflichkeit von Norbert Elias auszudrücken: Die Machtverhältnisse der Souveränitätsgesellschaften ließen sich sehen, zeigten sich monumental, erschreckten die Untertanen durch die Evidenz der „Machtdifferentiale“. Das Volk muss die Macht sehen, um an sie zu glauben. Die disziplinierende Macht hingegen wird unsichtbar, denn „in der Disziplin sind es die Untertanen, die gesehen werden müssen“. Diese „Schüchternheit der Macht“ ist die Garantie ihrer effektiven Realisierung. In der Kontrollgesellschaft wird schließlich eine neue Art der Sichtbar- bzw. Unsichtbarmachung eröffnet. Dies entspricht dem genannten Phänomen der immer deutlicheren Differenzierung von in und out - Zonen. Während die „in“- Gruppen sich frei und fit bewegen, werden die „out“-Gruppen an den Rand gedrängt, wo man sie nicht mehr sehen oder zumindest nicht mehr wahrnehmen kann bzw. will. Vollkommene „out“-Zonen sind die, die von der Macht „in Ruhe gelassen“ werden. Was dort passiert, unterliegt nicht mehr den Anstrengungen und Operationen der Macht. Das heißt aber nicht, dass kein Wissen über diese Zonen vorhanden ist. Allerdings ringen in Deutschland die verschiedenen politischen Lager noch um diese Zonen, es gibt noch kaum diese vollkommen „out“- Zonen in unseren Städten.“29 „Foucault entwickelt seine Argumentation in sukzessiven Schritten. Den ersten analytisch zu differenzierenden Mechanismus zur Schaffung eines disziplinierenden Raumes stellt die bloße Klausur dar, d.h. die Demarkation, die feste Abgrenzung eines Teils des Territoriums und die Bestimmung einer primären Innen-Außen-Beziehung. Im nächsten Schritt konzentriert sich der disziplinierende Blick und betrachtet, was innerhalb dieses schon abgegrenzten Territoriums geschieht. Die Parzellierung bildet das zweite Prinzip der Analytik des Raumes. Nachdem jedem Element ein Kästchen auf dem Raster zugewiesen wurde, muss man diese Verschiedenheiten in Beziehung zueinander setzten, um daraus einen produktiven Raum, eine produktive Einheit zu schaffen. Schließlich werden die einzelnen Elemente nach Rängen klassifiziert, was ermöglicht, die Körper innerhalb eines organisierten verwalteten Raumes zirkulieren zu lassen. Gerade dieses waren die Einschließungsmilieus, organisierte und strukturierte Räume. Exklusion und Inklusion Seite 195 Foucault fasst seine Argumentation so zusammen: „Indem sie die Zellen, die Plätze und die Ränge organisieren, fabrizieren die Disziplinen komplex Räume aus Architektur, Funktionen und Hierarchien. Diese Räume leisten die Festsetzung und sie erlauben den Wechsel. Sie schneiden individuelle Segmente ab und installieren Operationsverbindungen. Sie markieren Plätze und zeigen Werte an. Sie garantieren den Gehorsam der Individuen, aber auch ein bessere Ökonomie der Zeit und der Gesten. Die Disziplinarmacht zielt weniger auf bloße Ausbeutung als vielmehr auf eine Synthese der Kräfte, die durch den Raum, aber auch im Raum, zusammengesetzt werden, um daraus etwas Produktiveres zu machen, als die Summe jeder einzelnen Kraft. Foucaults Analyse der Machtmechanismen, die für die Disziplinargesellschaft ihre Gültigkeit besitzt, verliert für die Kontrollgesellschaft an Plausibilität, denn er hatte offensichtlich eine Totalisierung der Disziplin vor Augen. Obwohl disziplin-orientierte Züge in jeder Institution feststellbar sind, ist eine automatische Gleichsetzung nicht richtig, wenn dasselbe Modell sowohl auf totale Institution wie auf andere Institutionen Anwendung findet. Auch wenn z.B. die Raumgestaltung einer Stadt gewisse Analogien zur inneren Raumanordnung eines Gefängnisses aufweist, verliert man die spezifischen Unterschiede zwischen beiden aus den Augen, wenn man sie gleichermaßen ausschließlich als Disziplinarräume beschreibt.“30 Die Exklusion als soziales Problem an einem Beispiel im Rieselfeld Im Rieselfeld sind die deutschstämmigen Aussiedler diejenigen, die die vielfältigen Angeboten am wenigsten annehmen und sich nicht „einklinken“ in die Aktivitäten der Mehrheitskultur, d.h. von den aktiven Milieus. Dies wird erstmal als Ärgernis zu Kenntnis genommen und bei massiven, auch räumlichen Auftreten, d.h. ganze Häuserzeilen und Straßen nehmen die Angebotspalette nicht an, als soziales Problem von dem Dominanzmilieu definiert. „Von außen betrachtet von den nicht betroffenen gesellschaftlichen Gruppen wird die Exklusion vornehmlich als „Problem“ konstruiert. Dieser Exklusion und Inklusion Seite 196 Konstruktionsprozess ist vielschichtig und sehr schwer zu analysieren, denn es sind nicht nur die evidenten ökonomischen Aspekte, die eine zentrale Rolle bei der Exklusion spielen, sondern auch symbolische, normative und politische Aspekte, denn der Einzelne erkennt sich in den Normen, durch die er anerkannt wird. Bestimmte als abweichend, abnormal oder gefährlich eingestufte Aktivitäten und die damit assoziierten Räume, in denen Aktivitäten solcher Art stattfinden, werden durch einen komplexen Prozess als „soziale Probleme“ konstruiert. Nachdem das Problem definiert ist, erfolgt die Zuweisung des Problems – also der Menschen, die das Problematische ausmachen – meist unter besonderen Praktiken sozialer Kontrolle. Die Ausübung von Macht, sei es in Form von sozialer Kontrolle oder in anderer Form, ist in hohem Maße von einer erfolgreichen Identifizierung eines „sozialen Problems“ abhängig. Im Gebäudedreieck um den Drachenspielplatz im ersten Bauabschnitt versuchten die Mittelschichtmilieus mit der Durchführung von Aktivitäten, wie Spielnachmittagen, mit den ihnen Fremden ins Gespräch zu kommen. Ziel war es, ihnen zu lautes und auch aggressives Verhalten als nicht akzeptabel nahe zu bringen. Allerdings entzogen sich die Angesprochenen diesem Ansinnen durch Nichterscheinen. „Diese Identifizierung und Benennung impliziert in erster Linie die Territorialisierung eines Feldes der sozialen Wirklichkeit, dem man größere Aufmerksamkeit schenken muss. Dort passiert etwas oder es kann etwas passieren, daraus kann eine Gefahr oder eine Bedrohung für „mich“ und „meinen Stadtteil“ entstehen und darauf muss reagiert werden. Dabei ist es ohne Bedeutung, ob diese problematische Zone auf einen konkreten Ort begrenzt ist oder sich auf die Gesellschaft ausdehnt. Das Imaginäre lokalisiert eine „Zone“ allgegenwärtiger Gefahr, und zwar unabhängig von realen Gefährdungen. Diesen Aspekt thematisiert auch Zygmunt Baumann: „Je mehr Instrumente wir besitzen, um mit den Realitäten des Lebens herumzubasteln, um so mehr Aspekte der sozialen Umgebung, in der wir leben, erscheinen uns als Problem, unerträgliche Probleme, Probleme, angesichts derer etwas getan Exklusion und Inklusion Seite 197 werden muss. Indem wir uns mit steigender Geschwindigkeit auf die Ein- Drittel-Gesellschaft zu bewegen, werden immer mehr Menschen zu Problemfällen, und da wir über die Mittel verfügen, um sie und damit die Probleme zu beseitigen, scheint es keinen Grund zu geben, warum wir ihre Anwesenheit ertragen sollte.“33 In diesem Zusammenhang sind die Praktiken der Exklusion zu verstehen, die in heutigen postsozialen Kontrollgesellschaften immer mehr an Konturen gewinnen. Dies sind Ausschluss am Wissen, was im Stadtteil vor sich geht, am Ausschluss der Meinungsbildung, an der Besetzung von Funktionsstellen bis hin zum Ausschluss bei der Planung von Stadtteilaktivitäten. Früher hatte man eher für integrierende Anstrengungen plädiert, um die „Störungen“ des Systems, die man für begrenzt hielt, aufzuheben. 5. Exklusion und Inklusion in der Systemtheorie Die Ausbreitung moderner Lebensverhältnisse geht einher mit einer sukzessiven Einbeziehung der Gesamtbevölkerung in die Leistungen der einzelnen gesellschaftlichen Funktionssysteme. Im Zuge der Verwirklichung dieses Programms sollten Gruppen, „die am gesellschaftlichen Leben nicht oder nur marginal teilhaben, nach und nach von der Bildfläche verschwinden“34 Zumindest für die westlichen Wohlfahrtsstaaten lässt sich die These aufstellen, dass die umfassende Einbeziehung der Gesamtbevölkerung in jedes Funktionssystem nahezu verwirklicht worden war. Jeder hatte ein Anrecht auf Schule, jeder genoss Rechts- und Polizeischutz, konnte Geld verdienen und es ausgeben, und jeder konnte im Krankheitsfalle medizinische Versorgung in Anspruch nehmen. Mittlerweile mehren sich jedoch die Anzeichen, dass der Traum von der allmählichen Vollinklusion der Gesamtbevölkerung ausgeträumt ist. Im Zuge des massiven Abbaus des Wohlfahrtsstaates bzw. seiner Nichtexistenz in vielen Regionen der Weltgesellschaft, kommt es verstärkt zu Ausgrenzungs- und Ausschlussmechanismen. Die Luhmannschen Beschreibungen36 dieser Zustände lassen nichts zu wünschen übrig. Es bleibt nicht bei der Exklusion Exklusion und Inklusion Seite 198 aus einem Funktionssystem, die verschmerzt werden könnte. Vielmehr kommt es zu einer Kettenreaktion, bei der eine Exklusion die andere nach sich zieht. Geringe Schulbildung, keine Ausbildung, keine Arbeit, kein Geld, kein Ausweis, kein Konto, keine Berechtigungen, keine ausreichende medizinische Versorgung - so dreht sich die Spirale nach unten und macht langsam die Betroffenen unsichtbar für die am gesellschaftlichen Leben Teilhabenden. Wir haben es also nicht mit sich gegenseitig verstärkenden Exklusionen zu tun, sondern mit einer multiplikatorischen Exklusion, die die Ausgeschlossenen immer weiter ins Abseits drängt, so lange, bis sie von nahezu allen Kommunikationsbezügen abgekoppelt sind und nur mehr als namenloser Mensch vorkommen, einzig und allein damit beschäftigt, die Probleme des nächsten Tages zu lösen. Zwar gibt es für Luhmann nach wie vor keine prinzipielle Exklusion aus Funktionssystemen, aber es kommt über die genannten negativen Interdependenzen doch zu einer mehr oder weniger effektiven Gesamtexklusion aus der Teilnahme an allen Funktionssystemen. Luhmann lehnt den Versuch, diese Phänomene in den altbekannten Kategorien der Ungleichheitsforschung zu behandeln, mit dem Hinweis ab, dass sie die Lage nur verharmlosen würden. Es gehe nicht um Klassenherrschaft, soziale Unterdrückung, Repression oder Ausbeutung – und zwar aus dem schlichten Grund, weil man nichts finde, „was auszubeuten oder zu unterdrücken wäre“.39 Die Beobachtung einer gänzlich herausfallenden Gruppe, die nicht länger gebraucht wird, verbindet die Diagnose Luhmann mit ähnlich gelagerten Überlegungen Zygmunt Baumanns40 oder Claus Offes.41 Bei allen Unterschieden im Einzelnen sind sich diese Beschreibungen doch in einem Punkt einig, dass die Menschen schlicht nicht mehr gebraucht werden. Es ist die Unterklasse und es sind die Dauerarbeitslosen, die keinen Einsatz im Spiel der Gesellschaft haben. Für Baumann sind es die Armen, die nicht mehr die stille Arbeitsreserve bilden, die beim nächsten Wirtschaftsaufschwung erneut in den kapitalistischen Prozess eingegliedert werden. Für Offe sind es die Überflüssigen, die es streng von den Verlierern zu unterscheiden gilt. Denn während die Verlierer immerhin noch am „Spiel“ Exklusion und Inklusion Seite 199 teilnehmen können, sind die Überflüssigen von der Teilnahme ausgeschlossen und haben damit noch nicht einmal die Chance, zu den Verlierern zu gehören. Bezogen auf die Inklusion-Exklusionsunterscheidung gehören Gewinner und Verlierer dem Inklusionsbereich an, während die Überflüssigen im Exklusionsbereich anzusiedeln sind. Die neuartigen Exklusionsstrukturen werden nicht als Moment von klassischen Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnissen erklärt. In der Perspektive der Systemtheorie wären diese nur ein Indiz für eine – wenn auch hierarchische – Inklusion. Die Aufspaltung der Gesellschaft in einen gering integrierten Inklusionsbereich und eine hochintegrierte Exklusionssphäre signalisiert für Luhmann zwar nicht das Ende der funktionalen Differenzierung, so aber doch deren Blockade. 6. Exklusion und Inklusionstendenzen im Rieselfeld Als eklatante Erscheinungsform des gesellschaftlichen Strukturwandels und der bereits in den 1970er Jahren sich abzeichnenden Krise wurden die Trends der Segregation, der sozialräumlichen Differenzierung und Polarisierung in den großen Städten zunächst in Südamerika, in den Vereinigten Staaten, später auch in Europa analysiert. Das ist das Phänomen der sozialen Abwärtsspirale, das in den Wohnvierteln der schwarzen Bevölkerung in den Großstädten zu beobachten war, nachdem mit dem Wegzug der Mittelklasseangehörigen und dem gleichzeitigen Prozess der Deindustrialisierung die soziale Isolation der Verbleibenden bis zur Ausgrenzung zuspitzte. Von einigen Ausnahmen abgesehen, stellt sich das Bild in den großen Stadtagglomerationen in Europa nicht so dramatisch dar. Und das Rieselfeld ist auch kein amerikanisches Ghetto oder eine brasilianische favela, es gibt keine Anzeichen für Außenstehende einer sichtbaren Verelendung. Auch würden die Betroffenen sich selbst niemals so etikettieren. Allerdings verschwinden die Überflüssigen nicht dadurch, weil sie sich selbst so nicht beschreiben würden. Die Ungleichheitsforschung kennt seit langem das Phänomen, dass sich etwa Arme als Angehörige der Mittelschicht beschreiben. Zumeist handelt es sich dabei um den krampfhaften Exklusion und Inklusion Seite 200 Versuch, sich als dazugehörig vorzustellen und von denen, die „wirklich“ nicht dazugehören, die „wirklich“ unten oder „draußen“ sind, abzugrenzen. Die entscheidende Kraft, sich für den Stadtteil Rieselfeld zu engagieren, ist, die Menschen im Stadtteil mit einzubeziehen, in das System des Stadtteils aufzunehmen. Die Strukturen und Inhalte werden aber von denen vorgegeben, die die „Inklusion“ betreiben. Nach eigenen Beobachtungen kann man schon im Stadtteil die Entstehung von differenzierten gesellschaftlichen Zonen feststellen, die als einfache „Innen-Außen-Dualität“ bezeichnet werden kann. Es handelt sich dabei um ein zweigeteiltes soziales Leben, eine radikale Grenzziehung zwischen denen drinnen und denen draußen. In jeder dieser Zonen herrschen unterschiedliche Spielregeln, Wahrnehmungsmuster, Formen der sozialen Kontrolle und des aktiven Handelns. „Eine Ordnungskategorie in diesen Zonen ist auf jeden Fall das Gegensatzpaar „Sicherheit - Unsicherheit“. Robert Castel beschreibt dabei nicht nur die „Zone der Integration“ und die „Zone der Exklusion“, sondern sieht drittens zwischen den beiden Genannten eine „Zone der Verwundbarkeit“42. Das Leitbild dieser Klassifizierung ist in erster Linie das Arbeitsverhältnis und außerdem eine Reihe von Beziehungsstützen. Dies sind primär Familiennetze und Netze der sozialen Sicherung. Dieser Zone der Verwundbarkeit muss man gerade im Rieselfeld große Aufmerksamkeit widmen. Dort befinden sich diejenigen, die in prekären Arbeitsverhältnissen stehen, bzw. diejenigen, denen es an sozialen Beziehungen mangelt, die sich aber noch nicht in der Exklusionszone befinden. Sie bangen um den Arbeitsplatz, den günstigen Wohnraum und haben Angst, sozial abzusteigen. Diese Ängste sind nichts Neues. Die Menschheit kennt sie von Anbeginn. Jede Ära der Geschichte hat ihre eigenen Ängste, die sie von anderen Epochen unterschied, oder anders gesagt, sie gaben den bekannten Ängsten neue Namen. Sigmund Freud hat die Bedrohungen klassifiziert: „Von drei Seiten droht das Leiden, vom eigenen Körper her, der, zu Verfall und Auflösung bestimmt, sogar Schmerz und Angst als Warnungssignale nicht entbehren kann, von der Exklusion und Inklusion Seite 201 Außenwelt, die mit übermächtigen, unerbittlichen, zerstörenden Kräften gegen uns wüten kann, und endlich aus Beziehungen zu anderen Menschen.“43 Das konstante Prinzip aller Strategien, die man im Laufe der Geschichte anwandte, um ein Leben mit Angst lebbar zu machen, bestand darin, die Aufmerksamkeit von Dingen, gegen die man nichts machen konnte, auf Dinge zu verlagern, an denen sich herumbasteln lässt. Und auch im Rieselfeld lässt sich beobachten: Dieses Basteln im Stadtteil muss so energie- und zeitaufwendig sein, damit ja kein Raum bleibt, um Situationen anzugehen, an denen nicht (oder angeblich nicht) zu rütteln ist. Wenn „ich“ als Bewohner an der Bedrohung durch Massenarbeitslosigkeit nichts ändern kann, dann versuche „ich“ im Quartier so viel Aktivitäten und Tätigkeiten anzubieten und zu organisieren, damit die tatsächlich Arbeitslosen oder von Arbeitslosigkeit bedrohten auf jeden Fall ein Betätigungsfeld haben und die bestehende Ordnung nicht in Gefahr bringen können. Das Quartier Rieselfeld ist aber noch auf eine anderen Weise mit dem Ausgrenzungsproblem verbunden: als Statusmerkmal und als Ort der sozialen Selbstdefinition. Der Neubaustadtteil findet sich in seiner Adresse wieder und gehört dadurch zu den engeren persönlichen Merkmalen. Der Ruf des Stadtteils, das Image, überträgt sich auf den, der dort lebt. Ein positives Image eines Stadtteils strahlt auf die Lebensumwelt des Bewohners zurück, es wird mit ihm assoziiert, er erhält ein Stück Lebensqualität. Gleiches gilt natürlich auch für ein negatives Image. in dem Zugleich zwingt das Leben im Viertel dazu, sich im Verhältnis zu dessen Bewohner sozial zu positionieren. Stigmatisierung von außen, von den Bewohnern der anderen Stadtteile, kann, wie im Rieselfeld geschehen, das Bedürfnis sich intern abzugrenzen, verstärken. Umgekehrt kann aber die relative Ähnlichkeit von Milieus und Lebenslagen im Quartier als sozialer Filter dienen, die die Außenbeurteilung abschotten und abmildern kann. Aber es gibt verschiedene Inklusions- und Exklusionsformen im alltäglichen Leben im Quartier. Castel unterscheidet in diesem Zusammenhang erstens eine „vollständige Ausgrenzung aus der Gemeinschaft“ im Sinne einer Vertreibung, diese Form wird auch „Totalexklusion“ genannt, zweitens den Exklusion und Inklusion Seite 202 Aufbau geschlossener Räume, die von der Gemeinschaft abgetrennt sind, die auch räumliche Exklusion genannt werden, und drittens diejenigen Bevölkerungsgruppen, die mit einem speziellen Status versehen werden, der ihnen ermöglicht, in der Gemeinschaft zu koexistieren, sie aber bestimmte Rechte und der Beteiligung an bestimmten sozialen Aktivitäten beraubt, was als Teilexklusion bzw. Teilinklusion zu bezeichnen wäre. Während in den ersten beiden Kategorien eindeutige Exklusionsphänomene erfasst sind, ist in der letzten Gruppe auffällig, dass mit ihr ein Zwischenbereich zwischen Exklusion und Inklusion benannt ist, eingeschlossen und doch ausgeschlossen, drinnen und doch draußen, zugelassen und doch abgewiesen. Diese Form einer nur halbherzigen, defizitären Zulassung, einer nur teilweisen Inklusion, ist es womöglich, mit der es gegenwärtig verstärkt das Rieselfeld zu tun hat. Sie gilt vor allem auch für prekär Beschäftigte, deren Gelegenheitsjobs sie zwar kaum über Wasser zu halten vermögen, immerhin aber mit einem Minimum an Einkommen versorgen und dies ein vollständiges Herausfallen verhindert. Die Bedeutungslosigkeit des Einzelnen geht hier zum Teil mit einem wahren Zuwendungsdruck seitens bestimmter staatlicher Institutionen einher, etwa wenn sich Arbeitslose in immer kürzeren Abständen zu bestimmten Zeiten auf dem Arbeitsamt einfinden müssen. Diese „fürsorgliche Belagerung“ seitens der dafür abgestellten Organisationen nimmt den Überflüssigen aber nichts von seiner Überflüssigkeit. Was bei der Inklusions-Exklusionsdebatte oft übersehen wird, ist die Tatsache, dass es ja nicht nur um eine exkludierenden Bevölkerung geht, die oft auch räumlich segregiert wird, sondern auch um einem Inklusionsbereich, der sich zunehmend nach innen abschließt. Diese Inkludierten sind einerseits dabei, die Ausgeschlossenen auszugliedern, und andererseits versuchen sie, sich selbst vor den wachsenden Exklusionszonen abzuschließen, indem man die Selbstexklusion wählt. Grundlage der Exklusion sind demnach klientelistische Netzwerkstrukturen, die der Autopoiesis44der funktionalen Teilsysteme zuwiderlaufen. Dabei Exklusion und Inklusion Seite 203 gewinnen veränderte Funktionsweisen der Organisationssysteme im gesellschaftlichen Evolutionsprozess an Bedeutung, denn sie bestimmen auf der Basis relativ strikter Mitgliedschaftsregeln und Rollenzuweisungen, ob und wie einzelne Personen in die unterschiedlichen Funktionsbereiche inkludiert werden. Foucault benennt es folgendermaßen: „Funktionssysteme behandeln Inklusion, also Zugang für alle, als den Normalfall. Für Organisationen gilt das Gegenteil. Die schließen alle aus mit der Ausnahme der hochselektiv ausgewählten Mitglieder. Dieser Unterschied ist als solcher funktionswichtig. Denn nur mit Hilfe der intern gebildeten Organisationen können Funktionssysteme ihre Offenheit für alle regulieren und Personen unterschiedlich behandeln, obwohl alle gleichen Zugang haben.“47 Die Organisationssysteme des Stadtteils sind somit eben nicht die Inklusionsinstanzen, über die die sozialen Teilnahmebedingungen reguliert werden. 7. Exklusion, Inklusion im Stadtteil Die Kontrolle über die öffentlichen Räume Das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein von sichtbaren Grenzen führt zu einer Unterscheidung von öffentlichen Innen- und Außenräumen. Mauern, Dächer und Türen umgeben einen abgeschlossenen Ort, dessen Rhythmen und Handlungsweisen von einer als Macht identifizierbaren Quelle diktiert werden. Es stellt sich die Frage nach der Zugangskontrolle und nach den Benutzerregeln und - normen. Man kann diese Frage bei vielen Orten stellen, deren eigentliche Besitzer die Allgemeinheit ist, wie zum Beispiel Schulen, Theater, Stadtteilzentren, Museen. Die Beschränkung der Nutzung wie der Nutzer der so genannten öffentlichen Innenräume kann ihren Ursprung in anderen Aspekten des sozialen Lebens haben. Der Zutritt zu einem Stadion, Theater oder Kino schließt den Kauf einer Eintrittskarte ein, d.h. der potentielle Nutzer erfüllt eine ökonomische Exklusion und Inklusion Seite 204 Bedingung. Ist dies geschehen, muss er aber auch die Benutzungsregeln verinnerlicht haben, um dort toleriert zu werden. Unter Benutzerregeln werden Verhaltensregeln verstanden, die es erlauben, die sozial anerkannten Verhaltensregeln, die für den jeweiligen Ort adäquat sind, zu erkennen. Das Schweigen und die innere Sammlung in der Kirche, die geflüsterten Worte und das Verbot der Berührung im Museum, das Warten auf dem Bahnhof usw. Es handelt sich um ein Programm im Sinne von „Behavior Settings“ von Barker48. Obwohl diese Normen oder Programme leicht identifizierbar und vertraut sind, werden sie mehr oder weniger abhängig von den besonderen Umständen an dem sozialen Ort in einem bestimmten Augenblick angewandt. Die Art, wie das Programm aktiv von den Menschen angewandt wird, und die Kenntnis der Orte und ihrer möglichen Nutzung schaffen eine innere Dynamik im sozialen Raum. Sie ist bei allen Mikrohandlungen vorhanden, die die Bedeutung des Raumes stetig verändern, etwa durch Graffiti, Veränderung des Mobiliars oder Verhaltensregeln, wie das Grüßen im öffentlichen Raum oder die Art der Kommunikation. Gleich, ob es sich um einen privaten oder öffentlichen Raum handelt, schafft das über seine Nutzung vorhandene Vorwissen eines jeden Menschen eine Eingrenzung des „öffentlichen“ Charakters. Das Restaurant ist ein privater Ort und wird in diesem Sinne zugänglich für ein Publikum, das nicht nur die gegebenen ökonomischen Bedingungen erfüllt und über die entsprechenden Tischsitten verfügt, die für diesen Ort adäquat erachtet werden, sondern das auch zeigt, dass es sich durch die Wahl der Speisen und Weine bestimmte Konventionen des Geschmacks und der Definition des „guten Essens“ angeeignet hat und das durch diese Aneignung auch beweist, dass es als legitimer Benutzer des Ortes betrachtet werden kann, d.h. z.B. fähig ist, genügend Vergnügen daraus zu ziehen. Genauso wird der Stadtteilladen im Rieselfeld oder der ökonomische Kirchenladen durch dieses „Muster“ angeeignet, auch wenn keine Eintrittsgelder bezahlt werden müssen. Es handelt sich um Aneignung eines kulturellen Kapitals, das zwar außerhalb des Restaurants oder des Exklusion und Inklusion Seite 205 Stadtteilladens existiert, aber erst bei der Benutzung dieser Einrichtung zum Tragen kommt. Der Grad der sozialen Öffnung eines öffentlichen Innenraumes hängt immer auch vom Typ der Faktorenkonfiguration ab, die in irgendeiner Weise den „Status“ eines Ortes definieren. Die öffentlichen Außenräume werden als physisch und sozial offen wahrgenommen, besonders wenn sie als kollektive Territorien erscheinen. Die Plätze, Parks und Straßen sind rechtlich öffentlich und gerade deshalb beliebt, weil sie von jung und alt und von allen sozialen Kategorien benutzt werden. Einige römischen Plätze, (der Central Park in New York, der Hyde Park in London etc.) sind Beispiele für diese Art von öffentlichen Räumen. Der Öffnungsgrad eines Platzes wird gefördert durch günstige Rahmenbedingungen: weder Tor noch Schüsselverwaltung, viele kostenlose Stühle, eine uneingeschränkte Nutzung des Rasens und der Bänke. Für keinen dieser Plätze muss man Eintrittsgeld bezahlen oder den Beweis erbringen, dass man über ein kulturelles Zugangswissen verfügt. Bei der Mehrzahl der öffentlichen freien Plätze beinhaltet die objektive Öffnung des Ortes noch nicht seine soziale Öffnung, d.h. man kann einen Bruch zwischen der rechtlichen und tatsächlichen Situation beobachten. Das ist zum Beispiel bei Straßen oder Quartieren der Fall, in denen Luxus demonstrativ konsumiert wird. Hier geschieht eine Aneignung des öffentlichen Raumes, der als Außenterritorium der Läden und Boutiquen benutzt wird. Dieser Übergriff auf den öffentlichen Raum ermutigt bestimmte Besucher, hier zu konsumieren und hier dazuzugehören, entmutigt aber auch viele andere, die (noch) nicht dazugehören, als potentielle Nutzer des öffentlichen Raumes. In beiden Fällen werden die zeitweiligen Besucher, Touristen, Spaziergänger oder Punker noch geduldet werden. Ihre tatsächliche Abwesenheit zeigt gleichwohl, dass es nicht explizit nötig ist, Ausschlüsse institutioneller und rechtlicher Art zu formulieren, um den Zugang zu öffentlichem Raum zu begrenzen. Exklusion und Inklusion Seite 206 Solche Ausschlüsse sind jedoch weder spontan, noch unerwartet oder zufällig. Sie haben ihren Ursprung in der Vorstellung vom öffentlichen Zusammenleben, die die Geschichte und Entstehung von öffentlichen Plätzen bestimmen. Jeder öffentliche Raum ist daher eine soziale Konstruktion, das Produkt einer Intention und einer Vorstellung des eigenen Ortes in einem gegebenen Kontext. 8. Der verteidigungsfähige öffentliche Raum° Seit mehr als zehn Jahren wird das Thema der Sicherheit und Kriminalität in den Städten, vor allem in den Großstädten immer wichtiger. Anzahl und Heterogenität der Bevölkerung haben in den Großstädten die sozialen Beziehungen verändert. Die mangelnde Funktionsdifferenzierung in den Stadtvierteln und Quartieren, die schwächer gewordene informelle soziale Kontrolle sowie die damit verbundene Anonymität menschlichen Daseins machen Gebäude, Bewohner und Passanten anfälliger, Ziel delinquenten Handelns zu werden. Die Schlussfolgerung, die viele Menschen daraus ziehen, ist: „Verteidigungslinien“ müssen gegen das Verbrechen von der Wohnungstür an Grundstücks- und Nachbarschaftsgrenzen vor verlagert werden. Dies vollzieht sich auf unterschiedlichste Art. „In diesem Zusammenhang ist der Ansatz von Oscar Newman von besonderer Bedeutung. Er ist die Schnittstelle einer ganzen Denkrichtung von Kriminologen, Stadtgeografen und Stadtsoziologen, die sich mit der Ausprägung von „Tatortstrukturen“ beschäftigt. Der Stützpfeiler des Ansatzes von Newman ist der „defensible space“, was hier als „verteidigungsfähiger Raum“ ins Deutsche übersetzt wird. Hierunter versteht Newman eine besondere räumliche Anordnung von Wohnhäusern und Wohnkomplexen, die die Bewohner anregt, die Sphären der Kontrolle von der Wohnungstür bis an die Stelle zu verlegen, bei der eine Sichtkontrolle der „Fremden“ durch die Bewohner ermöglicht und eine Verbesserung der Kommunikation der Bewohner untereinander ermöglicht wird. „Defensible space“ wird erreicht, indem der halböffentliche Raum, wie Wege von der öffentlichen Straße zum Gebäude, Eingänge, Eingangshallen, Treppenhäuser, Flure und Aufzüge ° Die Überschrift wurde aus de Marinis, Pablo; Überwachen und Ausschließen. Machtinterventionen in urbanen Räumen der Kontrollgesellschaften S. 148 übernommen Exklusion und Inklusion Seite 207 durch bauliche Gestaltung als zum Bereich der Bewohner gehörend definiert wird. Der Aufbau einer informellen Sozialkontrolle führt zu einem größeren Entdeckungsrisiko für Täter und damit zu einer Verringerung der möglichen Kriminalität. “45 Eine solche Gestaltung des öffentlichen Raumes fordert eine aktive Partizipation seitens der Bewohner, denn das potentielle Opfer wird Funktionsträger seiner Sicherheit. Es soll für sich und für seine physische Umwelt verantwortlich sein und informelle und formelle soziale Kontrolle effektiv ausüben. Dies kann er, wie im Rieselfeld oft möglich, in der Form der Baugruppen, die ja neben ihren Häusern und Wohnungen auch den halböffentlichen Raum planen und ausführen. Aber die entsprechenden Milieus können diese Kontrolle auch im Stadtteilleben ausüben, indem sie die Führung bei den Strukturen und die Gestaltungshoheit des öffentlichen Raumes übernimmt. Das heißt also, dass tiefgreifende Transformationen in der Stadtstruktur stattgefunden haben, welche wiederum mit einer neuen Art von Sozialität in Verbindung steht, bei der die Kontakte der Menschen untereinander zurückgehen. „Mit diesem Verhalten konnte ein Großteil des „public space“ unter die Kontrolle der Bewohner gebracht werden. Die räumlichen und sozialen Interventionen bestehen aus einem komplexen Mosaik, das sich aus verschiedenen Einflusszonen zusammensetzt: private, halbprivate, halböffentliche und öffentliche Sektoren. Solche räumlichen Interventionen der Umzonierung und Umdeutung der Räume lassen sich in bereits bestehenden Stadtteilen nur schwer durchführen, in einem entstehenden aber einfacher verwirklichen.“46 „Der sozioräumliche Ansatz des „defensible - space“ von Oscar Newman kann aus mehreren Gründen heute kritisiert werden. „Erstens scheint der Ansatz von Newman besonders für solche Situationen gedacht zu sein, bei denen die mutmaßliche Gefahr von außen kommt. Er geht von einer nicht vorhandenen Homogenität einer Wohnsiedlung aus. Der klassenbezogene Horizont und der eigentliche Adressat von seinen Theorien Exklusion und Inklusion Seite 208 ist die weiße Mittelschicht. Die praktische Anwendung des Ansatzes birgt die Gefahr, dass sich abgekapselte Nachbarschaften herausbilden. Das Bild einer pauschal als bedrohend empfundenen Außenwelt verstärkt die Tendenz zur Auflösung des öffentlichen Raumes, und die ideale Figur der Stadt als Begegnungsort, wo auch Differenzen zusammentreffen, scheint dabei überholt zu sein.“47 Er plädiert stark für die Wiederherstellung der „community“ und deren soziale Netze, die eine informelle soziale Kontrolle ermöglichen. „Mit einer Terminologie, die uns heute antiquiert erscheint, die aber sehr zutreffend die allgemeine Etikettierung dieses Ansatzes beschreibt, verbindet Schaub50 die Ideen von Newman mit einem „kleinbürgerlichen“ Konzept der Nachbarschaft. Wenn er „community“ sagt, dann sagt er in Wirklichkeit sozial homogene Nachbarschaften, bei denen die Anderen, die Gefährlichen sowieso draußen bleiben. Sie können nicht eindringen, weil dort eine sehr aufmerksame Nachbarschaft wacht.“48 Da in deutschen Städten diese „no go areas“ noch nicht die Bedeutung haben wie in den USA oder in lateinamerikanischen Städten, wird versucht, zumindest die Form und die Norm zu bestimmen, wie man sich in den Stadtteilen aufzuhalten hat. Der Einsatz von privaten Sicherheitsdiensten ist für eine räumliche Abschirmung nicht notwendig, aber sowohl sanfte Konzepte wie das „defensible space“, als auch härtere wie die „Festungsmentalität“ durch soziale Kontrolle und sozialen Umgangsformen fördert unverkennbar mehr Exklusion. „Durch räumliche Prozeduren verstärkt man die Ausschließung, die auf anderen Ebenen, wie der ökonomischen bzw. arbeitsmarktpolitischen, ethnischen und habituellen ebenso stattfindet oder vielleicht dort gerade anfängt.“48 Es gibt keine automatische Abhängigkeit des Räumlichen vom Ökonomischen, so als ob das Räumliche das Ökonomische nur widerspiegele. Durch die Aktivierung bzw. Reaktivierung des Stadtteils wird ein Konzept der individuellen und nachbarschaftlichen Verteidigung in Gang gesetzt, was einerseits für die beteiligten Gruppen den öffentlichen Raum aufwertet, für andere, nicht Beteiligte den öffentlichen Raum abwertet und die Exklusion fortführt. Exklusion und Inklusion Seite 209 9. Beobachtungen 9.1 Ängste im Stadtteil Viele Aktivitäten der besitzenden Rieselfelder wirken wie eine Seismographie mittelständischer Ängste, die ausgeklügelte Aktivitätstechniken und bestimmte soziale Normen entwickeln, um so ein drohendes Absinken ihres Stadtteils in der Werteskala der Freiburger (West-) Stadtteile zu verhindern und sich ihren Lebenstraum vom städtischen Leben im Eigenheim nicht kaputt machen zu lassen. Freiburg besitzt ein klassisches Status-Ost-Westgefälle. Die Statushöheren leben im Osten am Schwarzwaldhang, und für die niedrigeren Einkommensschichten wurden in den letzten 110 Jahren immer wieder Stadterweiterungsprogramme entwickelt. Nun ist der direkt angrenzende Stadtteil Weingarten im Ganzen ein negativ besetzter Stadtteil; zudem ist das direkt ans Rieselfeld angrenzende Quartier von Weingarten eine Sintisiedling, in der in den 1970er Jahren (ein damals bundesweit beachtetes sozialpolitisches Projekt) ca. 500 Zigeuner angesiedelt wurden. Nachdem, auch sesshaft gewordene, Zigeuner für viele Bundesbürger nicht gerade die bevorzugten Nachbarn sind, ist es eine Aufgabe und Anstrengung für die „In-Gruppe“, sich von Nachbarn abzugrenzen und sich so der Freiburger Ost-West Logik entgegenzustellen. Die Präsenz des Stadtteils im Wertegefüge der Stadt, im Westen, zwischen Zigeunersiedlung und Weingarten, in unmittelbarer Sichtweise von randständigen Bevölkerungsgruppen, die residentiell angesiedelt wurden, erzeugt erst einmal Angst. Diese Angst ist selbstverständlich nicht immer und überall spürbar und auch nicht gleichmäßig verteilt, sondern wird unterschiedlich erfahren. Um diese Angst abzubauen, werden diverse Praktiken und Methoden angewandt (siehe Kapitel: Handlungsansätze) Die Angst kommt aber immer wieder zum Ausdruck. Als die Stadt Freiburg eine im Bebauungsplan projektierte Fahrradbrücke über die stark befahrene Exklusion und Inklusion Seite 210 vierspurige Besanconallee bauen wollte, um den Weg in die Innenstadt zu erleichtern, wehrten sich im Frühjahr 2001 die selbsternannten Gremien im Stadtteil Rieselfeld vehement dagegen. Der Fahrradweg mit der neuen Brücke würde genau in der Sintisiedlung enden und eine direkte Verbindung der beiden Quartiere darstellen. Als Gegenargument wurden die angrenzenden Kleingärten genannt, in die man ja gar nicht wolle 9.2 Tagesheim Ein Wohnprojekt eines Kinderheimes aus Freiburg, das sein altes Domizil verlassen muss und im Rieselfeld ein Grundstück erwerben will, erzeugt bei den sich ihren Stadtteil aneignenden Bewohnern Abwehrreaktionen. Der zukünftige Leiter war begeistert von der Idee, auch Platz für Kinder zu schaffen, die sonst nicht unbedingt immer gern gesehen werden. Allerdings hatte er nicht mit einer aggressiven Ablehnung von Seiten der schon existierenden und vor allem zukünftigen Anwohner gerechnet. „Wir brauchen hier keine Schwererziehbaren", „Die klauen doch nur“, waren Aussprüche, die beim Stadtteilfest im Jahr 2003 zu hören waren, bei dem das Projekt vorgestellt wurde. Wertend kann man das Verhalten so interpretieren, dass die um ihren Stadtteil Kämpfenden diese Kinder nicht im Stadtteil haben will, ohne genau zu wissen, um welche Kinder es sich genau handelt, nur auf den Verdacht hin, es könnte sich um schwierige Kinder, um Schwererziehbare handeln. Der Leiter des Hauses auch bekam kaum eine Chance, das Wohnprojekt in den Stadtteilgremien überhaupt erst einmal vorzustellen. Inzwischen ist das Projekt auf Grund von Geldmangel gestoppt worden. Die Opfer der Ausgrenzung sind bei der Exklusion gleichzeitig in die Gesellschaft eingebunden und elementarer Bestandteil. Die soziale Exklusion bedeutet einen tiefen Bruch zwischen Opfern und Tätern. Die von dieser Form der Benachteiligung Betroffenen werden langfristig vom Zugang zu zentralen Gütern abgeschnitten, bzw. der Zugang zu diesen Gütern wird auf legalem Weg stark eingeschränkt. Exklusion und Inklusion Seite 211 Die Exklusion bestimmter Bevölkerungsschichten, im sozioräumlichen Kontext „soziale Brennpunkte“ genannt, führt zu Ängsten gegenüber den als gefährlich eingestuften Gruppen (de Marinis spricht hier von gefährlichen Klassen)49. Es handelt sich dabei bei um Gruppen, die von der Gesamtgesellschaft ausgeschlossen sind und nur sehr schwer wieder integrierbar sind. Im Stadtteil Rieselfeld wird aber genau angestrebt, diese Gruppen nach den Vorstellungen der dominanten Gruppe zu integrieren. Dies geschieht nach den Mechanismen der Macht derer, die keinen Disziplinarcharakter mehr aufweisen. Stattdessen wird der Blick auf Prozesse im Stadtteil gerichtet, die zeigen, dass postdisziplinare Machtanwendungen das Leben im Stadtteil bestimmen. 9.3 Stadtteilrunde Immer am zweiten Montag im Monat trifft sich im Stadtteilladen K.I.O.S.K. und seit Herbst 2003 im Stadtteiltreff die offene Stadtteilrunde, seit 1997 über 50mal. Dieses niederschwellige Angebot wird von K.I.O.S.K. und dem BürgerInnenverein (BIV) veranstaltet und steht allen Bewohnerinnen und Bewohnern offen, um sich in Belange des Stadtteile einzumischen, mitzureden oder sich einfach zu informieren. Zwischen sechs und knapp fünfzig Interessierte kamen und kommen zu diesem monatlichen Termin. Die Themen in den Jahren 1997 bis 2000 waren (damals noch ausschließlich der erste und zweite Bauabschnitt) vor allem Probleme und Missstände im Stadtteil, die alle betreffen. Dies waren zum Beispiel fehlende Kindergartenplätze, Verkehrsprobleme und mangelnde Einkaufsmöglichkeiten. Mit der allmählichen Fertigstellung des dritten und vierten Bauabschnittes, in dem über 90 % Baugruppen Eigentum errichten, kamen massiert die Milieus in den Stadtteil, die über soziale Aktivitäten sich den Stadtteil aneignen (siehe Milieuansatz). Seit 2001 verschieben sich daher auf schleichendem Weg die Themen. Von der Klage über Hundekot in den allgemeinen Grünzonen geht es nun um eine Diskussion über die Bezuschussung von Fotovoltaik–Anlagen. Dieser Prozess vollzog sich innerhalb eines einzigen Jahres. So veränderten sich nicht nur die Themen, sondern sukzessive auch die Zusammensetzung der Stadtteilrunde. Bewohner, die seit Beginn dabei waren, aber in Miete Exklusion und Inklusion Seite 212 wohnen, blieben immer häufiger weg und wurden durch Eigentümer ersetzt. So entsteht ein inner circle, ein kleiner Kreis von Aktiven der seine Interessen vertritt und andere ausschließt. 10. Zusammenfassung Die Exklusionsdebatte macht deutlich. dass die Produktion eines Außen, die Produktion des anderen und Fremden, die nun unter dem Namen des Exkludierten, des Ausgeschlossenen und der Überflüssigen wiederkehren, eine Konstante der heutigen Gesellschaftsentwicklung ausmacht. Damit erweist sich die Vorstellung der Moderne als einer großen Inklusionsmaschiene, die nach und nach jedes „Draußen“ zugunsten des „Drinnen“ beseitigt, als Illusion. Zwar gibt es immer wieder, gerade im Stadtteil, Inklusionsbewegungen die für eine erfolgreiche Inklusion derjenigen sorgen, die bis dato ausgeschlossen waren. Doch wird der Einschluss stets mit neuen Ausschlüssen beantwortet. Im Rieselfeld ist es interessant zu sehen, wie und durch wen Exklusion vollzogen wird und wie sich die sozialen Beziehungen dadurch ändern. Die Relationen und Interaktionen, um die es sich handelt, nehmen im Fall von Exklusion eine räumliche Differenzierung an. Exkludierte Bevölkerungsanteile werden von der übrigen Bevölkerung räumlich getrennt, was sich im Rieselfeld bei den Bauabschnitten nachzeichnen lässt. 1 Foucault, Michel; Dispositive der Macht. Berlin 1978 2 de Marinis, Pablo; Überwachen und Ausschließen. Machtinterventionen in urbanen Räumen der Kontrollgesellschaften, Pfaffenweiler 2000 S 25 2 de Marinis, Pablo; Überwachen und Ausschließen. Machtinterventionen in urbanen Räumen der Kontrollgesellschaften, Pfaffenweiler 2000 S 25 Foucault, Michael; „Die Maschen der Macht“, in: Freibeuter, Vierteljahreszeitschrift für Kultur und Politik, Nr. 63 Berlin 1995 S. 22– 42Seite: 2 3 vgl. de Marinis, Pablo; Überwachen und Ausschließen. Machtinterventionen in urbanen Räumen der Kontrollgesellschaften, Pfaffenweiler 2000 S 25 Foucault, Michael; „Warum ich Macht untersuche: Die Frage des Subjektes,“ in: Dreyfus, Hubert, Rabinow, Paul (Hrsg.); Foucault, Michael; Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt/M. 1987 S. 251- 261 4 Deleuze, Gilles; Foucault. Frankfurt a.M. 1995 S. 43 5 Prigge, Walter; Zeit, Raum, Architektur; Zur Geschichte der Räume. Köln/Stuttgart/Berlin/Hannover/Kiel 1986 S. 103 Seite: 2 6 Sassen, Saskia; Über die Auswirkungen der neuen Technologien und der Globalisierung auf die Städte, in: Dirk Matejovski (Hg.); Metropolen, Laboratorien der Moderne. Frankfurt a.M. 2000 S. 29 7 Weber, Max; Wirtschaft u. Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie; Tübingen 1980 4 de Marinis, Pablo; Überwachen und Ausschließen. Machtinterventionen in urbanen Räumen der Kontrollgesellschaften, Pfaffenweiler 2000 S 25 8 vgl. de Marinis, Pablo; Überwachen und Ausschließen. Machtinterventionen in urbanen Räumen der Kontrollgesellschaften, Pfaffenweiler 2000 S 26 ff 9 ebenda 10 vgl. de Marinis, Pablo; Überwachen und Ausschließen. Machtinterventionen in urbanen Räumen der Kontrollgesellschaften, Pfaffenweiler 2000 S 29 11 Spencer, Herbert; Die Prinzipien der Soziologie. Bd. III 12 de Marinis, Pablo; Überwachen und Ausschließen. Machtinterventionen in urbanen Räumen der Kontrollgesellschaften, Pfaffenweiler 2000 S 31 12 de Marinis, Pablo; Überwachen und Ausschließen. Machtinterventionen in urbanen Räumen der Kontrollgesellschaften, Pfaffenweiler 2000 S 31 13 de Marinis, Pablo; Überwachen und Ausschließen. Machtinterventionen in urbanen Räumen der Kontrollgesellschaften, Pfaffenweiler 2000 S 32 14 vgl. de Marinis, Pablo; Überwachen und Ausschließen. Machtinterventionen in urbanen Räumen der Kontrollgesellschaften, Pfaffenweiler 2000 S 32 15 de Marinis, Pablo; Überwachen und Ausschließen. Machtinterventionen in urbanen Räumen der Kontrollgesellschaften, Pfaffenweiler 2000 S 33 15 Elias, Norbert; Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen; Band 2: Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation; Frankfurt a.M. 1976 S 306 16 vgl. de Marinis, Pablo; Überwachen und Ausschließen. Machtinterventionen in urbanen Räumen der Kontrollgesellschaften, Pfaffenweiler 2000 S 26 ff 16 ebenda 17 ebenda 18 Bourdieu, Pierre; Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskarft. Frankfurt 1987 19 vgl. de Marinis, Pablo; Überwachen und Ausschließen. Machtinterventionen in urbanen Räumen der Kontrollgesellschaften, Pfaffenweiler 2000 S 34 20 vgl. de Marinis, Pablo; Überwachen und Ausschließen. Machtinterventionen in urbanen Räumen der Kontrollgesellschaften, Pfaffenweiler 2000 S 35 21 vgl. de Marinis, Pablo; Überwachen und Ausschließen. Machtinterventionen in urbanen Räumen der Kontrollgesellschaften, Pfaffenweiler 2000 S 34 Deleuze, Gilles; Foucault. Frankfurt a.M. 1995 S. 118 22 de Marinis, Pablo; Überwachen und Ausschließen. Machtinterventionen in urbanen Räumen der Kontrollgesellschaften, Pfaffenweiler 2000 S 35 23 Weber, Max; Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, RSI. Tübingen 1988 S. 116 24 Habermas, Jürgen; Der philosophische Diskurs in der Moderne. Frankfurt a.M. 1985 25 vgl. de Marinis, Pablo; Überwachen und Ausschließen. Machtinterventionen in urbanen Räumen der Kontrollgesellschaften, Pfaffenweiler 2000 S 35ff 26 vgl. de Marinis, Pablo; Überwachen und Ausschließen. Machtinterventionen in urbanen Räumen der Kontrollgesellschaften, Pfaffenweiler 2000 S 35ff 27 Hardt, Michael; Negri, Antonio; Empire. Die neue Weltordnung; Frankfurt a.M., 2002 S. 38 28 Leibfried, Stephan u. a.; Zeit der Armut. Lebensläufe im Sozialstaat. Frankfurt a.M. 1995 29 vgl. de Marinis, Pablo; Überwachen und Ausschließen. Machtinterventionen in urbanen Räumen der Kontrollgesellschaften, Pfaffenweiler 2000 S 41 ff 30 vgl. de Marinis, Pablo; Überwachen und Ausschließen. Machtinterventionen in urbanen Räumen der Kontrollgesellschaften, Pfaffenweiler 2000 S 41ff 31 vgl. de Marinis, Pablo; Überwachen und Ausschließen. Machtinterventionen in urbanen Räumen der Kontrollgesellschaften, Pfaffenweiler 2000 S 97ff 32 vgl. de Marinis, Pablo; Überwachen und Ausschließen. Machtinterventionen in urbanen Räumen der Kontrollgesellschaften, Pfaffenweiler 2000 S 69f 33 vgl. de Marinis, Pablo; Überwachen und Ausschließen. Machtinterventionen in urbanen Räumen der Kontrollgesellschaften, Pfaffenweiler 2000 S 70f 34 Luhmann, Niklas; Politik im Wohlfahrtsstaat, München 1981 S.25 35 ebenda 36 Luhmann, Niklas; Jenseits von Barbarei, in: Max Miller/Hans – Georg Soeffner (Hrsg.): Modernität und Barbarei. Soziologische Zeitdiagnose am Ende des 20. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1996 S. 227 40 Baumann, Zygmut; Unbehagen in der Postmoderen; Hamburg 1999 41 Offe, Claus; Moderne Barbarei. Der Naturzustand im Kleinformat? In: Max Miller/Hans-Georg Soeffner (Hrsg.); Modernität und Barbarei. Soziologische Zeiitdiagnosen am Ende des 20. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1996 S. 258 - 289 42 vgl. de Marinis, Pablo; Überwachen und Ausschließen. Machtinterventionen in urbanen Räumen der Kontrollgesellschaften, Pfaffenweiler 2000 S 66f ff 43 Freud Sigmund; Das Unbehagen in der Kultur, Frankfurt a.M. 1958 S. 106 44 Maturana, H.R. u. Varela, F.J.; Der Baum der Erkenntnis. Die Biologischen Wurzeln des menschlichen Wesens, Bern/München 1987 45 vgl. de Marinis, Pablo; Überwachen und Ausschließen. Machtinterventionen in urbanen Räumen der Kontrollgesellschaften, Pfaffenweiler 2000 S 150f 46 vgl. de Marinis, Pablo; Überwachen und Ausschließen. Machtinterventionen in urbanen Räumen der Kontrollgesellschaften, Pfaffenweiler 2000 S 152f 47 vgl. de Marinis, Pablo; Überwachen und Ausschließen. Machtinterventionen in urbanen Räumen der Kontrollgesellschaften, Pfaffenweiler 2000 S 162 48 vgl. de Marinis, Pablo; Überwachen und Ausschließen. Machtinterventionen in urbanen Räumen der Kontrollgesellschaften, Pfaffenweiler 2000 S 163 49 de Marinis, Pablo; Überwachen und Ausschließen. Machtinterventionen in urbanen Räumen der Kontrollgesellschaften, Pfaffenweiler 2000 S 165 47 Foucault, Michael; Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a.M. 1994 S. 190 48 vgl. de Marinis, Pablo; Überwachen und Ausschließen. Machtinterventionen in urbanen Räumen der Kontrollgesellschaften, Pfaffenweiler 2000 S 162f 49 de Marinis, Pablo; Überwachen und Ausschließen. Machtinterventionen in urbanen Räumen der Kontrollgesellschaften, Pfaffenweiler 2000 S 228ff Kapitel 7 Abschließende Erwägungen Nach fast acht Jahren ist der Stadtteil Rieselfeld auf dem Weg ein ganz normaler Stadtteil zu werden. Er hat die Probleme vieler Stadtteile und Städten die sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts zeigen. Dies sind die Wiederkehr sozialer Ungleichheiten, die sich in der Polarisierung des Stadtteils zeigt. Unterstützt wird diese Entwicklung durch die Streichung der Förderung des Sozialen Wohnungsbaus, der ein auseinanderdriften des I und II Bauabschnittes auf der einen Seite und des III und IV Bauabschnittes auf der anderen Seite. Die Zahl der Armen steigt, aber ebenso der Anteil der BewohnerInnen mit hohem Einkommen. Die Zahl der mittleren Einkommensschichten stagniert oder schrumpft. Und trotz aller Normalität ist es ein noch unvollendeter Stadtteil, gebaut auf einem rieselenden, einem sich im Fluss befindenden Feld. Das heißt der Stadttraum ist erst langsam sichtbar und als suburbanes Quartier wird es erst seinen Charakter zeigen. Es gibt bereits ein bemerkenswertes soziales und kulturelles Leben. In den Neubausstadtteilen der 1960er und 70er Jahren hat sich ein vergleichbares soziale und kulturelle Leben – wenn überhaupt – erst nach viel längerer Zeit entwickelt. Abschließende Erwägungen Seite 216 Der Stadtteil Rieselfeld wurde von seinen Bewohnerinnen und Bewohnern als Raum angeeignet. Raum ist aber nicht etwas unmittelbar Gegebenes und Wahrnehmbares, sondern ergibt sich erst als Resultat menschlicher Syntheseleistung, als eine Art Synopsis des einzelnen Ortes durch die das örtlich Getrennte, das sich die Rieselfelderinnen und Rieselfelder durch Handeln in einen Zusammenhang, in ein räumliches Beziehungssystem gebracht haben. Die Aneignung erfolgt durch das Erlernen und Übernehmen von Praktiken wie sich Personen und Dinge im Raum positionieren bzw. positioniert werden. Man eignet sich Verhaltensweisen an, man entwickelt Regeln und Normen und transportiert sie über Kommunikation, es werden Spielregeln im Stadtteil entwickelt. Eine weitere wichtige Rolle in der Aneignung des Rieselfeldes spielt das von Bourdieu entwickelte Konzept des sozialen Kapitals, das in Quartieren wie das Rieselfeld auf unterschiedlichste Weise repräsentiert und aktiviert wird und substantiellen Einfluss auf die Aneignung haben. Die Kapitalien die Bewohnerinnen und Bewohnern besitzen definieren das Mitmachen im öffentlichen Raum. In den Beobachtungen wurde versucht dies auf der Stadtteilebene auf zu zeigen und zu belegen. Im Diskurs Raumaneignung werden sozialräumliche Faktoren und die Bedeutung des Sozialcharakters des öffentlichen Raumes und der in ihm vorfindbaren Aneignungsmöglichkeiten thematisiert. Die Beobachtungen der letzten Jahre im Rieselfels zeigen, dass der Prozess der Aneignung des Stadtteils, mit seinen öffentlichen Räumen, eingebettet sind in eine lange Reihe von Auseinandersetzungen und Kämpfen im Stadtteil. Das im Stadtteil dominierende Milieu ist sehr aktiv. Der Wertewandel in den letzten Jahrzehnten hat für diese Milieus eine generelle Zunahme von Engagement gefördert, um aktiv zu werden, braucht es nicht unbedingt einen persönlichen Notstand, sondern es reicht eine innere Überzeugung und Identifizierung mit gleichen Werten, gleiche Symbolen, neue Wertungen und Auffassungen von Stadt und städtischen Lebensformen. Aus den Interaktionen zwischen Individuen mit ähnlichen Werten, Gewohnheiten, Normen, Überzeugungen und Verhaltensweisen bildet sich eine kollektive Stadtteilkultur heraus, zumindest von den Menschen, die am Stadtteilleben teilhaben. Abschließende Erwägungen Seite 217 Diese Instrumente der Raumgestaltung, der Möglichkeit und Kapitalien im Stadtteil sind Formen der Machtausübung, der Machtintervention. Noch steht aber über die Machtausübung der Anspruch für den ganzen Stadtteil zu sprechen, das Beste für Alle zu wollen, also noch keine „Abkühlung“ des sozialen Bandes zuzulassen. Als Ausgangspunkt für die Machtansprüche dient der Stadtteil mit seinen Räumen als Bühne. Durch die allgemeine gesellschaftliche Instabilität, in der alte Hierarchien nicht mehr bestehen, die neuen im Quartier noch nicht etabliert sind und ritualisiertes Verhalten die nicht existenten Strukturen ersetzten. Rituale sind oft starr, eintönig und eher emotional als logisch, aber sie stellen einen Zusammenhalt her. Rituale benötigen Zuschauer, Bewohnerinnen und Bewohner, d. h., ohne eine Art kulturelle Bühne funktionieren sie nicht. So erbauten sich die Rieselfelder diese Bühne in Form von Vereinen, Institutionen, Symbolen, Gremien und sonstigen Netzwerken mit ihren dazugehörigen Funktionen. Rituale funktionieren nur im öffentlichen Raum, nicht im privaten und setzten körperliche Präsenz voraus. Die Situation in dem Stadtteil Rieselfeld ist gekennzeichnet von einem dominanten Milieu und verschiedenen minoritären Milieus. Die Nähe der einzelnen Milieus ist unterschiedlich, aber eine Hierarchisierung innerhalb des Stadtteils ist klar ersichtlich, auch durch die Bauabschnitte. Die Machtstrukturen die sich auch räumlich im Stadtteil verorten lassen wandern und sind auch an sich veränderten Symbolen fest zu machen. Die Milieus, die Macht ausüben tun dies „instinktiv“, nicht bewusst, es gehört zu ihrem Selbstverständnis und zu ihrem Selbstschutz. Sie haben die Selbstkontrolle internalisiert und bemerken gar nicht dass sie durch ihr Handeln andere beim Handeln gehindert werden. Das Stadtentwicklungsprojekt Rieselfeld hatte das Ziel, durch einen Anschub von außen (gerade durch das Projekt Quartiersaufbau Rieselfeld, aus dem der Verein K.I.O.S.K. e. V. entstand), endogene Potentiale des Stadtteils frei zu setzen, also Ressourcen und Selbsthilfekräfte, die aus dem Inneren des Quartiers und seiner Menschen herrühren. Zu den wichtigsten Ressourcen in diesem Prozess zählen Partizipationsfähigkeit und Partizipationsbereitschaft. Beides findet sich im Rieselfeld in hohem Maße wieder, allerdings sozialräumlich sehr unterschiedlich aufgeteilt. Wer sich in benachteiligten Bauabschnitten nachhaltige soziale Teilhabe ausgerechnet durch Abschließende Erwägungen Seite 218 Partizipationsformen der Bewohnerinnen und Bewohnern verspricht, ist naiv und erwartet von diesen Subquartieren, dass sie sich wie einst Münchhausen, am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen sollen. Und schlimmer: Das vertrauen auf aktive Selbsthilfekräfte kann eventuell sogar kontraproduktiv wirken, weil nämlich die schwächsten Milieus aufs Neue benachteiligt werden. Politische Bürgerrechte werden von benachteiligten Bevölkerungsgruppen in nur geringen Ausmaß wahrgenommen, weil die sozialen Bürgerrechte (wie z.B. das Recht auf Bildung) nicht ausreichend ausgeschöpft werden (können). Umgekehrt sorgt die schwache (politische) Partizipation von Bürgerinnen und Bürgern wieder dafür, dass soziale Rechte auch künftig nicht weiter ausgebaut werden. Die Exklusion zeigt in ganz subtilen Mechanismen. So kann es zu einer fatalen Abwärtsspirale kommen. Im Rieselfeld wird dieser Prozess noch überdeckt, da statistisch der Gesamtstadtteil im Durchschnitt ja keinerlei „Auffälligkeiten“ aufweist und so zum Handeln auffordert. Bildung liefert den wichtigsten Schlüssel für jene politischen Einstellungen, welche die aktiven Milieus, die aktiven Superbürger (super citizen) aufweisen, die das Geschick des Stadtteils selbst in die Hände nehmen bzw. sich von Stadtplanern, Sozial- und Quartiersarbeitern des K.I.O.S.K.-Vereins zur partizipativen Mitarbeit aktivieren lassen. Diese Superbürger sind einer von drei möglichen Idealtypen, die die empirische Sozialforschung1 in jüngerer Zeit herausgefunden hat. Er interessiert sich in hohem Maße für (Stadt-) Politik, zeigt sich im allgemeinen gut informiert oder versucht dies zumindest, hat viel Selbst- und soziales Vertrauen sowie viel Toleranz und mischt sich, wo immer möglich in gesellschaftliche Prozesse ein. Dabei denkt er nicht nur an sich, sondern wird auch aktiv, wenn er die Interessen anderer Menschen im Stadtteil oder des ganzen Systems Stadtteil tangiert sieht. Die Baugruppen verstärken diese Tendenzen. Neben den sehr aktiven Bürgerinnen und Bürgern gibt es einen zweiten Typus, der „kognitiven Geizkragen“ (cognitive mizer) genannt wird, weil er sich nur hin und wieder und jeweils nur im eigenen Interesse beteiligt, sowie den dritten Typus, den „politischen Ignoranten“ (political fool), der politisch überhaupt nicht aktiv wird. Die beiden erstgenannten Typen, die auch den aktiven Milieus im Rieselfeld entsprechen, dominieren in den „besseren“ Bauabschnitten im Stadtteil, das räumliche Umfeld des Ignoranten hingegen ist der sozial benachteiligte erste Bauabschnitt. Hier wohnen mittlerweile Menschen, die sich weder für Politik noch für Stadtteilbelange interessieren. Es finden sich also ausgerechnet in Abschließende Erwägungen Seite 219 jenen Bauabschnitten im Rieselfeld, die unter anderem durch Bewohnerbeteiligung bessere Qualität finden sollen, kaum Bürgerinnen und Bürger, die auf diese Aufgabe vorbereitet sind oder sich überhaupt dafür interessieren. Solche Quartiere können mit den Anforderungen, welche die Ziele und Handlungskonzepte von Stadtentwicklungsprozessen mit professioneller Hilfe, wie durch den KI.O.S.K.-Verein verlangen, schlicht überfordert sein. Ob unter solchen Umständen tatsächlich die nötigen endogenen Ressourcen freigesetzt werden können, erscheint fraglich. Je mehr eine Gesellschaft sich auf Selbstverantwortung und aktive Teilnahme ihrer Bürgerinnen und Bürger verlässt, desto schlechter stehen die Chancen für Nichtaktive. Bei anhaltendem Trend wäre – ausgerechnet durch mehr Partizipationsmöglichkeiten – nicht lediglich von wachsender Segregation zu sprechen, sondern sogar von einer möglichen Exklusion breiter Bevölkerungsgruppen aus dem politischen Entscheidungsprozess. Als offene Frage bleibt zur Zeit noch wie sich interkulturelle Zwischenwelten gestalten und wer hier die Akteure sind. Der Stadtteil Rieselfeld hat noch keine fertige Struktur, noch kein fertiges System, obwohl sich die Grundmuster bereits zeigen. Die Systeme des Stadtteils sind in Bewegung, durch Prozesse der Inklusion und Exklusion bleiben die dominanten Milieus in Bewegung. Eine der zentralen Intention dieser Arbeit war es ein Profil der Machtausübung im Stadtteil zu entwerfen, das die Situation im Stadtteil aufzeigt. Diese Definition von Machtausübung bringt eine eigene Art von Stadtteilsozialität hervor die folgende Bedürfnislagen beinhalten. Individualisierungstendenzen erhöhen das Bedürfnis nach individueller Distanzierung von anderen Menschen und Milieus, eliminieren aber nicht das Bedürfnis sich im öffentlichen Raum aufzuhalten und Vielfalt, auch im Stadtteil erleben und gestalten zu wollen. Stadt-Räume sind Macht-Räume. Nicht alle Menschen verfügen aber über die gleichen Kapitalien um sich im Kampf um die Raumaneignung erfolgreich einzubringen. Pluralisierung und Rollendifferenzierung erschweren die Einordnung des fremdem Gegenübers und benötigen zur Stabilisierung ihres So-Seins legitimierende, subkulturelle, lebens- und milieustilistische Unterstützung, vor allem im öffentlichen Nahkampf. Diese Unterstützung sollte von intermediären Instanzen geleistet werden. Ihr Auftrag ist es, die Kommunikation zwischen verschiedenen Abschließende Erwägungen Seite 220 Gruppen, Kulturen, Milieus und Institutionen mit ihren eigenen Strukturen und Logiken zu ermöglichen, eine Rückkoppelung der vielfältigen ausdifferenzierten Systeme und Organisationen der modernen Gesellschaft an ihre Nutzerinnen und Nutzer und damit die Lebenswelt der Menschen zu fördern und in einem kommunikativen Prozess befriedigende Lösungen für anstehende Probleme zu finden. Der Versuch in dieser Arbeit auf zu zeigen, dass die Aneignung des Stadtteils Rieselfeld durch den Kampf um den öffentlichen Raum geht, zeigt das dieser Kampf weit fortgeschritten ist und sich sozialräumlich niederschlägt. Die Macht tritt Mittels Zeichen-, Symbol- und Repräsentationssystemen auf und dominiert den Raum. Um einen Machtausgleich zu erreichen sind daher intermediäre Instanzen als Ort zur Erlangung der Kapitalausstattung erforderlich. Wer Verantwortung für Orte und Räume in postindustriellen Stadtteilen übernimmt muss diese „Bottom up“- Strategien einplanen. Patenlösungen, die auf alle Quartiere und Stadtteile übertragbar sind, gibt es nicht. Jeder Stadtteil hat seine eigenen Ressourcen, Geschichte, Strukturen und Atmosphären mit denen regulierend gearbeitet werden muss. Abschließende Erwägungen Seite 221 1 Greiffenhagen, Silvia u.a.; Politische und Verwaltungsstrukturen 2030, In: Forschungsverbund Esslingen 2030 (Hrsg.), Bürger sein heute- Bürger sein 2030. 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