Franziska Sick Paradoxe Fiktionen, Fiktionsstatus des Paradoxes bei Borges Einleitendes zum Thema und zum Paradox – Versuch eines Überblicks ohne System Nur allzu leicht könnte eine Untersuchung zum Paradox bei Borges selbst zu einem paradoxen Unterfangen geraten: Bei dem hohen Beziehungsreichtum seines Werkes – bei gleichzeitiger Explizitheit –, bei dem schmalen Umfang seines Œuvres – bei gleichzeitiger Kürze und deshalb Vielzahl der Einzeltexte – ergibt sich ein Interpreta- tionsfeld, das, wenn man es ausloten wollte, wenn nicht zu einer unendlichen, so doch zu einer kaum darstellbaren Aufgabe sich auswüchse. Die nachstehende Untersuchung beschränkt sich deshalb auf wenige Aspekte. Der Sache nach auf die beiden Erzählungen La biblioteca de Babel und El jardín de senderos que se bifur- can1 – mit Seitenblick auf einige wenige Essays und weitere Erzählungen. Dem Thema nach auf das Paradox als grundlegendem Bestandteil von Borges' Poetik. Bekanntlich ist der Begriff Paradox vieldeutig. Man unterscheidet poetisch-rheto- rische Paradoxa, und innerhalb dieses Bereichs Oxymora bis hin zur Ironie, von sol- chen sachhaltiger, philosophischer Natur. Letztere sind genauer als Aporien bzw. Antinomien zu bezeichnen. Auch diese ließen sich weiter nach unterschiedlichen Kriterien untergliedern2. Es geht im folgenden nicht – oder nur am Rande – um sol- che Typiken, denn ein solches Deutungsraster anzulegen hieße, das Paradox der unendlichen Bibliothek, das mit an formalen, vorgedachten Algorithmen und Deu- tungsrastern laboriert, weniger zu deuten als vielmehr nachzustellen und damit um ein weiteres, unfreiwilliges Beispiel zu erweitern. Nicht zuletzt deshalb wird an dieser Stelle essayistisch auf Vollständigkeit verzichtet. Allzu schnell rührt der Anspruch auf Systematizität und Vollständigkeit an Probleme der Unendlichkeit, allzu häufig sind 1 Borges' Texte werden nach folgender Ausgabe zitiert: Jorge Luis Borges, Obras completas, 3 Bde., hrsg. von Carlos V. Frías, Barcelona: Emecé Editores, 1989. Die beiden genannten Erzählungen sind in Band 1 enthalten. 2 Vgl. Paul Geyer, "Das Paradox: Historisch-systematische Grundlegung", in: Paul Geyer / Roland Hagenbüchle (Hrsg.), Das Paradox. Eine Herausforderung des abendländischen Denkens, Tübingen: Stauffenburg, 1992, S. 11-24; Roland Hagenbüchle, "Was heißt 'paradox'? Eine Standortbestim- mung", in: ebd., S. 27-43; Ronald Landheer, "Le paradoxe: un mécanisme de bascule", in: Ronald Landheer / Paul J. Smith (Hrsg.), Le paradoxe en linguistique et en littérature, Genève: Droz, 1996, S. 91-116. 2 Probleme der Unendlichkeit Quelle des Paradoxes. Wie aus dem Essay Avatares de la tortuga zu extrapolieren ist, wählt Borges selbst den Essay als Form, um nichtparadox über Paradoxa reden zu können3. Einlassung und Thema dieses und des thematisch verwandten Essays La per- petua carrera de Aquiles y la tortuga4 legen – auf Widerruf – nahe, daß, wenn man Borges' Stellung zum Paradox denn rubrizieren wollte, und wenn eine solche Trenn- linie strikt zu ziehen wäre, die beiden Essays sich mehr mit dem logischen Paradox, mit Antinomien und Aporien des Denkens, denn mit dem Para-doxon, mit dem, was wider die Meinung ist, beschäftigen. Das ist zum einen aus dem behandelten Gegenstand ableitbar – Zenons Paradox ist aporetisch-sachhaltiger Natur –, zum anderen aber auch aus der Art, wie Borges diesen Gegenstand behandelt. Er disku- tiert und stellt dar, in wie unterschiedlicher Weise man versuchte, Zenons Paradox zu lösen. Nun zielt Borges' Diskussion dieser Lösungsansätze unorthodox oder paradox in des Wortes anderer Meinung weniger darauf, einem dieser Lösungsansätze den Vorzug zu geben oder alternativ hierzu einen eigenen vorzustellen – unorthodox obenhin, weil nach verbreiteter, wenn auch nicht unwidersprochener Auffassung der Logiker Zenons Paradox auf seinen noch unscharfen Begriff vom Unendlichen rück- zuführen sei, aber auch bestimmter, weil Borges die diskutierten Lösungsansätze – insbesondere denjenigen Russells – durchaus würdigt und anerkennt. Ein solches Festhalten am Unerklärlichen, obwohl dieses erklärt ist, bedarf der Erläuterung: Borges' Deutung von Zenons Paradox zielt weniger darauf, das Paradox zu lösen, als darauf, ausgehend von diesem ersten Paradox die paradoxe Verfaßt- heit unserer Vernunft zu bestimmen. An Zenons Paradox zeigt sich, daß die Vernunft zu unserer Wahrnehmung unendlich viel hinzutut. Denn es ist ja nicht unsere Wahr- nehmung, sondern das Axiom von der unendlichen Teilbarkeit des Raumes, das zu dem Paradox führt. In diesen Zutaten, in diesen Kalkülen, die unabhängig von jegli- cher Erfahrung sind, verfängt sich Vernunft. Sie verfängt sich in sich selbst. Paradox rechtfertigt Borges eben aus diesem Verfängnis, aus der Unzulänglichkeit der Ver- nunft, ihren Primat: 3 Borges spricht hier von einer "ilusoria Biografía del infinito" (J. L. Borges, Avatares de la tortuga, in: Obras completas, Bd. I, S. 254-258, hier: S. 254.). Diese ist jedoch, da Borges das Unendliche in hohem Maße paradox verbindet, zugleich als eine Geschichte des Paradoxes anzusehen. 4 In: Obras completas, Bd. I, S. 244-248. 3 Zenón es incontestable, salvo que confesemos la idealidad del espacio y del tiempo. Aceptamos el idealismo, aceptamos el crecimiento concreto de lo percibido, y eludiremos la pululación de abismos de la paradoja.5 Ein solcher Idealismus, der sich aus dem Paradox begründet, dient – anders als etwa der kantische Idealismus – nicht zur Begründung der Erfahrung, sondern zur Recht- fertigung phantastischer, da erfahrungswidriger Welten. Dieser Idealismus löst die Antinomien des Denkens nicht auf, oder er versucht sie nicht kantisch als unzulässi- gen Gebrauch der Vernunft zu verbieten. Vielmehr spürt er der Phantastik unserer Vernunft nach. Borges stellt den bodenständigen, da auf das Feld der Erfahrung be- schränkten kantischen Verstand von den Füßen auf den Kopf – und er befreit so postkantisch und postmodern die Phantastik der Vernunft. Etwas von den Füßen auf den Kopf zu stellen, bezeichnet – ungeachtet der Un- orthodoxie dieser Drehbewegung – eine Figur von Verwandtschaft und Differenz. Diese ist genauer nachzuzeichnen. Einerseits greift Borges in seiner Erklärung, ob- wohl er vordergründig die Ansätze von Russell und Bergson diskutiert, unübersehbar auf kantische Erklärungsmodelle zurück. Es ist – bei Borges wie bei Kant – der trans- zendente Gebrauch der Vernunft, der zu Antinomien oder zu Paradoxien führt. Die Antinomien sind Antinomien der Vernunft, nicht der Sache. Nicht zuletzt sind es hier wie dort dieselben Themen, die Themen der transzendentalen Dialektik, Fragen nach Gott und dem Unendlichen. Anders als Kant delegitimiert Borges diesen Gebrauch der Vernunft nicht, son- dern legitimiert ihn – wenn auch in einer einigermaßen schwebenden und gebroche- nen Weise: essayistisch als Fundstelle ex libris und erzählend als Fiktion. Die Stel- lung zum Paradox hat also nicht nur mit dem Vernunftgebrauch, sondern auch mit dem Gebrauch von Büchern zu tun – nicht nur bei Borges, sondern gleichermaßen auch bei Kant. Kant versucht den Widerspruch zu begrenzen, indem er ihn einteilt und systema- tisiert, um ihn so dingfest machen und verbieten zu können. Er versteht deshalb Die Kritik der Reinen Vernunft nicht als eine Kritik der Bücher, sondern als eine Kritik überhaupt, und das heißt, als eine Kritik aller Bücher oder einer potentiell unendli- chen Bibliothek. Nur unter dieser Voraussetzung läßt jegliche Metaphysik sich widerlegen. "Sapere aude" bedeutet in dieser Hinsicht die Anweisung, zu kritisieren ohne zu lesen – aus Einsicht in die phantasmagorischen Strukturen der Vernunft, die, im Vorgriff gesagt und unter borgesschen Paradigmen formuliert, als eine Text- 5 Ebd., S. 248. 4 maschine eine unendliche Bibliothek von Unsinn herstellt. Es reicht, die Wurzel die- ses Unsinns zu kennen, um nicht mehr weiterlesen zu müssen. Komplementär zu Kant verhält sich Borges: Ohne Systemzwang begibt er sich in die Bibliothek, um den Paradoxien des Denkens nachzuspüren. Er zielt auf keine Kri- tik oder Korrektur der Vernunft, sondern auf eine Geschichte ihrer Paradoxie. Kritisch ist diese Geschichte, insoweit sie als Signatur des Scheiterns von Vernunft das Pa- radox benennt, unkritisch im kantischen Sinne ist sie, insoweit Borges keine trans- zendentale Position anbietet, von der her das Paradox einzusehen und zu lösen wäre. Borges trägt das Paradox vor. Er überläßt und überantwortet es ungelöst sei- nem Leser. System und Transzendenz, Essay und Immanenz erweisen sich damit in der Stellung zum Paradox als antipodische Begriffe. Dieses Spannungsfeld dekliniert die neuere Paradoxieforschung als Reflexion auf metaparadoxe Beziehungen in unter- schiedlicher Weise. Zur Diskussion steht einerseits eine Dialektik des Systembegriffs: Je komplexer Systeme sind, desto anfälliger werden sie gegen Paradoxa. Wider- spruchsfreie Systeme tendieren andererseits zur Aussagelosigkeit. Ihr Terminus ad quem ist das Identitätsprinzip A = A, das so widerspruchsfrei wie gehaltlos ist6. Zur Diskussion steht ferner die Figur der Transzendenz. Wie Niklas Luhmann gezeigt hat, wurzeln Paradoxa (häufig) in Beobachterrelationen7. Dies gilt auch – Luhmann selbst weist darauf hin – in dem von ihm gewählten Theorieumfeld, der Systemtheo- rie. Systeme sind nicht beschreibbar ohne Angabe des Systemkontextes. Dieser wird idealiter von einem (externen) Beobachter formuliert. Dieses trianguläre System aus Systembeobachter, beschriebenem System und Systemumwelt bedürfte freilich einer weiteren Reflexion oder eines weiteren Beobachters – und so ad infinitum. Luhmann schlägt deshalb eine Systembeschreibung von einer immanenten Beobachterposition aus vor. Da der paradoxieträchtigen Autoreferentialität nur um den Preis weiterer Pa- radoxa zu entkommen ist, ist diese in Kauf zu nehmen. So viel zur Aktualität einer Rede über das Paradox, die auf Transzendenz verzichtet. 6 Vgl. Ralph Kray / K. Ludwig Pfeiffer, "Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche: Vom Ende und Fortgang der Provokationen", in: Hans Ulrich Gumbrecht / K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.), Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1991, S. 13-31, hier: S. 16 (in Anlehnung an G. M. Schtschegolkowa). 7 Vgl. Niklas Luhmann, "Stenographie und Euryalistik", in: R. Kray / K. L. Pfeiffer (Hrsg.), Para- doxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche, S. 58-82. 5 Wiewohl ohne System und Transzendenz, verliert sich Borges' "Biografía del infi- nito"8 nicht im historisch Diffusen und Ungeordneten. Seine Geschichte des Unendli- chen und des Paradoxes ist gleichwohl kompakt. Dafür legt der Essay La esfera de Pascal9 prägnantes Zeugnis ab. Borges ver- folgt in ihm in changierender Weise die Geschichte der Metapher eines Kreises, des- sen Mittelpunkt überall und dessen Umkreis nirgends ist, sowie die Geschichte der philosophischen Probleme, die diese Metapher bezeichnet. Die Geschichte der Me- tapher steht hierbei im Vordergrund. Die Metapher findet sich bei Pascal, sie wird je- doch bereits von Xenophanes und, in dessen Gefolge, von Platon, Parmenides und Empedokles verwandt. Sie findet sich im 12. Jahrhundert bei Alain de Lille und später bei Giordano Bruno sowie eben bei Pascal. Bezeichnet sind damit durchaus hetero- gene philosophische Positionen. Es ist diese orthogonale Beziehung von paradoxer Metapher und philosophi- schem Problem, die Borges' Stellung zum Paradox kennzeichnet. Im Vordergrund steht eine Metapher, ein Bild, das zwar in sich paradox ist, dessen paradoxer Gehalt, die widersprüchliche Geometrie des Kreises, jedoch nicht im eigentlichen Sinne Gegenstand ist. Denn der Kreis benennt in seiner Widersprüchlichkeit bildlich ande- res: die Unendlichkeit – sei es der Natur, sei es Gottes –, die nicht anders als para- dox zu formulieren ist. Gleichwohl verfolgt Borges nicht die Geschichte dieses Problems, sondern die Geschichte in der Oberflächlichkeit und Zufälligkeit ihrer metaphorischen und bildlich sprachlichen Artikulation. Solche Oberflächlichkeit aus Programm ist nicht zuletzt und einmal mehr Gegen- bild der Systematik kantischer Dialektik der Vernunft. Borges ersetzt nicht nur das System durch die Bibliothek, sondern auch den Begriff durch das Bild und damit das logische Paradox durch das ästhetisch–rhetorische, die Antinomie durch die para- doxe Metapher. Deren Identität ist Leitfaden und Organisationsprinzip seiner Geschichte der Paradoxie. Aufgrund dieser oberflächlichen Beziehung kann er, wenn auch essayistisch und fragmentarisch, eine kompakte Geschichte des Paradoxes schreiben. Eben weil Borges den langwierigen und belesenen Weg des bibliothekari- schen Zufallsfundes abschreitet, kann er philosophiegeschichtlich die Abkürzung nehmen. Philosophiegeschichtlich heterogenste Positionen – die Sphären antiker Kosmologie, deren nicht länger naturphilosophische, sondern ausschließlich theolo- gische Deutung in der Scholastik, die Wiederaufnahme dieses Motivs im Zusam- 8 J. L. Borges, Avatares de la tortuga, S. 254. 6 menhang der kopernikanischen Wende und schließlich das Paradox einer unendli- chen, da enttheologisierten Natur bei Pascal – diese weit auseinanderliegenden Positionen schießen bei Borges zu einer einzigen Figur zusammen. Ihre Identität ist nicht vermittelt durch das System, sondern durch die Insistenz einer Metapher, die hartnäckig sich in unterschiedlichen philosophischen Systemen festsetzt. Dennoch wird man – trotz der vordergründig bildlichen Beziehung – die untergründig philoso- phische Identität dieses Paradoxes nicht übersehen dürfen. Eine solche Durchlässigkeit von logischem Paradox und paradoxer Metapher hat, wiewohl beide Seiten auch andernorts nicht strikt zu unterscheiden sind, im Falle Borges' tieferliegende, spezifische Gründe. Diese sind nachzutragen. Wenn Borges aus dem Paradox den Idealismus begründet, wenn er – mit und anders als Kant – den Schein der Vernunft zwar anerkennt, aber nicht zurückweist, so wird die Vernunft für ihn selbst zur Fiktion. Wie sehr diese Tendenz bereits im Fokus einer Gegenreak- tion auf Kant liegt, wie sehr Borges auf diese zurückgreift, zeigt sein Anschluß an Novalis: "El mayor hechicero (escribe memorablemente Novalis) sería el que se hechizara hasta el punto de tomar sus propias fantasmagorías por apariciones autónomas. ¿No sería ése nuestro caso?". Yo conjeturo que así es. Nosotros (la indivisa divinidad que opera en no- sotros) hemos soñado el mundo. Lo hemos soñado resistente, misterioso, visible, ubicuo en el espacio y firme en el tiempo; pero hemos consentido en su arquitectura tenues y eternos intersticios de sinrazón para saber que es falso.10 Wir sind aufgewacht zu dem Bewußtsein, daß wir weiterträumen müssen, heißt es geistesverwandterweise bei Nietzsche. Aber auch Russell – den Borges im Kontext dieses Essays zitiert – spricht von den Zahlen als logischen Fiktionen. Eine Vernunft, die sich selbst zur Fiktion wird, ist von literarischer Fiktion, von den Ficciones, die die Erzählungen sind, nicht länger strikt zu trennen. Wie man mehrfach festgestellt hat, bilden Essayistik und Erzählung bei Borges ein unauflösbares Amal- gam. Diese Durchmischung der Gattungen ist nicht (nur) formaler Eigenwille gegen die tradierten Gattungsgrenzen11, sondern in der Sache gegründet. Otras inquisicio- nes als Hinterfragungen der Vernunft sind Gegenstück, Voraussetzung und Quelle der Ficciones. Beide Momente durchdringen sich wechselseitig: Vernunft ist zum einen bei Borges fiktional. Dieser Fiktionsstatus der Vernunft läßt sie einrücken in die Dimension eines artistischen Philosophierens, wie wir es vorgeprägt durch Nietzsche kennen. Eine solche Fiktionalisierung der Vernunft läßt jedoch zum anderen die Fic- ciones nicht unberührt. Sie sind nicht länger irgend etwas jenseits von Vernunft und 9 J. L. Borges, La esfera de Pascal, in: Obras completas, Bd. 2, S. 14-16. 10 J. L. Borges, Avatares de la tortuga, S. 258. 7 Philosophie, bloß erdachte Geschichten, die im Empirischen statthaben oder Empiri- sches fingieren. Sie sind Ficciones einer Welt, die den philosophischen Weltmodellen als andersartiges und gleichwertiges Modell gegenüberstehen. Solcherart affiziert der Fiktionsstatus der Vernunft die literarischen Fiktionen. Signum hierfür ist, daß Para- doxa zum bevorzugten Gegenstand der Ficciones werden. Die Ficciones machen die Wunde der Vernunft oder das Paradox zu ihrem ureigensten Gegenstand. Paradoxe Fiktionen, mikro- und makroskopisch Verbreitet ist das Wort vom phantastischen Realismus in der spanischen und zumal in der lateinamerikanischen Literatur. Man ordnet Borges dieser Tradition zu und sieht in ihm zugleich einen ihrer Mitbegründer12. Aufgrund des vorstehenden Befun- des könnte man mit gewissem Recht und das Risiko der Vereinseitigung in Kauf neh- mend auch von einem phantastischen Idealismus sprechen. Denn die Phantastik Borges' gründet weniger in einer Phantastik des Realen als vielmehr in einer Phanta- stik sei es der Vernunft, sei es der Sprache oder archetypischer Grundmuster. Die Erzählungen Borges' fingieren weniger etwas Phantastisches in der Welt als vielmehr ein Weltgebäude als paradoxes Denkgebäude13. Dafür stehen Makromodelle wie La 11 Der konservative Borges rät hier eher zur Vorsicht. 12 Vgl. hierzu in jüngerer Zeit: Joachim A. Hagen, Das Phantastische bei Jorge Luis Borges, Mar- burg: Tectum, 1996; Karl Erik Schöllhammer, "Mundos posibles e imposibles. Lo fantástico: crisis de interpretación", Texto crítico. Nueva época I,1, 1995, S. 25-34; Michael Rössner, "Textsortenlabyrin- the. Zu den Textstrategien bei Macedonio Fernández, Jorge Luis Borges und Julio Cortázar", Ibero- romania, 39, 1994, S. 79-92. 13 Karl Alfred Blüher ("Paradoxie und Neophantastik im Werk von Jorge Luis Borges", in: P. Geyer / R. Hagenbüchle (Hrsg.), Das Paradox, S. 531-549) deutet, wenn auch in anderer Begrifflichkeit, in dieselbe Richtung: Er spricht davon, daß Borges' Erzählungen gänzlich unmimetsich seien. Blüher versucht mit dieser Bestimmung die Grenze zwischen einer mimetischen Phantastik vor Borges und einer nichtmimetischen Phantastik bei Borges zu ziehen. Während eine mimetische Phantastik dem Leser eine Welt vorstelle, die dieser als Abbild der Wirklichkeit noch hinnehmen mag, und in diese vertraute Welt Phantastisches einmische, ist – Blüher zufolge – bei Borges Welt als solche phanta- stisch und damit nichtmimetisch. Blüher legt mit dieser Bestimmung das Maß des Realen als Diffe- renzkriterium zwischen Phantastischem und Nichtphantastischem an. – Diese begrifflich etwas einli- nige Deutung wirft indessen Probleme auf. Wenn man ihr folgen wollte, besäße die Rede vom phanta- stischen Realismus kein Recht. Es bliebe unerfindlich, wieso man eine gänzlich nichtmimetische oder aber auch eine gänzlich irreale Welt noch unter dem Titel des Realismus fassen sollte. Der Begriff phantastischer Realismus wäre, der Begrifflichkeit Blühers zufolge, eine contradictio in adiecto. – Un- schwer ist zu erkennen, daß das Problem von Blühers Bestimmung in einer Gleichsetzung von Mime- sis mit Abbild der Realität und Realismus zu suchen ist. Spätestens ein Phänomen wie der phantasti- sche Realismus nötigt uns dazu, Kategorien wie Realismus und Mimesis nicht vor dem Hintergrund einer Abbildbeziehung, sondern vor dem Hintergrund einer Darstellungs- und Erzählweise zu verste- hen. Bloß mit dem Verweis auf die Erzählweise läßt sich jedoch die Differenz von phantastischer und nicht oder nur teilweise phantastischer Erzählung, die Blüher zu Recht benennt, nicht bestimmen. Denn beide Erzählformen erzählen in einer realistischen Weise. Als Differenzkriterium kann an dieser Stelle ein Merkmal gelten, das Blüher mehr beiläufig anführt, als daß er es ins Zentrum seiner Be- griffsbildung stellte: Die phantastische Welt ist für den Leser unvertraut. Sie entspricht nicht den Konventionen seiner Weltauffassung. – Anders als Blüher will ich nicht entscheiden, ob die vertraute 8 biblioteca de Babel, La lotería en Babilonia oder Tlön, Uqbar, Orbis Tertius ein. Sämtlich entwerfen sie das Bild einer paradoxen Welt: La biblioteca de Babel das Modell einer allumfassenden Bibliothek, in der eben deshalb Wahrheit nicht zu finden ist, La lotería en Babilonia das Gewirr einer das gesamte Leben durchdringenden Lotterie, in der aufgrund unendlich verästelter Ziehungen und Entscheidungen viel- leicht gar nichts geschieht, und in der das große Los, das sich vom Leben abheben sollte, ununterscheidbar wird von den Zufällen des Lebens selbst; und nicht zuletzt die Utopie Tlön, Uqbar, Orbis Tertius, die als Erkenntnisutopie die Paradoxa vorführt, in denen ein anderes Denken sich verfängt – in der Bizarrerie dieses Denkens als Gegenwelt unser irdisches Denken zugleich konterkarierend. Sämtlich sind diese paradoxen Welten Menschenwerk, Werk einer paradoxen Vernunft, sei das Gesetz dieser Vernunft auch populistische Nachgiebigkeit gegen des Volkes Laune, wie dies insbesondere in der Lotería en Babilonia ausgezeichnet ist. Eine solche Irrationalität der Vernunft ist jedoch kein Einwand dagegen, daß es sich hierbei um Vernunft handelt. Denn Borges thematisiert nicht die Vernünftigkeit der Vernunft, sondern die Formen ihrer Depravation. Logisch bezeichnet diese De- pravation das Paradox, historisch und gesellschaftlich bezeichnet sie der Populismus – als Zerrbild eines in Geschichte und Gesellschaft zu sich kommenden Geistes. In Rede steht mit solcher Vernunft ein Weltmodell. Dieses Modell ist kein Modell von etwas, Mimesis der Welt, sondern Modell seines Urhebers. Es ist Modell der Vernunft, die in dieser Modellbildung Welt allererst erschafft. Diese Abschottung gegenüber Welt, diese Immanenz eines Modells, das nichts anderes als sich selbst bezeichnet, läßt sich in den angeführten Erzählungen präzise benennen: als Figur der Substitution. Die Utopie Tlön, Uqbar, Orbis Tertius ersetzt als utopisches Modell die Utopie durch die Erkenntnisutopie und damit die (gedachte) reale andere Welt durch eine (gedachte) anders gedachte Welt, die Lotería en Babilonia ersetzt das Schicksal durch ein Amalgam aus Gesetzen, sich ändernden Spielregeln und Zie- hungen der Lotterie, die Biblioteca de Babel schließlich ersetzt die Welt durch ihre Beschreibung. Wie sonst kaum ist von dieser Welt, von der Bibliothek von Babel, ge- sagt, daß die Bibliothek die Welt ist. Das Grundparadox der Stoa klingt an. Wer voll- Welt des Lesers die reale ist. Denn wenn ich diese vertraute Weltauffassung des vermeintlich Realen ratifizieren würde, hätte ich vielleicht die Herausforderung des abendländischen Denkens versäumt, die der Sammelband, in dem Blühers Studie erschienen ist, im Titel trägt. Pointierter auf den Untersuchungsgegenstand von Blühers Studie, pointierter auf Borges zugesprochen: Es ist unange- messen, einen Autor, der naiv realistische Weltvorstellungen auszuhebeln versucht, unter einem Kon- zept von Mimesis, das eben einem solchen Realismus das Wort redet, zu fassen. 9 mundig die Identität von Sprache und Welt behauptet, der hat unverhofft die ganze Welt in seinem Mund. 'Wenn du etwas sagst, so kommt es aus deinem Mund. Wenn du also sagst: der Karren, so kommt der Karren aus deinem Mund.' Dennoch ist die borgessche Substitution mit der stoischen, obzwar verwandt, nicht identisch. Wäh- rend die Vollmundigkeit der Stoa dadurch bestraft wird, daß ihr mit dem Wort die Sache aus dem Mund schießt, wird die Vollmundigkeit der Bibliothek durch einen lee- ren Mund und durch eine unendliche Lektüre bestraft. Denn wenn die Bibliothek die Welt substituiert, so ist mir ihr die Sache, die das stoische Sprechen noch heim- suchte, bereits ausgeschlossen. Das leere Sprechen und die unendliche Lektüre ist die Strafe selbstbezüglicher Gelehrsamkeit. Es wäre und es ist zumindest ansatzweise zu zeigen, daß sich diese Makro- modelle einer gedachten Welt bei Borges in Mikromodellen fortsetzen. Mit Mikro- modellen ist an dieser Stelle ein Perspektivenwechsel bezeichnet, der die Gedan- kenwelt nicht unter dem Blickpunkt einer Beschreibung der Totale des Systems dar- stellt, sondern aus einer subjektiven Perspektive. Subjektive Perspektive will an die- ser Stelle nicht heißen: psychologische oder auch nur individuelle Perspektive. Der Akzent des Terms liegt auf Perspektive, nicht auf subjektiv. Unter dieser Perspektive kehren Problemstellungen der Makromodelle wieder, wenn auch in anderen Dimen- sionen: in einer engeren Welt, mit engerem Blickwinkel und in einer anderen Ausprä- gung des Paradoxes. Beispiele für diese Miniaturwelten können die Erzählungen El Aleph und La escritura del Dios14 abgeben. Zumal in letzterer wird uns von einer ausschnitthaften Welt berichtet: Ein Baumeister wird aufgrund kriegerischer, politischer Wirren in ein Verließ geworfen. In Nachbarschaft zu seinem Verließ befindet sich ein Tiger, ge- nauer: ein Leopard. Der Gefangene sucht die Zeichnung des Fells des Tigers zu deuten. Er nimmt die Zeichnung des Tigers als Schrift und diese als göttliche Bot- schaft. Als es ihm gelingt, diese Schrift zu entziffern – die Erkenntnis der göttlichen Schrift verliehe ihm Allmacht –, verzichtet er auf ihren Gebrauch. Wenn auch mit beträchtlich breiter angelegtem, in der Alltagswelt angesiedeltem und deshalb weniger phantastischem Erzählrahmen handelt El Aleph von einer ver- wandten Geschichte: Dem Erzähler berichtet ein Dichterkollege, daß man ihm seine Wohnstatt kündigt. In dieser befindet sich die Quelle seiner poetischen Inspiration: das Aleph. Mit diesem Motiv klingt einerseits kabbalistisches Gedankengut an – das 10 Aleph ist der erste Buchstabe des Alphabets –, es stellt aber auch ein Phänomen der Theorie und der verdichteten Wahrnehmung von Welt dar: Im Aleph erscheint in einem einzigen Punkt die gesamte Welt. Erfahrbar wird diese Schau in einem einge- engten Verschlag unter der Kellertreppe. Wie in La escritura del Dios ist diese Erfah- rung jedoch unaussprechlich. So wenig der Dichterkollege des Erzählers im Aleph die Erfahrung gestalten kann, so wenig gelingt dies dem Erzähler selbst. Diese beiden Geschichten verhalten sich damit mehrfach komplementär zu den vorstehend beschriebenen Makrowelten, insbesondere zur unendlichen Bibliothek. Während dort ein Weltmodell in der Totale geschildert wird, tritt es hier in einem wie eingezirkelten, partialen Raum in Erscheinung. Während dort Welt durch das Sub- stitut eines Weltmodells verstellt ist, erscheint sie hier unmittelbar. Während dort Un- endliches – freilich ohne Gehalt und Substrat der Erfahrung – gesagt ist, ist hier die Erfahrung von Welt und Schrift unaussprechlich. Komplementär verhält sich nicht zuletzt die Figur des Paradoxes. Makrowelt und Mikrowelt stellen das Problem des Paradoxes in reziproker Verkehrung dar. Während die Makrowelt das Paradox aus dem Unendlichen entwickelt, antwortet die Mikrowelt mit dessen Reziprokwert: mit dem Wert 1/∞. Unendliche Welt, Totalität versus unendlich kleine Miniatur. Formallogisch stellt sich damit eine neue Klasse von Paradoxa: zuvörderst das mengentheoretische Problem, wie der Teil das Ganze, wie eine Untermenge die Gesamtmenge enthalten kann. In den Blick gelangen damit freilich auf anderer Ebene der Betrachtung auch Grundparadoxa ästhetischer Darstellung. Wenn diese darauf zielt, Abstraktes sinn- lich, im Partialen Allgemeines darzustellen, so supponiert sie stets schon, wie unaus- drücklich auch immer, daß im Teil das Ganze enthalten sei. Selbst wenn eine solche Erfahrung möglich wäre – auch dies zeigt sich im Aleph –, wäre sie nicht sagbar. Davon legt der poetische Versuch des Ich-Erzählers ironisches Zeugnis ab. Im Ver- such, die Erfahrung des Aleph zu beschreiben, erschöpft er sich in einer enumeratio, in einer schieren Liste, und konterkariert damit – in der extensiven Linearität dieser Liste – die punktuelle Intensität und Totalität des Aleph. Die Erfahrung des Aleph ist nur mit dem Buchstaben Aleph sagbar. Dieser ist jedoch so opak wie das, was er be- zeichnet. Makrowelt und Mikrowelt verhalten sich in den Erzählungen Borges' komple- mentär zueinander und bilden so auf einer zweiten Ebene erneut eine paradoxe 14 Beide in: J. L. Borges, Obras completas, Bd. 1, S. 617-628 (El Aleph), S. 596-599 (La escritura 11 Figur. Der unendlichen Bibliothek steht gegenbildlich das Aleph, einer extensiven Versprachlichung bis hin zum leeren Geschwätz steht gegenbildlich die Intensität einer ästhetischen Erfahrung gegenüber. Man mag auf den ersten Blick geneigt sein, gegenüber der unendlichen Bibliothek dem Aleph den Vorzug zu geben. Denn un- übersehbar klingen in der Erfahrung des Aleph Momente an, die die Tradition unse- rer Kultur bestimmen – von der Kabbala bis hin zu Konzepten, denen zufolge ästhe- tische Erfahrung eine Erfahrung mit hohem und dichtem Symbolgehalt ist. Demge- genüber erscheint die Unzahl der Bücher der unendlichen Bibliothek als leeres Ge- schwätz. Man mag geneigt sein, sie als Kulturverfall zu deuten. Dennoch sind beide Modelle gleichwertig, weil sie beide zu einem gegenbildlichen Scheitern verurteilt sind. Dem leeren Geschwätz der Unzahl der Bücher steht das hochbedeutsame Schweigen, der ungesagte Bedeutungsüberschuß des Aleph gegenüber. Weder das kombinatorische Buchstabensammelsurium der unendlichen Bibliothek noch die be- deutungsschwere Kontraktion jeglicher Bedeutung im Aleph kann jedoch den An- spruch erheben, etwas zu sagen und damit Sprache zu sein. Das leere Geschwätz ist so nichtssagend wie das bedeutungsschwere Schweigen. Gerade aufgrund dieser Amphibolie des Scheiterns beider Lösungsansätze erweisen sie sich als genuin paradoxe Gegenpole. Denn es eignet der amphibolischen Struktur des Paradoxes, daß man weder bei der einen doxa noch bei der anderen, gegenteiligen, Ruhe finden kann. Jede verweist aufgrund ihres Ungenügens auf ihr Gegenteil. Anders als bei Hegel stellt sich in dieser paradoxen, dezidiert undialektischen Denkbewegung nicht die Einsicht in Wahrheit ein, sondern die, daß Wahrheit nicht ist. Nun kann eine solche überschlägige Betrachtung und ansatzweise Systematisie- rung der Essayistik und der Erzählungen Borges' dem Beziehungsreichtum seiner Paradoxien nicht gerecht werden Eine eingehendere Betrachtung der beiden Erzäh- lungen El jardín de senderos que se bifurcan und La biblioteca de Babel soll deshalb weitere Aspekte zumindest in Umrissen benennen. Sie soll zugleich exemplarisch zeigen, wie mehrschichtig Paradoxa in Borges' Erzählungen eingewoben sind. El jardín de senderos que se bifurcan – Paradoxien der Zeit und der Geschichte Ein Garten von sich verzweigenden Pfaden ist ein Labyrinth – wenn auch nicht un- bedingt in der Antike oder, was zu überprüfen wäre, in China, so doch in der Moderne, die Labyrinthe vorwiegend im Zusammenhang mit der Gartenarchitektur del Dios). 12 darstellt. Labyrinthe besitzen eine gewisse Affinität zu Paradoxien: Wie diese stellen sie das Denken vor eine schier unlösbare Aufgabe. Sofern man sich keines Leit- fadens, des Leitfadens Ariadnes oder der nicht minder bekannten Rechtsregel be- dient, erscheint das sich selbstähnliche Gewirr der Wege und Abzweigungen dem im Labyrinth Verirrten als unendlich. So wie häufig in Paradoxien, so verfängt sich auch hier das Denken in der Vorstellung oder im Regreß des Unendlichen, in einem Durchschreiten ohne Halt und Ziel, sei diese Unendlichkeit auch nur imaginär, weil sie dem Trug einer durch Architekten inszenierten Selbstähnlichkeit entspringt. Nun ist – wie Oystein Ore gezeigt hat15 – selbst dieser bloß subjektive Schein von Unend- lichkeit aus dem Problem des Labyrinths zu entfernen. Ore konstruiert einen Algo- rithmus, der es erlaubt, in einem hypothetisch unendlichen Labyrinth ein endlich nahes Ziel zu finden. Dieser Algorithmus verhält sich so, als ob es unendliche Laby- rinthe gäbe. Er abstrahiert damit nicht nur von den subjektiven Bedingungen des La- byrinths, sondern auch von seinen objektiven Defiziten, will heißen von den Bedin- gungen der räumlichen Implementierung der Idee des Labyrinths. Je kleiner ein La- byrinth ist, desto lösbarer ist es – aus Gründen der nur beschränkten Anzahl von Wegen und Verzweigungen, die auf engem Raum untergebracht werden können und damit in letzter Konsequenz aus Gründen der Kombinatorik16. Die Paradoxie, die Borges in den Erzählrahmen der Geschichte El jardín de sen- deros que se bifurcan einbaut, ist davon geprägt, daß sie die beiden Modelle von La- byrinth und Paradoxie zur Konvergenz bringt. Kein Zufall, daß auch Borges hierbei auf das Unendliche rekurriert und dieses, wenn auch mit anderen Mitteln, zu objekti- vieren versucht. In der für Borges typischen Weise ist die Konstruktion nachgerade überdeutlich und zugleich reflexiv, dem Problem eine zweite Wendung gebend, benannt. Berichtet wird von einem Vorfahren des Helden, der einen unverständlichen, paradoxen Roman schrieb und zugleich ein unendliches Labyrinth schaffen wollte. Unverständ- lich ist dieser Autor, als mißlungen gilt sein Werk, denn einerseits konnte er, wie man vermutet, das unendliche Labyrinth nicht realisieren, andererseits erscheint der Roman, den er hinterließ, als paradox und wirr, weil in ihm sowohl das eine wie das 15 Ich beziehe mich hier auf die Ausführungen zu Oystein Ore in: William Poundstone, Im Labyrinth des Denkens. Wenn Logik nicht weiterkommt. Paradoxien, Zwickmühlen, Sackgassen, Rätsel und die Hinfälligkeit des Wissens. Deutsch von Peter Weber-Schäfer, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1992, S. 262-270. 16 Wie wohlkalkuliert und wie wohldosiert Borges mit paradoxen Spracheffekten umgeht, zeigt Heinz Schlaffer unter anderem dort, wo solche Erwägungen ihren angemessenen Platz haben: in sei- ner Einlassung zu den Adjektiven; vgl. H. Schlaffer, Borges, Frankfurt a.M.: Fischer, 1993, S. 44-51. 13 andere geschieht. Eine Figur stirbt zu Beginn des Romans und lebt in den folgenden Kapiteln weiter. Ein späterer Interpret löst das Rätsel dieses Lebenswerkes. Beide Werke sind eines, der Roman ist zugleich das unendliche Labyrinth. Das unendliche Labyrinth, das unter räumlichen Bedingungen sich nicht realisieren ließ, wird reali- sierbar unter den Bedingungen der Zeit. Diese Ineinssetzung oder aber auch diese Transposition ist genau zu bedenken: Obwohl Labyrinthe das Denken irreleiten und verwirren, sind sie nicht paradox. Ein verwirrendes Netz von Wegen ist als Erfahrungswirklichkeit denkbar, es stellt das Denken vor vielleicht unlösbare Probleme, aber diese Probleme betreffen nicht die Verfaßtheit von Wirklichkeit überhaupt. Paradox wird das Rätselproblem des Laby- rinths erst in seiner Verzeitlichung – dadurch, daß die Weggabelung in eine Zeitga- belung, in die Gabelung konkurrierender Erzählstränge überführt wird, dadurch, daß aus den Handlungsalternativen, die das Labyrinth bietet, aus dem 'jemand könnte dieses oder jenes tun' ein 'er tut beides' wird, also dadurch, daß beide Wege zugleich als Wege einer möglichen Geschichte verfolgt werden. Bemerkenswert scheint mir diese Transposition, weil sie zeigt, in wie genauer und konstruktiver Weise Borges die für ihn bestimmenden Denkmotive aufeinander bezieht. Die Geschichte des Gartens ist deshalb zuvörderst in ihren intellektuellen Konsequenzen auszuspinnen und auf diesem Niveau mit anderen Geschichten zu verbinden. Wenn in einer Geschichte keine Handlungsalternative ausgeschlossen, sondern umgekehrt eine jede realisiert wird, entsteht als Terminus ad quem eine un- endliche Geschichte – ein stets sich weiter ausbreitender und sich in seinen Ver- ästelungen multiplizierender (Struktur-)Baum von Handlungen. Eine solche Ge- schichte aller möglichen Handlungsalternativen wäre zugleich die Geschichte über- haupt oder die Möglichkeitsbedingung für jegliche Geschichte. Sie wäre damit zu- gleich keine Geschichte. Denn wenn auswahl- und entscheidungslos alles geschieht, geschieht im eigentlichen Sinne nichts: keine Entscheidung, keine Veränderung. Die Ermordeten leben in dieser Geschichte weiter, als wären sie nie ermordet worden. Zustande kommen diese Paradoxa, weil Modelle des Raums und der Zeit, weil die Gabelung hier und dort in unzulässiger Weise ineins gesetzt werden. Der Es- sayist Borges hat sich in seiner Kritik an Dunne17 aufs schärfste gegen solche kate- gorialen Vermischungen verwahrt. Scharfsichtig benennt er den Punkt, an dem die 17 Vgl. J. L. Borges, El tiempo y J. W. Dunne, in: Obras completas, Bd. 2, S. 24-27. 14 kategoriale Vermischung zustandekommt. Dunne spricht anläßlich seines Modells paralleler Zeitwelten von Dimensionen der Zeit. Der Essayist antwortet: Ninguno de los cuatro libros de Dunne deja de proponer infinitas dimensiones de tiempo* [...]. *La frase es reveladora. En el capítulo XXI del libro An Experiment with Time, habla de un tiempo que es perpendicular a otro.18 Trotz dieser Zurückweisung ist es dem Essayisten wert, diese heillose Vermischung von Raum und Zeit zu behandeln und zu kritisieren. Trotz der Phantastik, wenn nicht gar Abstrusität dieses Modells ist es für Borges Denkbild eines anderen Denkens. Im Abseitigen des Essays scheint, auch wenn der scharfsichtige Kritiker Einspruch er- heben muß, die Freude am Denkmöglichen durch, und sei dieses auch undenkbar. Was der Essayist Borges an phantastischen Aberrationen der Vernunft findet, wächst dem Erzähler als Stoff für phantastische Erzählungen zu. Das Zeitlabyrinth des Jar- dín de senderos que se bifurcan ist von derselben Mehrschichtigkeit oder Mehr- dimensionalität der Zeit geprägt, die auch Dunnes Denken bestimmt. Erwähnung verdient an dieser Stelle ein weiterer Essay aus dem Umfeld des Zeitproblems. Anhand von Wells frühen Romanen betont Borges das Novum der Er- findung der Zeitmaschine19: Während man über Jahrtausende hinweg Zukunft vor- hersagte, indem man unterstellte, der Seher könne sich vorstellungsmäßig in die zu- künftige Welt versetzen, besteht das Novum der Zeitmaschine darin, daß in ihr der zukunftssichtige Prophet physisch, mit Leib und Seele, in die Zukunft versetzt wird – und aus dieser Zukunft, wie Borges betont, mit "una flor futura"20 zurückkehrt. Dieses Detail wäre wichtig, wenn man eine Typologie der Paradoxa aufstellen wollte. Wäh- rend die Kenntnis der Zukunft zum Allwissenheitsparadox führt, führt die Zeitreise zu Paradoxa der Verwechslung von Ursache und Wirkung. Denn die Blume der Zukunft könnte ihren eigenen Vorfahren bestäuben. Vermutlich besteht Borges' Anspruch auf Klassizität21 darin, solche neuen Modelle zu finden. Das Zeitlabyrinth ist insofern eine genuine Nachbildung der Zeit- maschine. Durch eine geringfügige, aber entscheidende Verschiebung der Relatio- nen, durch eine neue Art von Transposition – durch die Transposition des räumlichen Labyrinths in die Zeit – entsteht ein neues Modell. Nun ist die Geschichte des Jardín de senderos que se bifurcan, die gleichwohl – der Titel deutet darauf hin – das Zentrum der Erzählung ausmacht, nur wie eine Epi- 18 Ebd., S. 26. 19 Vgl. J. L. Borges, El primer Wells, in: Obras completas, Bd. 2, S. 75-77. 20 Ebd., S. 75. 15 sode in einen sich mehrschichtig aufstufenden Erzählrahmen eingefaßt. Auch dieser Erzählrahmen ist von Paradoxa durchsetzt. Die Geschichte beginnt folgendermaßen: Einem Zeitungsbericht zufolge ver- schieben im 1. Weltkrieg die Briten im Kampf gegen Frankreich den Angriff auf eine Stadt wegen schlechten Wetters. Der Erzähler nennt hintergründigere Veranlassun- gen. Er berichtet uns folgende Agentengeschichte: Ein bereits enttarnter chinesi- scher Agent in deutschen Diensten habe in der wenigen Zeit, die ihm verblieb, und um in seiner ausweglosen Situation dennoch seine Botschaft zu kommunizieren, einen Sinologen aufgesucht und erschossen. Der Name des Sinologen ist äquivok mit dem Namen der zu bombardierenden Stadt. Deren Namen wollte der chinesische Agent mit dem Mord mitteilen. Der deutsche Geheimdienst entschlüsselt die Nach- richt von diesem Mord, der durch die Zeitungen ging. In diesen Erzählrahmen, auf erzähllogisch mittlerem Niveau, ist die Geschichte des Gartens der Pfade, die sich verzweigen, eingebettet. Diese Geschichte wurde von einem Vorfahren des chinesischen Agenten verfaßt. Ihre genuine erstmalige Interpretation stammt von eben dem Sinologen, den der chinesische Agent erschießt. Dieser vielschichtige Erzählrahmen steht in ebenso vielschichtiger Beziehung zum Paradox. Der Erzählrahmen irrealisiert zum einen die paradoxe Geschichte des Gartens. So als sei das Paradox dieser Geschichte nur erzählbar, indem man es über unterschiedliche Stufen der Erzählebene hinweg immer wieder einem anderen Sprecher zuweist, um so in zunehmendem Maße die Verantwortung für dieses Pa- radox aufzuschieben. Die Treppe der Irrealiserung, die wir zum Paradoxen und Phantastischen hinauf- steigen, müssen wir jedoch Zug um Zug und gleichsam im selben Schritt hinabstei- gen. In dem Maße, wie die Schachtelung der Erzählfiktion die Geschichte irrealisert, in dem Maße relativiert sie zugleich das vermeintlich Reale. So wird einleitend in einer Amphibolie von dokumentarischem Verweis auf den Zeitungsbericht und Agentengeschichte der offiziös belegte Ereignisgang hintergründig relativiert. In sub- tiler und verflochtener Weise unterläuft aber auch die Geschichte des Gartens die Agentengeschichte. Deren Figuren verhalten sich in einer eigentümlichen Doppelbindung zueinander: Der Agent ermordet in einem Raum, der ihn heimatlich aufnimmt, den Sinologen, der das apokryphe Werk seines Ahnen zu neuem Leben erweckte, er begeht diesen Mord im Interesse Deutschlands, einer Macht, die seine 21 Vgl. umfassender zur Klassizität Borges': H. Schlaffer, Borges, S. 34-43. 16 Rasse verachtet. Anspielungsreich formuliert der Sinologe diese widersprüchliche Verkehrung von Freund und Feind in den Termini der Geschichte des Gartens. – En todos – articulé no sin un temblor – yo agradezco y venero su recreación del jardín de Ts'ui Pên. – No en todos – murmuró con una sonrisa –. El tiempo se bifurca perpetuamente hacia innumerables futuros. En uno de ellos soy su enemigo.22 Es entsteht der Eindruck, als würde sich die Begegnung zwischen dem Sinologen und dem Chinesen in einer anderen Faltung der Zeit und der Ereignisse mit anderem Ausgang wiederholen. Die Agentengeschichte wäre dann, wenn nicht sogar selbst Teil der Geschichte des Gartens, so doch über die Gesetzlichkeit dieser Geschichte zu deuten. Sie wäre nur die eine Hälfte einer Geschichte, in der zugleich das Gegenteil geschieht. Auf die unterschiedlichen Ebenen der Erzählung verteilt, kommen damit unter- schiedliche Ausprägungen des Paradoxes zum Austrag. Es macht die Dignität eines Autors wie Borges aus, daß er auf engem Raum die Klaviatur des Paradoxes auf allen Ebenen durchspielt. Vom logischen Paradox der Vermischung von Raum und Zeit über das Erzählparadox, die Verschränkung unterschiedlicher Wirklichkeitsebe- nen bis hin zum zwischenmenschlichen Paradox23. Das vordergründige und sicherlich auch das für die Erzählung bestimmende Pa- radox besteht darin, daß man zugleich Freund und Feind sein kann, daß zugleich etwas geschieht und nichts geschieht. Dennoch wirft die Geschichte weitere Pa- radoxa auf. Eine Geschichte, in der zugleich das Gegenteil geschieht, ist zugleich die Geschichte aller Geschichten. Wie wir gesehen haben, arbeitet das Zeitlabyrinth wie in einer Baumstruktur alle möglichen Handlungsalternativen ab. Unschwer läßt sich dieses Modell mit dem der Biblioteca de Babel verbinden. Während dieses das Modell einer vollständigen Beschreibung der Welt aufgrund der Kombinatorik des Al- phabets entwirft, entwirft El jardín de senderos que se bifurcan das Modell einer Ge- schichte überhaupt aufgrund einer unendlichen Kombinatorik von Handlungsalterna- tiven. In dieser Hinsicht kann El jardín de senderos que se bifurcan wenn nicht als Buch der Bücher, so doch als Erzählung der Erzählung gelten. Auch diese Strukturen können – neben den Paradoxien des Unendlichen – als Quelle des Paradoxes bei 22 J. L. Borges, El jardín de senderos que se bifurcan, S. 479. 23 Mit ihren ausführlichen Verweisen auf Kafka und Valéry betont die Studie von Karl Alfred Blüher (vgl. Anm. 12) meines Erachtens etwas einseitig die Literarizität des Paradoxes bei Borges. Dieser Lesart wäre die Vielschichtigkeit der Paradoxien Borges', die logische, philosophische, psychologische und eben auch spezifisch literarische Momente umfassen, gegenüberzustellen. Daß alles zusammen- genommen Literatur ist und von Borges unter der Klammer des Literarischen gesagt wird, ist auf einer zweiten Ebene der Betrachtung gleichwohl einzuräumen. 17 Borges gelten. Ironisch verkehrt sich der Metatext, der Versuch, einen transzenden- ten Text zu schreiben, in eine paradoxe Geschichte. Die unendliche Bibliothek: Paradoxien des Raumes und der Sprache Es gibt vielleicht drei Grundformen von Literatur: den kanonischen Text – dafür steht die Bibel; die alexandrinische Bibliothek – sie ersetzt den einen kanonischen Text durch die breite Vielfalt des Geschriebenen und Tradierten. Und schließlich als dritte Möglichkeit, die die beiden ersten Modelle zugleich verbindet und konterkariert, die Textmaschine, das heißt ein Kalkül oder ein Programm, das die Anweisung enthält, alle Bücher zu erzeugen. Dieses Modell ist zugleich kanonisch und alexandrinisch. Kanonisch, weil es als ein Buch alle Bücher enthält, alexandrinisch, weil es wie die alexandrinische Bibliothek eine unendliche Textsammlung bereitstellt. Man könnte einwenden, das Buch als Programm sei, eben weil es als einziges Buch alle Bücher enthält, ein Buch wie die Bibel. Dieser Einwand verfängt jedoch nicht. Denn das Buch als Programm ist in seinem Geltungsanspruch anders als die Bibel verfaßt. Während diese kanonisch gilt und kondensiert allen Sinn enthält, stellt jenes aufgrund formaler Algorithmen eine unendliche Menge von Texten bereit. Das Buch als Programm schöpft die Möglichkeit alles Sagbaren aus, ohne dessen An- spruch auf Geltung zu überprüfen oder einen solchen Geltungsanspruch zu erheben. Man könnte ferner einwenden, das Buch als Programm sei aufgrund seines be- schränkten Anspruchs auf Gültigkeit dem Alexandrinismus zuzuschlagen. Indessen: Alexandrinismus ist Polytheismus im Bibliothekswesen. Der Alexandrinismus glaubt zwar nicht an den einen kanonischen Text, der sich von dem einen Gott herschriebe. Trotz seiner Skepsis gegenüber dem einen Gott oder dem einen kanonischen Text ist ihm jedoch jedes einzelne Buch heilig. So wie die Römer aus Furcht, einen Gott zurückzustellen, ein Pantheon errichteten, so bewahrt die alexandrinische Bibliothek jegliches Buch auf: Es könnte die Wahrheit enthalten. Der viel zitierte Alexandrinismus Borges' mag lebensgeschichtlich gelten, er kann Borges' Belesenheit benennen, seinen Begriff von Bibliothek jedoch nicht vollständig abdecken. Signum hierfür ist, daß Borges nicht von der Bibliothek von Alexandrien, sondern von der von Babel spricht. Unübersehbar sind die Bibliotheken Borges' zu Teilen Textgeneratoren, das heißt Texte, die, wie von Maschinen erzeugt, aufgrund stupider Algorithmen versuchen, alles Sagbare zu sagen, um so – unter Inkaufnahme einer Produktion von unendlich viel Unsinn – unter anderem die Wahrheit zu treffen. 18 Von dieser Textmaschine berichtet La biblioteca de Babel. Stupide ist ihr Algorith- mus. Er ist definiert und errechnet sich durch das Buch: "[...] cada libro es de cuatro- cientas diez páginas; cada página, de cuarenta renglones; cada renglón, de unas ochenta letras de color negro."24 Das ergibt eine Zeichenkette von 410 x 40 x 80, also ... In diese Zeichenkette schreibt sich – kombinatorisch – ein Kode von 25 Buchstaben ein. Entsprechend der Axiomatik der Bibliothek, daß jedes Buch einzigartig ist, ergibt sich aufgrund dieser Kombinatorik die Anzahl der Bücher dieser Bibliothek (410x40x80)25. Diese Zahl ist zwar nicht klein, aber alles andere als – wie der Erzähler zu Teilen insinuiert – unendlich. Dem Leser gereicht eine solche stupide Textfülle zur Verzweiflung. In einem schlechten Sinne wird in der Biblioteca de Babel die Produktion von Sinn dem Leser angelastet. Sie gerät ihm zur unendlichen Suche. Besser wäre es in diesem Falle, nicht zu lesen. Naheliegend, wenn auch vergeblich, ist angesichts dieses Wusts der Bücher der Versuch, das eine wahre oder wenigstens die wenigen gehaltvollen Bücher zu finden. Ein solcher Versuch verliert sich in labyrinthischen Strukturen, in Strukturen unendlicher Regression. Vergeblich ist ferner der gegenteilige Versuch, die Unmasse der sinnlosen Bücher zu vernichten. Die unendliche Bibliothek erweist sich in diesem Detail als unalexandrinisch: Sie ist gegen ihre Vernichtung gefeit. Zum einen, wie der Erzähler vermerkt, weil sie aufgrund ihrer schier unendlichen Masse nur um eine vernachlässigbare Größe zu mindern ist, zum andern, was der Erzähler nicht vermerkt, weil selbst eine totale Zerstörung nur den Output eines Programms, aber nicht dieses selbst treffen kann. Solange der kombinatorische Algorithmus der unendlichen Bibliothek persistiert, ist jedes Buch, ja selbst die gesamte Bibliothek wiederherstellbar. Offen bleiben muß, ob das, was hier geschrieben steht, bereits für sich Sprache ist. Zwar werden, der Theorie der Bibliothek zufolge, Zeichen (Buchstaben) nach Ge- setzen (nach den Gesetzen reiner Kombinatorik) miteinander verbunden, aber der Erzähler bezieht den Buchstabensalat, der hieraus entsteht, seinerseits auf eine ge- sprochene oder natürliche Sprache. Er berichtet davon und stellt in Erwägung, ob das Unverständliche der Bibliothek nicht darauf zurückzuführen sei, daß sie in einer oder in vielen unbekannten Sprachen geschrieben sei. Ob dieser Deutungsversuch angemessen ist, muß dahingestellt bleiben. Denkbar ist auch, daß das, was hier ge- schrieben steht, als Sprache eines Kalküls oder als analytische Sprache zu deuten 24 J. L. Borges, La biblioteca de Babel, S. 466. 19 ist. Immerhin legt ein Interpretationsversuch, der in die Richtung Analysis und Kom- binatorik deutet, eine solche Lesart nahe. Man fand in der Bibliothek Bücher, die nur vor dem Hintergrund algebraischer Algorithmen deutbar sind. Das Modell dieser Bibliothek ist nicht zu unterschätzen. Weder ist es bloß auf Ästhetisches einzuschränken, noch ist der Arbeitsbegriff Textmaschine, mit dem ich es versuchsweise beschreibe, allzu kurzschlüssig mit neuen Medien – etwa dem Computer – zu assoziieren. Textmaschine im vorliegenden Kontext ist eine Meta- pher. Sie bezeichnet eine Kondition unseres Denkens, die zugleich unser Verhältnis zur Wissenserzeugung und -speicherung, und das heißt damit auch zur Bibliothek bestimmt. Was wir seit Leibniz oder in Ansätzen auch früher schon akzeptierten, was uns – mit einem alten Wort – kanonisch ist, sind Regeln, Algorithmen, Strukturen. Dieses Modell einer kalkulierbaren Welt und Sprache schreibt sich in unterschiedli- cher Weise fort. Bereits bei Leibniz ist die Zwieschlächtigkeit dieses Kalküls offenkundig. Es be- trifft zum einen den Bereich von Logik und Sprache – in den Überlegungen zu einer formalen Sprache –, es betrifft zum andern aber auch den Bereich der Ontologie – in Leibniz' Theorem von der besten aller möglichen Welten. Das Kalkül der Welt und der Sprache sind aufeinander verwiesen. In modernen Termini könnte man diese Abhängigkeit folgendermaßen ausdrücken: Eine Textmaschine, ein Wordprozessor, kann Sinnvolles nur erzeugen, wenn das, was er prozessiert, seinerseits sinn- und gehaltvoll ist. Das heißt, mit anderen Worten, wenn das, was er prozessiert, eine Universalsprache wäre, die zugleich die Sprache des Universums selbst wäre. Ohne eine solche Sprache erzeugt die unendliche Bibliothek ein Unendliches, das glei- chermaßen oder – genauer – zu wesentlichen Teilen Unsinn enthält. Borges diskutiert die Probleme einer allumfassenden Bibliothek und Sprache spielerisch und ironisch unter den Bedingungen der parabelhaften, da literarischen Erzählung. Prägnanter stellt er sie in seinem Essay El idioma analítico de John Wil- kins25 dar, der Leibniz' Modell einer analytischen Sprache umzusetzen versucht: [Wilkins] Dividió el universo en cuarenta categorías o géneros, subdivisibles luego en di- ferencias, subdivisibles a su vez en especies. Asignó a cada género un monosílabo de dos letras; a cada diferencia, una consonante; a cada especie, una vocal.26 Basierend auf dieser Kunstsprache ergeben sich Buchstabenfolgen, die denen der Biblioteca de Babel nicht unähnlich sind. 25 In: Obras completas, Bd. 2, S. 84-87. 26 Ebd., S. 85. 20 Por ejemplo: de, quiere decir elemento; deb, el primero de los elementos, el fuego; deba, una porción del elemento del fuego, une llama.27 Unübersehbar ist die Fragwürdigkeit des wilkinsschen Sprachmodells. Es kann Gül- tigkeit nur besitzen, wenn die ihm zugrundeliegenden Kategorien oder Begriffe an- gemessen sind. Mit anderen Worten, wenn Sprache und Begriff und Sache sich auf- grund einer prästabilisierten Harmonie entsprechen. Offen muß bleiben, ob die ge- wählte Basis von vierzig Genera, zwanzig Konsonanten oder Differenzen und fünf Vokalen oder Spezies ausreicht, um alles bezeichnen zu können. Fragwürdig ist fer- ner die Konventionalität dieses Kalküls. Andeutungsweise klingen diese Probleme an, wenn Borges dem leibnizschen Kalkül einer binären Logik, die mit dem minima- len Zeichenvorrat von zwei Zeichen auskommt, ein alternatives entgegenstellt, in dem jede Zahl mit einem eigenen Zeichen bezeichnet ist. Bereits die Bezeichnung der Zahlen würde in diesem System einen unendlichen Zeichenvorrat erfordern. Obwohl El idioma analítico de John Wilkins wie eine essayistische Erläuterung zu La biblioteca de Babel zu lesen ist, stellt sie doch zugleich in einer Verkehrung von Perspektive und Proportion den komplementären Text zur Biblioteca de Babel dar. Während dort die Ausprägung eines kombinatorischen Kalküls als unendlich er- scheint, erweist dieses sich hier als zu eng. Unendlich erscheint die Kombinatorik dem Leser, demjenigen, der die Ausprägung des Modells abzuarbeiten hat. Aus der Perspektive dessen aber, der schreibt, beziehungsweise ein Beschreibungssystem zu modellieren und zu beurteilen versucht, erscheint selbst ein Algorithmus, der an- nähernd Unendliches umfassen kann, als zu eng. Wie bereits im Kontrast von Aleph und Biblioteca de Babel korrigieren die Perspektiven sich wechselweise. Statt einer eingehenderen Zusammenfassung sei abschließend auf die nachge- rade poetischen und nicht weniger phantastischen Modelle verwiesen, die zu Teilen bis heute die Diskussionen von Logikern und Wissenschaftstheoretikern durch- ziehen. William Poundstone imaginiert in Anlehnung an die Computerwissenschaftler Larry J. Stockmeyer und Albert R. Meyer folgenden Phantasiecomputer28: Ein Com- puter, der die Untergrenze denkbarer Miniaturisierung ausschöpfen würde, könnte aus Logikbausteinen bestehen, die die Größe eines Protons haben. Er könnte damit pro Kubikmeter 1045 Bausteine besitzen. Nimmt man die Größe des Universums mit 100 Milliarden Lichtjahren oder 1081 Kubikmetern an, so ergäbe sich als Obergrenze für einen größtmöglichen Computer, bestehend aus protonischen Bausteinen – das 27 Ebd., S. 85. 28 Vgl. W. Poundstone, Im Labyrinth des Denkens, S. 281-289. 21 Universum wäre in diesem Fall ein einziges Rechenwerk – eine Größe von 10126 Bausteinen. Als Zeitgrenze oder als denkbare Obergrenze der Schaltvorgänge je Baustein bestimmt Poundstoune 1042. Somit könnte ein solcher Computer 10168 Rechenoperationen ausführen. Diese würden reichen, um ein Aussagesystem von gerade einmal 558 komplex aufeinander bezogenen Aussagen paradoxiefrei zu hal- ten. Man mag einen solchen Computer in eine gewisse Nähe zur Bibliothek von Babel rücken – schon deshalb, weil hier wie dort die Beschreibung des Universums dieses ersetzt, und weil hier wie dort das Universum zur Abbildung eines kombinato- rischen Kalküls dient. Ein nicht weniger phantastisches Modell beschäftigt sich mit Thomsons Lampe29. Innerhalb einer Minute wird eine Lampe mit exponentiell abnehmender Frequenz (im Takt von 1/2, 1/4, 1/8, 1/16 usf.) ein- und ausgeschaltet. Jeder Schaltvorgang stellt eine Zahl dar. Es stellt sich die vermutlich unbeantwortbare Frage, ob nach Ablauf einer Minute – in der gleichwohl unendlich viele Schaltvorgänge stattfinden – die Lampe ein- oder ausgeschaltet ist. Das (Gedanken-)Experiment versucht, mit ande- ren Worten, die Frage zu beantworten, ob unendlich eine gerade oder eine ungerade Zahl ist. Auf den ersten Blick absurd mag der Versuch, die Frage experimentell, also da- durch zu lösen, daß man Thomsons Lampe baut, abstrus erscheinen. Denn im Grunde handelt es sich bei dem Problem um ein Problem, das mathematisch und nicht experimentell zu beantworten ist. Der Reiz dieses Versuchs besteht indessen darin, daß er eine Reihe weiterer bautechnischer Paradoxien aufwirft. So etwa fol- gende: Muß man bei dem Versuch, Thomsons Lampe zu bauen, nicht eine Maschine konstruieren, in der sich mit zunehmender Schaltfrequenz der Schaltweg verkürzt, um so zu vermeiden, daß der Schaltweg bei sich asymptotisch verkürzender Schalt- zeit mit asymptotisch unendlicher Geschwindigkeit durchgeführt werden muß? Wundermaschinen sind dies, die in einer Operationalisierung und Vergegen- ständlichung der Regressionen und Irrgänge unserer Vernunft phantastische Welten zu denken aufgeben. Im Grenzgang paradoxen Denkens begegnet die Wissenschaft den phantastischen Fiktionen. Sie entfalten sich zumal dort, wo Denken zu einer Sache des Kalküls und damit zu einer Text- und Logikmaschine wird. Neu sind diese Maschinen vielleicht aufgrund der neuzeitlichen Gleichsetzung von Kalkül und Den- ken. In dem Maße, wie Denken sich formalisiert, kann es von Automaten prozessiert 29 Vgl. ebd., S. 221-229. 22 werden. Das Denkproblem läßt sich so tendenziell, etwas logisch selbstvergessen und projektiv, in ein Maschinenproblem transformieren. Borges würde vermutlich darauf hinweisen, daß bereits die phantastische Ge- schichte von Achilles und der Schildkröte eine solche Maschine beschreibt: eine Maschine, in der das Paradox unablösbar von einer phantastischen Fiktion ist. Die Phantastik dieser Maschine beschriebe eine ähnliche Figur wie der oben erwähnte Kreis, dessen Mittelpunkt überall und nirgends ist.