Zur Erinnerung an die Anwesenheit Sr. Majestät des Kaisers Wilhelm II. im Cassel im September 1891 Thema: Der jüdische Kaufmann, Verleger und Stadtplaner Sigmund Aschrott – eine Persönlichkeit des 19. Jahrhunderts Handlungsraum Hohenzollernviertel – Ausdruck einer epochal beachtlichen Raumgestaltung iii Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Angewandten Sozialwissenschaften (Dr. rer. pol.) im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Kassel vorgelegt von: Roland Demme Kassel im März 2006 Titelbild: Aquarell gemalt von W. Herwarth, das Sigmund Aschrott als prunkvolles Geschenk dem Kaiser Wilhelm II. bei dessen Besuch im September 1891 übergeben wollte (Stadtmuseum Kassel). iv Dem Betreuer der Arbeit Herrn Prof. Dr. Peter Jüngst Geb. 5.10.1942 Gest. 10.10.2005 gewidmet „Macht gegenüber Anderen und Andere auszuüben, ist offenbar ein grundsätzliches, aus familialen Konstellationen narzisstischer Strebungen und ödipaler Wünsche und Ängste rührendes gesellschaftlich reproduziertes Phänomen, das nicht nur das Verhalten einzelner Subjekte, sondern auch die Beziehungsrelation innerhalb von Gruppen wie auch zwischen verschiedenen Gruppen im beträchtlichem Maße bestimmt.“ (Jüngst, Urbs Et Regio 46/1988, S. 11) v Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung 1 2 Theoretische Fragestellung 6 2.1 Theoretisches Konstrukt: Interessenwahrnehmung – Anerkennung 6 2.1.1 Erste Ebene: Hypothesen für individuelle Interessenwahrnehmung 9 2.1.2 Zweite Ebene: Soziale Schicht als Faktor für Interessenwahrnehmung 14 2.1.3 Kategorie: Anerkennung 16 2.1.4 Zusammenfassung: 19 2.2 Schafft eine Periode des Aufbruchs in Gesellschaft und Wirtschaft die erhofften ökonomischen Veränderungen? 20 2.3 Von welchen gesellschaftlichen Strömungen sind Handelnde abhängig, um ein raumgestaltendes Muster zu entwickeln? 21 2.4 Inszenieren Gruppen oder Einzelpersonen während der Industriellen Revolution den Handlungsrahmen? 23 2.5 Ist die Verortung der Handlungen zwingend einmalig oder austauschbar? 24 2.6 Wird die Metaphorik des Raumes von Vorbildern abgeleitet oder ist sie Unikat? 25 2.7 Sigmund Aschrott als Ideengeber und Macher – welche wirtschaftlichen Vorgänge bestimmen möglicherweise sein Denken und Handeln? 27 2.8 Decken sich mögliche Interpretationen des gestalteten Raumes mit den Zielen des Machers oder der Macher? 28 3 Wirtschaft des Handlungsraumes im historischen Aufmaß 29 3.1 Wirtschaft des Kurstaats im 19. Jahrhundert 29 3.1.1 Bevölkerungsentwicklung 29 3.1.2 Kurhessens Eisenbahnstrategie 31 3.2 Textilproduktion, Grundlage der heimischen Wirtschaft 34 3.2.1 Hausindustrie unter Gesichtspunkten der proto – industriellen Forschung 36 3.2.2 Verlag und Lohngewerbe als Organisation eines Wirtschaftssystems 37 3.2.3 Bedingungen der Heimindustrie im Kreis Melsungen und Amt Spangenberg 39 3.2.4 Versuche zur Belebung des Leinengewerbes betreffend das Ober-Zunft-Amt Spangenberg 41 4 Stellung der Juden in Hessen 43 4.1 Veränderungen der jüdischen Rechtsstellung bis zu ihrer Gleichberechtigung 43 4.2 Antisemitismus als politische Neigung oder latente gesellschaftliche Haltung ? 48 4.3 Von liberaler zu konservativer Politik als Kräfteverschiebung in Kurhessen 50 4.4 Antisemitismus – Zeitausdruck in Hessen - Nassau 53 4.5 Öffentliche antisemitische Haltungen auch in Kassel und Wehlheiden 57 5 Beispielhafter Verlagsaufbau in der Provinz Niederhessen 59 5.1 Organisation des väterlichen Leinenhandels durch Sigmund Aschrott 59 vi 5.2 Übergangsphase in der Proto-Industrialisierung von Handelhäusern zum Verlag 64 5.3 Strategie des Geschäftsaufbaus 65 5.3.1 Ausblick auf die Beschäftigungssituation von Aschrott Mitarbeitern 68 5.3.2 Sicherung hessischen Flaches mit Hilfe der Kurhessischen Regierung 70 5.3.3 Gewinnmaximierung bei der Garnversorgung 72 5.4 Aktivitäten beim Garnhandel im Bereich des Ober-Zunft-Amts Spangenberg 75 5.5 Veränderung der Produktpalette als marktstrategische Offensive 76 5.6 Veränderungen im Textilbereich, eine Chance für Aschrott 78 5.7 Zusammenfassung 79 6 Die Familien H. S. Aschrott und Selig Feist Goldschmidt 80 6.1 Der Umzug in die Carlsstrasse 84 6.2 H. S. Aschrott, Leinen- und Drell-Fabrikant, Untere Königstrasse 87 6.3 Wechsel des privaten Lebensraums beim Fabrikanten Sigmund Aschrott 91 6.4 Reichshauptstadt als neuer Lebensmittelpunkt 94 7 Kapitalinvestitionen am Bodenmarkt 95 7.1 Terrain- und Baugesellschaften 96 7.2 Bodenrente als Spekulationsobjekt 98 7.2.1 Fragen der Standortwahl – Stadterweiterungsplanungen 1833 – 1878 101 7.2.2 Flächen der Bahnhofsstraße und des nördlich davon gelegenen Areals als Gestaltungsraum für ein Aschrottviertel ? 107 7.2.3 Die Hänge des Kratzenberges bis zur Wilhelmshöher Allee – als ideales Gelände 108 7.2.4 Flur- und Siedlungsformen um 1840 109 7.2.5 Kleinparzellierung verhindert einen geschlossenen Flächenkauf 120 7.2.6 Geomorphologische und hydrografische Probleme des zu erschließenden Baugrundes 122 7.3 Aschrott gewinnt am kapitalistischen Bodenmarkt an Format 124 7.3.1 Praxis beim Landkauf 126 7.3.2 Rechtsstreit gegen Aschrott wegen Flurstück für Wasserreservoir am Kratzenberg127 7.4 Tendenz zum Stadtumbau im 19. Jahrhundert 128 7.4.1 Interpretation der Böckel-Pläne und 1. Stadtbauphase nach Westen 129 7.4.2 Bau der Hohenzollernstraße als Voraussetzung einer Stadtteilerschließung 133 7.4.3 Hohenzollernstraße – Startprobleme bei einem kaiserzeitlichen Quartier 135 7.4.4 Interessen des Berliner Handels-Ministeriums am Stadtteilprojekt 139 7.4.5 Grundstücksspekulationen Kasseler Bürger im Bereich Hohenzollernstraße 141 7.4.6 Stadtbebauungsplan – Aspekte zum Vertragsabschluss von 1869 146 7.4.7 Vertrag der Stadt Kassel mit dem Consortium vom Dezember 1869 148 7.4.8 Erschließungsstraße zu einem Baugebiet für „wohlgestaltete Leute“ 150 7.4.9 Exkurs zum Ausbau Margarethen-Höhe Essen 153 vii 7.4.10 Regulierungen im Oberen Karthäuser Weg im Kontext mit Aschrott? 155 7.4.11 Eingetragene Pfandrechte auf Aschrottschen Grundstücken 157 7.5 Stadtbauprozess als Ausdruck privater und öffentlicher Interessen 157 7.5.1 Grundlegende Infrastruktureinrichtung: Bau der Infanterie-Kaserne 158 7.5.2 Kaiserstraße – Kasseler Spekulanten verzögern die Umsetzung 164 7.5.3 Straßen- und Kanalarbeiten in Kaiserstr. und anliegenden Straßen 172 7.5.4 Kaiserplatz eine Utopie? 174 7.5.5 Grundstücksfragen beim Diakonissenhaus 176 7.6 Vertrag zwischen der Residenzstadt und dem Fabrikanten Aschrott 177 7.6.1 Verwaltungsabsprachen zum Ausbau der Victoriastraße 184 7.6.2 Aschrotts Hausbau Kölnische Straße/ Ecke Victoriastraße 187 7.6.3 Bauobjekte: Ein- und Mehrfamilienhaus in geschlossener und offener Bebauung 189 7.7 Wechselseitige Einflussnahme auf den Bauprozess: Privates Kapital gegen öffentliche Verwaltung 195 7.7.1 Bauordnung in der letzten Phase des Kurstaates 196 7.7.2 Preußisches Bau- und Fluchtliniengesetz von 1875 für Städte 198 7.7.3 Kompetenzdifferenzen: Stadtverwaltung – Polizeidirektion 200 7.7.4 Reglementierung der Bürger beim „Bauen an Straßen- und Straßentheilen“ 202 7.7.5 Geplantes Ortsstatut im Spiegel der Betroffenen 203 7.7.6 Ortsstatut von 1884 207 7.7.7 Erlass von Bauordnungen als Antwort auf Stadtbauprozesse 208 7.7.8 Bauvorhaben und Statutenänderungen – ein Wechselspiel 212 8 Berliner innerstädtischer Verkehr – Ringbahnproblematik – als Vorbild Aschrotts214 8.1 Plan für einen neuen Durchgangsbahnhof 215 8.2 Innerstädtische Verkehrsprobleme 218 8.2.1 Ausbau einer Pferdeeisenbahn 219 8.2.2 Aspekte zum neuen „Massenverkehrsmittel“ 224 8.2.3 Inbetriebnahme des innerstädtischen Verkehrs 224 8.2.4 Anglikanische Kirche: Anziehungspunkt für begüterte Neubürger 228 8.3 Aspekte der Gartenstadt bestimmen die Bauordnung von 1893 234 8.4 Erneute Interventionen gegen Bauausführungen im Aschrottviertel 237 8.5 Die Frage nach dem Stadtplaner 247 8.5.1 Unterliegt die Vergabe von Straßennamen einer Systematik? 260 8.5.2 Frühe Würdigung des Stadtbaumeisters 266 8.6 Frankfurter Zonenbauordnung 267 8.7 Kapitalgeschäfte am Bodenmarkt anderer Städte 269 8.7.1 Aschrotts Aktivitäten am Frankfurter Bodenmarkt 269 8.7.2 Tiroler Viertel in Berlin-Pankow 273 viii 8.7.3 Union Bodengesellschaft in Chemnitz 277 8.8 Zusammenspiel von kaufmännischem Geschick und städtebaulicher Vision 279 8.9 Zusammenfassung zum Komplex `Stadterweiterungen` 282 9 Militärlieferungen 284 9.1 Militärlieferungen stabilisieren das Verlagsgeschäft 284 9.1.1 Im Verzeichnis des „Militair-Oekonomie-Departments“ 284 9.1.2 Vertrag mit der Militärintendantur 1870 286 9.1.3 Societätsvertrag des Consortiums 289 9.1.4 Ausschluss von Militärlieferungen 290 9.1.5 Rechtsverfolgung durch alle Instanzen – der Streitfall mit Katzenstein 292 9.1.6 Militärisches Urteil als ständige Wiederauflage von 1876-1900 294 9.2 Antisemitische Haltung als breite öffentliche Meinung 296 9.2.1 Güterschlachten als Deutungsversuch Aschrottschen Landerwerbs 297 9.2.2 Bewertung von Aschrotts Nobilitierungsantrag 299 9.2.3 Missglückte Triumphfahrt durch die Kaiserstraße – als Diskredit einer Stadtbauentwicklung 301 9.3 Adel und Bourgeoisie als Interessensgemeinschaft 303 9.3.1 „Commerzienrath“ nach wiederholten Anläufen 304 9.3.2 Auszeichnungen und Spenden – ein enger Zusammenhang 310 9.3.3 Philipp Feidel und Emilie Goldschmidt`sche Stiftung 315 9.3.4 „Kunstdenkmäler“ für Berlin-Weißensee und Kassel 319 9.3.5 Tod des Ehepaares Anna und Sigmund Aschrott 323 9.4 Zusammenfassung zum Komplex persönliche Erfolge und Niederlagen 326 9.5 Zur theoretischen Fragestellung: Einsatz des Faktors Handeln, um als Produkt Anerkennung zu erzielen 326 10 Gedruckte Quellen und Literatur 331 11 Anhang 338 11.1 Kartenübersicht 338 11.2 Archive 338 11.3 Katasteramt 338 11.4 Vermessungsämter 339 11.5 Register 339 11.5.1 Personen 339 11.5.2 Orte und Straßen 341 ix Abbildungsverzeichnis Abb.: 1 Grafische Übersicht der Bevölkerungszahlen ................................................................ 29 Abb.: 2 Prozentuale Verteilung von Betriebsgrößenklassen (Baumbach, in: Möcker, 1977, S. 81) ............................................................................................................................. 35 Abb.: 3 Übersicht der Webstühle in Niederhessen (Daschner, 1968, S. 160)............................. 40 Abb.: 4 Karte zu Konzentration der Heimweber im nördlichen Teil Hessens ............................ 62 Abb.: 5 Haus der Familie Goldschmidt Pauli-Straße .................................................................. 81 Abb.: 6 Mögliches Wohnzimmer der Familie Aschrott in Hochheim – heute Probierstube des Weinguts Künstler.......................................................................................................... 82 Abb.: 7 Sigmund Aschrott (1826-1915)...................................................................................... 85 Abb.: 8 Wohnung von S. Aschrott und Geschäft H.S. Aschrott – Obere Carlsstraße................. 85 Abb.: 9 Untere Königsstraße 86: Wohn- und Geschäftshaus von Sigmund Aschrott................. 88 Abb.: 10 Geschäft H.S. Aschrott Untere Königsstraße 960........................................................ 89 Abb.: 11 Anna Straße und Aschrott Park .................................................................................... 93 Abb.: 12 Hohenzollernstr. / Ecke Annastr. ................................................................................. 94 Abb.: 13 Karikatur Arbeitsplatz des Unternehmers Sigmund Aschrott angefertigt anlässlich seines 80zigsten Geburtstags 1906................................................................................. 99 Abb.: 14 Ausschnitt des Ruhlplans 1833 mit der Magistrale, der Friedrich-Wilhelms-Straße, dem späteren Ständeplatz. ............................................................................................ 104 Abb.: 15 Ausschnitt aus dem Koppenplan 1830 ....................................................................... 105 Abb.: 16 Ausschnitt aus dem Böckelplan 1854 zeigt keine Rücknahme der Friedrich-Wilhelms- Strasse und die Häuser auf der Trasse der Museums-Strasse....................................... 106 Abb.: 17 Ausschnitt aus dem Böckelplan 1866 mit Rücknahme der Friedrich-Wilhelms-Strasse sowie der Museums-Strasse zwischen Wilhelms-Platz und Königsstrasse.................. 107 Abb.: 18 Ausschnitt Böckelplan 1866 mit dem Rechtecksstraßenraster nördlich des Grünen Wegs............................................................................................................................. 108 Abb.: 19 Ausschnitt von der Gegend von Cassel. (Grundlage für die Karten 1 und 2) ............ 114 Abb.: 20 Übergang von Gartenparzellen zu landwirtschaftlichen Flächen in Kasseler und Wehlheider Flur............................................................................................................ 120 Abb.: 21 Ausschnitt aus der Reproduktion eines Stadtplans aus der Zeit um 1860.................. 121 Abb.: 22 Kartenausschnitt des Böckelplans 1866 ..................................................................... 122 Abb.: 23 Ausschnitt aus dem Urkataster Wehlheiden von 1852 westlich der Querallee mit Flurnamen..................................................................................................................... 124 Abb.: 24 Stadterweiterung der Friedrich-Wilhelms-Stadt im Böckelplan 1854 mit ihren geplanten Hauptstraßenachsen ..................................................................................... 130 Abb.: 25 Stadterweiterung der Friedrich-Wilhelms-Stadt im Böckelplan 1866 (Ausschnitt) .. 131 Abb.: 26 Ausschnitt Stadtplan................................................................................................... 132 Abb.: 27 Gemälde: „Der Dorfplatz zu Wehleiden“ von Julius Jung......................................... 133 Abb.: 28 Darstellung der verwirklichten Einmündung der Hohenzollernstraße in den Ständeplatz ................................................................................................................... 146 Abb.: 29 Oberer Karthäuser Weg nach dem Ausbau, Anschluss an Kölnische Straße verbleibt in Ausgangsbreite ............................................................................................................. 156 Abb.: 30 Infanteriekaserne an der Hohenzollernstraße ............................................................. 162 Abb.: 31 Ausschnitt aus dem Fluchtlinienplan ......................................................................... 163 Abb.: 32 Von der Frankfurter Baubank parzellierte Flächen an der Unteren Königsstraße (St AM, Best. 175, Nr. 529 (H), F 1926)...................................................................... 164 Abb.: 33 Aufteilung der Straßenbreite auf die Verkehrsflächen............................................... 170 Abb.: 34 Ausschnitt der Kaiserstraße........................................................................................ 171 Abb.: 35 Stadtplan (Ausschnitt) von Blumenauer 1891 – 97 zeigt den damaligen Bebauungszustand ........................................................................................................ 172 Abb.: 36 Ausschnitt – Stadtplan 1913....................................................................................... 172 Abb.: 37 Kaiserstraße, rechts Eulenburgstraße um 1910 .......................................................... 173 Abb.: 38 Kaiserplatz/ Ecke Querallee um 1900 (rechts Kaiserplatz 31)................................... 175 x Abb.: 39 Cassel – Wehlheiden Ergänzungskarte Nr. 154, Etat Jahr 1893/94 (Amt für Bodenmanagement Korbach) ....................................................................................... 176 Abb.: 40 Nivellierungsplan als Planungsvorlage zum Ausbau der Victoriastraße.................... 180 Abb.: 41 Skizze zu Expropriationen von Luyken und Arnthal ................................................. 181 Abb.: 42 Eigentümer Victoria- und Weißenburgstraße betreffend ........................................... 182 Abb.: 43 Querprofil der Victoriastraße ..................................................................................... 185 Abb.: 44 Ausschnitt aus dem Fluchtlinienplan für die nordwestliche Seite der Victoriastraße 188 Abb.: 45 Links Baublock in unterschiedliche Parzellen unterteilt, Ecken werden betont. ....... 190 Abb.: 46 Rechts Hufebebauung als ländliche Siedlungsform................................................... 190 Abb.: 47 Hufe entlang einer Straße mit kleinen Flurstücken in Gemengelage. ........................ 190 Abb.: 48 Geschossreihenhaus in der Eulenburgstraße 28 in der Mitte einer Hausgruppe innerhalb eines Baublocks mit offener Bebauung........................................................ 191 Abb.: 49 Baublock in geschlossener Bebauung. ....................................................................... 191 Abb.: 50 Geschosshaus in offener Bauweise mit Bauwich, Hauseingang und Treppenhaus seitlich im Baublock – Germaniastraße 1a................................................................... 192 Abb.: 51 Blockrandbebauung mit unterschiedlichen Grundrissen für Geschosshäuser............ 193 Abb.: 52 Blockrandgebäude in der Kaiserstraße Nr. 74 und Grundrissskizze mit überbauter Fläche ........................................................................................................................... 193 Abb.: 53 Neumannplan 1878: Ausschnitt ................................................................................. 194 Abb.: 54 Ausschnitt des Stadtplans von Blumenauer 1891 – 97 zeigt den Stand der Bebauung in der Hohenzollernstraße................................................................................................. 195 Abb.: 55 Hohenzollenstr. mit Postamt ...................................................................................... 195 Abb.: 56 Ausschnitt einer Kataster-Ergänzungskarte zwischen Kaiserstr. und Wilh. Allee..... 204 Abb.: 57 Projektion für einen neuen Durchgangsbahnhof ........................................................ 216 Abb.: 58 nach Jüngst, 2003, unveröffentlicht ........................................................................... 226 Abb.: 59 Casseler Strassenbahn-Gesellschaft in Cassel – Linie: Bettenhausen-Bahnhof Kassel - Café Germania............................................................................................................. 226 Abb.: 60 Fluchtlinienplan – vormals geplanter Standort der englischen Kirche ...................... 228 Abb.: 61 Englische Kirche – Murhardstraße............................................................................. 229 Abb.: 62 Hohenzollernstr./ Ecke Kaiserstr................................................................................ 230 Abb.: 63 Anglikanische Kirche in der Murhardstraße .............................................................. 232 Abb.: 64 Neue Wehlheider Kirche (Adventskirche) ................................................................. 233 Abb.: 65 Weg nach Kirchditmold - Grundstück Sigmund Aschrott mit „Baubeschränkung“ belegt ............................................................................................................................ 235 Abb.: 66 Rosenkranzkirche am Neumarkt vor Errichtung der Stadthalle................................. 244 Abb.: 67 Stadtplan von Berlin 1874 - Ausschnitt ..................................................................... 248 Abb.: 68 Stadtplan 1913 – Ausschnitt mit Zentrum Aschrott Platz .......................................... 249 Abb.: 69 Abmessungen der Aschrott Strasse mit beidseitigen Vorgärten von je 6m ............... 250 Abb.: 70 Aschrott Platz ............................................................................................................. 251 Abb.: 71 Blick über den neuen Stadtteil um 1891 – Gemälde von W. Herwarth (Ausschnitt). 256 Abb.: 72 Gemälde von Gertrud Queisner: „Neumarkt“ mit Hohenzollernstraße“ (Ausschnitt)259 Abb.: 73 Veränderter Fluchtlinienplan von 1900...................................................................... 271 Abb.: 74 Stadtteil Berlin-Pankow mit Schloss im Norden und dem Tiroler Viertel im Süden. 274 Abb.: 75 Parzellierung der Grundstücke im Liegenschaftskataster .......................................... 275 Abb.: 76 Liegenschaftskataster nach aktuellem Stand .............................................................. 276 Abb.: 77 Lage des Stadtviertels Chemnitz-Gablenz in Bezug zum Stadtzentrum im Westen .. 278 Abb.: 78 Aschrott-Mausoleum auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee................... 321 Abb.: 79 Rathaus 1908 mit Aschrott-Brunnen.......................................................................... 322 xi Vorwort: Schwerpunkte zu vorliegender wissenschaftlicher Arbeit Persönlichkeiten, wie sie in der Arbeit beschrieben werden, treten zu Beginn ihres biografischen Weges noch ungeprägt auf. Erst ihre Lebens- und Arbeitsverhältnisse, die Auseinandersetzung mit Menschen, öffentlichen Institutionen sowie ihr Handeln, sei es positiv oder negativ, lassen die Person zur Persönlichkeit werden. Dabei beeinflussen neben individueller Veranlagung ge- sellschaftliche Rahmenbedingungen diesen Bildungsprozess. Der erste Teil setzt sich mit allgemeiner Interessenwahrnehmung und deren Umsetzung als ein Ausdruck von Macht auseinander, wobei erfolgsorientiertes Handeln sich auch als Kampf um Anerkennung bezeichnen ließe. Mit den dazu aufgeführten Kriterien soll am Ende der Arbeit der Aktor gemessen werden. Das persönliche Anspruchsdenken basiert auf einem gesellschaftlichen Umfeld, in dem Abbau ständischer Privilegien zum einen und Veränderung absolutistischer Staatsgewalt zum anderen voranschreiten. Unter den ökonomischen Bedingungen einer noch zeitlich begrenzt funktionie- renden kurfürstlichen Administration versucht ein junger Kaufmann nach marktwirtschaftlichen Kriterien ein Leinenverlagssystem zu entwickeln, das die Zeit der Heimindustrie erneut kurz aufleben lässt, um nach Durchbruch des Industriekapitalismus wieder zu verschwinden. Von flexiblem Unternehmergeist getragen, wird der mit dem Verlag erwirtschaftete Mehrwert nicht in den Aufbau einer „neuen Industrie“ investiert, sondern als mobiles Kapital für den Er- werb von Grund und Boden benutzt. Hier wird die Notwendigkeit eines sich entwickelnden städtischen Wohnungsmarktes rechtzeitig erkannt. Eine bereits vorhandene kapitalistische Ordnung mit einem expandierenden Markt ermöglicht, Wohnungsbedarf mit Stadterweiterungsprojekten zu begegnen. Diese sind notwendig, da die Zentrierung von Arbeit in Form von Industriebetrieben eine Migration aus ländlichen Gebieten zum Arbeitsangebot in Gang setzt. Der Stadtbau verzögert sich in verschiedenen Kleinstaaten im Verhältnis zu Preußen. Die Finanzierung des „Produktes Stadt“ wird im Gegensatz zu lan- desherrlicher Zeit zu einem Instrument des kapitalistischen Marktes. Die industrielle Entwicklung ist an eine Organisation von Kreditvermittlungen gebunden. Das führt zu Erfolg und Misserfolg mit Bankgeschäften. Vergrößerungen kapitalistischer Unterneh- mungen erfordern Vermehrung des Kapitals. Der Aufschwung des deutschen Wirtschaftslebens ist von Krediten durch Geldgeber abhängig und diese treiben als Schrittmacher Industrie und Handel an. Die Vorgänge lassen sich auf den Stadtbauprozess übertragen. Klassengeist und Klassenhochmut einer bürgerlichen Gesellschaft führen zu mangelnder politi- scher Gleichberechtigung, die bei Unterschichten, politischen und gesellschaftlichen Randgrup- pen häufiger zu sozialer Diskriminierung beitragen. Mit besonderem Engagement auf ökonomi- schem Terrain versuchen Juden, ihre gesellschaftliche Isolierung aufzuheben, indem sie mate- riellen Erfolg benutzen, um als Wirtschaftsbürger, als „Bourgeois“ im Sinne von Marx, zu gel- ten. Die „Titelordnung“ der wilhelminischen Gesellschaft verändert sich von Leistungsauszeichnung zu Beförderung durch Bezahlung, um damit die monarchische „Schatulle“ und im sozialen Be- reich den Staatshaushalt zu entlasten. Die Ausgezeichneten erkennen diesen Wandel nicht und sehen dagegen in der Verleihung eine Geste gesellschaftlicher Anerkennung. Die Orden tragen dazu bei, die äußerliche Kluft zwischen den ausgezeichneten bürgerlichen Trägern und dem die Gesellschaft führenden Feudaladel zu verringern. Die vorliegende Arbeit stützt sich auf Quellen aus unterschiedlichen politischen Entscheidungs- ebenen. Sie sind nur soweit umfassend, wie sie als Archivmaterial auszuheben sind. Die dort gesammelten Schriftstücke unterlagen bei ihrer Archivierung einem hausinternen Auswahlvor- gang. Somit ist eine umfassende Darstellung nicht möglich. Die Schriftstücke liegen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, handgeschrieben vor und sind häufig schwer zu lesen. Der Rückgriff auf Äußerungen von administrativer Seite könnte auch als Blick von „oben“ gedeutet werden. Jedoch verbergen sich hinter jedem Vorgang ganz nor- xii male menschliche Interessen, die für viele Abläufe keines wissenschaftlichen Überbaus bedür- fen. Meine Arbeit beabsichtigt, den Untersuchungsgegenstand aus einem bisher nicht erschlos- senen Blickwinkel zu beleuchten. Straßennamen erfahren im Untersuchungszeitraum verifizierte Schreibweisen, die möglicher- weise auf Vorstellungen des jeweiligen Planverfassers zurückzuführen sind. Für Kölnische Straße wird auch Kölnische Allee, Cölnische Str. oder Cöllnsche Str. gebraucht. Gleiches gilt z.B. bei Querallee mit Quer Allee, Quer-Allee oder Cölnische Querallee. Werden Erklärungen zu bestimmten Karten formuliert wird auch die dortige Schreibweise verwandt, um einen Zu- sammenhang zwischen Text und Karte zu erleichtern. Die nach dem 2. Weltkrieg im Untersu- chungsraum aufgenommenen Straßennamen stehen in keiner Verbindung zur Entstehungsge- schichte. Marxistische Terminologie als Erklärung wirtschaftlicher Zusammenhänge schließt ein marxis- tisches Gesellschaftsbild nicht mit ein. Wirtschaftliche Entwicklungen des 19. Jahrhundert bis 1915 werden mit ihrer impliziten liberalen Wirtschaftsauffassung dargestellt. Im Dezember 2005 erschien zur Denkmalstopografie, Kulturdenkmäler Hessen, die Ausgabe Stadt Kassel II. Diese setzt sich auch mit Problemstellungen der vorliegenden Arbeit auseinan- der. Der Verfasser hat versucht, nach bereits fertig gestelltem Gesamttext, wesentliche Aspekte daraus aufzugreifen, um damit die Relevanz eigener Erkenntnisse zu überprüfen. Dabei bleiben verschiedene Fragestellungen, wie z.B. der mögliche Einfluss von Reinhard Baumeister (1833- 1917) auf die Kasseler Stadterweiterung, ungelöst. Derartige Hypothesen bedürfen weiterer Überprüfung. Urbane Entwicklungsstufen durch kartografische Projektionen Kartografische Darstellungen sollen die historisch-genetische Schichtung des Siedlungsraumes erfassen, um durch veränderte Sichtweise Textaussagen zu unterstützen. Hierzu bilden Karten- blätter um 1840 die Basis für kartografische Aussagen zu Siedlungs- und Landschaftsformen. Ferner werden Stadtpläne ab 1822 die westliche Gemarkung der Stadt betreffend, sogenannte Kataster „Urkarten“ der „Feldmark Cassel“ sowie dem „Kreis Kassel“ als Gemarkungskarten ab 1848, bezüglich Fragestellungen zum Siedlungsraum vor der westlichen Stadterweiterung he- rangezogen. Fluchtlinien- und Stadtpläne besonders Möckel- 1866, Neumann- 1878 sowie Blu- menauer-Plan 1891-97 unterstützen Aussagen zum Bauprozess des Quartiers. Für Gestaltung bestimmter kartografischer Zustände wird die jeweilige Kartenschreibweise benutzt, was zu Abweichungen gegenüber heutiger Namensgebung führt. Bei allgemeinen Feststellungen zieht der Verfasser die gebräuchliche Schreibweise des 19. Jahrhunderts bis 1913 heran. Mit dieser Vorgehensweise wird versucht, eine urbane Entwicklung auch bei der verbalen Akzentuierung als Gesamtprozess zu erfassen. Um mehrere Zeitzustände zu visualisieren und deren Entwicklungszustände zu deuten, werden Kartendarstellungen in verschiedene Ebenen gebracht. Der Endzustand gründet sich auf Stadt- pläne von 1913 und 1943. Grundlage der digitalisierten Kartenproduktion sowie ihre Georefe- renzierung erfolgt mit dem Programm Arc View sowie Informationen aus GIS-DATA/kassel. Einheitliches Kartenbild soll die Interpretation erleichtern. In der gedruckten Arbeit ist das um- fangreiche Kartenmaterial nur partiell berücksichtigt. Deshalb sind auf beiliegender CD neben bereits verwendeten Karten andere Originalabbildungen aufgenommen, um dem Interessierten spezielle Detailinformationen zu vermitteln und für weitere Forschungsvorhaben eine Plattform zu schaffen. Für die kartografische Darstellung von Karten in der Arbeit sowie beiliegender CD zeichnet Dr. Klaus Horn, Rechenzentrum der Universität Kassel, verantwortlich. Inhaltliche Zielsetzung und Kartenauswahl geben der Verfasser vor. Angaben zu Hausgemeinschaften der Familie Aschrott erfolgen, um über Berufsbezeichnungen Segregation unter den Bewohnern anzusprechen und um mit Namensverknüpfungen andere städtische Lebensbereiche beleuchten zu können. xiii Die Rechtschreibung der Quellen wurde nicht modernisiert. Ausnahmen bilden Formen, die das Schreibprogramm nicht zuließ. Quellenangabe für gedankliche oder wörtliche Zitate wird am jeweiligen Satzende angeführt. Enden beide Möglichkeiten im Satz, erfolgt die Angabe unmit- telbar dahinter. Auslassungen werden mit Punkten (...) und Einschübe mit Klammern [...] verse- hen. Der Text zu den Karten erfolgt in Kursivschrift. Zur Textverarbeitung wird „MS WORD 2000“, zur Kartenerstellung Photoshop 7.0 oder Photoshop Elements 2.0 benutzt. Danksagung an Institutionen und Personen Die Entwicklung eines Forschungsvorhabens von der Fragestellung bis zur Endfassung bein- haltet ihre eigene Geschichte, an der viele Personen mit Beiträgen beteiligt sind. Die Aktivitäten Aschrotts sind nicht auf Kassel beschränkt, sondern in Europa nachweisbar und finden in Berei- chen von Staat, Wirtschaft, Kapitalanlagen sowie öffentlichen Institutionen statt. Das bedeutet für die Aushebung von Nachweisen zu seinen Tätigkeiten in Archiven verschiedener politischer Entscheidungsebenen nachzuforschen. Karten in Form von historischen Ausführungen über Katasterkarten und Fluchtlinienplänen gilt es zusammenzutragen und speziell für die Arbeit zugeschnittene Karten anzulegen. Die technische Ausführung erfordert die Digitalisierung von Text, Bild und Karte sowie deren Formatierung bis zur Drucklegung. Mit einer kurz gefassten Aufzählung von Schwerpunkten zur inhaltlichen Gestaltung und den dazu infrage kommenden Personen möchte ich allen Beteiligten meinen Dank aussprechen. Das gilt auch für die nicht namentlich Erwähnten. Für die Betreuung danke ich Herrn Prof. Dr. Peter Jüngst, der vor Fertigstellung der Arbeit ver- starb und mich bei einem letzten Treffen aufforderte, auch die nicht erwähnten Nachforschun- gen niederzuschreiben. Einer seiner Forschungsschwerpunkte über innerstädtische Differenzie- rungsprozesse in der Industriellen Revolution sowie „Macht“ und „Raumsymbolik“ in der Haupt- und Residenzstadt Cassel weisen von ihrer Thematik her Überschneidungen mit der vorliegenden Arbeit auf. Mein Dank gilt außerdem: Herrn Prof. Dr. Schulze-Göbel, der die Auseinandersetzung mit der Person Sigmund Aschrott und dessen Werk anregte. Herrn Dr. Klaus Horn, Rechenzentrum Kassel, für den langen Disput bei Planung und der Neu- gestaltung von Karten sowie seine Bemühungen bei Begleitung und Umsetzung von kartografi- schen Fragestellungen. Herrn Wolfgang Dietz, Universität Kassel, für Erklärungen und Übungen zu GIS. Herrn Wegner, Herrn Dr. Link und Herrn Dr. Westerburg, Stadtmuseum Kassel, zu Angaben über mögliche Aktivitäten Aschrotts und Bereitstellung von Bildmaterial. Herrn Friedhelm Fenner, Herrn Pott, Frau Lohr, Frau Leistner sowie Herrn Schmidt vom Ver- messungsamt Kassel für Beschaffung umfangreichen Kartenmaterials, Fluchtlinienplänen, In- formationen zu Baumaßnahmen sowie Digitalisierung von Vorlagen und als ständige Anlauf- stelle für praktische Ratschläge. Herrn Helmut Brier, ehemaliger Mitarbeiter des Vermessungsamtes, für Ausführungen zur Wasserführung im Westen Kassels und Nachforschungen zu ehemaligen Mitarbeitern Aschrotts. Herrn v. Alm, Liegenschaftsamt Kassel, bei der Nachforschung von ehemaligem Aschrottschen Grundbesitz. Herrn Damm, Katasteramt Kassel, jetzt Amt für Bodenmanagement, für Bereitstellung von Katasterkarten. Herrn Dr. Kleinlein, Rechtsanwalt und Notar in Berlin, für Aufschlüsselung der Liegenschaften Aschrotts in den neuen Bundesländern, der Aschrottschen Bodengesellschaften in Berlin und Chemnitz sowie die zum Ausdruck gebrachte Anerkennung zu Aschrotts Lebenswerk. xiv Frau Schoof, Vermessungsamt Berlin-Pankow, für die Anfertigung des Liegenschaftskatasters. Frau Hösel, Vermessungsamt Chemnitz, für Informationen zu Kartenmaterial in Chemnitz- Gablenz. Dem Ehepaar Renate und Otto Jansen zur Einführung in die Bundesarchive in Berlin und In- formationen aus dem Bundesarchiv, Militärarchiv, Freiburg. Den Mitarbeitern des Geheimen Staatsarchivs Berlin u.a. zu Fragestellungen wie Auszeichnun- gen und Spenden. Herrn Dr. Klein, Frau Erler, Landesarchiv Berlin, zu Städtebau im 19. Jahrhundert und Ausfüh- rungen der Zeitung: „Die Wahrheit“. Der Friedhofsverwaltung des Jüdischen Friedhofs in Berlin-Weißensee zu Informationen über das Ehepaar Aschrott und das dortige Mausoleum. Frau Dr. Heuer, Archiv Bibliographia Judaica Frankfurt/ M, für ihre Informationen die Situation jüdischer Schulen in Frankfurt betreffend. Herrn Dr. Eichler, Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, zu Liegenschaften in Kassel. Dem Hessischen Wirtschaftsarchiv, dem Staatsarchiv München, dem Victoria & Albert Mu- seum London, dem Amtsgericht Charlottenburg, dem Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Kassel für Beantwortung von Fragen. Frau Goldhammer, Institut für Stadtgeschichte in Frankfurt, zur Frankfurter Baubank und Bau- aktivitäten Aschrotts. Herrn König und Frau List, Staatsarchiv Marburg, zu verschiedenen Recherchen u.a. zur Garn- produktion Aschrotts und zum Prozess gegen Katzenstein. Herrn Kerstin und der Stadtverwaltung der Stadt Spangenberg zur Öffnung ihres Archivs und zu Ausführungen über Bestände des Leinengewerbes und der dortigen Zünfte. Herrn Müller, Stadtarchiv Chemnitz, zur Union Bodengesellschaft und Grundbesitz in Gablenz, Altendorf und Reichenhain. Frau Dietzsch, Landeskirchliches Archiv der Evangelischen Kirche in Kassel, zu dem Brief- wechsel des Diakonissenhauses und Aschrott. Jan und Edeltraud Janzwert, den Betreibern des Leinenmuseums in Haiger-Seebach, zu Fragen der Flachs- und Wergverarbeitung sowie Größenbezeichnungen beim Garn. Herrn Klaube, Frau Krenz und Frau Mennicke, Stadtarchiv Kassel, zu verschiedensten Frage- stellungen wie Personen zur Zeit Aschrotts, Stadterweiterungsproblemen, Einsicht in Bestände des Staatsarchivs Marburg und vielen Details. Frau Datzkow, Stadtarchiv Bad Homburg, für die unbürokratische und prompte Beantwortung von Detailfragen zur Stadtgeschichte sowie den Aufenthalten Aschrotts dort. Herrn Dr. Hans-Jürgen Schreiber für die Diktate handgeschriebener Quellen während einer Urlaubsreise. Herrn Jens Müller für seine Einführung in die Kartenproduktion mit Photoshop. Frau Dr. Hoffmann, Vertreterin der Publikationsplattform des Kasseler Universitäts-Schriften- Servers, für Hilfestellung zur Formatierung der Arbeit. Frau Elke Theune für Korrekturen des Textes. Herrn Helwig Dörrbecker für seine ausdauernden Korrekturen und Ratschläge. Herrn Christian Presche für seine Anmerkungen und Korrekturen zu städtebaulichen und ge- schichtlichen Fragen. xv Frau Dr. Christiane Vossloh, Köln, für ihre Bemerkungen zu psychologischen Fragen und Kor- rektur der Arbeit. Frau Rosebrock für Formatierung der Arbeit. Frau Prof. Dr. Reichert für die Übernahme der Arbeit als erste Gutachterin. Frau Prof. Dr. Kruckemeyer für die Übernahme als zweite Gutachterin. Meiner Frau für die Geduld, die sie während der langen Arbeitsphase, nicht nur bei Darlegung von neuen Forschungsergebnissen, aufzubringen hatte. Roland Demme 1 1 Einleitung Der Handlungsrahmen der Arbeit umfasst die Vorphase der Industriellen Revolution (1813- 1866)1 und die Industrielle Revolution (1866-1914)2 selbst. Während dieser rund hundertjähri- gen Epoche kommt es im Vergleich mit anderen Zeitabschnitten zu Umwälzungen in der Ge- sellschaft, Wirtschaft und Familie. So verändert sich eine ländlich agrarische in eine industrielle Gesellschaft. Im wirtschaftlichen Sektor findet ein Wandel von Handwerksbetrieben oder Ma- nufakturen zu Industriebetrieben mit mehreren tausend Beschäftigten statt. Im familiären Be- reich löst sich die selbstversorgende Großfamilie auf und daraus geht die städtische Kleinfamilie hervor, mit einer neuen Rollenverteilung zwischen Mann und Frau. Dieser Umbruch wird auch im Stadtbild deutlich. So bilden sich neue industriell geprägte, von Segregation beeinflusste, Areale aus, und es entstehen veränderte Wohnquartiere. Die politischen Vorgänge während dieser Zeit in Kurhessen, die zwar von einer fortschrittlichen Verfassung von 1831 gekennzeichnet ist, sind bestimmt von ständigen Auseinandersetzungen zwischen Regent und Parlament und der Unzufriedenheit breiter Bevölkerungskreise. Unter diesen Einflüssen kann sich Kassel wirtschaftlich nicht entwickeln, was in der Ausführung einer detaillierten Darlegung bedarf. Die Annektierung Hessens durch Preußen 1866 wird von Seiten der Wirtschaft begrüßt. Es kommt jetzt endlich zu durchgreifenden Veränderungen, wie beispielsweise zur Aufhebung des Zunftzwangs im Baugewerbe.3 Dies bewirkt eine verstärkte Bautätigkeit und wird später weiter erörtert. Im Gegensatz dazu ist die Existenz von Kurhessen als souveränem Staat beendet und es nimmt den Status einer Provinz Hessen-Nassau als Teilgebiet des preußischen Staates an. Für Kassel wiederum bedeutet dies, seine Residenzfunktion aufgeben zu müssen, um zur Provinzhauptstadt (mit dazugehöriger Regierung) zurückgestuft zu werden. Kassel muss sich nun mit den übrigen Städten Preußens gleichsetzen lassen. Dort hat sich Berlin bereits zu einer bedeutenden Großstadt entwickelt, die mit anderen deut- schen Städten nicht gleichzusetzen ist. So wirkt sich der Einfluss von Berlin auch auf Kassel nicht nur im politischen, sondern auch im wirtschaftlichen Sektor aus. Berlin selbst dient als Vorbild für Stadtteilbildung. Dies wird auch Gegenstand der Ausführungen sein. Der Krieg Preußens gegen Frankreich und die Reichsgründung 1871 führen zu einer höheren Gewichtung des neuen Deutschen Reiches in Europa. Als junge Metropole nimmt jetzt Berlin eine führende Stellung neben London und Paris ein. Für im Finanzsektor tätige Personen heißt 1 Am 31. Oktober 1813 kehrt Kurprinz Wilhelm, während seiner Regentschaft als Kurfürst Wilhelm I. in- thronisiert, als erstes Mitglied der fürstlichen Familie unter russischem Schutz nach Kassel zurück. Damit beginnt auch ein neuer Abschnitt oder die Wiederholung der alten restriktiven landesfürstlichen Wirt- schaftspolitik (Wegner, 1999, S. 104). – Kurfürst Friedrich-Wilhelm verkündet am 23. Juni 1866 in seiner Abschiedsproklamation: „Im Begriff in die über Mich verhängte Kriegsgefangenschaft abgeführt zu wer- den, ist es Meinem landesväterlichen Herzen Bedürfnis Meinen treuen Untertanen noch diesen Scheide- gruß zuzurufen“ (Jacob, 1907, S. 16/17). Damit endet die Existenz des Kurfürstentums Hessen-Kassel. 2 Der Übergang von der Residenzstadt zur preußischen Provinzialhauptstadt vollzog sich leicht und problemlos. In der Kasseler Zeitung ist zu lesen: „Niemand wird sagen können, dass der Sturz der kur- hessischen Regierung in unserer Staatsverwaltung eine große Störung herbeigeführt habe, im Gegenteil, jeder muss zugeben, dass seitdem die Regierungsgeschäfte unendlich schneller und wohlwollender erle- digt worden sind.“ (Kichner, 1921, S. 50/51 und in: Hessische Morgenzeitung von 1866 /23. 79.) Mit dem Eintritt in den 1. Weltkrieg am 1. August 1914 (Kriegserklärung an Russland) verändert sich auch die wirtschaftliche Entwicklung der Provinz Hessen-Nassau einschneidend. 3 Schmidtmann schreibt zu dem Jahr 1867: der „Zunftzopf“ wurde gottlob abgeschafft, „die Zünfte mit ihren mittelalterlichen Vorrechten hörten auf – die Gewerbefreiheit wurde eingeführt, und damit stand nichts mehr im Wege, mir mein Geschäft zu gründen.“ (Schmidtmann, 1993, S. 128/129.) 2 das, die Nähe zu einer Metropole zu suchen, um den Anschluss an Europa nicht zu verpassen. Das trifft auch für Bürger der Stadt Kassel zu, was in anderem Zusammenhang zu erläutern ist. Die Reparationen, die Frankreich an das Deutsche Reich zu zahlen hat, bewirken weiteren wirt- schaftlichen Fortschritt, der die sogenannten Gründerjahre kennzeichnet. Dies zeigt sich auch für Kassel sowohl im Industrie- als auch im Wohnungsbausektor (um 1880), einem Teilbereich der Arbeit. Dieser Bauprozess in der angesprochenen Zeitspanne soll als raumbildender Vorgang für das im Westen von „Cassel“ entstehende neue Lebensquartier, das „Viertel vor den Thoren“, unter- sucht und mit ähnlichen Bauentwicklungen in Berlin, Frankfurt, Essen und europäischen Groß- städten verglichen werden. Die Untersuchung will sich mit den Vorgängen im Hohenzollern- viertel, die mit dem Ankauf von Grund und Boden beginnen und mit der Vermietung des Wohn- raums abschließen, auseinandersetzen. Ferner sind Vermutungen zu formulieren, wo die Ur- sprünge ökonomischer, politischer und sozialer Vorgänge zu suchen sind, die die Genese dieses Quartiers mitgestalten. Sind es in absolutistischer Zeit die Herrscher, die neue Stadtteile entwickeln, z.B. in Kassel Oberneustadt und Friedrichstadt, so gehen während der Industriellen Revolution die Impulse, resultierend aus dem immensen Wohnungsbedarf, von Privatpersonen, Banken und Gesell- schaften aus. Der Hohenzollern – Stadtteil in Kassel resultiert aus einer solchen privaten Unternehmung. Der Fluchtlinienplan für dieses Areal in einer Größe von ca. 140 ha, das vom Königstor bis zur Main – Weser – Bahn reicht, stellt eine Planungsfläche mit einem für Kassel ungewöhnlichen Umfang dar und verkörpert den Ausdruck des Zeitgeists. Auf dieser Großfläche am Fuße des Habichts- waldes will der jüdische Initiator, Sigmund Aschrott, in Anlehnung an die aristokratische Herr- schaftsperspektive in Blickrichtung zum Herkules ein Wohnviertel für die oberen und mittleren Funktionen entwickeln, in dem der sich ausbildende Dienstleistungs- und Verwaltungsapparat leben soll. Diese perspektivische Sichtweise stellt eine Pioniertat seitens Aschrotts dar.4 Sigmund Aschrott entwickelt Vorstellungen für einen neuen Stadtteil, die sich in einem Großteil der baulichen Gestaltung des Hohenzollernviertels direkt oder indirekt widerspiegeln. Die Ar- beit versucht die vielseitigen Fähigkeiten des Stadtteilgründers zu beleuchten. Es stellt sich die Frage: Woher kommt diese Vision? Hat Aschrott sie „ausgedacht“ oder Vor- bildern wie Berlin, Frankfurt, Paris oder London entnommen? Gehen Einflüsse und Motivation auf Reisen zurück? Bestärkt sein näheres familiäres Umfeld ihn in seinen Planungsintentionen? Oder bestimmen ausschließlich wirtschaftliche Interessen die Umsetzung der Stadtbauabsich- ten? Stellt das Kasseler Hohenzollernviertel die einzige Stadtteilentwicklung durch Aschrott dar? Die planerischen Perspektiven für einen neuen Stadtteil und die daraus entstehenden Konflikte zwischen Impulsgeber und kommunaler Verwaltung sind beeinflusst durch vorausgegangene geschichtliche Ereignisse: Ratifizierung der Kurhessischen Verfassung, die rückwärtsgewandten Handlungen des Kurprinzen, der fast vollständige Rücktritt der kurhessischen Offiziere5, die 4 Diese Form des „Geographie-Machens“ mag manche Ansätze zur Globalisierung in sich bergen, die durch veränderte gesellschaftliche, jedoch auch durch Handeln im engeren Sinn, hervorgebracht werden. Dabei spielen Stadträume eine wichtige Rolle. Das Handeln wird weitgehend beeinflusst von Vorgängen, die an weit entfernten Orten beginnen. (Daum, 2002, S.6.) 5 Am 9. Oktober 1850 quittieren 241 Offiziere, das kurhessische Corps bestand aus 277 Offizieren, ihren Dienst (Wegner, 1999, S. 119). Ein einmaliger Vorgang in der deutschen Militärgeschichte. Schmidtmann berichtet, dass seit der Übernahme des Oberbefehls über die Kurhessischen Truppen durch General v. Haynau (ein Bruder des österreichischen Feldzeugmeisters), die „Hyäne von Brescia“, der für die Nieder- schlagung eines Aufstandes in Oberitalien verantwortlich zeichnet, in Kassel die „Militärdiktatur herrschte“ (Schmidtmann, 1993, S. 72). Weiter heißt es an gleicher Stelle, der General habe seinen Offi- zieren zu verstehen gegeben, es käme jetzt darauf an, wer in Deutschland herrschen solle, die Fürsten 3 Disziplinierungsmaßnahmen gegen die Bürger, die Einquartierung der „Strafbayern“6 (Wegner, 1999, S.119), die revolutionären Vorgänge von 18487 und die Steuerverweigerung durch die Landstände. Solche Ereignisse hinterlassen Spuren in der Bevölkerung und haben gewiss auch die Aktivitäten von Aschrott mitgeprägt, worauf in dem Kapitel über die Wirtschaft des Hand- lungsraumes noch einzugehen ist. Die Stadt Kassel und insbesondere das Schloss Wilhelmshöhe verlieren ihre feudalistische No- bilitierung nicht. So wird das Schloss von der kaiserlichen Familie zur Sommerresidenz ausge- wählt. Ferner dient es als Gefangenendomizil von Kaiser Napoleon III. vor seinem Gang ins Exil. Der spätere Kronprinz und sein Bruder absolvieren einen Teil ihrer Schullaufbahn in Kas- sel. Dies sind Vorgänge, die in dem Text mitangesprochen werden. Die Stadt bleibt weiter eine regional begrenzte Provinzhauptstadt, trotz ihrer politischen Funktion als Verwaltungssitz. Sicherlich hat Sigmund Aschrott eine Begabung für das Erkennen von wirtschaftlichen Zusam- menhängen8 und möglichen Entwicklungen und scheint sich selbst bei ihn betreffenden einschneidenden Veränderungen schnell entscheiden und neue Wege gehen zu können. Auffällig ist, dass sich Aschrott zeit seines Lebens um öffentliche Anerkennung bemüht. Mit seinen großzügigen Spenden und Stiftungen verleiht er diesem Wunsch Ausdruck und seine Bemühungen, Auszeichnungen, Titel und Orden zu erlangen, stellen einen offenen Beweis dar. Bei seinem Engagement um öffentliches Ansehen orientiert er sich am preußischen Hochadel, der ihm als gesellschaftliches Leitbild9 dient. Die Entwicklung des Hohenzollernviertels beginnt mit Landankauf in den Gemarkungen Wehl- heiden, Wahlershausen und Kirchditmold. Dabei stellt der am Rand des Terrains liegende Krat- zenberg und sein zur Drusel auslaufender Südhang für den Planer eine besondere gestalterische Herausforderung dar. Der heutige Grundriss zeigt eine Zweiteilung des Quartiers, dessen Grenze die von Nord nach Süd verlaufende Querallee bildet. oder die „konstitutionellen Rotten“. Wer mit diesen sympathisiere, solle den Waffenrock ausziehen. Wegen des gewaltsamen Vorgehens v. Haynaus gegen die verfassungsmäßigen Rechte der Bürger woll- ten die Offiziere unter seinem Oberbefehl nicht mehr dienen und nach neuerlichem Erlass bezüglich des Offizierdienstes durch den General fordern fast alle Offiziere der Kasseler Garnison ihre Entlassung. (Schmidtmann, 1993, S. 73.) 6 Schmidtmann schreibt, dass Bayern und Österreicher gleichzeitig in Kassel einrücken, und später seien noch preußische Truppen hinzugekommen. „In einer Nacht, die mir noch erinnerlich ist, hatten wir 10 Mann zu gleicher Zeit im Quartier, wovon einige, bei unseren beschränkten Wohnverhältnissen mit uns Jungen zusammenschlafen mussten, weil sie nicht anders untergebracht werden konnten; ich hatte in meinem Bette einen Bayern zum Schlafkameraden (Schmidtmann, 1993, S. 77/78). 7 Für die Vorgänge ist besonders die „Garde-du-Corps-Nacht“, in der eine aufgebrachte Volksmenge den Polizeidirektor Gießler veranlasst, „nicht nur die Bürgergarde zur Aufrechterhaltung der Ordnung aufzu- bieten, sondern auch, als diese sich weigern mit dem Bajonett vorzugehen, die Garde-du-Corps auf die gedrängte wehrlose Menge loszulassen“ (Holtmeyer, 1923, S. 21). 8 Handeln erfolgt über große Distanzen. Dabei kommt es zur „Transformation von Raum und Zeit durch weltweite Kommunikationsmedien und Massentransportmittel. „Globalisierung“ ist konsequenterweise als Äußerungsform der Neugestaltung des Gesellschaft-Raum-Verhältnisses zu verstehen“ (Daum, 2002, S. 5). Diese Vorgänge von Information- und Warenfluss sind auch in verändertem Maßstab am Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts bereits aktuell. Sigmund Aschrott deutet die sich verändernden Gesellschaften und erweiterten Räume für sich, analysiert den augenblicklichen Stand, entwickelt daraus Prognosen für Veränderungen und versucht, wirtschaftlich daraus Nutzen zu ziehen. In der Interpretation von gesellschaftlichen Entwicklungen war er den meisten seiner Mitbürger weit überlegen. 9 Dominierend in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts bis 1914 sind die grundbesitzenden Eliten mit dem im Mittelpunkt des Herrschaftssystems stehenden „gottgewollten“ Monarchen. Damit setzt sich, gering verändert, das „ancien régime“ fort. Die Aristokratie als alte vorkapitalistische Elite passt sich den neuen Möglichkeiten im Kapitalismus an, übernimmt weiterhin wichtige Funktionen in politischer und wirtschaftlicher Verwaltung der Gesellschaft und zeigt Selbstbehauptung gegenüber der wirtschaftlich längst überlegenen „Bourgeoisie“, die nach politischem und sozialem Führungsanspruch drängt. (Witt, 1993, S. 139.) 4 Der Ausbau von Straßen, die Durchführung der Kanalisation, das Anlegen von Grünflächen und das Pflanzen von Straßenbäumen sind von Aschrott geplante und umgesetzte Baumaßnahmen in immensen Dimensionen. Das für die gesamte Erschließung des Viertels notwendige Kapital finanziert Aschrott aus eigenen Mitteln vor. Nach der Flächenparzellierung werden Grund und Boden von ihm an private Bauunternehmer verkauft, die wiederum mit eigenen Mitteln Ein- oder Mehrfamilienwohnhäuser erstellen. Diese Miet- oder Zinshäuser10 sollen in den folgenden Jahren die entstandenen Ausgaben der Bauherren über Mieteinnahmen wieder einbringen. Als Schwierigkeiten bei der Vermietung von Wohnungen auftreten, versucht Aschrott mit ande- ren Unternehmern neue Verwaltungsbereiche nach Kassel zu ziehen, um somit dem stockenden Wohnungsabsatz entgegenzuwirken. Seine Ideenvielfalt geht so weit, in dem neuen Quartier Voraussetzungen zu treffen, dass eine gehobene englische Bevölkerungsschicht hier ihren Le- bensabend zu verbringen imstande ist. Die vielfältigen Anstrengungen, die Aschrott unternimmt, stoßen schon in preußischer Zeit häu- fig auf Widerstand in der Bevölkerung und bei der kommunalen Verwaltung. Sein globaler Blickwinkel bei der Bewertung von notwendigen Raumentwicklungen kann bei den lediglich auf die Region ausgerichteten Bürgern sowie deren Verwaltung keine Resonanz finden. Während der nationalsozialistischen Herrschaft werden seine Aktivitäten diskreditiert und, wie bei dem Rathausbrunnen geschehen, sein Andenken zerstört, verfremdet und verhöhnt. Nach dem 2. Weltkrieg erfahren seine Person und sein Werk eine vorsichtige Wiedergutma- chung. Eine distanzierte Auseinandersetzung mit der Person und dem Werk von Sigmund Aschrott fand meiner Ansicht nach bisher nicht statt. Die vorliegende Arbeit möchte dies, so- weit es die bisher vorliegenden Quellen zulassen, unter sozialgeografischen Gesichtspunkten versuchen. Das heutige Weichbild Kassels unterscheidet sich deutlich von der Stadt vor der Zerstörung. Mit dem Wiederaufbau verband man bewusst, als gesellschaftspolitische Zielsetzung, eine Abände- rung der historischen Bauentwicklung. Die Wandlung des Bauzustandes sollte stets mit der Frage nach den Ursachen verbunden sein und an das Bombeninferno von 1943 erinnern. Diese Veränderungen treten z. B. deutlich bei der wiederaufgebauten Martinskirche und der Karlskir- che zutage. Die Ruine der im 2. Weltkrieg zerstörten Lutherkirche besitzt heute den Charakter eines Mahnmals. Vorrang bei der neuen Grundrissplanung hatte als Zielsetzung, eine verkehrsgerechte Stadt11 des 20. Jahrhunderts aufzubauen; diesbezügliche Planungsvarianten treten schon bei der Entwicklung zur Gauhauptstadt während der nationalsozialistischen Zeit auf. „Die Geschichtslosigkeit des heutigen Kassel ist nicht einfach die Abwesenheit der alten Stadt, sondern das Ergebnis 40 Jahre teils gewollten, dann gar nicht mehr durchschauten, sondern gewohnheitsmäßig fortgesetzte[m] Sichentfernen von der alten, zerstörten Stadtgeschichte“ (Hoffmann-Axthelm, 1994, S. 13). Diese Kritik der städtebaulichen Entwicklung lässt sich auch auf das Hohenzollernviertel über- tragen. Stellt sich doch dieser Standort heute als einziger flächendeckender Stadtteil dar, der die verheerende Zerstörung des letzten Krieges größtenteils überstanden hat. 10 Diesen Begriff verwendet Aschrott in einem Brief vom 10.11.1905 an den Regierungspräsidenten Herrn Graf von Bernstorff (Knobling, 1986, Anhang). 11 In den 50er und 60er Jahren gilt Kassel neben Hannover als Beispiel für moderne Stadtplanung und die Stadt scheint die Besucher zu faszinieren, wie eine Schilderung im Berliner Tagesspiegel von 1955 unterstreicht: ... „Eisen, Stahl, Beton, Glas, viel Glas, an exponierten Stellen Hochhäuser, von deren Dachterrassen man fast bis zur Zonengrenze blickt, ein Ring, der den Verkehr aus der City heraushält, in der Fluchtlinie des Bahnhofs eine südlich anmutende Treppenstrasse, moderne Läden zu seiten, Blumen und Gras in der Mitte, Ruheplätze unter bunten Schirmen auf den Absätzen – das ist die neue Stadt... Es wurde nicht restauriert, nicht sentimentalisiert; es gibt keinen Streit um die „Gedächtniskirche“. Man weiß, dass mit Ressentiments nichts getan ist, dass die Rettung der abendländischen Kultur zu diesem Zeitpunkt allein aus dem Wagnis der neuen Schöpfung kommt.“ (Ipsen, 1989, S.21/22.) 5 Die Wiedervereinigung der Bundesrepublik beendet die Trennung Europas in zwei Blöcke und verändert damit die staatspolitischen und wirtschaftlichen Auswirkungen des 2. Weltkrieges. Gleichzeitig findet eine intensivere Auseinandersetzung mit bisher ausgesparten Bereichen der preußischen Geschichte statt. So könnte auch das Hohenzollernviertel in Kassel, nach dem Krieg in einen nichts aussagenden Stadtteilnamen „Vorderer Westen“ umbenannt, aus seiner Namensentfremdung heraustreten. Das erfordert jedoch eine Beleuchtung seiner Entstehungsge- schichte im Deutschen Kaiserreich unter den damaligen gesellschaftlichen, politischen und wirt- schaftlichen Bedingungen. Die Aktivitäten zur Neugestaltung des Neumarktes, heute Bebel- platz, könnten bei einer Rückbesinnung seiner Entstehung sowie einer darauf aufbauenden neuen zeitgerechten Planung ein erstes Anzeichen sein. Dazu mag auch der heutige Stadthallengarten, ein Teil des ehemaligen Floraparks, gehören, den Aschrott als Geschenk der Stadt Kassel anlässlich der Entstehung der Stadthalle überließ. Dort befindet sich jetzt eine Goetheplastik. An Aschrott erinnert in dieser Anlage nichts. 6 2 Theoretische Fragestellung 2.1 Theoretisches Konstrukt: Interessenwahrnehmung – Anerkennung Die Arbeit beabsichtigt, raumbildende Prozesse in einem gesellschaftlichen Gesamtgefüge zu durchleuchten. Der zeitliche Rahmen wird auf die Zeit der Industriellen Revolution (1813-1914) begrenzt. Um solche Vorgänge transparent werden zu lassen, bedarf es eines theoretischen Kon- strukts. In einem strukturell-funktionalen Theorieansatz (Hättich, 1974, S. 47) gibt die Struktur ein ver- hältnismäßig stabiles Gefüge vor, in dem die Einzelteile aufeinander bezogen sind. Dieser Zu- sammenhalt lässt sich als „Funktionalität“ bezeichnen, wenn die Teile zur Festigkeit der Struk- tur mitwirken. So kann wiederum erkannt werden, welcher Inhalt und welche Bedeutung ein- zelnen gesellschaftlichen Institutionen und Regelungen innewohnen. Dies erlaubt das Wiederer- kennen des Sinnes einzelner Einrichtungen, Regelungen und Verhaltensweisen in einer Gesell- schaft. Fremd wirkende und unverständliche Institutionen in einer Gesellschaft können in ande- ren eine wichtige Aufgabe für deren Struktur besitzen. Wird die Funktionalität sehr allgemein gefasst, so führt dies leicht zu trivialen Aussagen. Folgendes Beispiel erklärt den Zusammenhang. Bei sozialem Engagement in einer Lerngruppe hat das Auswirkungen auf die Sozialstruktur der betreffenden Schule. Bemühen sich Schüler einer Klasse um die Integration ausländischer Mitschüler, so wirkt sich der Vorgang auf den Klassenverband und direkt oder indirekt auch auf das allgemeine Schulleben aus. Gemäß einem solchen Ansatz können im System Abweichungen auftreten. Um beim Beispiel zu bleiben: Kommt es während des Interpretationsprozesses, bei dem Schüler anderer Klassen die Aktion auf ihre Lerngruppe übertragen, durch Konterkarieren infolge abwertender Äußerun- gen oder durch hinderliches Verhalten zu Störungen, kann dadurch ein Teil der Bemühungen seine Funktion beenden oder im Extremfall ein Umkehrprozess stattfinden. In einem solchen Theorieansatz treten möglicherweise Abweichungen auf, bei denen Teilberei- che ausfallen oder nicht als Baustein für die Lösung erkannt werden und so die angestrebten Ziele beeinträchtigen. Die Häufigkeit der Abweichungen kann als Maßstab für Wandel im System gelten. Das bedeutet, wird der erwartete Weg mehrfach verlassen, und dennoch existiert Festigkeit in der Struktur, dann kann das als Gleichgewicht in dem System gelten, wobei Schwankungen im Gleichgewicht als Indikator für Wandel zu interpretieren sind. Wenn andere Teile von der Gleichgewichtsabweichung auch betroffen werden oder darauf reagieren, wäre eine solche Veränderung als sozialer Wandel zu erklären, weil sich damit die Struktur verändert hat. Das im Folgenden zu entwickelnde Konstrukt basiert auf den Ausführungen von Honneth, dar- gelegt in: „Kritik der Macht“ und „Kampf um Anerkennung“ (Honneth, 1985 u. 1995). Aspekte des „tätigen“ Menschen bei Arendt unter dem Terminus „Vita activa“12 ergänzen den Konstruktaufbau (Arendt, 2002, S. 22 – 27). 12 In ihrer Analyse des Vita activa oder vom tätigen Leben unterscheidet Hannah Arendt zwischen Arbeit, Herstellen und Handeln. Den Arbeiter versteht sie einerseits als Animal laborans, als Beispiel dient die Tätigkeit der Sklaven bei den Griechen, anderseits als einen Fremdbestimmten im Sinne von Smith und Marx (Arendt, 2002, S. 98 ff). Herstellen bedeutet den Prozess der Erzeugung von künstlichen Dingen mit einem Gebrauchswert, der sich durch Dauerhaftigkeit auszeichnet. Dieser Vorgang vollzieht sich außerhalb von Naturabläufen, in die der Mensch, resultierend aus seinem biologischen Eingebundensein, verwachsen ist. (Arendt, 2002, S. 162 / 163.) Handeln verwirklicht sich infolge menschlicher Pluralität, bei dem ebenso wie beim Sprechen von Gleichheit und Verschiedenheit auszugehen ist. Gleichheit besteht in der Artikulation von Sprache, Verschiedenheit zeigt sich in Ausdruck und Wertigkeit. Handeln hilft beim Entstehen und Erhalten des politischen Gemeinwesens. Weiter äußert sich durch Handeln und Sprechen die Einzigartigkeit des Individuums. (Arendt, 2002, S.213 ff.) 7 Macht erzeugt zuerst eine Distanz; sie tritt zwischen Individuen auf und trennt sie. Gleichzeitig ermöglicht Macht den Aufbau eines neuen umfassenden, durch Rückbezüglichkeit geprägten Zusammenhangs sozialen Handelns. Dabei sichert Macht Handlungsformen und den Aufbau weiteren Handelns und setzt so bereits aufgebaute Handlungsstränge fort. Soziales Handeln beinhaltet mehr als Verhalten gegenüber Mitmenschen und auch mehr als das reine Abwickeln von Zuständen. Es ist ein fortlaufender Prozess, dessen Erfolg in der Dauer des Vorgangs liegt. Mit Macht kann ein Handlungsablauf zeitlich gesichert werden. Das lässt sich so durchführen, dass die Handlung selbst durch verschiedene Abläufe variiert wird. (Röttgers, 2002, S. 336.) „Wer jede gewollte Abschlusshandlung an seinen Handlungen selbst tatsächlich vollziehen muss, der hat geringe Macht; wer aber seinen Angestellten etwa Anweisungen geben kann, die Dinge zu besorgen, ohne dass jede dazugehörige Einzelhandlung beschrieben oder gar einzeln vorgemacht werden müsste, der hat in bezug auf den einzelnen Handlungszusammenhang Macht“ (Röttgers, 2002, S. 236). Wie kann nun ein solcher Prozess ablaufen? Das Individuum oder eine Gruppe reagiert jeweils auf die Aussagen der Gesprächspartner und probiert ihrerseits wiederum verschiedene Formen von Überzeugungsstrategien13 aus. Im Folgenden werden die Argumentationsmuster verstärkt, die sich positiv auf das Gegenüber auswirken. Auf diese Weise entwickelt sich eine gewisse Automation für die vorgebrachten Begründungszusammenhänge. Bei Arendt beinhaltet Macht stets ein Machtpotential; es zeigt sich nicht als etwas Unveränder- liches oder Messbares und lässt sich auch nicht mit Kraft und Stärke beschreiben. Über Stärke verfügt der Mensch in gewisser Ausprägung als von der Natur mitgegeben. Macht hingegen kann niemand sein eigen nennen, diese entsteht beim Handeln der Menschen untereinander und kann sich wieder auflösen. Auf Grund dieser Eigenheiten verfügt Macht über alle Potentialität, ihr Vorhandensein dagegen steht nicht im Zusammenhang mit materiellen Faktoren. (Arendt, 2002, S. 252 / 253.) Die Wahrnehmung von Interessen kann auch als eine Form von Machtausübung gegenüber anderen verstanden werden. So wird bei der Untersuchung für die Entwicklung innerstädtischer Differenzierungsprozesse in der Industriellen Revolution die Kategorie „Macht“ (Jüngst, 1988, S. 10) als Hypothese herangezogen, die einen Raum verändernden Ablauf entscheidend beein- flusst. „Prinzipiell wird hier die Ausübung von Macht als Ergebnis von psychisch gesteuerten Verhaltens- dispositionen von Individuen und Gruppen begriffen, die, um eigene Bedürfnisse und Wünsche (insbesondere ihre narzisstisch getönten Strebungen –...) zu befriedigen, ihren Willen – ggf. auf Kosten anderer – im Rahmen jeweiliger gesellschaftlicher Verhältnisse durchzusetzen versuchen“ (Jüngst, 1988, S. 18). Der Vorgang der Interessenwahrnehmung oder Machtentfaltung gegenüber Einzelnen oder Gruppen soll in einem System von Kategorien entwickelt werden. In dem Konstrukt wird ver- sucht, mit verifizierbaren Hypothesen den Zusammenhang herzustellen (Dahrendorf, 1965, S. 57). Mit Hilfe von Implikationen kann wiederum so ein theoretischer Entwurf entstehen.14 Die- 13 Das „Bedürfnis des Machtgefühls“ kann nach Nietzsche einer Illusion entsprechen. Bei „niederen“ Schichten des Volkes kann es sich so äußern, dass sich diese Schicht als Nation versteht und sich in dieser Identifikation anderen Nationen gegenüber als überlegen bewertet. Weiter könnte man annehmen, sich gut zu fühlen, wenn das Machtgefühl erlebt wird. Umgekehrt fühlt man sich schlecht, wenn einen die Machtausübung eines Mächtigeren trifft und bezeichnet diesen als „böse“. Wäre jedoch Macht als ein so knappes Gut zu definieren, um das sich mit dem Willen streiten ließe, wie nach der Vorstellung Machia- vellis, dann wäre ausschließlich die Person selbst oder das Schicksal zuständig, ob beim Erlangen von Macht man vom Glück oder Pech ereilt würde. Es ist offensichtlich so: „Wer die Macht hat, fühlt sich im Recht, und wer dem Unrecht ausgesetzt ist, muss sich offensichtlich ohnmächtig vorkommen.“ (Röttgers, 2002, S. 107/108.) 14 Den materialen Erkenntnisstand, der bei verschiedenen Wissenschaften gleich sein kann, sind nach Lorenz viele Historiker und Philosophen auf differenzierte Weise angegangen, indem sie sich im metho- dischen Weg unterschieden. Hier soll generalisierend gearbeitet werden, um die allgemeinen Eigen- 8 ser orientiert sich hier zum einen an der „Jenaer Realphilosophie“15 Hegels (vgl.: Honneth, 1992, S. 54-105) und zum anderen an Meads Sozialpsychologie zur „Theorie der Interessen- subjektivität“ (vgl.: Honneth, 1992, S. 114 ff.). In ständig sich verändernden Gesellschaften beeinflussen verschiedene Merkmale,16 direkte oder indirekte, die Machtausübung. Die Umweltbedingungen als gesellschaftliche Rahmenbe- dingung17 begrenzen die Fläche, auf der Auseinandersetzungen stattfinden. Bestimmte Merk- malsausprägungen verhelfen einem Individuum zur besseren Ausnutzung von Ressourcen als anderen. Dieser Vorgang entspricht der Selektion bestimmter Merkmalsträger gegenüber ande- ren Personen. Die Eignung, sich in der Gesellschaft zu behaupten, ließe sich als Maß für die „Fitness“18 eines Individuums beschreiben. Hegel glaubt, wenn Kenntnisse über allgemeine Grundsätze und Gesichtspunkte erworben wer- den, die es ermöglichen, sich zu dem Gedanken und der Sache heraufzuarbeiten, würde auf diese Weise die Unmittelbarkeit des menschlichen Lebens erfasst (Hegel, 2000, S. 19). Als weiterer Faktor gelten „Sitten und Gebräuche“ (Honneth, 1992, S. 24) als ungeschriebener Handlungsrahmen der Gesellschaft, der nicht durch staatliche Gesetze oder Verordnungen zu beeinflussen ist. Diese Prinzipien können ein Individuum oder eine Gruppe beeinflussen, be- stimmte Interessensvorstellungen nicht weiter zu verfolgen. Anfangs werden solche Regeln sicherlich von den Handelnden erkannt, aber aus starkem Eigeninteresse heraus möglicherweise unterdrückt. Jeder Entscheidungsträger unterliegt wiederum psychischen Beeinflussungen; die Ursachen hierfür sollen jedoch unberücksichtigt bleiben. Die Einschränkung durch die breite Palette der Rahmenbedingungen und die psychische Standfestigkeit für die mögliche Entscheidungsfreiheit sind bei Personen oder Gruppen unterschiedlich stark vorhanden und schaffen somit veränderte Voraussetzungen für die Durchführung von Interessen. Die Einschränkung der Umsetzung ei- gener Absichten wirkt bei jedem Interessenkonflikt in unterschiedlicher Wertigkeit mit und stellt somit eine Variable dar, die experimentell nicht zu erfassen, als Entscheidungsträger je- doch anzusprechen ist. schaften der Interessenwahrnehmung in der Gesellschaft herauszustellen. (Lorenz, 1997, S. 326/327.) 15 Der Bildungsprozess des Geistes führt bei Hegel zu einer Heranbildung von „Kunst, Religion und Wissenschaft.“ Die Frage nach der Sittlichkeit nimmt wie ursprünglich in der Hegelschen „Geistes- philosophie“ keine zentrale Stellung mehr ein. Die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins ist nicht mehr ein Vorgang sittlicher Sozialentwicklung. Im Gegensatz zu dieser Darstellung bilden die sozialen und politischen Geisteshaltungen des Menschen nur ein Übergangsstadium im Vorgang der menschlichen Bewusstseinsentfaltung, die zu den drei Medien als Erkenntnis des Geistes beitragen. (Honneth, 1992, S. 55/56.) Hegels Sozialphilosophie ist ein Konstrukt der Bedürfnisse für eine Philosophie der bürgerlichen Gesell- schaft. Sie stellt nur einen Teilschritt dar, bis sich ein Staat „als Gestalt des objektiven Geistes“ etabliert (Röttgers, 2002, S. 25). 16 Verfolgt man die Begründung für eine natürliche Auslese, so kommt Darwin in seiner Selektionstheorie zu dem Resultat, wenn mehr Individuen vorhanden sind, als von den verfügbaren Ressourcen ernährt werden können, jedoch in der Folge die Größe der Population von Arten konstant bleibt, muss es zwischen den Individuen zu Auseinandersetzungen kommen; zum Daseinskampf um die eingeschränkten Ressourcen (Sauer, 1986, S. 63/64). Die differenzierten Merkmale bewirken unterschiedliche Fort- pflanzungserfolge, die über Generationen mit Hilfe von Veränderungen in der Anpassung die Individuen beeinflussen. Dieses abgestufte Ergebnis entspricht der natürlichen Auslese. 17 Die Rahmenbedingungen existieren in Form von Gesetzen, die mehr oder weniger klar die Grenzen ab- stecken, innnerhalb derer das Individuum seine Macht entfalten kann; denn es gilt die Regel der Recht- sprechung, wo kein (An-) Kläger ist, werden Handlungen, auch wenn sie den gesetzlichen Rahmen über- schreiten, nicht gesellschaftlich geahndet. 18 Die Fitness eines Individuums ist eine Messgröße, die sich aus vielen Merkmalsausprägungen zusam- mensetzt, und sie lässt sich dadurch schlecht bestimmen. In der Populationsbiologie ist die Fitness ein Faktor, um die Selektionswirkung zu beschreiben. (Sauer, 1986, S. 73.) 9 Es drängt sich nun die Fragestellung nach den Mechanismen auf, die dazu dienen, eigene Inte- ressen gegenüber anderen durchzusetzen. Es handelt sich hier also um Abläufe zwischen den Gesellschaftsmitgliedern, bei der sich ein Mitglied gegenüber anderen als dominant erweist. Diese Dominanz wurde bereits erworben oder kommt bei dieser Aktivität erstmals zum Tragen. 2.1.1 Erste Ebene: Hypothesen für individuelle Interessenwahrnehmung Eine erste Ebene, um eigene Interessen wahrzunehmen, stellen Lebensbedingungen dar, in de- nen komplexe Formen der Auseinandersetzung unter Individuen sich vollziehen. Es sind Be- wältigungsformen zu entwickeln, bei denen auf Reizauslöser Reaktionen folgen. Die Bewälti- gung solcher umfassenden Vorgänge erfordert von den Involvierten eine Menge von variablen und selbstständigen Äußerungen. Diese Strategie von Lebensbewältigung wird als „Handeln“ bezeichnet. (Dörner, 1987, S. 69.) 1. Hypothese: Handeln Bei planvollem und kontrolliertem Handeln werden Zielvorstellungen19 vorausgesetzt, die in dem Prozessablauf weiter verfolgt werden. Kommt es bei dem Vorgang zu Störungen, heißt das Veränderungen einzukalkulieren, um der Zielsetzung gerecht zu werden. Das bedeutet der Han- delnde (Akteur) kann seine Tätigkeit regulieren oder korrigieren, um zielgerichtet seine Hand- lungen fortzusetzen. Der Akteur entwickelt in den meisten Fällen bewusstes Handeln20. Da die Tätigkeiten komplex sind, lassen sie sich in Teilbereiche gliedern, die schon bei einfachen Handlungsabläufen21 einen beliebig großen Auflösungsgrad beinhalten, der in Handlungsanaly- sen zu entflechten ist. Der Akteur hat eine innere Vorstellung seines subjektiven Handlungsraums, vom Handlungsbe- ginn wie auch vom Endzustand, der seiner Zielvorstellung entspricht, den er auch erreichen möchte. Seine Handlungen werden von seinem Wissen gestützt. So ist der Handelnde auf Grund von Erfahrung, Kenntnis22- und Fertigkeitstand, auch durch offenes Verhalten, in der Lage, seine Planung und Ausführung zu strukturieren und sie auf seine Umwelt auszurichten. Dabei bedient er sich seines bereits Gesehenen23, Erlebten, Gehörten und setzt es in Verbindung mit seinem Plan. (Dörner, 1987, S. 75.) Dies wird als sein „inneres“ Geschehen, was normal unter 19 Geben und erwidern bedeutet für Hondrich ein Prinzip der Reziprozität. In einer Gesellschaft wird nach ihm die Form der Begrüßung festgelegt und auch deren Erwiderung. Gleiches gilt bei Beleidigungen. Wer austeilt, kann mit einer Antwort rechnen (Hondrich, in: Lau, 2004). 20 Bei solchem Handeln ist die Sinneswahrnehmung „eine Folge von Verhalten, durch das Organismen zu einem raum-zeitlich von ihnen getrenntem Etwas in Beziehung treten. Diese Beziehung ist eine Form von Verhalten, welches den Organismus auf das Objekt hin oder von ihm weg führt, je nachdem, ob seine Handlung Kontakt vorschreibt oder nicht. Kontakt im positiven oder negativen Sinne ist ein Ergebnis der Handlung, die am Anfang der Sinneswahrnehmung steht.“ (Mead, 1969, S. 131.) 21 Nach Heckhausen bedeutet leistungsmotiviertes Verhalten und Handeln ein Streben, das darauf zielt, das eigene Leistungsvermögen in relevanten Leistungsbereichen zu erhöhen oder mindestens zu erhalten. In unseren Industrienationen verkörpert Leistung seit der Industriellen Revolution eine Werthaltung, welche „bei älteren Kindern und Erwachsenen über das genetisch verankerte Bestreben nach Kompetenz hinaus (in) leistungsmotivierte(m) Verhalten diese gesellschaftliche Wertschätzung widerspiegelt.“ (Schneider, 1987, S. 71.) 22 Ein Informationsvorsprung hilft dem Akteur, um mit eigenen Argumenten, auf einer neueren und brei- teren Basis angesiedelt, andere Personen zu überzeugen oder diese für einen anderen Pfad, einem selbst wichtig erscheinenden, zu gewinnen. In dieser Weise ist es möglich, argumentativ den eigenen Äuße- rungen einen schnelleren Erfolg zuteil werden zu lassen. 23 Die Argumentationsform ermöglicht, dass Gesellschaftsmitglieder mit den größeren sprachlichen und gestenreicheren Argumentationsmöglichkeiten gegenüber anderen ihre Überlegenheit ausdrücken können. Zur Zeit der Renaissance und des Barock werden viele Erfindungen, nicht nur auf dem Gebiet der Technik, sondern auch im Finanz- und Wirtschaftsbereich, angeboten. Diese bietet man gegen Entgelt an, um beispielsweise damit Staatsfinanzen oder Wirtschaftsinteressen zu verbessern. Daraus entsteht ein Beruf, der Projektenmacher, der versucht, Fürsten, Adelige, Reiche von seinen Plänen zu überzeugen, um sie dann umzusetzen. (Sombart, 1920, S. 53.) 10 den Begriff „Erleben“ fällt, bezeichnet (Dörner, 1987, S. 76). Handeln lässt sich nicht mit einem Teilbereich von Verhalten erklären. Handeln24 beinhaltet eine strategisch organisierte Aktivität, die auf ein Endergebnis zielt oder auf dieses ausgerichtet ist.25 Häufige Unterbrechungen bei Handlungen treten auf, weil Probleme vorher nicht erkannt wer- den. Das erfordert eine flexible Einstellung, um sich den veränderten Handlungsbedingungen anzupassen.26 Das Gleichbedeutende dabei ist die Zielrichtung; der Akteur muss bei Verände- rungsmöglichkeiten mit flexiblem Verhalten reagieren. Zielgerichtete Handlungen werden bei Störungen verändert, damit durch Regulation die Absicht erreicht werden kann. In seinen sub- jektiven Handlungsvorstellungen steht dem Akteur ein kognitiver Raum zur Verfügung, in dem er sich orientiert (Dörner, 1987, S. 77). In seiner gedanklichen Vorstellung repräsentiert der Handelnde den Anfang des Handlungsgeschehens, verdeutlicht anhand seines vorhandenen Repertoires den Weg und die Mittel, die er in das Geschehen einbringen will. Während des Vorgangs setzt er sich Teilziele, die er mit Teilhandlungen zu erreichen versucht, um das End- ziel zu ermöglichen. Bei langen Handlungsprozessen wird vom Akteur über den gesamten Zeitabschnitt des Han- delns eine Organisation seines Handlungsraumes verlangt. Es stellt sich die Frage, wie die Pla- nungen zur Ausführung kommen sollen, wenn man während des Vorgangs Planungen vergisst. Ein geordneter Handlungsablauf setzt auch eine umfangreiche Gedächtnisleistung voraus, deren Inhalt als Arbeitsgedächtnis beschrieben wird (Dörner, 1987, S. 77), die dort angereicherten Handlungen sind jedoch zeitlich begrenzt verfügbar. Piaget bezeichnet einen solchen Vorgang als Adaption, wobei sich der Handelnde nicht nur den Umweltverhältnissen anpasst, sondern diese auch für sich selbst zurechtschneidet. (Heckhausen, 1972, S.73.) Handeln wird als ein Ereignis erklärt, welches auf das Umfeld bezogen ist und mit dem Akteur in Zusammenhang steht. Sein zielgerichtetes Agieren, geleitet durch sein „inneres Handeln“, muss so das Aktionsfeld der Umgebung mit einbeziehen. Bei der Wechselbeziehung Handeln und Umgebung sind die Aktionen stets zu bewerten und leistungsgerecht einzuordnen, wenn der Akteur dazu in der Lage ist. Es drängt sich weiter die Frage nach der Überforderung des Ak- teurs durch die Komplexität der Vorgänge in der Umwelt auf. Ist er diesen Problemen gewach- sen? Um solche Anforderungen zu bestehen, muss er in der Lage sein zu erkennen, mit welchen Handlungen er auf die Umgebung einwirken kann, um damit Veränderungen herbeizuführen. Er fasst unter „Wahrnehmung“ der Umwelt bestimmte Teilprozesse zusammen und ermittelt durch Rückmeldung (Feedback) den Ablauf sowie Erfolg und Misserfolg seines Handelns. (Dörner, 1987, S. 89.) 24 Ein Ausdrucksmittel, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, stellt der Befehl, als Sprachform und Auslöser militärischer Aktionen, dar. Auch im täglichen Umgang, im dienstlichen wie im privaten Bereich in ver- schiedenen Darstellungsformen, werden so eigene Interessen gegenüber anderen artikuliert. Dabei steht bereits fest, wer der Befehlsgeber und wer der Befehlsempfänger ist. Für Sombart sind Unter- nehmernaturen gescheit, wenn sie „rasch in der Auffassung, scharf im Urteil, nachhaltig im Denken und mit dem sicheren `Sinn für das Wesentliche` ausgestattet sind, der sie befähigt, den...richtigen Augenblick zu erkennen“ (Sombart, 1920, S. 256). 25 Für Hondrich steht das „Prinzip der Präferenz“ als ein Vorgang des Auf- und Abwertens. Die Mitglieder einer Gesellschaft bewerten und moralisieren nach seiner Vorstellung fortwährend. Regel- mäßig wird das Bekannte, das Eigene vorgezogen, das jedoch für andere ein Zurücksetzen bedeutet. Das wirft Feindseligkeiten auf; dieser Vorgang lässt sich auf Grund von Toleranz gegenüber anderen dämpfen. (Hondrich, in: Lau. 2004.) 26 Individuen gelangen zügiger an ihr Ziel, wenn es ihnen gelingt, durch Abgleichen von Vor- und Nachteilen bezüglich anstehender Entscheidungen rascher einen zielgerichteten Pfad einzuschlagen. Gleiches erreichen Personen beim Denken und Handeln in größeren Dimensionen, das soll heißen, sie verfügen über ein gespreizteres Spektrum als Träger von Alternativen. Man könnte die Eigenschaft auch als Sicherheit in der Beurteilung und Führung von Menschen, als sichere Bewertung der vorliegenden Sachlage beurteilen und sich in die Lage versetzen, kundig über die Schwächen und Fehler seiner Um- gebung zu urteilen. (Sombart, 1920, S. 257.) 11 2. Hypothese: Problemlösen Eine besondere Handlungsart besteht im Problemlösen. Unter Problem versteht man die Ent- wicklung zu einer Situation, die nicht der Zielvorstellung entspricht. Es wird ein Zustand ange- strebt, von dem man nicht weiß, wie er zu erreichen ist. Unproblematische Zustände lassen sich nach festen Strategien in den Endzustand überführen. Die Situationen im täglichen Leben ent- sprechen häufig diesem Zustand. Laufen Situationen für einen Akteur nicht automatisch, so handelt es sich um ein individuelles Problem, welches auf den Akteur zutrifft, jedoch bei einem anderen Individuum nicht zutreffen muss. Bei einem Handlungsablauf kann das Ziel auf dem vorher festgelegten Pfad nicht erreicht werden. Ein neuer Weg zur Problemlösung ist nicht be- kannt. Durch die Reihung verschiedener Operationen und im Vergleichen mit dem „inneren“ Geschehen der Außenwelt verfolgt der Akteur seine Strategien.27 Er versucht durch Denken sein gestecktes Ziel zu erreichen. Dabei will der Akteur Teilhandlungen neu ordnen; auf dem Weg sollen die Interpolationsbarrie- ren28 beseitigt werden, um zwischen Start- und Zielverbindung einen anderen Weg zu finden (Dörner, 1987, S.75). Die Interpolation zwischen Start und Ziel wird mit den bekannten Ele- menten überwunden. Tritt ein Problem auf und die Operationen sind nicht bekannt, es zu lösen und auch die bekannten Mittel sind erschöpft, dann erfordert das, Synthesen29 durch neue Operationen zu erfinden. Das Individuum ist mit seiner gegenwärtigen Lage unzufrieden, es weiß nicht genau, was es eigentlich will, es hat ein Problem mit unbekanntem Ziel. Ursache ist dabei nicht die fehlende Strategie wie beim Syntheseproblem oder die unbekannte Kombination verschiedener Strate- gien wie beim Interpolationsproblem. Solche Probleme lassen sich mit der Anlage und Beseiti- gung von „Widersprüchen“ (Dörner, 1987, S. 93), d.h. von Disharmonien lösen. Die Beseiti- gung erfolgt nach Versuch/Irrtum-Verhalten. So erzeugt ein veränderter Zustand ein Aufdecken des Widerspruchs und dessen Aufhebung. Der verwaschene Fleck der Zielvorstellung ist besei- tigt und auch der Weg gefunden. Allgemein bedeutet Problemlösen eine unvollständige, defekte, disharmonische Ordnung in eine vollständige, fehlerfreie, harmonische Ordnung zu verwandeln (Dörner, 1987, S. 94). Die Probleme ereignen sich in Problemräumen. In diesen spielen sich Mengen von Operationen ab, die von verschiedenen Zuständen, Situationen und Sachverhalten, die auftreten können, beein- flusst werden. Für den Akteur können Operationen umkehrbar (reversibel) sein, oder Operatio- nen zeichnen sich als unumkehrbar (irreversibel) aus. Hier ist wesentlich vorsichtiger zu agie- ren. In einem Problemraum mit hohem Maß an Umkehrbarkeit, kann sich ein Akteur äußerst ungezwungen bewegen. Ein Raum mit hoher Irreversibilität erfordert von dem Akteur ein Ge- dankenmodell als Abbild des Problemraums, welches das Handlungsrisiko vermindert. Sind Problemräume für den Akteur durchschaubar (transparent), hängt das mit Sachverhalten und Zuständen zusammen, die klar zu erfassen sind. Ist die Situation im Raum unklar (intranspa- rent), d.h. Merkmale für Zustände sind vorhanden, aber nicht zu erkennen, schafft dies die Not- wendigkeit für den Akteur mit Hilfe der Merkmale aufzuklären, aus welchen Zuständen Hand- lungen abzuleiten sind, bevor gehandelt wird. „In einer Verhandlungssituation wird der Verhandlungspartner zwar bestimmte Absichten ha- ben, die für mich wichtig sind. Aber es wird Situationen geben, in denen er mir seine Absichten 27 Hondrich spricht vom Prinzip des Tabu, bei dem Bestimmtes mitgeteilt oder verborgen bleibt. Einem ungeschriebenen Code gehorchend, existieren indirekte Absprachen über das, was geschehen und was nicht geschehen kann (Hondrich, in: Lau, 2004). 28 Interpolationsproblem bedeutet den Handlungsraum durch die Kombination bekannter Handlungs- elemente (Interpolation) zwischen Start- und Zielvorgang zu überwinden (Dörner, 1987, S. 72). 29 Syntheseproblem bedeutet mit neuen Operationen den Anfangs- und Zielpunkt zu verknüpfen (Dörner, 1987, S. 72). 12 nicht mitteilen, sondern im Gegenteil alles tun wird, um sie mir zu verschleiern.“30 (Dörner, 1887, S. 95.) Innerhalb von Problemräumen können auch Veränderungen ohne Einfluss durch den Problem- löser eintreten. Diese komplexen Sachverhalte sind nicht statisch und es handelt sich dabei um Situationen oder Zustände, die einer Eigendynamik unterliegen. Diese Eigenschaft erzeugt einen Zeitdruck bei der Lösung des Problems. Für den Lösungsvorgang sind nicht mehr alle Einzelheiten zu berücksichtigen. Die Planung läuft als gröberer Prozess und somit wird das gesteckte Ziel nicht erreicht. Zwischenziele sind Ausdruck erfolgversprechender Operationen. Bei einem hohen Komplexitätsgrad des Problemraums setzt sich der Sachverhalt aus endlich vielen Bestandteilen zusammen. Bei solchem Umfang an Einzelheiten wird die Effizienz der Auflösung gesenkt. Ferner treten Neben- und Fernwirkungen von Handlungen auf, durch die das Problem unscharf wird. 3. Hypothese: Entscheiden Das Entscheiden ist ein Teilbereich des Handlungsverlaufs ebenso wie das Problemlösen. Bei einem Entscheidungsvorgang muss mindestens zwischen zwei Handlungssträngen gewählt wer- den (Dörner, 1987, S. 75). Dabei kommt es zu Maßnahmen, die der Akteur nur begrenzt über- blickt und beeinflusst. Unkalkulierbare Umweltereignisse wirken mit auf den Prozess ein und sind weitere Bedingungen für die Unbestimmtheit bei Entscheidungen. Entscheidend ist eine Tätigkeit, die auf ein Ziel ausgerichtet ist. In der Entscheidungssituation sind die Präferenzen der Wahl für den Handelnden unklar. Den verschiedenen Handlungsmöglichkeiten folgen unter- schiedliche Konsequenzen. Diese sind zum einen sicher oder sie sind nur über eine bestimmte Wahrscheinlichkeit mit den Handlungsergebnissen verbunden. Neben der Wahl für einen Handlungsstrang ist die Entscheidung für ein Ziel wichtig.31 Das Umfeld gewichtet die Konsequenzen für eine Entscheidung mit. Häufig ist nicht die eigene Tätigkeit für den Ausgang einer Handlung entscheidend, sondern die Umwelt beeinflusst enorm den Vorgang mit, weil die dort verborgenen Informationen nicht zu erkennen sind. In der Ent- scheidungstheorie (Dörner, 1987, S.106) wird zwischen „Spiel gegen die Natur“ und „Spielen gegen einen Gegner“ unterschieden. Beim Spiel gegen die Natur sind Regeln, nach denen Er- eignisse ablaufen, von den eigenen Entscheidungen unabhängig. Beim Spielen gegen einen Gegner sind die Handlungsabsichten des Gegenübers mit in den Prozess einzugliedern. Das Spiel gegen einen intelligenten Gegner kann mehr Komplikationen aufwerfen als das Spiel ge- gen die Natur. Bei Entscheidungen, das kann auch für das Ergebnis von eindeutigen und klaren Handlungen gelten, treten Unbestimmtheiten in der Bewertung auf. Das bedeutet keine Unbestimmtheit in der Konsequenz oder bei Interpretation des Ergebnisses in Bezug auf Handlungen, die sich als ersichtlich und eindeutig erweisen. Jedoch bei konsequentem Handeln mit unklarer Folge be- züglich Effektivität, tritt die Unbestimmtheit ein. Das kann besonders bei Aufschlüsselung mehrdimensionaler Entscheidungen der Fall sein. Die dabei zwischen den verschiedenen Merkmalen entstehenden Widersprüche beeinflussen die Konsequenzmöglichkeiten und können zu falschem Urteil führen. Die Mehrschichtigkeit wird beispielsweise beim Autokauf deutlich. Beim Gebrauchtwagenkauf treten verschiedene Entscheidungsebenen auf: Welcher Typ welchen Fabrikats erfüllt die eige- nen Vorstellungen, welches Fahrzeug ist weniger reparaturanfällig, welches Modell entspricht 30 Der direkte Weg der Interessenwahrnehmung ist eine Form, bei der die andere Person genau und un- mittelbar die Absichten und Gedankenentwicklung erkennt, die der Argumentierende formuliert. Von Seiten des Zuhörers sind die Vorstellungen des Anderen deutlich nachvollziehbar. Wird der indirekte Weg eingeschlagen, treten Absichten und Erklärungen nicht offen zutage. Hinter Formulierungen ist die Zielrichtung vorborgen. 31 Sombart beschreibt zu Unternehmereigenschaften, die zum Erfolg führen: „Die Entschlossenheit, die Stetigkeit, die Ausdauer, die Rastlosigkeit, die Zielstrebigkeit, die Zähigkeit, der Wagemut, die Kühnheit“ (Sombart, 1920, S. 258). 13 den eigenen Preisvorstellungen? Beim Neukauf dreht es sich auch um Typ und Marke. Hier ist von Bedeutung, welches Modell lässt sich günstig wiederverkaufen? Dagegen entfällt die Ent- scheidung über Reparaturkosten. Ferner gilt, die Zeit des Garantieanspruchs zu beachten. Im Weiteren stellt sich die Frage nach der Finanzierung des Neupreises. In Entscheidungssituationen entwickeln sich Handlungsalternativen, über deren Verfügbarkeit nichts bekannt ist. Hier kann nicht zwischen zwei Wahlmöglichkeiten entschieden werden, son- dern aus einer Anzahl unbestimmter. Jedoch wird der Entscheidungsträger gezwungen, zusätz- lich Informationen zu sammeln und somit seine Zielabsichten zu konkretisieren. Die Überführung von Handlungsmöglichkeiten zu Handlungen beinhaltet eine Form von Machtausübung, wobei diese wiederum den Fortlauf menschlichen Handelns sichert. Jede ge- wollte Anschlusshandlung, die selbst zu verrichten ist, zeugt von geringer Macht; wird diese dagegen von Mitarbeitern auf Anweisung, ohne sie ausführlich beschreiben zu müssen, vollzo- gen, dann hat der Akteur in Bezug auf die Handlung Macht (Röttgers, 2002, S. 236). Es wurde dargestellt, welche Faktoren beim Entstehen von Handeln mitwirken. Handeln ist weder Angelegenheit reiner Rationalität noch Ausdruck von Emotionen. Beim Gesamtprozess wirken Stimmungen, Denken, Problemlösen und Entscheiden mit, damit Handlungen entstehen können. Mit einem geschichtsphilosophischen Konstrukt unter dem Einfluss der „Dialektik der Aufklä- rung“ beschäftigen sich Adorno und Horkheimer unter anderem auch mit einem Konzept über innergesellschaftliche Herrschaftszusammenhänge (Honneth, 1985, S. 61ff.). Bei der Ausei- nandersetzung über gesellschaftliche Arbeitsteilung resultiert bei ihnen diese ungleiche Vertei- lung von Arbeit nicht aus der Prämisse, welche Funktionen bei der Verdichtung gesellschaftli- cher Naturbearbeitung erforderlich sind, noch entstehen in ihrer Theorie bestimmte Vertei- lungsprobleme aus dem gesellschaftlich erarbeiteten Mehrprodukt. Sie nehmen an, dass es bei Beginn des Zivilisationsprozesses zu einer begrenzten Auseinandersetzung um kollektive Be- vorzugung gekommen sei. Bei Adorno verhilft die Kategorie des „Privilegs“ zum Erfolg für die Durchsetzung sozialer Herrschaft. Weiter wird argumentiert, dass soziale Kollektive das Privileg erlangen, die ihnen von der Gesellschaft zugewiesenen Arbeiten nicht selbst auszuführen, sondern diese stets von anderen Gesellschaftsmitgliedern verrichten zu lassen. In der traditionellen Machtkonzeption bei vormodernen Herrschaftsformen wird bei Foucault einem „sozialen Aktor“ (Honneth, 1985, S. 173ff.) die Macht entweder vertraglich zugesichert oder dieser hat sich Macht gewaltsam angeeignet. Ob der Kontrahent in den dargelegten Mög- lichkeiten die Interessenlage des anderen anerkennt und sich auf die veränderte Handlungssi- tuation einstellt, darf bezweifelt werden. In dem Prozess der Umsetzung und ebenso bei der Vertretung der eigenen Interessen gegenüber dritten wird sich langfristig das vorher struktu- rierte Ziel manifestieren, um den Fakt Macht nicht zu schwächen. Die Ansicht Foucaults, dass Macht nicht als dauerhafte Fixierung auf bestimmte Personen oder soziale Gruppen anzusehen ist, zeigt ihm den veränderten Zustand in der Moderne. In diesem Zeitabschnitt liegt für ihn kein abgeschlossener Prozess der Zuerkennung vor und so muss jetzt Macht dauernd neu erstritten werden. Somit ist der politische Gesellschaftsträger in der Lage, mit der Zentralisierung von Institutionen eine repressive Herrschaft zu betreiben. Der „Aktor“ festigt seinen Machtanspruch, indem er mit Hilfe von Gesetzen und Verboten alle Möglichkei- ten nutzt, um so seine Dominanz gegenüber der Allgemeinheit zu verstärken. In der traditionel- len Politik verkörpern diejenigen Machtausübung, die mit juristischen Mitteln dazu ermächtigt werden, während bei den Marxisten die Gruppe Macht ausübt, die den Staatsapparat kontrol- liert. Arendt sieht die Freiheit in der Gesellschaft begrenzt, indem die politische Machtvollkommen- heit sie einschränkt. Freiheit äußert sich bei ihr in Kompetenzmöglichkeiten der Person in der Gesellschaft, während Zwang und Gewalt Ausdruck der Politik darstellen und zum Monopol des Staates sich herausbilden. (Arendt, 2002, S. 41.) 14 2.1.2 Zweite Ebene: Soziale Schicht als Faktor für Interessenwahrnehmung Bei dem Gesellschaftsaufbau nach einem Schichtmodell, das heißt, Bevölkerungsgruppen wer- den nach ihrer augenblicklichen Finanzkraft bestimmten Schichten zugeordnet, muss die Ge- sellschaft als eine hierarchisch gegliederte Ordnung aufgefasst werden (Dahrendorf, 1965, S. 168ff.). Dieses Gesellschaftsbild ist nach Dahrendorf unter ideologischen Gesichtspunkten als ein Integrationsmodell zu beschreiben, das als Ideal für Ausgeglichenheit und Konsistenz gelten kann. Bei einem Aufbau nach einem Klassenmodell, das der Sichtweise der Arbeiter als Träger der unteren Gesellschaftsschicht entspricht, existieren nur zwei Klassen, „wir hier unten“ und „ die da oben“. Diesem Modell liegt eine dichotomische Ordnung zugrunde und kann als Zwangsmo- dell bezeichnet werden. Es selbst drückt Unzufriedenheit aus und impliziert den Willen nach Veränderung des augenblicklichen Zustandes. (Dahrendorf, 1965, S. 169ff.) Das Gesellschaftsbild des Mittelstandes entspricht dem aus dem hierarchischen Aufbau der Bürokratie abgeleiteten Modell, in dem jeder genau seine Stellung definieren kann; hier wird stets deutlich, wer vor einem und wer hinter einem einzuordnen ist. Dieses System der Bürokra- tie zeigt, dass Personen aufsteigen, aber nicht absteigen können; eine Rangordnung ist für die Beteiligten permanent erfahrbar und von Positionen und den dazugehörigen Symbolen sowie von Titeln geprägt. (Dahrendorf, 1965, S. 169.) 4. Hypothese: Schichtenzugehörigkeit Jedes Gesellschaftsbild weist einer Person eine bestimmte Stellung32 zu, diese gilt als vordergründiges Merkmal, um sich gegenüber seinen Mitbürgern abzugrenzen. Vorwiegend handelt es sich um eine Abgrenzung nach unten. Dieser Vorgang erlaubt, eine „Machtstellung“ gegenüber sozial Schwächeren zu demonstrieren. Die Grenze nach oben ist aus Sicht der Mittel- schicht offen, wird vom Standpunkt der Unterschicht dagegen als kaum überwindbar angesehen. Unter dem Gesichtspunkt fester Grenzen bestehen Parallelen zur überwundenen Ständegesell- schaft. Hier gab es für den dritten Stand auch keine Möglichkeit zum Aufstieg. Vergliche man die Stände nach dem Einkommen oder verfügbaren Kapital, würden in der Zeit der einsetzenden Industrialisierung und ihrer anschließenden Weiterentwicklung Personengruppen aus dem drit- ten Stand existieren, die in finanziellen Dingen Mitgliedern der beiden anderen Stände weit überlegen wären. Für Gesellschaftsglieder besteht jedoch die Möglichkeit, durch bestimmtes soziales Engagement oder mit Finanzkraft, Achtung und Anerkennung übergeordneter Schichtträger zu erlangen. Aufmerksamkeit, Respekt und Interesse erzeugen bei den Betroffenen das Gefühl, sich schein- bar in Kreisen zu bewegen, zu denen sie de facto nicht gehören. Diese Form des Überbrückens gesellschaftlicher Unterschiede erlaubt für einen gewissen Zeitraum, ein imaginäres Aufheben der Hierarchie zwischen den Schichtmitgliedern. Das Schichtmodell, wie oben angesprochen, stellt für die Integration der Gesellschaftsmitglieder keinen abgeschlossenen Vorgang dar, sondern ist fließend und legt die Schichtzugehörigkeit nicht endgültig fest. Folglich ist ein Schichtwechsel innerhalb des Systems für Mitglieder mög- lich. Im 19. Jahrhundert ist das Aufsteigen für sozial Schwächere nur schwer möglich. Während die- ser Epoche löst die hierarchisch-städtische die aristokratisch-agrarische Ordnung ab. Dieser Vorgang vollzieht sich nicht gleichlaufend mit der wirtschaftlich industriellen Entwicklung. Die Träger der politischen Elite und die damit verknüpfte Aristokratie versuchen das gesellschaftli- 32 In teilhaben und ausschließen sieht Hondrich ein Prinzip der kollektiven Identität. In jeder Gemein- schaft werden Grenzen gezogen, die Personen einbeziehen und andere ausschließen. Als Individuum oder als Gesamtheit der Gesellschaft können wir uns dagegen auflehnen, ändern lässt sich das Prinzip nicht. (Hondrich, in: Lau, 2004.) 15 che Gefüge zu erhalten und die Einflussnahme einer immer stärker werdenden Arbeiterschaft zu beschränken. Im Umfeld einer massenhaft anwachsenden Industriearbeiterschaft als zahlenmäßig größter Bevölkerungsgruppe versuchen sich andere bürgerliche Stadtbewohner aus Gründen der Tradi- tion und der existierenden Unsicherheit, aber auch wegen ihres städtischen Bewusstseins gegen- über anderen abzugrenzen: sei es durch persönliche äußere Erscheinung oder durch die Wahl ihres Wohnumfeldes. So kann von einer sozialräumlichen Gliederung von Stadtarealen „ein mehr oder weniger klar ausgebildetes sektorales Muster sozialräumlicher Strukturen“ eintreten. (Jüngst, 1988, S. 87.) Da wiederum die Gesellschaft eine sich ständig verändernde Gruppierung von Personen ist, muss die nachfolgende Generation in der Lage sein, den von der Parentalgeneration erlangten Status sowohl im gesellschaftlichen Umgang wie auch auf ökonomischer Basis zu halten. Denn geringere finanzielle Verfügbarkeit ist gleichbedeutend mit gesellschaftlichem Abstieg und Ächtung durch die Schichtträger, zu denen man sich früher zugehörig fühlte. Durch den fehlen- den pekuniären Rückhalt ist eine öffentliche „zur Schau-Stellung“ oder die Teilnahme an öf- fentlichen Veranstaltungen einer gehobenen Schicht nicht mehr möglich. Die sozial abgestiege- nen Familien konnten sich, wenn vorhanden, auf den Adelstitel33, die militärische Auszeichnung oder die ehemalige gesellschaftliche Stellung einzelner Familienmitglieder berufen und so in der Beurteilung durch sich selbst noch scheinbar einer anderen Schicht zugehörig fühlen. Die Menschen des 19. Jahrhunderts, wenn man dazu literarische Zeugnisse34 dieser Zeit ver- folgt, setzen sich täglich im Umgang untereinander mit ihrer gesellschaftlichen Stellung ausein- ander, betonen dies auch öffentlich, indem sie bei der Begegnung mit anderen bekannten oder unbekannten Personen dies in der Anrede oder im Gebrauch von Titeln artikulieren. Die Zuge- hörigkeit zu einer bestimmten Schicht oder der daraus resultierende soziale Status dienen dem Einzelnen als Parameter für seinen Platz innerhalb des Ganzen, den er in seinem täglichen Le- ben zu halten und zu verbessern sucht. Horkheimer ist der Ansicht, dass die Leistung durch gesellschaftliche Arbeit den erweiterten Horizont des Menschen ermöglicht und ihn mehr und mehr befreit von der starken Übermacht der Natur und ihn dann in einen veränderten Zustand überführt, indem die Natur zunehmend beherrscht wird und damit die Zivilisation an Reichtum und Freiheit zunimmt (Honneth, 1985, S. 13). In dem zweidimensionalen Modell von menschlichem Geist und natürlicher Wirklichkeit 33 In dem monarchistischen Staat nehmen Offiziere und Beamte eine besondere gesellschaftliche Stellung ein. „Eine zentrale Stelle in diesem System bildet der Zugang zum Offiziersdasein. Die aktive Offiziers- laufbahn war allerdings – selbst noch im Jahre 1913, als im stehenden Heer Deutschlands immerhin fast 29 000 Offiziere dienten – für nicht-adelige Bewerber trotz des unzweifelhaft höchsten Sozialprestiges von Offizieren in der wilhelminischen Gesellschaft so attraktiv wieder nicht, da der Aufstieg in die höchsten Ränge des Militärs sich noch immer am besten mit dem Adelsprädikat erreichen ließ.“ (Witt, 1993, S. 153.) 34 Theodor Fontanes Roman „Der Stechlin“ von 1899 charakterisiert Thomas Mann als ein „in ,artistischer Beziehung... am weitesten über seine Epoche“ hinausragendes Schriftstück. Mit dem Stilmittel der Konversation werden die Einstellung und die Charaktere u.a. einer brandenburgischen Landbevölkerung beschrieben, deren Hauptperson der Junker Dubslav von Stechlin darstellt. (Kindlers, 1982, S. 8988.) „Dubslav von Stechlin, Major a.D. und schon ein gut Stück über sechzig hinaus, war der Typus eines Märkischen von Adel, aber von der milderen Observanz, eines jener erquicklichen Originale, bei denen sich selbst die Schwächen in Vorzüge verwandeln“ (Fontane, 1986, S. 10). Stechlin macht seinen Besuch, Hauptmann von Czako und Ministerialassessor von Rex, mit dem Dorfschulmeister Krippenstapel bekannt. Zitat: „Guten Morgen, Krippenstapel“, sagte Dubslav. „Ich bring Ihnen Besuch.“ „Sehr schmeichelhaft, Herr Baron.“ „Ja, das sagen Sie; wenn`s nur wahr ist. Aber unter allen Umständen lassen Sie den Baron aus dem Spiel...Sehen Sie, meine Herren, mein Freund Krippenstapel ist ein ganz eigenes Haus. Alltags nennt er mich `Herr von Stechlin` (den Major unterschlägt er), und wenn er ärgerlich ist, nennt er mich gnäd`ger Herr`. Aber so wie ich mit Fremden komme, betitelt er mich `Herr Baron`. Er will was für mich tun.“ (Fontane, 1986, S. 78.) 16 entsteht bei der Entwicklungsgeschichte der Zivilisation eine Konfrontation. Der Prozessvor- gang bewirkt eine Ungleichverteilung von Arbeit, die zu einer Zersplitterung in Klassen führt. Durch die Gliederung gehe die Einheit der Gesellschaft verloren und demzufolge wird das Mo- dell um die „dritte Dimension der sozialen Auseinandersetzung“ ergänzt. (Honneth, 1985, S. 63.) Horkheimer und Adorno sehen in der dominanten Stellung der herrschenden Klasse über die arbeitende Bevölkerung eine Übertragung des menschlichen Herrschaftsmodells, wie es gegenüber der Natur ausgeübt wurde. So versuchen die herrschenden Gesellschaftsmitglieder Kontrolle, über den zur Arbeit gezwungenen Personenkreis auszuüben. Als konsequente Folge rächt sich die entsinnlichte Natur in der kulturellen Verarmung der körperlich arbeitenden Men- schen (Honneth, 1985, S. 63ff.). Sozial privilegierte Individuen prägen alle anderen Gesell- schaftsmitglieder unter der Prämisse ihrer Verfügbarkeit für gesellschaftsnotwendige Arbeits- verrichtungen. Arendt dagegen führt an, dass der Mensch den natürlichen Abläufen seine Bedingungen im Experiment vorschreibt und sie so in ein von ihm erdachtes System zwingt. Der Prozesscharak- ter des Handelns übergeht die bisher innewohnenden Eigentümlichkeiten des Handelns, weil die menschlichen Möglichkeiten und Fähigkeiten sich ungemein erweitert haben. Es ist nicht so bedeutend in der politischen Theorie der Neuzeit, dass Brüche bei Prozessabläufen auftreten, sondern dass Unsicherheit und Ungewissheit bei menschlichen Angelegenheiten diese mit be- gleiten (Arendt, 2002, S. 294/ 295). In Anlehnung an Habermas formuliert Honneth. „Mit der Verallgemeinerung des Geldes als eines universalen Austauschmediums entsteht nämlich zum ersten Mal die Möglichkeit, die gesellschaftliche Produktion in einem gesonderten Handlungssystem zu organisieren, das fähig ist, sowohl die Rekrutie- rung von Arbeitskräften als auch den Warenverkehr über die Kanäle eines entsprachlichten Kommunika- tionsmediums zu steuern; daher bildet sich bei der Durchsetzung der kapitalistischen Wirtschaft, die an die lebensweltliche Voraussetzung einer im bürgerlichen Privatrecht institutionalisierten Freisetzung erfolgsorientierter Einstellungen gebunden ist, ein zweckrational organisierter Handlungsbereich heraus, der nicht mehr an den Mechanismus der Kommunikation gebunden ist“ (Honneth, 1985, S. 327). Mit dem Geld ist es Gesellschaftsmitgliedern möglich, Arbeitsleistung in Beziehung zu Warenwer- ten zu setzen. Alle Handlungen unterliegen dem Taxieren, bei dem das Geld den Maßstab dar- stellt. 2.1.3 Kategorie: Anerkennung In einem politischen Gemeinwesen besteht die Möglichkeit, dass in einer ständigen Auseinan- dersetzung mit feindseliger Prägung die Glieder dieser Gemeinschaft in Konkurrenz zueinander treten, um mit egozentrischen Absichten ihre Interessen durchzusetzen. In solcher Umgebung menschlichen Handelns wäre das Misstrauen allgegenwärtiger Begleiter und ein Ruhezustand nicht möglich. Die oben dargelegten Überlegungen Machiavellis (Honneth, 1992, S. 15ff.), bei denen die Gesellschaftsträger dauernd im Kampf miteinander um ihre Selbsterhaltung sind, lassen unter der Perspektive politischer Lösung den Einsatz radikaler Mittel seitens des staatli- chen Souveräns zu, um so neu entstehende Konflikte zu beenden. Die neuzeitliche Sozialphilosophie verringert den Machtanspruch dergestalt, dass der staatliche Souverän seine Machtausübung35 verändert, um sie jetzt nur noch für zweckrationales Handeln einzusetzen. Für Individuen in dieser Gesellschaft entwickelt sich die Frage nach dem Gebrauch von Freiheit und Macht. Entgegengesetzt positionierte gesellschaftliche Zustände finden eine Lösung in der Fiktion, bei der Menschen im gleichen Maße Macht und Freiheit gebrauchen können und niemand den Mitmenschen einschränkt.36 Um dieses Gesellschaftsziel zu erreichen, 35 Will ferner ein neuzeitlicher Staat seinen Bürgern mit der Einrichtung von politischen und sozialen Institutionen Freiheit garantieren, so wird das nur honoriert und geachtet, wenn dem Bürger klar wird, wie Freiheit sich für ihn äußert (Rawls, 2002, S. 428). 36 Zu Hondrichs „Prinzip der fatalen Handlungsfolgen“ gehört ein Bestimmen und ein Bestimmt werden. Beim Handeln sind ungewollte Ergebnisse nicht auszuschließen, die wiederum den weiteren Fortgang beeinflussen. Früher beschrieb man laut Hondrich den nicht gewollten Ausgang als Schicksal. Das 17 bedarf es der machteinschränkenden Möglichkeit; für Individuen sollte es die Macht der Ver- nunft sein, die das machteinschränkende Verhalten erwirkt. (Röttgers, 2002, S 243.) Werden Gesellschaften nur als Instanz zum Erzeugen von Hemmung, Zwang und Verpflichtung gegen- über anderen Individuen begriffen, so ist es unmöglich, die Gemeinschaft als Ausgang zu Inspi- ration, Erweiterung des Ichs und als Ort neuer, bisher verborgener Energien, zu erkennen (Joas, 1989, S. XXVI). Hegels Ansatz für eine zukünftige Organisation der Gesellschaft geht von einem sittlich ge- prägten Handlungsrahmen aus, in dem die Subjekte in der Gemeinschaft existieren. Der Umbau und die Erweiterung des sozialen Gemeinwesens vollziehen sich in der Richtung, dass „die sittliche Natur zu ihrem wahrhaften Recht gelangt“ (Zitat: Hegel, Jenaer Schriften, S. 49ff., in: Honneth, 1992, S. 27). Unter dieser Prämisse werden die trennenden Elemente der Gesellschaft verringert, und es wird unter Weiterentwicklung der Sittlichkeit zu einem neuen Gleichgewicht führen. Somit ist das öffentliche Leben nicht bestimmt durch die wechselseitige Einschränkung der privaten Freiheit37, sondern es bietet allen einzelnen Individuen die Chance zu persönlicher Ungezwungenheit.38 Dieser Entwicklungsprozess durchläuft verschiedene Phasen. Durch Wiederholung beim Wahr- nehmen und durch das Einsetzen des Verstandes manifestiert sich bei diesem Vorgang das Selbstbewusstsein als Folge dieser sinnlichen Erfahrung und mündet in dem selbstständigen Gebrauch von Freiheit. Indem sich dieser Vorgang verallgemeinert, stärkt sich das Selbstbe- wusstsein und führt zu einem Bewusstwerden seiner selbst in Bezug zu Realität und Wahrheit (Hegel, 2000, S. 264/ 265). Der Begriff Sitten und Gebräuche wird dabei von Hegel bewusst gewählt, denn Sitte ist nicht mit staatlichen Gesetzen institutionalisiert, sondern der Begriff bietet die Möglichkeit für ein Fundament intersubjektiver Denk- und Handlungsweisen.39 Fichtes Auffassung über freies Handeln unter Gesellschaftsmitgliedern führt beim wechselseiti- gen Ermutigen in der freiwilligen Selbstbeschränkung des eigenen Handlungsbedarfs zu einem Rechtsverhältnis der Anerkennung (Honneth, 1992, S. 130). Beim moralischen Handeln und dem Aufbau einer Identität als vollwertiges Gesellschaftsmitglied kommt es bei Fichte durch die Verinnerlichung von Pflichten (Joas, 1989, S. 52). erkennt der heutige Mensch nicht mehr an, da er sich als Individuum sieht, was sich stets selbstbestimmt. (Hondrich, in: Lau, 2004.) 37 Hegel versteht unter Freiheit ein System politischer und sozialer Institutionen, durch die die Grund- freiheiten des Staatsbürgers gesichert sind (Rawls, 2002, S. 454). Mead ist der Ansicht, „dass die Lösung moralischer Probleme kreative intellektuelle Leistungen und Berücksichtigung aller in der Situation relevanten Werte erfordere. Wo die Lösungswege unaufhebbar riskant sind, ist Moral ohne Sachwissen unmöglich, wo bloße Gesinnungsethik überwunden ist, gehört die experimentelle Reflexion über die Folgen der Handlungsalternativen zum innersten Kern der Moralität. Bloß guter Wille ohne Bemühung um das erforderliche Können ist umsonst und nicht moralisch wertvoll.“ (Joas, 1989, S. XXII.) 38 Der Aussage zu Recht, Sittlichkeit, Staat fügt Hegel die Existenz der Wahrheit an, die ebenso alt wie öffentliche Gesetze, öffentliche Moral und Religion ist und die unser Gesellschaftsleben bestimmt. „Was bedarf dieser Wahrheit weiter, insofern der denkende Geist in dieser Weise zu besitzen nicht zufrieden ist, als sie auch zu begreifen und dem an sich selbst vernünftigen Inhalt auch die vernünftige Form zu gewinnen, damit er für das freie Denken gerechtfertigt erscheine“ (Rawls, 2002, S. 427), das wiederum bei dem augenblicklichen Zustand verharrt und sich in der Weise weiterentwickelt, dass man im Innersten mit der Wahrheit geeint ist. 39 „Hegel will die Ethik des Sollens vermeiden und damit den eigentlichen Sinn der Ethik – ihre Auf- gabenstellung – ändern. Der grundlegende Wechsel findet sich in der Idee der Sittlichkeit. Dies ist der Ort des Ethischen, das Gesamtensemble der rationalen (>vernünftigen<) Freiheit ermöglichenden politischen und sozialen Institutionen: Familie, bürgerliche Gesellschaft und Staat. (Rawls, 2002, S. 429.) Hegel versucht die soziale Welt gedanklich zu entwickeln und uns zu veranschaulichen, dass wir diese rational erfassen, was jedoch bei Hegel mit „vernünftig“ beschrieben ist und nicht „mit der instrumentellen, ökonomischen Zweckrationalität verwechselt“ werden darf. (Rawls, 2002, S. 428.) 18 Hegel verarbeitet diese Aussage mit und erklärt, wenn Menschen ihre Identität nicht richtig anerkannt finden, so werden sie die bisherigen sittlichen Regeln verlassen; das mündet jedoch nicht in den Streit um ihre körperliche Selbsterhaltung. Diese Auseinandersetzung bildet ein im Ursprung neu orientiertes sittliches Handeln, welches darauf ausgerichtet ist, reziproke inter- subjektive Anerkennung zu erzielen (Honneth, 1992, S. 32). „Nicht also beendet ein Vertrag unter den Menschen den prekären Zustand eines Überlebens- kampfes aller gegen alle, sondern umgekehrt führt der Kampf als ein moralisches Medium von ei- nem unterentwickelten Zustand der Sittlichkeit zu einer reiferen Stufe des sittlichen Verhältnisses“ (Honneth, 1992, S. 32). Bei der gegenseitigen Anerkennung, d.h. die Person beachtet und akzeptiert die Eigenschaften des anderen, erfährt sie diese in gehobenem Zustand ihrer eigenen Identität.40 In der Fortentwicklung der Anerkennung, immer unter den sittlichen Absichten zwischen den Perso- nen, schreibt sich ein Prozess aus Abschnitten der Versöhnung und aus Abschnitten des Kon- flikts gleichzeitig fort. Wie kann die Person Anerkennung erfahren? Das Ringen um Anerkennung wird durch den Willen geprägt, wie Hegel deutet. Dies zeigt sich in der Akzeptanz des bestehenden Rechts, denn Einhalten der Normen bedeutet Würdigung durch andere und gleichzeitig eine Stärkung des Selbstbewusstseins. Im Vertragsbruch und in Gesetzesverletzungen geht es um die Durch- setzung des eigenen Willens gegen den verbindlichen allgemeinen Willen (Siep, 1979, S. 230/ 231). Nach Interpretation von Honneth steht der Anerkennung das Verbrechen gegenüber (Honneth, 1992, S.37); hier hat das Subjekt unakzeptable Anerkennung erfahren. Das innere Motiv für das Verbrechen führt er auf einen gestörten Prozess wechselseitiger Anerkennung zurück, der von der betroffenen Person nicht auf der erhöhten Stufe des Erlebens empfunden und durchleuchtet wird. Mead versucht die philosophischen Gedanken des deutschen Idealismus und damit die Kon- strukte des frühen Hegel mit Hilfe der empirischen Psychologie zu gestalten und zu begründen (Honneth, 1992, S. 115ff.). Mead problematisiert, wie es zu eingespielten Handlungsvollzügen bei Subjekten kommt und welche Erfahrungen das Subjekt mit sich selbst und im Umgang mit anderen sammelt, bis dieser Zustand erreicht ist. Das Verhältnis von Handlung und Bewusstsein ist für ihn von zentraler Bedeutung, nämlich als Interpretation des Bewusstseins über das gegenwärtige Stadium des Handelns. Es muss, um erfolgreich fortgesetzt zu werden, funktional sein. Auf diesem Weg findet eine Verknüpfung mit Darwin statt. Mead sieht nicht im Verhältnis nutzorientierter oder moralischer individueller Handlung und sozialer Ordnung die Problemlösung, für ihn ist die Beziehung zwischen Handlung und Bewusstsein entscheidend. (Joas, 1989, S. XVIII.) Eine tragende Rolle spielt dabei der Aktor, über den der Entwickelnde sich seiner Subjektivität bewusst wird und zu einer schärferen Beurteilung der Handlungen und Objekte, die Reize ver- ursachen und Störungen bewirken, gelangt. Die Erweiterung dieses Schemas vollzieht sich in sozialen Dimensionen, d.h. es treten mehrere Organismen in Interaktion miteinander; bei diesen Krisen innerhalb des Handlungsgeschehens werden dann die Beteiligten zum Überdenken ihrer eigenen Handlungen gezwungen41, wobei erneut die eigene Subjektivität bewusst wird. 40 Mead sagt: „Man kommt nicht zu sich selbst, indem man lediglich den introspektiven Blick auf sich wendet. Man verwirklicht sich in dem, was man tut, in den Zielen, die man entwirft und in den Mitteln, zu denen man greift, um diese Ziele zu erreichen. Man entwickelt daraus eine rationale Organisation, setzt Mittel und Ziele in ein Verhältnis, fasst alles zusammen zu einem Plan.“ (Mead, 1936, S. 67; in: Joas, 1989, S. 53.) 41 Untersucht man das menschliche Dasein im Blickwinkel auf seine Existenz in der Wahrheit bzw. in der 19 „Erfolgreiches Sozialverhalten dagegen führt auf ein Gebiet, in dem das Bewusstsein eigener Hal- tungen zur Kontrolle des Verhaltens anderer verhilft“ (Mead, Soziales Bewusstsein. , S. 219; in: Honneth, 1992, S. 117). Den Eindruck meiner Gesten bei anderen erfahre ich durch die Interpretation der Gesten in mir, sagt Honneth über Meads Gedanken, meinen eigenen Gesichtsausdruck und meine Körperhal- tung erlebe ich unvollständig, meine verbalen Äußerungen empfinde ich in mir so, wie sie Re- sonanz bei Mitmenschen erzeugen (Honneth, 1992, S. 118). Bei Mead übernimmt ein Subjekt die sozialen Handlungsnormen eines „generalisierten Anderen“ (Honneth, 1992, S. 126) und erreicht damit die Identität eines sozial anerkannten Mitgliedes innerhalb des Gemeinwesens. Dieses Verhältnis zwischen Subjekt und „generalisiertem Anderen“, also Subjekten, kann als „Anerkennung“ bezeichnet werden (Honneth, 1992, S. 126). Eine Erweiterung dieser Entwick- lung vollzieht sich in der Art und Weise, bei der der Heranwachsende die normativen Vorstel- lungen des Interaktionspartners anerkennt und sie so als Teil des Kooperationsprozesses ein- bringt. Durch die Annahme der vorgegebenen Normen, welche er als Form der Interaktion durchlebt, erfährt der Heranwachsende sowohl seine Pflichten und auch Rechte gegenüber den Mitgliedern der Gemeinschaft. Wann ist nun ein Subjekt ganz in die Gesellschaft integriert? Mead antwortet darauf,... „wenn man sein Eigentum in der Gemeinschaft bewahren will, ist es von größter Wichtigkeit, dass man ein Mit- glied dieser Gemeinschaft ist, da die Übernahme der Haltung der anderen garantiert, dass die eigenen Rechte anerkannt werden... dadurch erhält man eine Position, erreicht man die Würde, Mitglied der Ge- meinschaft zu sein“ (Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, S. 242f., in: Honneth, 1992, S. 127). Das Eingebundensein in die Gemeinschaft bewirkt nach Mead eine wechselseitige Anerken- nung, durch die der Einzelne Identität in der Gesellschaft erlebt. Mead kommt hier an die Vor- stellung Hegels heran, der davon ausgeht, dass die Einstellung des Einzelnen über sich selbst aus der Achtung der Person durch den anderen als eine Rechtsperson der Gesellschaft resultiert. Würde ist nach Mead als eine Gewährung von Rechten für die Person zu interpretieren, bei der sie des eigenen sozialen Wertes sicher sein kann. In diesem Prozess entwickelt sich ein Be- wusstsein, das als Selbstachtung, als positive Einstellung gegenüber sich selbst zu beschreiben ist. (Honneth, 1992, S. 126/ 127.) Hegels Konstrukt beim „Kampf um Anerkennung“ gibt Mead ein sozialpsychologisches Fun- dament, indem er die gesellschaftliche Entwicklung dergestalt interpretiert, dass er zwischen dauerndem Vorwärtsdrängen des Subjekts und dem sozialen Leben eine Verbindung herstellt. Dabei addiert er die auftretenden moralischen Abweichungen zu einer historischen Kompo- nente, die als individuelles Vorzeichen für ein verändertes Anerkennungsverhältnis gilt. In jeder Epoche der Gesellschaft werden wieder neue Anspruchsnormen verifiziert, die in ihrer Gesamt- heit eine Entwicklung fortwährender Individuierung erzeugen. Haben sich Gesellschaften mit ihren Sozialformen auf die veränderten Subjektforderungen eingestellt, können die Individuen weiter mit einem Gemeinwesen rechnen, das größere Freiheitsbereiche zulässt. Normative Ide- ale in der historischen Reihung erfahren eine größere persönliche Autonomie. Diese Tendenz ist für Mead der „Prozess der Zivilisation“. (Honneth, 1992, S. 135.) 2.1.4 Zusammenfassung: Das Handeln als Interessenwahrnehmung erlaubt die Umsetzung eigener Absichten, wobei die Stadien Problemlösen und Entscheiden zu durchlaufen sind. Auf der Ebene des Gesellschaftsaufbaus vermag jeder einzelne seine Stellung innerhalb des Gesamtsystems und auch gegenüber anderen Gesellschaftsträgern zu bestimmen. So versuchen Unwahrheit, so zeigt sich, dass Wahrheit ein bedeutender Faktor für Gemeinsames bedeutet. Wenn Sprache und Vernunft menschliche Sozialität prägen und gleichzeitig zur Wahrheitsfindung beisteuern, schließt das auch bei diesem Vorgang Irrtum, Täuschung und Verführung zur Unwahrheit mit ein, so dass Sprache allgemein als Impulsgeber für Sozialität gilt. (Zeltner, 1979, S. 80.) 20 Personen oder Gruppen ihre bestehende Stellung gegenüber gleich oder niedriger Positionierten abzugrenzen. Die unteren Schichten suchen eine Lösung im Zusammenschluss mit Gleichgestellten, um mit Solidarisierung in einem Verband das Selbstwertgefühl zu steigern, Interessenwahrnehmung gegenüber höher Positionierten zu artikulieren und Aufmerksamkeit zu erlangen. Durch Solida- risierung mit Hilfe des Verbandes versuchen Träger der Unterschichten Aufstiegschancen in- nerhalb des Gesellschaftssystems zu verbessern. Anerkennung für sozial Schwächere durch höher positionierte Gesellschaftsglieder erzeugt bei ersteren eine scheinbare gesellschaftliche Aufwertung. Die Anerkennung bezieht sich bei höher positionierten Gesellschaftsmitgliedern gegenüber niedrigeren nur in bestimmten Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, wie im Bereich Wirt- schaft, öffentliches Leben, politische Verwaltung u.a. Im Vergleich der Familien untereinander, auf dem privaten Sektor des gesellschaftlichen Le- bens, findet diese Anerkennung nicht statt. Hier möchte man unter sich bleiben, dieser Intimi- tätskodex wird als Instrument der Abgrenzung und Aufwertung benutzt. 2.2 Schafft eine Periode des Aufbruchs in Gesellschaft und Wirtschaft die erhofften ökonomischen Veränderungen? Der Zeitabschnitt vorindustrieller Entwicklung geht über in eine Phase verzweigter industrieller Fertigung, als „Industrielle Revolution“ bezeichnet. Während dieser Periode vollziehen sich gesamtgesellschaftliche Umwälzungen in bisher nicht gekanntem Ausmaß. Mit Revolution sind nicht gesellschaftliche Eruptionen zu verstehen, sondern hier setzen Veränderungen ein, die langsam aber unaufhaltsam in Gang kommen. Nach Erreichen eines Zustandes erkennt man Neuerungen, die dem Prozess folgen müssen. Diese im Gewerbe sichtbaren Vorgänge erfassen alle Lebensbereiche und beeinflussen nicht nur den Produktionsablauf, auch politische und sozi- ale Strukturen, öffentliche Institutionen, individuelle Lebensgestaltung, Gebräuche und Ge- wohnheiten, Verhalten und Gefühle sind davon betroffen. Dieser umfassende Eingriff in Arbeits- und Lebenswelt bricht feudale Strukturen auf, schafft eine über Kapital und Produktionsmittel verfügende Bourgeoisie, der eine unzufriedene und bald organisierte Arbeiterschaft gegenübersteht. Mit Inbetriebnahme der Eisenbahn ändert sich für die Gesellschaft das Verhältnis zu Raum und Zeit. Zunehmende Mobilität bewirkt Erschließung der Fläche, die Öffnung neuer Märkte und verstärkt den Warenaustausch. Der Prozess selbst beginnt mit der Bereitstellung von Kapital und kann nur durch Inanspruchnahme neuer Finanzquellen in Gang gehalten werden. Veränderte Agrarmethoden sowie langsam einsetzende Industrialisierung42 sind nicht in der Lage, die Bevölkerungszunahme zu kompensieren. Das führt zu regionalem Pauperismus und bei Auftreten von Missernten zu Auswanderungswellen. Die in England beginnenden technischen und gesellschaftlichen Veränderungen übertragen sich auf Einzelstaaten des Kontinents und die USA. In Deutschland setzt der „Aufbruch“ erst verzö- gert und schleppend ein. Er wird hier entscheidend von Staat und Banken gesteuert (Hentschel, 1980, S. 104). 42 Die Veränderungen von einer Agrargesellschaft in ein Zeitalter, in dem die Industrie und deren Aus- dehnung dominiert, wird auch als Proto – Industrialisierung bezeichnet. Darunter ist das Wachstum der Hausindustrie, die sich als ländliche Warenproduktion im Kapitalismus ausbreitet, zu verstehen. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Industrielle Revolution als ein Prozess zu begreifen, der sich weniger plötzlich vollzieht, als ursprünglich angenommen wurde. (Bartolosch, 1992, S. 307-309.) 21 Technische Neuerungen bei Garn- und Webproduktion ermöglichen, gleichfalls von England ausgehende, produktivere Arbeitsgänge mit dem Ergebnis billigere Ware von größerer Qualität herzustellen. Die deutsche Textilherstellung verharrt in ihrer traditionellen Form der Handarbeit sowohl im Halb- als auch Nebengewerbe. Einbrüche im Vollerwerb kann man in verschiedenen Regionen zum Teil durch Steigerung im Nebengewerbe ausgleichen. Die Methode der Leinen- produktion hat jedoch überlebt und besteht deshalb weiter, da rückständige Verfahren sich nur langsam aufheben. Feste Bindungen der Handweber an Verleger und Manufakturisten bewirken Schwankungen bei den Produktionszahlen. Der begrenzte Umfang der Industriearbeiterschaft und die zunehmend kapitalistisch orientierte Landwirtschaft üben vor dem Hintergrund einer Überschussbevölkerung Druck auf den Ar- beitslohn aus, der sich durch Arbeitslosigkeit und Unsicherheit verstärkt (Mottek, 1960, S. 58). In einem Rückblick zum Wirken Aschrotts in Kassel bezeichnet Hermsdorff diesen „als Vater der Kasseler Leinenindustrie“ (Hermsdorff, 1988, Nr. 1239). Hier stellt sich die Frage nach Aschrotts eingeschlagenem Weg, der ihn zu dieser Auszeichnung führt. Ist der Erfolg das Ergebnis effizienter Produktionsmethoden oder veränderter Organisation? Variieren Produkte und Abnehmer gegenüber vorheriger Zeit? Lassen sich neue Märkte er- schließen? Können Kosten minimiert werden und wo sind Einsparpotenziale? Kommt es zur Zentralisierung von Arbeitsgängen? Erfolgt der Einsatz neuer Webstühle? Was geschieht mit dem erwirtschafteten Mehrwert? Wird das erwirtschaftete Handelskapital in Industriekapital gewandelt? 2.3 Von welchen gesellschaftlichen Strömungen sind Handelnde abhän- gig, um ein raumgestaltendes Muster zu entwickeln? In der Landgrafschaft Hessen-Kassel und dem 1803 folgenden Kurstaat43 werden während der französischen Besetzung (1807 – 1813) politische Veränderungen angegangen, die Ziele der Französischen Revolution nach Gleichheit und Freiheit für alle Gesellschaftsschichten und To- leranz gegenüber Andersdenkenden beinhalten. Das bedeutet für das Königreich Westfalen,44 zu dem Hessen jetzt gehört und das von Kassel aus regiert wird, eine in Paris ausgearbeitete neue Verfassung zu erhalten (Speitkamp, in: Heidenreich, 2000, S. 251). In ihr findet die fortschrittliche Verwaltungsstruktur, d.h. Ministerien mit Ressorttrennung, Verwaltung45 und Justiz als voneinander getrennte Institutionen oder nun unabhängige Ge- richte46 Berücksichtigung (Wegner, 1999, S.100). Die Strukturveränderungen erfahren anfangs bei weiten Teilen des Bürgertums Anerkennung47, langfristig wirken sie auf Raumgestaltungsprozesse mit ein. 43 Beim Reichsdeputationshauptschluss wurde Hessen, was Generationen vorher schon anstrebten, zum Kurstaat erhoben. Wilhelm nannte sich fortan Kurfürst Wilhelm I., jedoch war mit der Kurwürde nicht mehr das Recht, den Kaiser mitzuwählen, verbunden, denn dieser hatte die Krone 1806 niedergelegt. (Wegner, 1999, S.99.) 44 Neben den Aufgaben als militärischer Vorposten, Finanz- und Truppenreservoir für die kaiserliche Armee, wollte Napoleon einen Modellstaat im Sinne der französischen Verfassung aufbauen (Speitkamp, in: Heidenreich, 2000, S. 250/251). 45 1806/07 wechseln adelige Beamte, der größte Teil bürgerlicher Zivilbeamter und in beträchtlicher Zahl Offiziere in französischen Dienst (Speitkamp, in: Heidenreich, 2000, S. 255). 46 Die Reform des Rechtswesens zeigt sich als Musterbeispiel, bei dem das französische System über- nommen und an die deutschen Verhältnisse angepasst wurde (Speitkamp, in: Heidenreich, 2000, S. 253). 47 Die Zustimmung legt sich jedoch wieder, als sich herausstellt, dass die neue Regierung diktatorische Züge aufweist und der liberale Anspruch sich nur als ideologische Phrase entpuppt. Dass im Vordergrund lediglich Machtsicherung steht. (Speitkamp, in: Heidenreich, 2000, S. 257.) 22 Mit Rückkehr des Kurfürsten werden die neuen bürgerlichen Rechte aufgehoben, was schließ- lich 1830 den Ruf der Hanauer und Kasseler Bürgervertreter nach einer neuen Verfassung48 zur Folge hat. Die Missstimmung des Volkes gegenüber der kurfürstlichen Familie mündet dann in der 1848er Revolution, mit ihrem Höhepunkt der „Garde du Corps-Nacht“49. Weiterhin kommt es zur Steuerverweigerung der Landstände50, der Demission des Offiziercorps, um nur einige Vorgänge anzudeuten. Dies sind gesellschaftspolitische Ereignisse, die die räumliche Gestal- tung beeinflussen. Mit der Affäre „Wachenfeld“51 wird deutlich, wie der letzte Kurfürst Friedrich-Wilhelm im Sinne eines absolutistischen Souveräns versucht, einen von seiner Baubehörde genehmigten Bauantrag rückgängig zu machen, um der Verwirklichung seines Stadtentwicklungsplanes nä- her zu kommen. Dabei unterschätzt er die bereits vollzogenen politischen Machtverschiebungen und erfährt von der Ständeversammlung eine entscheidende Absage für seine Pläne. Eine städtische Arbeiterschaft entwickelt sich zu einem Industrieproletariat, welches unter Ar- beits- und Lebensbedingungen zu leiden hat und einer sich konturierenden Bourgeoisie gegenü- bersteht, die auf Grund ihres wirtschaftlichen Erfolgs beginnt, die Adelsschicht abzulösen. Sol- che Entwicklungen bewirken verstärkend Veränderungen in den Raumplanungen, was sich in segregierten Wohnvierteln52 wiederfindet. Diese gesellschaftspolitisch beeinflussten Vorgänge hinterlassen sicher Wirkung in physiogno- mischen Erscheinungen des urbanen Raumes. Der Aktor Sigmund Aschrott stellt sich den Problemen, versteht die Regeln des Kapitalismus und initiiert den Stadtbauprozess. Versucht man bei dem Stadtausbau bereits angelegte Funktionsareale weiter zu präzisieren? Unterliegt deren Fortentwicklung einem dynamischen Vorgang? Welchen Einfluss haben Veränderungen im funktionell-räumlichen Gefüge auf die Gründung von Wohnarealen? Entsprechen Planungen von neuen Quartieren den Lebensbedingungen von Gegenwart und Zukunft? 48 Durch verränderte Rechtsstellung der Juden in Kurhessen kommt es 1834 zu partiellen Krawallen in Schenklengsfeld, wo mehrere Jugendliche Fensterscheiben einwerfen, um so gegen die neue Rechtslage zu protestieren (Kaplan, 2003, S. 216). 49 Während einer Theaterveranstaltung an diesem Abend kommt es zu einer sich laut ihren Unmut äußernden Menschenmenge, die die kurfürstliche Familie beunruhigt. Daraufhin ordnet der Polizeidirek- tor Gießler für die Bürgergarde an, mit dem Bajonett gegen die Menge vorzugehen, als diese sich weigert, wird veranlasst, die Garde-du-Corps auf die dicht gedrängt stehenden Menschen loszulassen. Das brutale Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung verändert die Einstellung dieser gegenüber der kurfürstlichen Familie und der kurfürstlichen Schutztruppe im Besonderen, weil deren Anführer noch wegen ihrer Übergriffe straffrei bleiben. (Holtmeyer, 1923, S. 21.) 50 Nach Oetker ist der Vorgang der kurhessischen „Steuerverweigerung“ eine polemische Interpretation von Hassenpflug und dessen Gesinnungsleuten zu einer Abstimmung in der Ständeversammlung zur Frage, ob „die zur Erhebung kommenden Beträge aus den indirekten Steuern unter Verschluß gehalten werden.“ Dieser Antrag wird mit den Stimmen der Demokraten und Konstitutionellen angenommen. Es handelt sich dabei lediglich um die Vorenthaltung eines Budgets. (Oetker, 1878, S. 103.) 51 August Wachenfeld stellt 1864 einen Bauantrag für eine Reithalle, dieser wird von der Bauverwaltung genehmigt, doch die für die Bauordnung zuständige Behörde, die Polizeidirektion, vertritt die Position, die Halle läge in der Verlängerung des beabsichtigten Friedrich-Wilhelm-Boulevards und dürfe nicht gebaut werden. Der Kurfürst schaltet sich ein und vertritt die Polizeiposition, weil er sie offensichtlich als Sprachrohr benutzt; es kommt zum Rechtsstreit. Wachenfeld wird rechtlich durch den liberalen Politiker Heinrich Henkel vertreten. Schließlich soll das Grundstück auf Staatskosten angekauft werden, was die Ständeversammlung nicht unterstützt. Wachenfeld scheint seine Halle gebaut zu haben, das Adressbuch von 1866 vermerkt hinter seinem Namen, Reithallenbesitzer. Der Sachbearbeiter der Bauverwaltung, der „Geheime Regierungsrath“ Carl Friedrich von Stiernberg, wird während des Verfahrens aus dem Dienst entlassen. (Wiegand, 2000, S. 227-238.) 52 Während sich in der Kasseler Altstadt die Elendsquartiere häufen, versuchen Beamte unter der Führung von August Bunge die Genossenschaftsbewegung auch auf Kassel zuzuschneiden und gründen 1889 den „Beamten-Wohnungs-Verein“, um dem Mangel an preiswerten Wohnungen entgegen zu wirken. Auch die Gründung eines Arbeiter-Bauvereins ist auf Anregung des „Kongress[es] für Innere Mission“ 1888, zurückzuführen. (Schlier, 1889, S. 23-30.) 23 2.4 Inszenieren Gruppen oder Einzelpersonen während der Industriellen Revolution den Handlungsrahmen? Es müssen viele Komponenten wie Bevölkerungsvermehrung, Erhöhung der landwirtschaftli- chen Produktion zusammenkommen, die wiederum Erweiterung des Nahrungsangebots, Ausbau des Verkehrssystems zur Steigerung des Personen- und Gütertransports, neue Erfindungen wie die Dampfmaschine sowie eine Abkehr vom gewohnten Sozialgefüge und herrschender Wirt- schaftsauffassung nach sich ziehen. Das bedeutet ein Ende der Zunftordnung und des merkanti- listischen Denkens und als Konsequenz unausweichliche Veränderungen im Sozialgefüge. (Droege, 1972, S. 138 ff.) Neben diesen Ursachen, die zusammentreffen müssen, um den technischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbau zustande zu bringen, gelingt einem neuen Unternehmertum der Aufbau sich schnell entwickelnder Großarbeitsstätten; ebenso prosperiert die Entwicklung eines privaten Eisenbahnnetzes sowie die Organisation von Stadterweiterungen. Diese Vorgänge werden möglich, da durch die Befreiung des Geistes aus staatlicher und kleri- kaler Abhängigkeit wertfreie Erkenntnisse nach Ursachen und Gründen möglich sind und in ein System münden, das Erscheinungen abstrahiert und in Gesetze fasst. Technische Veränderungen oder Erfindungen von Einzelpersonen bewirken die Umgestaltung von handwerklichen Abläufen zur Herstellung von Massenprodukten. Unter Alfred Krupp53, der das von seinem Vater erfundene Gussstahlverfahren werkmäßig anwendet, entwickelt sich ein Industriebetrieb, der infolge des Großbedarfs an seinen erzeugten Gütern zu einem Konzern aufsteigt. Für eine solche Entwicklung ist immenses Kapital erforderlich, dass von Banken, durch Staatsfinanzen oder durch Gründung von Aktiengesellschaften54 aufgebracht wird. In Kassel kann Carl Anton Henschel seine Produktion im Gussgewerbe sowie im Lokomotivbau erheblich erweitern. Auch für ihn stellt sich die Frage der Finanzierung55 seines Industrievorha- bens. Infolge retardierender kurhessischer Wirtschaftspolitik lässt sich Henschels Unternehmer- geist nicht so einbringen wie in anderen Ländern; so beginnt der Aufschwung hier erst in preu- ßischer Zeit. Neben den Unternehmenspionieren gibt es eine Vielzahl von Gesellschaften, hinter denen sich Unternehmer, Bankiers und Bankhäuser verbergen. Mit solchen Zusammenschlüssen versucht man Großprojekte in Industrie, Verkehr und Städtebau auf eine tragfähige finanzielle Basis zu stellen. Als Beispiel mag hier die Hessische Ludwigs-Eisenbahn-Gesellschaft dienen, die einen eigenen Bahnhof in Frankfurt am Main errichten will, als sich die Stadt zu einem Eisenbahn- knotenpunkt zu entwickeln scheint. Beim späteren Durchbruch der Kaiserstrasse bietet sich eine süddeutsche Immobilien-Gesellschaft zur Erschließung des Geländes an. Hinter ihr verbergen sich wieder erstere, die Hessische Ludwigs-Eisenbahn-Gesellschaft und das Kölner Bankhaus Eltzbacher. (Schomann, 1988, S.71.) 53 Die Kruppvorfahren waren gut situierte Kaufleute; mit dem ererbten Vermögen und dem selbst erwirtschafteten Kapital konnte der Vater von Alfred Krupp 1811 die Kruppsche Gussstahlfabrik eröffnen. Bei der Aufstockung des Betriebskapitals vermochte Alfred Krupp häufig auf Darlehen eines verwandten Kaufmanns zurückzugreifen (Wutzmer, in: Mottek, 1960, S.150). 54 Erst die Eisenbahnaktiengesellschaften ermöglichen in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts den Aufbau eines Bahnnetzes. Bei dem benötigten Kapitalvolumen spielten nicht nur Aktiengesellschaften eine Rolle, sondern Banken beteiligen sich an der Geldbeschaffung. In den 50er Jahren führt das zur Gründung großer privater Gesellschaftsbanken wie Schaffhausenscher Bankverein (gegründet von Mevissen), die Diskontgesellschaft, Darmstädter Bank (gegründet von Mevissen und Oppenheim), Berliner Handelsgesellschaft u.a. (Mottek, 1960, S. 42.) 55 Frankfurter Bankhäuser wollen mit Hilfe einer Aktiengesellschaft den Bau der Eisenbahnstrecke Halle – Kassel – Lippstadt finanzieren, doch der Kurfürst zögert bei der Konzession des Projekts (Summa, 1978, S. 25/26). 24 In der Montanindustrie ist der Investitionsaufwand um ein Vielfaches höher als in dem Sektor der Textilindustrie. So erfordert der Aufbau eines mittleren Bergwerks mehrere hunderttausend Taler als Kapitalinvestition (Droege, 1972, S. 167), die in Form von Staatsanleihen wegen des geringeren Risikos oder durch Aktiengesellschaften aufzubringen ist. In Mainz ist es anfangs der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwingend notwendig, außerhalb, der Mauern Wohngelände zu erschließen. Das geplante Projekt „Gartenfelde“ möchte man mit Mitteln der Stadtkasse, privaten Geldgebern, den Grundbesitzern sowie staatlichen Zuschüssen umsetzen. Nach verschiedenen Anläufen entsteht eine Terraingesellschaft, die sich Süddeut- sche-Immobilien-Gesellschaft bezeichnet, hinter der sich drei vermögende Personen verstecken. Die Leitung übertragen sie Carl Racke, Bürgermeister der Stadt, der, um nicht in Verdacht des Amtsmissbrauchs zu geraten, nach nur wenigen Wochen sein Amt niederlegt. Die Personen- gruppe versteht es, ihr Kapital gewinnorientiert einzusetzen. (Kläger; in: Fehl, 1983, S. 316- 323.) Liberalistisches Denken, das im freien Spiel der Kräfte die Wirtschaft wegen ihrer bestehenden Eigengesetzlichkeit zu einer Verteilung der Wirtschaftsgüter entfaltet, überträgt die gleiche Einstellung, den individuellen Fähigkeiten entsprechend, auch auf die Gestaltung des persönli- chen Lebensraumes (Droege, 1972, S. 141). Die Umsetzung der Planungsabsichten scheint weniger von Einzelpersonen oder Gruppen ab- hängig zu sein, als vielmehr von den vorhandenen finanziellen Ressourcen und der möglichen Einflussnahme öffentlicher Institutionen auf die Entscheidungsfindung. Das ist an Kasseler Vorgängen aufzuzeigen. 2.5 Ist die Verortung der Handlungen zwingend einmalig oder austauschbar? Der Städtebau des 19. Jahrhunderts wird zusehends mitbestimmt von Einflüssen der Aufklä- rung: die Vernunft als Denkansatz verändert auch in dieser Disziplin den vorher beschrittenen Weg grundlegend. Die Zeit der „neuen Perspektive“ als Grundlage der Planungen in der Renais- sance ist beendet, ebenso das große Spannungen erzeugende und von theatralischen Inszenie- rungen lebende Barock. Die Epoche der einfachen geometrischen Ordnung und der rationalen Architektur, basierend auf den römischen Vorbildern im Klassizismus, bestimmt den Beginn des Jahrhunderts noch mit, verändert sich jedoch zusehends, da die urbane Konstruktion, von ethischen, wirtschaftlichen und sozialen Faktoren bestimmt, nach neuen Prinzipien für eine Stadtkonzeption verlangt. (Delfante, 1999, S.155.) Die Veränderungen im 19. Jahrhundert ausschließlich den Faktoren tief greifend veränderter Produktionsweisen und der Entstehung des Kapitalismus zuzuschreiben, wie bei Delfante dar- gelegt, scheint zu kurz und zu allgemein gegriffen. Die kapitalistische Ausrichtung der deut- schen Wirtschaft in der Kaiserzeit tritt allerdings deutlich hervor (Dahrendorf, 1965, S. 54). In dieser Gesellschaft erfolgt die Inanspruchnahme der Produktionsmittel weitgehend durch Ein- zelpersonen. In Deutschland schließen sich Banken frühzeitig zu Großbanken zusammen und bewirken mit der Vergabe von Krediten und Investitionen ein schnelles Anwachsen großer in- dustrieller Einrichtungen. Der Staat duldet nicht nur den Aufbau von Großbanken und Großin- dustrien mit monopolistischem Zuschnitt, sondern er fördert explizit solche industriellen Aus- richtungen. Dawson, ein zeitgenössischer englischer Historiker, schreibt über die deutsche Wirt- schaft: “Es ist eine schlagende Tatsache, dass ein großer Teil der natürlichen Hilfsquellen, der Industrie und der Produktion des Reichtums in jener rastlosen Fabrik Deutschland unter der Kontrolle von einem Dutzend Männern von beherrschendem wirtschaftlichem Genius steht – Männer von starkem und domi- nierendem Charakter, geborenen Herrschern der herbsten Art, ohne Gefühl, nicht unempfindlich für Gerechtigkeit, aber nie über diese hinausgehend, unbeugsam in ihren Entscheidungen, von unerschöpfli- cher Willenskraft, und unzugänglich für alle modernen Vorstellungen des politischen Liberalismus“ (Dahrendorf, 1965, S. 48). 25 In Deutschland bildet sich eine industrielle Feudalgesellschaft heraus, die feste Leitlinien für alle Bereiche schafft. Sie ist zu vergleichen mit einer formalisierten Statushierarchie, die sich in ihrer Ordnung an militärischen und bürokratischen Rängen ausrichtet. (Dahrendorf, 1965 S. 72.) Die Gewichtung der Industrie im städtischen Umfeld führt zu einer radikalen Änderung der städtischen Ordnung und zu einem Ungleichgewicht, das sich nachteilig auf die traditionelle urbane Gliederung auswirkt. Diese Umgestaltung geschieht nicht schlagartig. Ursprünglich hob sich das Stadtgebilde als ein Massenkörper gegenüber dem Land ab und zeichnete sich durch eine einheitliche hierarchische Struktur, die wiederum von morphologischen Aspekten her unterschiedlich gezeichnet ist, aus. Der Bürger ist bisher wenig an der Stadtentwicklung interessiert, da die Stadt in ihren Grenzen fest ist. Der nun einsetzende Wandel der städtischen Strukturen, bedingt durch neue Industrie- anlagen in der Nähe oder fern von Wohnquartieren, bewirkt eine Bevölkerungskonzentration in bestimmten Vierteln. Das führt dazu, dass sich neben den Zentren eine neue ungeordnete Stadt- entwicklung vollzieht, die einen rasanten Anstieg von Grundstückspreisen zur Folge hat. (Del- fante, 1999, S. 157.) Diese Entwicklungen verlaufen völlig unplanmäßig, da nach Beendigung der feudalen Tradition eine umfassende Bauordnung fehlt. Bestehende Vorschriften setzen sich mit dem Nachbarschaftsrecht oder möglichem Feuerschutz auseinander. Baustreitigkeiten wer- den unter Zuhilfenahme eines im Laufe der Zeit entstandenen Gewohnheitsrechts entschieden. In der Gebäudehöhe gibt es keine Einschränkungen. (Lubowitzki, 1989, S. 25ff.) Die sich ein- stellende liberale Bodennutzung führt zu einer Inanspruchnahme von Großflächen durch Ein- zelpersonen. Dieser Vorgang wird durch die Gewichtung des Verkehrs als Folge der Anlage neuer Eisen- bahnstrecken, die direkt zu den Städten oder unmittelbar an ihnen vorbeiführen, sowie den Bau von Zentralbahnhöfen verstärkt. Die Kohärenz zwischen Stadt, Industrie und Verkehr entwickelt eine Eigendynamik, bei der - in wiederholender Logik – sich die Stadtzentren nach einem veränderten Stadtmodell neu ausrich- ten. Es ist dabei unbedeutend, ob diese Zentren historisch gewachsen sind oder nicht, lediglich wirtschaftliche Vorgaben und Entwicklungen sind entscheidend. Führen nun die Planungen und Umsetzungen von städtischen Entwicklungen zu gewollten Siedlungsmustern? Auf die Handlungen von Personen und Institutionen bezogen stellt sich die Frage, inwieweit die daraus resultierenden Prozesse einmalig oder austauschbar sind? 2.6 Wird die Metaphorik des Raumes von Vorbildern abgeleitet oder ist sie Unikat? „Paris ist nicht nur die schönste Stadt, die je existierte, sondern auch die schönste Stadt, die je existieren wird.“ So beurteilt Napoleon56 (nach Delfante, 1999, S. 160) in der Mitte des 19. Jahrhunderts den städtebaulichen Kontext seiner Hauptstadt und hat eigene Vorstellungen von einem neu gestalteten urbanen Gesamtbild. Dabei verlässt er sich nicht nur auf die Planungen seiner Architekten, sondern gemäß seiner dirigistischen Einstellung bei Umsetzung von Entwür- fen leiten Minister und Präfekten die Veränderungen der Stadt an der Seine. Die Vorstellungen und Bilder zu einem neuen städtebaulichen Konzept hat Napoleon III. wäh- rend seines Exils in London gewonnen (Paul, 1989, S. 65). Hier hat der englische Architekt John Nash in den Jahren 1813 – 23 die Regent Street angelegt, welche ein besonderes Beispiel für spekulativ-unternehmerisches Vorgehen einer städtischen Bauentwicklung darstellt. Nash 56 Das Zitat kann sich nur auf Napoleon III. beziehen. Mit ihm beginnt in der Mitte des 19. Jahrhunderts der Umbau von Paris; Grundlage für seine Pläne bilden noch die Vorstellungen der Revolutionäre. Die Rue de Rivoli wird unter Napoleon I. begonnen, nach dessen Sturz jedoch werden die Arbeiten an der Straße eingestellt. (Paul, 1989, S. 67.) 26 setzt seinen Entwurf in den vornehmen Wohngebieten57 des Londoner Westens um. Nach Erlan- gen eines Parlamentsbeschlusses für die Baumaßnahmen und durch die Unterstützung seitens des Königshauses bekommt er freie Hand für die Umsetzung seines Vorhabens. Grundstücksankäufe, Abbrüche alter Quartiere, Finanzierungsprobleme, Bauleitung und später auch die Verpachtung liegen in Nashs Hand. Sein Projekt gelingt, und sein pekuniärer Verdienst ist immens. Das unternehmerische Risiko ist während der gesamten Phase sein persönliches Problem. Die kaufmännische und stadtgestaltende Initiative ist so erfolgreich, weil sich verschiedene Funktionen in der Regent Street vereinen. Sie ist einmal notwendige Verkehrsstraße, in be- stimmten Abschnitten Geschäftsstraße und hat ein gehobenes Wohnumfeld. Die Regent Street bildet eine in sich organische Einheit, die ein neues London à la miniature verkörpert.58 Im Londoner Westen beginnt Ende des 18. Jahrhunderts die Erschließung von neuem Bauland, das Eigentum der Großgrundbesitzer ist; diese verfolgen die Vermarktung des Bodens. Hier vollzieht sich die Umgestaltung der englischen Ständegesellschaft in eine liberale privatkapita- listische Industriegesellschaft. Während in London die Oberschicht die Parks59 mit Reiten, Gehen und auf dem Rasen sitzend in Anspruch nimmt, besuchen in Paris die mittlere Bürgerschicht und die kleinen Leute die An- lagen; sie bleiben dabei auf den Wegen oder setzen sich auf Bänke. Die Oberschicht flaniert hier lieber auf den Boulevards. Öffentliche Veranstaltungen werden in geschlossenen Räumen, wie „Salons“ und Hallen, organisiert. Damit war nur ein bestimmter Teil der Gesellschaft zugelas- sen, was den Rahmen der Veranstaltung exklusiver werden ließ.60 Es entwickeln sich in Paris und London zwei unterschiedliche Stadtbaumuster. In Paris schaffen Boulevards und breite Straßen eine Großordnung des Stadtraumes, der im Kleinen ungeordnet bleibt. In London wiederum bilden die alten Straßen ein Grundmuster, die Stadt wirkt ungeord- net, im Mikrobereich herrschen jedoch regelmäßig geplante Wohngebiete vor. (Paul, 1989, S. 68.) Die dirigistische Umsetzung der Planung bei der Gestaltung des Pariser Stadtgefüges zeugt von autoritärer Machtentfaltung, mit der Haussmann die Vorstellungen Napoleon III. umsetzt. So wird im Paris des 19. Jahrhunderts ein funktionales Stadtsystem entwickelt, das von oben, also durch die Macht des Staates, gelenkt und geordnet scheint. (Paul, 1989, S. 63.) Die Aspekte zur Entwicklung des Stadtbaus in London und Paris werfen für das Hohenzollern- viertel in Kassel verschiedene Fragen auf. 57 Anonymität (Benevolo, 1991, S. 846) wird zum Zeichen für die neue Stadtbevölkerung: Sie lebt ihr Leben unbemerkt von ihrer Umgebung. In der bisherigen Stadt existierte öffentliches und privates Leben unmittelbar nebeneinander, Wohnen und Arbeiten waren eine Einheit. In der neuen bürgerlichen Stadt werden diese Einrichtungen in Reihen nebeneinander und distanziert voneinander angeordnet. 58 Die eigentliche Regent Street, die nach einer S-Kurve beginnt ist mit Geschäften in den Erdgeschossen ausgestattet (Paul, 1989, S. 67). Gestaltungselemente sind offene Bogengänge und gleiche Fassadenauf- teilungen mit Balkonen in der 1. Etage zur Straßenseite. Bei diesen Elementen orientierte sich Nash an der Rue de Rivoli in Paris. (Paul, 1989, S. 67.) 59 Auch die Londoner Parks, die sich zur Stadt hin öffnen, sind nach englischem Parkgestaltungsideal einer inszenierten Landschaft angelegt, ähnlich den Stadtplätzen (Squares), Elemente, die Haussmann in Paris verwendet. Der Jardin du Luxembourg ist dagegen ein in sich geschlossener Park, der nun für die Bevölkerung geöffnet wird. Andere Parks wie der „Parc des Buttes-Chaumont“ entstehen. Sie verkörpern neue gärtnerische Elemente inmitten der geschlossenen Baukörper. Der Bois de Boulogne, früher könig- licher Jagdwald, wird zu einem Naherholungsgebiet umfunktioniert. 60 Es wird für Paris das Beispiel Théâtre de l´ Opéra angeführt, das nur über 2 000 Plätze verfügt, während Paris zu der Zeit 2 000 000 Einwohner hat, also nur jeder 1 000ste theoretisch die Möglichkeit besitzt, teilzunehmen. Im antiken Athen dagegen hätte fast die gesamte Bevölkerung im Theater des Dionysos Platz gefunden. (Benevolo, 1991, S. 847.) 27 Wie verhalten sich die öffentlichen Gremien gegenüber einer beabsichtigten Stadterweiterung? Liegt bei Vertragsabschluss zwischen Unternehmer und Kommune ein Gesamtplan vor? Unter- liegt die Planung naturgeografischen Persistenzen auf Grund der topografischen Lage des Bau- grundes? Vollzieht sich der Ausbau des urbanen Raumes als stetiger Prozess oder versuchen Unternehmer und kommunale Instanzen ständig darauf Einfluss zu nehmen? Inwieweit haben führende Stadtplaner wie Stübben und Baumeister Planungsvorbilder geschaffen, die Neugrün- dungen beeinflussen? Liegen in Kassel evidente Gestaltungselemente vor, die auf andere urbane Vorbilder schließen lassen oder stellt die Anlage des Hohenzollernviertels ein Unikat dar? 2.7 Sigmund Aschrott als Ideengeber und Macher – welche wirtschaftlichen Vorgänge bestimmen möglicherweise sein Denken und Handeln? Die Leinenindustrie ist wie die Industrie allgemein, Zyklen unterworfen, die einerseits von dem Markt und zum anderen von der Flachsernte abhängig sind. Die Weltwirtschaftskrise im Herbst 1857, die zwar in der Leinenindustrie zu keinen größeren Verlusten führt. (Blumberg, in: Mottek, 1960, S. 76), könnte den Verleger Aschrott bewogen haben, mit einem neuen Projekt zu beginnen. Da eine sich entwickelnde Industrie und Verwaltung bei stetigem Arbeitskräfteman- gel ein immenses Wohnungsdefizit vorfindet, befasst sich Aschrott, die Situation rechtzeitig erkennend, mit Bodenspekulationen.61 Sie stellen für ihn eine Anlageform dar, bei der Kapital gewinnorientiert investiert werden kann. Entscheidend kommt es bei dieser Form der Spekula- tion darauf an, ein geeignetes Terrain zu finden, das in der lokalen Stadtentwicklung von zu- künftiger Bedeutung ist und den Vorstellungen zum Wohnen für eine bestimmte Bevölkerungs- schicht entspricht. Leider lässt sich nicht feststellen, ob bei der Bodenspekulation Aschrott schon ein Stadtbild vorschwebt oder dieses sich erst während der Planungsphase entwickelt. Sein Bauvorhaben möchte der Macher für eine gehobene Gesellschaftsschicht umsetzen und ein Viertel gestalten, das den Bewohnern das Gefühl vermittelt, durch den Kauf eines Grundstücks oder durch Bezug einer Wohnung standesgerecht positioniert zu sein. Neben Einzelpersonen wie Sigmund Aschrott tragen auch Familien wesentlich zur Gestaltung gesellschaftsprägender Vorgänge bei. Die gesamtstädtischen Entwicklungspläne adaptieren beispielsweise für die Industriestadt Essen eine Stadterweiterung, „Margarethen-Höhe,“ in Form einer privaten Stiftungsinitiative, die wesentlich zur Diversifikation des Raumes auch hinsicht- lich des visuellen Erscheinens sowie des städtischen Gesamtgefüges beitragen. Das Siedlungs- projekt möchte die Familie Krupp auf einer Anhöhe am Rande von Essen für ihre Belegschaft errichten. Diese Stadtplanung scheint einen Gegensatz zu den Vorstellungen Sigmund Aschrotts zu bilden. Die Schaffung eines für eine bestimmte Bevölkerungsschicht geeigneten Wohnumfeldes bietet den Modus des metaphorisch Gegenwärtigen, welches hier als eine Zurschaustellung von Trug- bildern dient, die für den Vorbeigehenden, auch wenn momentan nicht personifiziert sichtbar, stets gegenwärtig sind. Der bauliche Ausdruck ist geprägt von dem Besitzstand und der Aus- strahlung des Eigners. So wird dessen Stellung innerhalb des Wohnumfeldes deutlich, spiegelt aber gleichzeitig dessen Wertigkeit in der Gesamtgesellschaft wider. Welches Korrelat besteht zwischen dem Erwerb eines immensen Bodenareals und einem zu entwickelnden Realobjektraum? Konvergiert die Disparität gewerblicher Attribute wie Kauf- mann, Fabrikant und Kommerzienrat zu einer Einheit und bilden sie eine charakteristische Um- 61 Der Wandel der städtischen Strukturen, der wiederum von der Bodennutzung abhängt und von der An- siedlung kleiner Betriebe und Fabriken in Wohngebieten bestimmt wird, führt zur Veränderung der Infra- strukturen, resultierend aus veränderten Bedürfnissen. Das bewirkt den Aufbau eines neuen Marktes, der mit Grundstückskäufen kalkuliert und von der Grundstückrendite bestimmt wird. (Delfante, 1999, S. 157.) 28 schreibung, um damit die Person besser erfassen zu können? In welchem Maße tragen Titel und Auszeichnungen zur Hierarchie in Preußen bei und schaffen für bestimmte Bevölkerungs- schichten die Möglichkeit einer narzisstischen Inszenierung ihrer Person im öffentlichen Raum? Nimmt der Initiator Aschrott die Vorstellungen und Ideale der Geschichte des Städtebaus auf? Divergierende Merkmale des Handels zu Bodenrendite, Schenkungen und Spenden bedürfen der Interpretation unter Berücksichtigung geschichtlicher, wirtschaftlicher und persönlicher Aspekte. Wie verhält sich die weitgehend agrarisch und kleinhandwerklich orientierte Bevölke- rung Wehlheidens zu dem städtebildenden Entwicklungsvorhaben? Mit welchen Argumenten beurteilt die städtische Administration von Kassel das Vorgehen von Aschrott? Erkennt sie die- ses als eine Belebung und Ausweitung des städtischen Umfeldes an oder werden die Aktionen als Schwächung des eigenen politischen Handelns verstanden? Für die ins Auge gefassten Maßnahmen des Initiators ist zu überlegen, ob sein Vorgehen stets zielgerichtet und weitblickend ist oder ob seine Planungen und Umsetzung spontan veranlasst sind und auf unmittelbare Lösungen drängen. 2.8 Decken sich mögliche Interpretationen des gestalteten Raumes mit den Zielen des Machers oder der Macher? In der gut hundertjährigen Existenz des Quartiers hat es eine Vielzahl von Veränderungen gege- ben. Diese beziehen sich auf die bauliche Entwicklung, seine Bevölkerungsstruktur, die Na- mensgebung von Stadtteil und Straßen, die Verbreitung von Geschäften, Gaststätten und Hand- werksbetrieben sowie die Einstellung und Bewertung der Kasseler Bevölkerung gegenüber die- sem Lebensraum. Eine Initiative zur Belebung von Handel und Industrie führt 1870 zu der „Allgemeine(n) Industrie-Ausstellung“ (Schmidtmann, 1993, S. 139). Für dieses Ereignis wird die Orangerie instandgesetzt, und es werden Ausstellungsgebäude in Leichtbauweise auf einem Teil der heuti- gen Hessenkampfbahn aufgestellt. In der Berliner satirischen Zeitung „Kladderadatsch“ wird diagnostiziert, „Cassel wird Weltstadt“ (Klein, 1988, S. 38), jedoch im gleichen Zusammenhang auf die misslichen Verhältnisse der kurfürstlichen Zeit hingewiesen. Tatsächlich nimmt die Besucherzahl der Stadt Kassel anlässlich der Ausstellung zu. Vorhandene Hotelbetten reichen nicht aus, Privatzimmer müssen hinzugenommen werden. In diesem Jahr ist gerade die Straßenplanung zwischen Aschrott und der Stadt für die Neuanlage vom Ständeplatz bis zur Querallee abgeschlossen.62 Die Bevölkerung bekommt einen größeren Anteil an Beamten und Dienstleistenden. Preußische Beamte und junge Familien aus der Berli- ner Verwaltung wollen womöglich den dortigen Lebensalltag nach Kassel übertragen, was eine Teilerklärung für den Begriff Weltstadt liefern kann. Welchen Einfluss nimmt die Belegung des Quartiers mit Beamten und Dienstleistungsange- stellten von unterster bis höchster Positionierung auf das politische Spektrum im Kaiserreich und dann in den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts? Ist die Meinungsbildung zur Zerstörung des Aschrottschen Rathausbrunnens im September 1933 in der politischen Einstellung des Ho- henzollernviertels zu suchen? Erleben heutige Stadtteilbewohner das vom Planer beabsichtigte Wohngefühl? Wie verhält sich die Einstellung der Stadtteilbewohner zu Wohnqualität und Le- bensgefühl gegenüber anderen Stadtteilen der Gesamtstadt? 62 Aschrott hat noch fehlende Grundstücke westlich des Ständeplatzes infolge eines Enteignungsver- fahrens, das mit dem Einverständnis der Stadt durchgeführt und durch den König genehmigt worden ist, hinzugewonnen (Schmidtmann, 1993, S. 144). Somit war der Bau durchgehender Straßenzüge möglich. 29 3 Wirtschaft des Handlungsraumes im historischen Aufmaß 3.1 Wirtschaft des Kurstaats im 19. Jahrhundert 3.1.1 Bevölkerungsentwicklung Ausgangspunkt einer Interpretation für die industrielle, soziale und politische Entwicklung einer Gesellschaft stellt die Zu- oder Abnahme der Bevölkerung dar. Sie ist wiederum eine Folge der Ernährung, der hygienischen Veränderungen, der medizinischen Versorgung. Damit erfolgt ein Zurückdrängen von Infektionen bei Massenerkrankungen. Dies wird deutlich in der Aufstellung der Bevölkerungszahlen63 für Stadt und Landkreis Kassel sowie den Kreis Melsungen. Bevölkerungszahlen für die Jahre 1819 1840 1846 1849 1855 1871 Stadt Kassel 23296 31819 34547 35794 36849 46362 Landk. Kassel 24727 33117 34450 35415 34757 39560 Kreis Melsungen24581 30571 31498 30917 29339 27635 Abb.: 1 Grafische Übersicht der Bevölkerungszahlen Wie lässt sich der Bevölkerungsrückgang für 1855 im Landkreis und der Rückgang ab 1846 für den Kreis Melsungen erklären? Anfang der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts gibt es einen starken Produktionsabfall im Leinengewerbe, einem Haupterwerbszweig eines Großteils der Landbevölkerung, der durch die amerikanische Wirtschaftskrise von 1837 und die in England maschinell hergestellten Baumwollgewebe ausgelöst wird. Parallel dazu sinkt die Nachfrage nach Schockleinen, dem Hauptprodukt der kurhessischen Weber (Daschner, 1968, S. 158/159.) 63 In diesem Abschnitt werden nur Bevölkerungszahlen für die Stadt und den Landkreis Kassel und dem Landkreis Melsungen vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis in die 70er Jahre des Jahrhunderts berücksichtigt, insofern diese für die Entwicklung des Aschrottschen Leinengeschäfts von Relevanz sind. 30 Gleichlaufend zum wirtschaftlichen64 Niedergang kommt es in der Landwirtschaft zu Missern- ten, wobei die Ernten 1846/47 negativ65 sind. Die Verschlechterung der Lebensbedingungen mündet in einer Auswanderungswelle nach Amerika66 oder die Menschen suchen Arbeit in anderen Ländern.67 In Kassel steigt die Bevölkerung nur geringfügig, erst nach 1867 kommt es zu stärkerem An- stieg, nämlich um 11,48%.68 Diese geringe Zunahme kann nur mit dem allgemeinen wirtschaftlichen Zustand erklärt werden, worauf im Folgenden näher eingegangen wird. Die Entwicklung neuer Industriestandorte wird begleitet von einer Wanderungsbewegung der Bevölkerung auf Grund des wirtschaftlichen Gefälles von den agrarischen Gebieten in die in- dustriellen Zentren. Die Stärke der Anziehungskraft von Arbeitsstandorten resultiert aus der Breite des Arbeitsangebots, was wiederum für die Wanderbewegung bedeutet, dass sich die Migration auf das nähere Umland beschränkt oder weiter entfernte Gebiete einschließt. Summa69 führt eine Berechnung der Zuwanderung durch und stellt für Kassel heraus, dass sie in den vierziger Jahren bis 1852, weiter von 1867 bis 1875 und dann ab den 80er Jahren fortlau- fend stattfindet. Eine Stagnation kennzeichnet die fünfziger und sechziger Jahren und ebenso die Zeit zwischen 1876 und 1880. Die Veränderungen durch die preußische Verwaltung, end- gültige Aufhebung des Zunftzwangs und die damit verbundene Gewerbefreiheit70 zeigen in der Zeit von 1868 bis 1875 ein signifikantes Ansteigen der Zuwanderung (Summa, 1978, S. 75.) 64 Die Ständeversammlung am 24. November 1864 äußert sich zu der wirtschaftlichen Entwicklung und nimmt eine Standortbestimmung für den Bereich der Landwirtschaft vor. „Kurhessens Wohlstand würde vollends geschwunden sein, wenn nicht wenigstens der ländlichen Bevölkerung in den Ablösungsge- setzen von 1832 und1848, in der Aufhebung der Frohnden, Zehnten, Zinsen, des Lehnsverbandes und der vornehmlich drückenden Bann- und Zwangsrechte noch zu rechter Zeit ein Rettungsanker dargeboten wäre.“ Beilagen zu den Verhandlungen des Kurhessischen Landtags vom 3. Januar 1865 bis 24. Oktober 1865, Landtagsperiode 1864 – 66, 2. Bd. (Enthalten die Nummern 68 – 180 einschl., Kassel 1866, in: Möker, 1977, S. 55.) 65 Weiter fehlt ein Verkopplungsgesetz (Möker, 1977, S. 55), welches eine Flurregulierung vorantriebe und die verstreuten Kleinparzellen beseitige. 66 In den Jahren 1839/40 wandern 5 000 Menschen aus den Kreisen Kassel, Eschwege, Fritzlar, Hofgeis- mar, Homberg, Melsungen, Rotenburg, Witzenhausen und Wolfhagen nach Amerika aus (Möker, 1977, S. 29). Damit gehen dem Land nicht nur gute Arbeitskräfte verloren, sondern sie schwächen auch den inländischen Kapitalmarkt, weil die Auswanderer erspartes Vermögen mitnehmen. Schon im 18. Jahrhundert hat es eine starke Auswanderungswelle, besonders aus nassauischen Gebieten, gegeben. Zielgebiete der Auswanderer sind das überseeische Nordamerika sowie osteuropäische Immi- grationsgebiete. Auch finanzielle Einbußen und Verbote verhindern die Wanderbewegung nicht; es kommt zur Entleerung ganzer Dörfer. Nicht weniger als 14 Siedlungen mit dem Namen Frankfurt existieren in Nordamerika und im Bundesstaat Delaware gründeten ehemalige hessische Legionssoldaten Neu-Cassel, ein anderes Cassel findet man in Kalifornien. (Pletsch, 1889, S. 130.) 67 Die „kräftige arbeitsfähige Jugend“ verlässt wegen fehlender Verdienstmöglichkeiten das Gebiet in Richtung der Provinz Sachsen, nach Westfalen, den Rheinlanden oder nach Holland (Möker, 1977, S. 58). 68 Für den Zeitraum von 1861 (41 587 Einw.) bis 1871 (46 362 Einw.) (Möker, 1977, S. 8) kommt es zu einem Anstieg von 4 775 Einw., das entspricht einem Prozentsatz von 11,48%. Summa spricht von einem Wachstum zwischen 1840 und 1867 um 362 Personen pro Jahr. 69 Die Ermittlung der Zuwanderung lässt sich aus der Verknüpfung zweier Subtraktionen ermitteln. Bevölkerungszunahme: Einwohnerzahl (z.B. 1870) – Einwz. (z.B. 1867)= 1. Differenz Geborenenüberschuss: Zahl (z.B. 1870) – Zahl (z.B. 1867)= 2. Differenz, daraus leitet sich die Subtraktion ab: 1. Differenz – 2. Differenz= 3. Differenz (Maßzahl für die Zuwanderung). Die mathematische Formulierung entspricht dem sprachlichen Berechnungsmodus nach Summa (Summa, 1978, S.75). 70 Die Zunftbestimmungen regelten den Absatz heimischer Handwerker, führten aber durch komplexere Betätigungsfelder des Handwerks zu dauernden Abgrenzungsstreitigkeiten für die Handwerksausübung. Weiter sind die Handel- und Gewerbetreibenden bestrebt, eine Freizügigkeit für ihren Bereich zu erzielen und dringen auf Revision der Zunftverfassung von 1816. Eine Kommission der Gewerbetreibenden legt dem Innenministerium am 4. Mai 1864 einen Gesetzentwurf, der die Niederlassungsbeschränkung auf- 31 Neben der Bevölkerungsexpansion ist der Auf- und Ausbau des Eisenbahnnetzes ein Impulsge- ber für die wirtschaftliche Entwicklung und Indikator für die industrielle Leistungsfähigkeit, was zum nächsten Punkt führt. 3.1.2 Kurhessens Eisenbahnstrategie Ein zweiter Parameter für den wirtschaftlichen Aufbau eines Landes während der Industriellen Revolution bildet die Einführung des Eisenbahnnetzes. Ihren Anfang nimmt die Eisenbahn in England. Dort findet die wirtschaftliche Entwicklung früher statt. Die Erfindung der Lokomo- tive ermöglicht eine größere Mobilität für Güter und Personen. Zu wirtschaftlichen Aufschwüngen kommt es nach Ansicht von Wirtschaftstheoretikern, wenn sich bedeutende Innovationen einstellen. Mit der Dampfeisenbahn vollzieht sich eine Intensivie- rung des Industrialisierungsprozesses bei dem wichtige neue Industriebranchen für die Produk- tion entstehen. Außerdem bildet sich ein tertiärer Sektor im Beschäftigungsbereich heraus (Sutcliffe,1983, S. 35.) Jedoch ist es der deutschen Eisen- und Maschinenindustrie in den drei- ßiger Jahren des 19. Jahrhunderts nicht möglich, notwendige Industriegüter, wie Schienen und Lokomotiven, selbst zu produzieren. Der für den Auf- und Ausbau einer nationalen Volkswirt- schaft erforderliche Güterausstoß wird anfangs mit ausländischen Produkten gedeckt. Dieses Manko treibt die Wirtschaft an, die Güter durch inländische Herstellung zu ersetzen (Fremdling, 1985, S. 77.) Die Weitsicht, der Pioniergeist sowie das Unternehmerexperiment einiger Männer, wie des badischen Staatsrats Nebenius und des rheinischen Industrievertreters Friedrich Harkort, führen das Transportmittel auch in Deutschland ein. Propagandistisch wird das Vorha- ben vom Nationalökonom Friedrich List unterstützt, der mit einem Eisenbahn-Journal und National-Magazin71 1835 versucht, die staatlichen Stellen und Teile der Bevölkerung zu beeinflussen. Von der Notwendigkeit sind auch die Staatsadministration, die den Bau genehmi- gen soll, und mögliche Kapitalgeber zu überzeugen. Am 7. Juli 1835 verkehrt der Dampfzug zwischen Nürnberg und Fürth.72 Werden in Preußen 1840 weniger als 10% Lokomotiven eingesetzt, die in Deutschland produziert sind, steigt der Anteil 1853 auf über 90% (Fremdling, 1985, S. 77.) Bahnen bauen in Preußen bis 1848 nur Privatleute oder Gesellschaften; danach wächst das Engagement des Staates im Eisenbahnbau73, der ab 1860 zunehmend die Privatbahnen übernimmt. Ab 1880 wird die Bahn schließlich zum Staatsmonopol. Staatspapiere und Versicherungsaktien, die bisher den Kapitalmarkt beherrsch- ten, weichen den neuen Industrieaktien, mit denen die immensen Investitionen, vor allem bei der Beschaffung von Grund und Boden, finanziert werden. Allerdings stellt man auch für den Anleger attraktive Dividenden in Aussicht. Die Aktien werden zu Spekulationsobjekten, mit hebt, vor. (Summa, 1878, S. 17.) Dieser Entwurf kommt nicht mehr zur Behandlung in den Landtag, und erst die Preußische Regierung hebt das Zunftmonopol am 29. März 1867 auf und beschließt die Gewer- befreiheit in der Provinz Hessen-Nassau am 21. Juni 1869 (Summa, 1978, S. 17). Schmidtmann beschreibt seine Geschäftsgründung als Architekt, Maurer- und Steinhauermeister so: er habe den Ent- wurf, alle Zeichnungen wie auch Detaildarstellungen für einen Neubau in sauberer Ausführung für seinen Meisterbau eingereicht und er wolle auf diese Weise von der Ausführung des Meisterstücks, das seiner Meinung nach nur „ein verschrobenes Gipsmodell“ gewesen wäre, befreit werden, „aber der Zunftzopf ließ solche Erwägungen nicht zu.“ Weiter berichtet er, dass kurze Zeit später die mittelalterlichen Rechte aufhörten und nun seine Geschäftsgründung nichts mehr hinderte. (Schmidtmann, 1993, S. 128/129.) 71 In dem Eisenbahn-Journal steht unter Ankündigung: „Die Vorbereitung eines allgemeinen deutschen Eisenbahnsystems ist ein Hauptzweck dieses Blattes. Die Redaktion wird sich daher besonders bestreben, richtige Ansichten über den Nutzen der Eisenbahnen, über die zweckmäßigste Bauart derselben und über die Richtung der Hauptrouten zu verbreiten,...“(in: Hentschel, 1980, S. 116.) List entwickelt einen Ent- wurf für ein nationaldeutsches Eisenbahnsystem; im Mittelpunkt steht dabei das Zentrum der sächsischen Industrie, die Stadt Leipzig (Droege, 1972, S. 161). 72 1839 folgen die Strecken Leipzig – Dresden, Berlin – Potsdam, 1840 Leipzig – Magdeburg, München – Augsburg (Hentschel, 1980, S. 116/117). 73 Bei der für die Militärlieferung zu hinterlegenden Kaution verwendet Katzenstein vorwiegend Papiere von Eisenbahn-Gesellschaften (s. Kap. 9.1.5). 32 denen man viel gewinnen, aber auch alles verlieren kann. Die Gesellschaften werden strenger Aufsicht unterworfen, um so von Seiten des preußischen Staates Spekulationen zu minimieren (Droege, 1972, S. 161). Für Kassel, wo sich auf Grund seiner zentralen Lage bedeutende Handelsstraßen kreuzen, kann ein auf die Stadt projektiertes Eisenbahnsystem nur positive wirtschaftliche74 Impulse bewirken. Zum anderen sind die östlich und westlich liegenden Teile Preußens auf kürzestem Wege über Kassel zu verbinden, weiter sollen dabei auch die Absichten der anderen Nachbarstaaten über die günstigste Streckenführung mit einbezogen werden. 1841 kommt es zur Einigung zwischen Preußen, Kurhessen und den Thüringischen Staaten über die Verbindung Halle-Erfurt-Eisenach- Bebra-Kassel-Warburg75 mit einem Seitenzweig nach Carlshafen. Sie wird 184576 begonnen und nach dem Kurprinzen und Mitregenten Friedrich-Wilhelm-Nordbahn77 benannt. (Macken- sen, 1984, S. 23.) Nach dreijähriger Bauzeit78 wird die Strecke am 18. August 1848 einge- weiht.79 Seit 1848 wird die Strecke stückweise in Betrieb genommen (Jacob, 1929,S. 8). Diese Linien- führung bedeutet für Kurhessen nur zweite Wahl, da Preußen bereits mit Braunschweig und Hannover eine Ost-West-Verbindung aushandelte. Die für Kurhessen günstige Linie Halle- Nordhausen muss vorerst entfallen. Eine für Kassel nachteilige Nord-Süd-Strecke Hannover- Göttingen-Bebra soll jedoch umgangen werden. Aus diesem Grund kommt es zur Streckenpla- nung nach Frankfurt über Marburg-Giessen. Dieser Vertrag wird 1845 geschlossen. Der Bau der Main-Weser-Bahn mit der eben genannten Verbindung wird schließlich 1850 angefangen und im Mai 1852 beendet. Die Strecke nach Hannover über Dransfeld, Göttingen ist 1856 fertigge- stellt. 74 So kommt es schon 1833 zur Gründung eines Eisenbahnvereins einflussreicher Kasseler Bürger unter denen Oberbergrat Carl Anton Henschel der bekannteste ist (Summa, 1978, S. 25); bereits im Oktober 1832 bereist Henschel, mit Förderung durch den hessischen Landtag (Beihilfe 200 Taler) England und lernt dort George Stephenson kennen. Henschel berichtet einem Freund am 18. April 1833: „In der Eisen- bahnsache erkenne ich eine Wohlthat für die Menschheit und will mich ihr ernstlich widmen, so gut ich vermag“ (Wegner, 1984, S. 66). Infolge der sich hinziehenden staatlichen Verhandlungen zwischen Preußen und Kurhessen verbietet der Kurfürst den Eisenbahnverein wieder, um so den Verlauf der Gespräche nicht zu stören (Summa, 1978, S. 25). 75 Die noch eingeschränkte Technik und die daraus resultierende Überwindung von nur geringer Steigung erlaubt nicht die Querung der Höhen am Schäferberg bei Vellmar sowie weiterer Höhenzüge nach Norden. Das erfordert den Umweg über Hofgeismar, Hümme durch das Diemeltal nach Warburg. (Münzer, 2002, S. 134.) 76 Diese Linie wird mit einem privaten Aktienunternehmen entwickelt. In Carlshafen hat die Bahn Anschluss an die Weserschifffahrt von Münden bis Bremen (Jacob, 1929, S.8). 77 Sie hätte schon wesentlich früher begonnen werden können, aber der Kurfürst sperrte sich gegen die Gründung einer Aktiengesellschaft von Frankfurter Banken, stimmte jedoch später dieser Finanzierung zu (Summa, 1978, S. 25/26). 78 Die Aktiengesellschaft zum Bau der „Friedrich-Wilhelms-Nordbahn“ zeichnet Aktien zu 100 Talern, wobei 10% bei Zahlung zu entrichten und jeweils weitere 5% in Vierteljahresraten, bis Mitte 1849 der volle Betrag erfüllt ist. Während der Bauzeit wird das Geld mit 4% verzinst. Die Reingewinne sind mit 6% an den Aktionär auszuzahlen. Dazu kommt es nicht, erst 1852 zahlt die Gesellschaft 17 Sgr. als erste Dividende. In den Folgejahren steigt diese bei zunehmendem Verkehr auf der Strecke nicht über 4,5%. Bei Fusionierung der Gesellschaft mit der Bergisch-Märkischen Eisenbahn 1868 wird den Aktionären ein Gewinn von 5 Talern pro Jahr und Aktie angeboten. Das Aktienkapital reicht nicht für die Baufinanzierung, es kommt zu mehrfachen Anleihen: Eine Vorzugsanleihe von 2000000 Talern bei 5% Vorzugszinsen (später nur 4,5%, dann 4%), 1849 Darlehen der kurhessische Staatsregierung über 500000 Taler, Kostenbeitrag der Regierung von 1600000 Taler (mit 3,5% Vorzug-Obligationen) und ein 4,5% Darlehen von S. Bleichröder, Berlin. 79 Der geschmückte Personenzug, bestehend aus drei Personenwagen, verlässt den provisorischen Bahn- hof Cassel besetzt mit Ehrengästen und wird beim Passieren des Tannenwäldchens von einer Menschen- menge bejubelt. Nach einer Stunde Fahrt erreicht der Zug Grebenstein, das vorläufige Ende des ersten Bauabschnitts. (Rudolph, 1998, S. 84/85.) 33 Nach dem Anschluss Kurhessens und Hannovers an Preußen vereinfachen sich die Planungs- probleme und der Streckenausbau gewinnt an Tempo. 1868 wird schließlich die Linie Bebra- Fulda-Hanau eröffnet und als 1874 die Verbindung Bebra-Göttingen fertiggestellt ist, steigt Bebra zu einem wichtigen Eisenbahnknotenpunkt80 auf und Kassels Situation als Drehscheibe des Schienenverkehrs wird geschwächt. (Summa, 1978, S. 25/26.) Der Bahnbau in die Seitentäler der Fulda erfolgt nach dem deutsch-französischen Krieg 1870/71 als eine Ost-West-Verbindung. Sie trägt den Namen „Berlin-Coblenzer-Eisenbahn“ als Ge- samtstrecke (Gießler, 1983, S. 6).81 Die eisenbahntechnische Erschließung des Lossetals wird in den Jahren 1877-80 mit der Nebenstrecke Kassel-Waldkappel umgesetzt (Jacob, 1927, S. 45). In Großbritannien und Deutschland82 treibt der Ausbau des Eisenbahnnetzes das Wachstum der Städte voran. Die Regierungen stützen mit Absicht die städtischen Bauentwicklungen, um die Bedeutung der Eisenbahn als Multiplikator für eine boomende Wirtschaft zu benutzen. Die stets wechselnden Investitionen beim Ausbau der Strecken in den Jahren 1850-70 werden von einem kontinuierlichen Anstieg der jährlichen Baurate flankiert. (Sutcliffe, 1983, S. 45/46.) 1852 kommt es zur Planung des Bahnhofsgebäudes und damit zur Zentrierung des Eisenbahn- verkehrs auf eine Station; das Bahnhofsgebäude83 wiederum nimmt 1857 als „Oberstadtbahn- hof“ den Betrieb auf (Klaube 2002, S. 40).84 Die Stadtrandlage dieses neuen Verkehrsknotens erlaubt den Anschluss weiterer Bahnlinien.85 So werden die Voraussetzungen geschaffen, die Absatzmärkte verkehrstechnisch einfacher und preisgünstiger zu erreichen und einen direkten Anschluss an die Rohstofflager zu erhalten (Jüngst, 1996, S. 165). Mit der Eröffnung des Bahnhofs86 erfährt die „Friedrich-Wilhelm-Stadt“87 neue Impulse für ihre Weiterentwicklung und Aufwertung. Diese Stadterweiterung wird 1833 geplant und in mehre- ren Planausführungen konkretisiert. Die Federführung dabei obliegt dem Hofbaudirektor Julius Eugen Ruhl (1796-1871), aber auch der Kurprinz und Mitregent Friedrich-Wilhelm wirkt an den Plänen mit. 80 Seit die Linie von Frankfurt über Fulda, Bebra, Göttingen als östliche Konkurrenzlinie vorbeigeführt wird, erweist sich eine Strecke von Thüringen über Kassel nach Frankfurt als indiskutabel. Die hervor- gehobene Stellung Kassels im Schienennetz wird hiervon stark beeinträchtigt. Die Richtung von Kassel nach Süden wird in größerem Umfang frequentiert als die entgegengesetzte Richtung, bei der häufig Leerzüge auftreten. Mit der Transportauslastung rangiert die Main-Weser-Bahn eindeutig vor der Friedrich-Wilhelms-Nordbahn. (Schmidt, 1927, S. 63.) 81 Für die Abkürzungsstrecke werden Leinefelde, Eschwege, Waldkappel, Spangenberg, Malsfeld und Treysa verbunden, wo sie auf die Main-Weser-Bahn trifft. Im Frühjahr 1879 verkehren Züge auf Teilstrecken. Die Bahn erhält den Beinamen „Kanonenbahn“, weil auf der Strecke Kriegsmaterial nach Westen befördert werden soll. (Gießler, 1983, S. 6-8.) 82 In Frankreich wird die Eisenbahn als Werkzeug für nationale ökonomische und militär-strategische Politik benutzt. Das französische Parlament hat bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die wirtschaftlichen Entwicklungen in Deutschland misstrauisch beobachtet und als Hauptaufgabe der Eisenbahn festgelegt, Paris mit der östlichen Grenze des Landes zu verbinden, um damit zu ermöglichen, einmal Truppen aus Osten in die Hauptstadt zur Niederschlagung von Aufständen zu bringen und weiter durch schnelle Verlegung von Truppen die Landesgrenze zu sichern. (Sutcliffe, in: Fehl, 1983, S. 45.) 83 Das Bahnhofsgebäude wird von dem Hofbaudirektor Gottlob Engelhardt geplant und ist „seinerzeit viel und mit Fug und Recht bewunderte architektonische Leistung“ (Brunner, 1913, S. 436). 84 Weiter heißt es. „Nach dreijähriger Bauzeit ist in diesem Jahr [1857] der „Oberstadtbahnhof“ fertiggestellt“ (Klaube, 2002, S. 40). 85 Nach der Hannoverschen Südbahn 1856 wird weiter die Strecke Halle-Kassel 1872-75 angebunden (Jacob, 1929, S. 8). 86 Der veränderte Kraus`sche Stadtplan von 1848 zeigt das Bahnhofsempfangsgebäude noch in der Fluchtlinie des äußeren Boulevards. Die Planung wird später dahingehend verändert, dass das Gebäude schräg ausgerichtet wird, um in Sichtachse zur Museums- und Bahnhofsstraße (Kurfürsten- und Werner- Hilpert-Straße) zu erscheinen. (Wiegand, 2002, S. 224.) 87 Jüngst bezeichnet diesen Bereich als Friedrichsstadt-Erweiterung (ca. 1835) (Jüngst, 1994, S. 17). 34 3.2 Textilproduktion, Grundlage der heimischen Wirtschaft Die ordnungspolitischen Vorgaben im Kurstaat sind bestimmt durch die Zunftordnung vom 5.3.1816, diese setzt die Wirtschaftsregeln der Landgrafschaft von vor 1815 fort. An den Regu- larien wird von wenigen Ausnahmen abgesehen bis Mitte der 60er Jahre festgehalten. Die im Königreich Westfalen betriebene Gewerbefreiheit88 findet keine Fortsetzung. Vom Zunftzwang sind „Großhändler, Versender, Fabrikanten und Manufakturisten“ ausge- nommen. Dabei können bei großen Mengen „rohe Stoffe“ zu anderer Gestalt oder Form (z. B. mit Flachs Leinen weben) bearbeitet oder in großen Mengen verkauft werden. (Möker,1977, S. 45.) Nach § 14 ist es schon seit rund vierhundert Jahren den Schuhflickern, Bauernschneidern, Lein- und anderen Webern u.a. im Dorf erlaubt, ihr Gewerbe ohne Zunftorganisation auszuüben. Die Ausbildungsvorschrift der Lehrlinge zeigt, diese sind im Winter wenigstens mit zwei Dritteln und im Sommer mit der Hälfte der Arbeitszeit in ihrem Handwerk zu beschäftigen, da neben handwerklichen Tätigkeiten auch Haus- und Feldarbeiten zu erledigen sind. Die nicht dem Zunftzwang unterliegenden Gewerbe bedürfen jedoch einer Konzession, die sie bei der zuständigen Polizei- Kommission zu beantragen haben. Diese Anträge werden zur Weiterbearbeitung an die Regierung oder die Finanzdirektion der zuständigen Provinz oder die Oberberg- und Salzwerkdirektion zur Genehmigung weitergeleitet. Erst mit der königlichen Verordnung vom 29. März 1867 erfolgt die Beseitigung vieler zünftiger Vorrechte und auch die Gewerbefreiheit wird auf diese Weise eingeleitet, ehe 1869 die kurhessische Gewerbepolitik entgültig beseitigt ist. Der Konzessionszeitraum beträgt in kurhessischer Zeit 3 Jahre, wobei die Ausstellungsbehörde jedoch ihre Anordnung jeder Zeit widerrufen kann. Solche Regelung behindert die Beantragung neuer Einrichtungen und ist nach Möker als investitionsfeindlich anzusehen. (Möker, 1977, S. 45-49.) Da jedoch in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts die Wanderpflicht von Gesellen abgeschwächt wird, kommt es nicht mehr zu einer großen Zahl neu ausgebildeter Arbeitskräfte. Um die Lücke zu schließen, drängen besonders Ungelernte auf den Markt, um ihre Einkünfte zu steigern. Die Leineweberei ist leicht zu erlernen und so eignen sich Schulmeister und Soldaten diese Tätigkeit an. (Daschner, 1968, S. 30.) Die Preise für pflanzliche Nahrungsmittel verbuchen in Misserntejahren (1817, 1847, 1854-56) extreme Steigerungsraten, dagegen fallen sie bei guten Ernten auf ein relativ geringes Niveau zurück. Anders verhalten sich die Fleischpreise; diese steigen seit den 20er Jahren ständig und auch bei Hungersnöten wird das Fleisch nicht preiswerter angeboten. Möker folgert daraus, dass Fleisch für eine breite Bevölkerungsmasse nicht in Betracht kommt. (Möker, 1977, S. 77.) Durch die erhöhten Ausgaben beim Erwerb von Agrargütern werden die Einkommen der von der Lohnarbeit abhängigen Bevölkerung so belastet, dass die niedrigen Nominaleinkommen seit Mitte der 40er Jahre die Ausgaben zur Existenzsicherung kaum decken. Durch schnellen Verbrauch des Ersparten hat man die niedrig liegende Verschuldungsgrenze schnell erreicht. Die Veränderung der Agrarpreise als Folge des Wechsels von schlechten und guten Ernten er- möglichen bei kurzen Missernteabschnitten weiter vom Ersparten oder Geborgten zu leben, um in der Periode besserer Ernteerträge ersteres ausgleichen zu können. Die aufeinander folgenden Missernten (1854-56) führen zu Existenznöten weiter Bevölkerungsteile. In dieser Periode ver- 88 In Verfügungen für die kurhessischen Staaten wird zur Zunft gesagt, sie habe sich bewährt und der deutsche Handwerker sei im Ausland auch anerkannt, während bei Gewerbefreiheit in der Zeit der Besetzung durch die Franzosen „glückliche Folgen nicht wahrnehmbar sind.“ (Sammlung von Gesetzen, Verordnungen, Ausschreibungen und sonstige allgemeine Verfügungen für die kurhessischen Staaten, 1816, S. 9, in: Möker, 1977, S. 44). 35 suchen viele durch Auswanderung, wie bereits angesprochen, oder durch zeitlich begrenzten Aufenthalt in einem anderen Land89, ihre Existenzkrise zu lösen. Am stärksten leiden die Bevölkerungsgruppen, die ausschließlich mit gewerblicher Arbeit oder lohnabhängiger Arbeit90 (Handwerker, Tagelöhner usw.) Geld verdienen. Während andere, die von Lohnarbeit in Verbindung mit dem Einsatz in ihrer Kleinlandwirtschaft leben, die Lebens- mittel zum Teil selbst erwirtschaften können und somit ein gesichertes Auskommen haben. (Möker, 1977, S.77.) Eine Statistik von Niederhessen unterstreicht diese Aussage; so weisen im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts 48% der Landwirtschaftsbetriebe eine Fläche kleiner als 1 ha aus; diese können auf Grund der Größe nur zum Nebenerwerb dienen (Möker, 1977, S. 81). Bei Betriebsgrößen zwischen 1-2 ha, die 13% aller Betriebe umfassen, wird für das 19. Jahrhundert die Grenze zwischen Landwirtschaft im Haupt- und Nebengewerbe gezogen. Somit ist festzuhalten, dass 61% aller Betriebe eine Fläche kleiner als 2 ha messen und mit einer solchen Betriebsgröße die Existenz einer bäuerlichen Familie nicht gesichert werden kann. Bezirk Bis 1ha 1-2ha 2-3ha Mehr als 3ha Niederhessen 48,00 13,00 9,00 30,00 Oberhessen 51,27 13,80 10,25 24,68 Hersfeld u. Rotenburg 65,00 13,00 7,60 14,40 Abb.: 2 Prozentuale Verteilung von Betriebsgrößenklassen (Baumbach, in: Möcker, 1977, S. 81) Unter dem Gesichtspunkt der Evidenz von Arbeitsplätzen kann die Zunahme von Beschäfti- gungsmöglichkeiten in der Leinenherstellung91 nicht mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten und auch im gewerblichen Sektor stagniert das Arbeitsangebot, so entstehen in Dörfern, die ausschließlich an diesen Erwerbszweig gekoppelt sind, massivste Existenzkrisen und Hun- gersnöte. Die seit 1816 einsetzende maschinelle Produktion von Leinen in England und Schottland ver- sorgt die Kolonialmärkte in ausreichendem Maße und zu niedrigen Preisen, was sich für den hiesigen Export als drohender Rückschlag erweist. Die 1837 in den USA einsetzende Wirt- schaftskrise sowie Revolutionen im süd- und mittelamerikanischen Raum (Möker, 1977, S. 85) schotten die Märkte zusätzlich ab. Weiter scheitert der Export über Bremen an dem Risiko, das Schockleinen mit Rohrzucker bezahlen zu wollen, wobei dieser durch Konkurrenz des aufkom- menden Rübenzuckers schwerer zu verkaufen ist (Kirchner, 1921, S. 85). Diese Rahmenbedin- gungen und die vorher beschriebene Ernährungssituation zeichnen den Niedergang des hessi- schen Leinengewerbes vor, und es scheint zu Beginn der 40er Jahre endgültig am Boden zu liegen. In dem Jahresbericht 1842 des Distriktvereins wird das bei der Rückläufigkeit des Flachsanbaus in Witzenhausen deutlich. Hier entstehen Unkosten beim Anbau, die durch die Verdienste der Spinner und Weber 92nicht auszugleichen sind. 89 Darunter sind die periodisierten Wanderbewegungen nach Westfalen, den Rheinlanden oder die Provinz Sachsen zu verstehen. 90 Seit der Jahrhundertmitte schwächt sich der demografische Anstieg, von der Auswanderungswelle beeinflusst, ab (Seier, 2000, S. 138). 91 Der Gebrauch von Hemden, (Anm. d. Verf. : Gemeint sind feste Arbeitshemden für Landarbeiter und Sklaven) bringt den hessischen Leinenhandel erneut in Schwung. Seit Mitte des 18. Jhts. wird die Leinenproduktion über Bremen nach Holland, England, Spanien und Amerika verschifft (Landau, 1842, S. 16). 92 Nach Hildebrand erhielt ein guter Handspinner der 40er Jahre als Obergrenze 2 ½ Sgr., ein guter Hand- werker verdiente in der gleichen Zeit 6 Sgr. (Möker, 1977, S. 85). 36 Augenfällig wird das an dem Prozentsatz für Beschäftigtenzahlen; so beträgt dieser für die Ar- beitenden 1740 im Leinenhandel 2,8%93 gegenüber der Gesamtbeschäftigtenzahl. 1846 sank der Prozentsatz auf 0,45% ab. Außerhalb der Städte kommt es im fabrikarmen Kurhessen zu einem Pauperismus, der zu einem sozialen Siechtum führt, „das über die konjunkturbedingte Armut hinausging und zumal in Oberhessen zeitweise Katastrophencharakter annahm“ (Seier, 2000, S. 138). Die Ursachen sind nicht nur bei Missernten, der geringen Betriebsgröße im Nebengewerbe oder den verschlossenen Absatzgebieten zu suchen, der Verkaufseinbruch im Leinengewerbe ist ebenso auf eine technisch stehen gebliebene und veraltete Produktionsmethode94 zurückzufüh- ren. Verbesserungen an der Technik der Handwebstühle werden immer wieder vorgenommen, aber als ländlicher Nebenerwerb und auch als Haupterwerb steckt die Produktion in einer un- überwindbaren Strukturkrise. 3.2.1 Hausindustrie unter Gesichtspunkten der proto – industriellen Forschung In der Hausindustrie wird die ländlich – agrarische Umwelt mit der dortigen gewerblichen Pro- duktion verbunden (Kriedte, 1992, S. 231.) Dabei ist die Verdichtung zu ländlich gewerblichen Zonen nicht so sehr von Entwicklungen des Weltmarktes abhängig als vielmehr die Folge einer Auflösung tradierter Arbeitsteilung zwischen Stadt und Land (Bartolosch, 1992, S. 313.) Die Form eines dezentralisierten ländlichen Aufbaus der Heimindustrie95 wird als Proto – Industrialisierung bezeichnet, wobei das System nicht mehr den Eigenschaften der feudalen Agrargesellschaft unterliegt und noch nicht dem Kapitalismus zuzuordnen ist. Es ist als ein System anzusehen, welches Elemente der beiden Erstgenannten mit beinhaltet (Bartolosch, 1992, S. 310). Die Landbevölkerung ist infolge der veränderten Bodenverteilung in feudalistischer Zeit und dem einsetzenden Bevölkerungsanstieg gezwungen, durch zusätzliche Handarbeit den Lebens- unterhalt zu erwirtschaften. Da in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Zünfte auf dem Land96 als Folge daniederliegenden Absatzes von Produkten der Heimarbeit nicht mehr existieren, und die Löhne hier weitaus niedriger97 sind als in der Stadt, bietet die arbeitslose Landbevölkerung für den handelskapitalistischen Verleger eine Chance, seine Vorstellung von Produktion und ihrer Vermarktung umzusetzen. Dagegen scheint die gewerbliche städtische Wirtschaft bei fehlender Beweglichkeit geringere Entwicklungsmöglichkeiten in Bezug auf ihr Angebot zu haben. Zusätzlich schränken Zunftein- flüsse die Anzahl der Produzenten ein. Außerdem möchte man mit Festschreibung der Qualität durch die Zunftmeister eine Preisstabilität erzielen und dabei gleichzeitig auf Produktqualität achten (Bartolosch, 1992, S. 312). 93 Die Rohmaterialzahlen finden sich bei Möker, 1977, S. 85 und sind vom Verfasser auf die Gesamt- beschäftigtenzahl umgerechnet. 94 Zusätzlich bleibt eine ungesunde Erwerbsstruktur anzumerken, die „durch breite unterbäuerliche und unterbürgerliche Schichten, bestehend aus Kleinstlandwirten, Dorfhandwerk, Heimgewerbe, Saisonarbeit, Gesellen und Tagelöhner“ (Seier, 2000, S. 138) gekennzeichnet ist. 95 Kriedte führt dazu eine Untersuchung von R. Flik an, die sich mit der Textilindustrie in Calw und Heidenheim zwischen 1750 und 1870 beschäftigt. Darin wird die These vertreten, dass es im 19. Jht. in Calw zu einem kontinuierlich gewerblich-industriellen Fortschritt gekommen ist. Ein Aufschwung der auch auf die seit Anfang des gleichen Jahrhunderts eingeleitete „Realteilung und Parzellierung“ zurück- zuführen sei. Kriedte führt dagegen an, dass solche Zusammenhänge zwischen kleinen Landwirten und gewerblicher Nebentätigkeit schon vorher bestehen. Es existiert schon vor der industriellen Phase eine Wechselwirkung zwischen ländlichen Besitzverhältnissen und gewerblich-industrieller Entwicklung als langfristiger Prozess. (Kriedte, 1992, Anmerkung: S. 240/241.) 96 Auch auf dem Land existierten Zünfte, wie im Siegerland, jedoch besaßen diese weniger Einfluss als die städtischen (Bartolosch, 1992, Anmerkung: S. 312). 97 In Amiens sollen die Lohnunterschiede zwischen Stadt und Land von 50% bis zu 73% gelegen haben (Bartolosch, 1992, Anmerkung: S. 312). 37 Die zentrale Stelle der proto-industriellen Produktion bildet die ländliche, gewerbetreibende Familie, deren Entwicklung anders verläuft als bei Vollbauern. Ihr Einkommen resultiert weni- ger oder kaum noch aus der Landwirtschaft. Der Entstehungsprozess einer proto-industriellen Bevölkerung lässt sich durch die Abkehr von der Agrarproduktion beschreiben. Gründe dafür sind gemeindliche und grundherrschaftliche Kontrolle über landwirtschaftliche Flächen, beste- hende klimatische Bedingungen, die eine normale Landwirtschaft erschweren, sowie die Karg- heit der Böden. All dies zwingt zu einer Integration, z. B. heimindustrieller Leinenherstellung98 in bäuerlichen Familienhaushalten. (Kriedte, 1992, S. 235.) Abhängig von der Nachfragekonjunktur bildet sich ein verändertes Verhältnis zwischen den Trägern der Proto – Industrie und der regionalen Landwirtschaft heraus und kann dazu führen, dass Männer und Frauen den ursprünglichen Nebenerwerb zum Haupterwerb werden lassen (Kriedte, 1992, S. 242). Weiter trägt die Proto – Industrialisierung zeitweise zum langfristigen Herausbildungsvorgangs eines ländlichen „Proletarisierungsprozesses“ bei (Kriedte, 1992, S. 234/235). Die ländlichen Produktionen durchlaufen das Kaufsystem, den Verlag, die dezentrale Manu- faktur, bis der Prozess schließlich in der Fabrikgründung endet. Der Vorgang des Kapitalismus beeinflusst immer mehr die Trennung des Produzenten von seinen Produktionsmitteln. In der Hochphase übernimmt der Kapitalismus diese endgültig selbst. Dieser Vorgang entwickelt sich nicht zwangsläufig gleichlaufend. In einem Gewerbezweig einer Region können verschiedene Produktionsmethoden nebeneinander bestehen. Die Proto – Industrie muss nicht repressiv in die „Fabrik – Industrie“ übergehen oder die „Fab- rik – Industrie“ braucht nicht die Proto – Industrie als ihren Vorläufer. Aufgrund fehlender Kau- salität ist festzustellen, dass die Proto – Industrialisierung ein eigenständiges System darstellt. (Bartolosch, 1992, S. 311.) Kennzeichen für die Proto – Industrialisierung sind: - Entwicklung gewerblicher Massenproduktion für regionale und überregionale Märkte, Organisationsaufbau innerhalb eines Gewerbes und Bildung eines Marktes für Handels- kaufleute und Verleger. - Schwächung des Agrarsektors als Ernährungs- und Verdienstgrundlage der ländlichen Bevölkerung, sowie Veränderung oder Auflösung der dörflichen Sozialstruktur. - Wandlung generativen Verhaltens zu Eheschließung in jüngerem Lebensalter und die damit verbundenen demografischen Veränderungen. (Bartolosch, 1992, S. 315.) Untersuchungen zur Hausindustrie lassen annehmen, dass die Industrielle Revolution, anders als bisher angenommen, als ein weniger abrupter, revolutionierender Vorgang zu bezeichnen ist. Dagegen existiert mit dem Heimgewerbe, hier als ländliche Hausindustrie beschrieben, eine Wirtschaftsphase, die gleitend in „industriell-kapitalistische Produktionsverhältnisse und –for- men“ überleitet. (Bartolosch, 1992, S. 310.) 3.2.2 Verlag und Lohngewerbe als Organisation eines Wirtschaftssystems Die Weberei hat sich als bäuerliche Hauswirtschaft eingebürgert, und es scheint wegen der wirt- schaftlichen und sozialen Verhältnissen geboten, sie zu betreiben. Die hierzu benötigte Faser, der Flachs, hat seinen Ursprung in Ägypten, wo er in Leinenmanufakturen weiter verwebt wurde, wie aus geschichtlichen Schilderungen zur Flachskultur bekannt ist (Eckelmannn, 1913, S. 28).99 In der Hausindustrie arbeitet der Weber in eigenen Räumen und mit eigenen Werkzeu- 98 Eine Untersuchung im Grobleinenproduktionsgebiet im Osnabrücker Land stellt fest, großbäuerliche Haushalte sind in diesem Gebiet auch die größten Leinwandhersteller, während die vielen besitzlosen, von den Vollbauern abhängigen Heuerlings-Pächter, im Vergleich weniger erzeugen (Kriedte, 1992, Anmerkung: S. 236). 99 Die Leineweberei ist so alt wie die hessische Geschichte (Landau, 1842, S. 16). 38 gen und Maschinen. Fremde Rohstoffe werden hier gegen Stücklöhne zu bestimmten Fabrikaten verarbeitet (Köllmann, 1960, S. 6). Da die Leineweberei sehr arbeitsintensiv ist, bedarf sie einer bestimmten Organisation,100 um einmal mit dem Rohmaterial, gesponnenem Garn, versorgt zu werden und zum anderen das Produkt zu vertreiben. Die Heimgewerbe treibenden Weber101 rekrutieren sich aus der Familie. Kinder sehen ihre El- tern ständig an Webstühlen arbeiten und beginnen früh bei der Familienarbeit mitzuhelfen. So bilden sich durch den über mehrere Generationen verlaufenden Prozess des Umgangs mit Gar- nen bestimmte Fingerfertigkeiten und ein Feingefühl für das Material heraus, was auch zur Prä- zision des Produkts beiträgt. (Köllmann, 1960, S. 10.) Das Textilgewerbe hat sich im Laufe seiner Entwicklung seit dem 16. Jahrhundert in einer Form des Verlagssystems, wie bereits am Beispiel des Garngewerbes gezeigt, herausgebildet. Dabei handelt es sich um eine dezentrale Gütererzeugung, bei der der Verleger die Rohstoffe beschafft und diese mit Vorschuss bereithält („vorlegt“) und anschließend den Absatz der Fertigware durchführt. Es ist auch möglich, dass der Verleger kostspielige Arbeitsgeräte verleiht. Die Ar- beit selbst wird als Heimarbeit (Hausgewerbe, Hausindustrie) verrichtet. Das Verlagssystem entwickelt sich besonders bei Produkten für die Ausfuhr. Das heißt für den Verleger, auch lang- fristig, im In- und Ausland auf Reisen zu sein. Dadurch gelangt er zu Kenntnissen über Markt- verhältnisse, neue Fertigungsmöglichkeiten und Veränderungen in der betrieblichen Organisa- tion. Bei der Person des Verlegers bewirken diese Reisen Selbstsicherheit, Flexibilität und einen erheblichen Wissensvorsprung gegenüber dem Landesherrn, seiner Verwaltung und übrigen einflussreichen Bürgern. (Bartolosch, 1992, S. 282.) Durch diese Organisation und die Unabhängigkeit des Verlegers können die Produkte mehrerer Weber zusammengefasst und in der jeweiligen Marktsituation angeboten werden. Eine andere Bezeichnung, „dezentraler Großbetrieb“, verdeutlicht die Abhängigkeit des Produzenten von dem kaufmännischen Geschick des Verlegers. Im 18. Jahrhundert bezeichnet man den Betrieb auch als „Fabrik“ und dieser stellt neben der Manufaktur die Urzelle für den sich entwickelnden Industriebetrieb dar. (Brockhaus, 1974, 19. Band, S. 526.) Die Manufaktur umfasst nur Kontor und Lagerräume, eigene Fabrikationsräume sind nicht vor- handen. Am Liefertag gibt hier der Meister seine Arbeitsleistung der Woche ab und erhält dafür seinen Arbeitslohn und das neue Garn, das in der nächsten Woche verarbeitet werden soll. Der Meister, im Besitz der Produktionsmittel, der Webstühle, betreibt sein Handwerk, indem er allein mit Gesellen und Familienangehörigen das Garn des „Fabrikanten“, von dem er lohnab- hängig102 ist, zu Leinen weiter verarbeitet. (Köllmann, 1960, S. 15.) Mit der Errichtung der 100 Die Spezialisierung von Produktionsabläufen wird deutlich im Garngewerbe. Während des Garnkaufs und des anschließenden Bleichens ist der Bleichereibesitzer auf nachbarliche Not- und Bitthilfe angewie- sen, weil sein Betrieb durch lange Ein- und Verkaufsreisen über längere Zeit stillsteht. Dieser Ablauf wird allmählich dadurch beseitigt, dass Garnkaufen und Bleichen getrennt werden. Einer ordnet den Ein- und Verkauf, während der andere die Bleicharbeit mit übernimmt. Das führt im Weiteren zu einem Lohn- arbeitsverhältnis. Die Bleicharbeit wird auf dem Gelände und mit dem Gerät des Bleichers gegen Lohn verrichtet. Die Organisation des Rohgarns und den Verkauf des veredelten Produkts wickelt der Verleger ab und bezahlt die Veredelungsarbeit.- Großbleichereigeschäfte in Barmen geben bis zu 1700 Zentner jährlich zum Bleichen in Auftrag und erwirtschafteten dabei Gewinne von 100% und mehr. (Köllmann, 1960, S. 5/6.) 101 Die kurhessischen Weber lassen sich in drei Klassen einteilen, erstere baut Flachs selbst an, verspinnt und verwebt ihn, die zweite Klasse kauft Garn und verwebt selbst, die dritte arbeitet als Lohnarbeiter (Landau, 1842, S. 16). 102 Bei der Organisation der Garnnahrung (Garnversorgung) steht, durch seine Heimarbeit bedingt, der unorganisierte Lohngewerbetreibende dem Verleger gegenüber und ist von diesem abhängig. So gelang es Leinewebern 1738 in Barmen eine „Zunft“ zu gründen, um sich gegen die Weber in den Nachbar- gebieten abzugrenzen und um den Preisdruck seitens der Garnkaufleute abzumildern. Die Zunft konnte sich jedoch nicht durchsetzen und löste sich nach erfolglosem Aufbegehren in den 70er Jahren erneut auf. Hier wird die Spannung zwischen Verleger und Lohnabhängigen deutlich. (Köllmann, 1960, S. 8.) 39 „Manufaktur“ vollzieht sich eine Entwicklung, die mehr mit dem Handel verbunden ist. Der Entwicklungsvorgang beim „Verlag“ in Verbindung mit lohnabhängiger Arbeit entspricht eher dem einer Fabrik. (Köllmann, 1960, S. 15/17.) Die fortschreitende technische Entwicklung führt zwangsläufig zu Änderungen in der Betriebsorganisation. In der nächsten Stufe bilden sich im Verlagssystem103 Lohnfabriken mit reiner Lohnarbeiterschaft heraus. Die Form der Lohnarbeit wird auf große Betriebe übertragen, hier arbeiten jetzt Kleinmeister und Gesellen im Auftrag des Verlegers. Schließlich werden die Kleinmeister völlig zurückgedrängt, es schaffen nur noch angelernte Kräfte. Diese Entwicklung gilt nach den Gründerjahren als abgeschlossen. (Köll- mann, 1960, S.20.) Über den Bildungsstand der Heimgewerbetreibenden lässt sich anhand von Unterschriften104 in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts aussagen, dass er geringer gewesen sein muss als bei Handwerkern. Bei ihnen (Handwerkern) kam es häufiger zu Zuwanderungen. Auf Grund ihrer Tätigkeit sind sie mobiler und beeinflussen sich, durch die „Walz“ bedingt, außerdem ge- genseitig. Im Gegensatz dazu entwickelt sich der Nachwuchs in der Heimindustrie, wie bereits angesprochen, fast ausschließlich aus den eigenen Reihen. Das führt zu einer Ausprägung von Traditionsbewusstsein und festigt auch die Konsistenz an alten Lebensgewohnheiten und For- men. Die Charakteristika für Weber105 und Wirker stabilisieren sich im Verlaufe von Jahrhunderten bei den Heimgewerbetreibenden. (Köllmann, 1960, S. 124/125.) Das Verhältnis Arbeitgeber – Arbeitnehmer wird auch als „Betriebsabsolutismus“ oder „In- dustriefeudalität“ beschrieben, was Anspruch auf Gehorsam , „kritiklose Treue und Anhäng- lichkeit“ ausdrückt. Der Verleger wiederum versucht soziale Fürsorge zu gewähren, jedoch überwiegen dabei nicht moralische Gesichtspunkte, er handelt vielmehr unter einer wirtschaftli- chen Perspektive. (Bartolosch, 1992, S. 290.) 3.2.3 Bedingungen der Heimindustrie im Kreis Melsungen und Amt Spangenberg 1831, 1843 und 1846 kommt es durch die schlechte Arbeitssituation der kurhessischen Weber zu einer öffentlichen Debatte und zu Flugschriften. Besonderes Augenmerk erreicht eine Schrift des Leineninspekteurs Schirmer (Daschner, 1968, S. 159); sie zielt auf die Ständeversammlung und veranlasst die staatlichen Einrichtungen zu einer Aufstellung der Anzahl von Schockleine- webern. Diese beträgt für Kurhessen 4736 Weber,106 wobei 181 auf den Kreis Kassel und 1004 103 Die Meister verlagerten in der nächsten Entwicklungsstufe den Heimbetrieb in angemietete Räume, wo nebenbei die Dampfkraft als Antriebsmittel mitvermietet wird. Dieser veränderte Aufbau der Betriebsgemeinschaft garantiert durch Orientierung an technischen Veränderungen dem Kleinbetrieb seine Selbstständigkeit. Der Meister ist Eigentümer seiner Maschinen; gemeinsam teilt man sich mit anderen Meistern die Arbeitsfläche und die zentrale Antriebskraft. Das Verlagssystem bleibt am längsten in der Bandweberei bestehen. Hier handelt es sich um ein arbeits- intensives Produkt, das viel Fingerspitzengefühl und technisches Können verlangt. Spulen und Haspeln, zeitraubende Arbeiten im Heimbetrieb werden nun gänzlich in Fabriken verlegt und damit verschwindet die Arbeit des Heimgewerbes. Erst in den 90er Jahren wird auch diese Produktionsform dem allgemeinen Trend der Fabrikentwicklung angepasst. (Köllmann, 1960, S. 21.) 104 Ende der 40er Jahre signieren auf einem Statuspapier der Weberinnung in Barmen 36 von 178 Unter- zeichnern mit den Handzeichen; diese waren damals sicher nicht in der Lage lesen und schreiben zu können; während bei dem entsprechenden Schriftstück der Handwerker ein Handzeichen als Unterschrift nicht vorkommt (Köllmann, 1960, S. 124.) 105 In den ländlichen Bereichen leben die Heimgewerbetreibenden neben der gewerblichen Arbeit von der Bearbeitung eines kleinen Grundstückes zur Nahrungsgrundlage. Bei diesen sogenannten Weberköttern setzt sich der bäuerliche Beginn des Wuppertaler Gewerbes fort. Mit Bezeichnung Kötter ist in Westfalen ein Nebenbauer gemeint. (Köllmann, 1960, S.125.) 106 Die Anzahl der Spindeln stieg dagegen in den Textilzentren Süddeutschlands in der Zeitspanne zwischen 1846 bis 1861 stark an: von 4600 auf 8600 in Württemberg. Ursachen für diese positive Entwicklung erklären sich durch den Eisenbahnbau als schnelles Transportmittel mit den parallel damit zusammenhängenden zunehmenden Kauftransaktionen und vermehrten Zahlungsabwicklungen, sowie die 40 auf den Kreis Melsungen entfallen. Schirmer selbst schätzt die Gesamtzahl auf 7000, diese An- gabe ist laut Daschner als realistisch einzuschätzen (Daschner, 1968, S. 159.)107 Eine Aufstellung der Webstühle in der Leinenproduktion nach Hildebrand (Hildebrand, 1847, s.115; in: Daschner, 1968, S. 159) zeigt einen signifikanten Rückgang in den Jahren 1843 – 61. Jahr Webstühle insg. (einschl. Fulda) Als Hauptgewerbe Als Nebengewerbe 1843 11742 - - 1847 8308 3447 4861 1861 7104 2915 4189 Abb.: 3 Übersicht der Webstühle in Niederhessen (Daschner, 1968, S. 160) Für Landau stellt im Kreis Melsungen in den 40er Jahren die Leineweberei die Haupterwerbs- quelle dar. Ganze Dörfer sind ausschließlich von Webern bewohnt. Hier und im Amt Spangen- berg wirken sich die Veränderungen im Schockleinenabsatz108 drastisch aus. In Spangenberg selbst lebten 1724 noch 72 Leineweberfamilien, gefolgt von 30 Schuhmachern als zweitgrößter Berufsgruppe. 1841 besitzt Spangenberg 2088 Einwohner (Siebold, in: Voigt, 1902, S. 5/6) und 271 Häuser (Landau, 1842, S. 27). Im Vergleich dazu hat sich 1865 die Zahl der Leineweber109 auf 20 verringert, während die Zahl der Schuhmacher auf 80 angestiegen ist; die Einwohnerzahl beträgt im gleichen Jahr 1650. Das heißt, die Schuhmacher können ihre Produkte im Ort selbst oder in der näheren Umgebung sowie auf dem regionalen Markt in Kassel verkaufen.110Im Gegensatz zu den Schustern finden die Weber keine Absatzmöglichkeiten, die Folge ist die Schließung der Tuchhandlung111 Hupfeld und Riemann (Buhre, in: 675 Jahre Stadt Spangen- berg, 1984, S. 180) 1840, während die Leinenhandlung Schröder 1848 als letzte in Spangenberg aufgibt (Wittmann, 1953, S. 23). Auf diese Vorgänge wird im Folgenden weiter eingegangen. Zusammenfassend stellt Möker zum Lohnniveau in Niederhessen fest, dass seit den 40er Jahren bis zum Anfang der 60er Jahre die Einkommen stagnieren, in bestimmten Perioden auch fallen. Ab der Mitte der 60er Jahre wird dagegen das Niveau stark angehoben, um zur Zeit des Grün- derbooms einen Höchststand zu erreichen. Ein Lohngefälle besteht zwischen den gewerblich orientierten Städten (in Kassel gibt es höchste Verdienste) und dem ländlichen Bereich oder den Landstädten, wo ein weitaus niedrigerer Lohn gezahlt wird (Möker, 1977, S. 237). So kann über die beschriebene Region Kurhessens behauptet werden, dass bedingt durch die abgeschiedene Lage vieler Weberdörfer und Kleinstädte, wo weiter nach alten Methoden das Außenwirkungen der Goldfunde in Kalifornien und Australien. (Prinz, 1984, S. 35.) 107 In den 50er Jahren nimmt der Pauperismus auch in Kurhessen, bedingt durch den Eisenbahnbau und die verspätet einsetzende Industrialisierung, ab. Ebenso wie in anderen deutschen Ländern entwickelt sich in Hessen eine Arbeiterbewegung, gewerkschaftlich angestoßen und von lassalleanischer Vorstellung geprägt, die in Hanau als revolutionäre Idee Anklang findet. (Seien, 2000, S. 141.) 108 Schockleinen wird in Amerika und Westindien (Anm. d. Verf. : Ebenso in England) Hessian genannt (Landau, 1842, S. 16). 109 1696 Stühle existieren in der Leinen- und Halbleinenweberei mit 1680 Meistern, Gehilfen und Lehr- lingen in Niederhessen 1847. 2419 Webstühle als Nebenbeschäftigung werden bei Leinen für 1847 ange- geben. Fabriken für Leinen bestehen 1847 in Nieder- und Oberhessen nicht. (Hildebrand, 1853, S. 115/116.) 110 Noch heute zeugt der Spangenberger Schusterpfad (X 3) über Kehrenbach, den Riedforst, Eiterhagen und die Söhre von den Fußmärschen der Schuster an Markttagen. 111 Spangenbergs Produktion von Schockleinen (Daschner, 1968, S. 253) – Maßeinheit: Stück oder Schock Jahr Anzahl 1789/90 35420 1805/06 51464 1807/08 29225 41 Heimwerk betrieben wird, nur Niedriglöhne112 und billigste Stückkosten Grundlage der Bezah- lung sein können; so ist es für die Heimindustrie113 in geringem Umfang überhaupt möglich, weiter zu bestehen. Im Gegensatz dazu verändert sich dieser Industriezweig durch Kapitalin- vestitionen und damit verbundenen Innovationen in anderen deutschen Ländern erheblich. 3.2.4 Versuche zur Belebung des Leinengewerbes betreffend das Ober-Zunft- Amt Spangenberg Die bestehende Absatzkrise des Leinenhandwerks versucht das kurfürstliche Staats-Ministerium des Innern unter Federführung Hassenpflugs im Januar 1824 dergestalt neu zu beleben, dass auf die Leinenordnung vom 6.Februar 1801 verwiesen wird, und man die Kreisämter auffordert unter Zuziehung der Ortsvorstände und der Leinweber der Gemeinden „Visitationen“ über Qualität des Garns, Zustand der Haspel vorzunehmen und auf Einhaltung der Maßeinheit zu achten. Bei Übertretung der Vorschrift sei Anzeige zu erstatten und Geldbußen zu verhängen.114 Das Kreisamt Melsungen weist das Oberzunftamt Spangenberg 1830 daraufhin, dass Weber die vorgeschriebene Länge und Breite des Leinens nicht einhalten, dieses selbst ins Ausland ver- kaufen oder durch Händler weiterverbreiten lassen. Die Ortsvorstände sollen die Zustände un- terbinden115 und der „Kurfürstlichen Polizey Commission“ anzeigen. Ende 1831 versucht die Regierung mittels einer Ministerialverfügung116, einen Überblick über die örtlichen Schockleinweber nebst mitarbeitenden Familienmitgliedern zu erhalten.117 Der Versuch der Regierung, das Leinwebergewerbe erneut zu beleben, scheint für die Betriebe nicht den erwar- teten Erfolg zu bringen. Mit einer Eigeninitiative beantragen 17 Meister118 im Juni 1835 beim 112 Lohn auf dem Land wird mit Geld, Naturalien, Kleidungsstücken gezahlt. Der Gesamtlohn umgerechnet ergibt: Für 1841 –1847 bei einem männlichen 56 Thlr. und einem weiblichen Dienstboten 46 Thlr. pro Jahr. (Hildebrand, 1853, S. 100.) 113Die Heimindustrie in Spangenberg kann auch, wie unter 3.2.1 beschrieben, als Vorgang der Proto- Industrialisierung bezeichnet werden. Das vorher bestehende Kaufsystem scheint mit dem Niedergang der örtlichen Tuchhandlungen abgelöst zu sein. Es wird durch das Aschrottsche Verlagsgeschäft ersetzt. Dies wird in anderem Zusammenhang erneut aufgenommen. 114 StadtaSp: Best. 11 b, Nr. 864 b; Nr. 841. 115 Die jüdischen Leinenhändler sind von den Ortsvorständen auf die § 15; 16; 17 und 21 hinzuweisen (StadtaSp: Best. 11 b, Nr. 864 b). 116 StadtaSp: Best. 11b, Nr. 864 b. 117 Namensliste der in der Stadt Spangenberg wohnenden Schockleinweber. In Klammern wird die Anzahl Nebenpersonen angegeben, die beim Spinnen und Weben helfen. (Frau; Anzahl der Söhne; Anzahl der Töchter) – 1. Conrad Markus (-;-;-); 2. Johannes Ludolpf (-;-;-); 3. Conrad Schäfer (Frau;5;-); 4. Johannes Sandrock (Frau;-;-); 5. Casper Schmidt (Frau;2;-); 6. Ludwig Steinert (-;-;-); 7. Martin Winderoth (Frau;1;2); 8. Christoph Schmidt (Frau;2;-); 9. Heinrich Kann (-;-;-); 10. Adam Lotz (Frau,1;-); 11. Johannes Schäfer (Frau;2;1); 12.Werner Klapf (Frau;-;1); 13. Heinrich Reubert (Frau;1;1); 14. Heinrich Steinert (-;-;-); 15. Adam Merker (Frau;3;1); 16. Ludwig Thumeier (Frau;3;-); 17. Justus Merker (Frau;2;1); 18. Jacob Enzeroth (Frau,2;3); 19. Adam Rothe (Frau;1;4); 20. Johannes Reubert (Frau;3;1); 21. George L(-)ihl (Frau;-;-); Lorentz Stöhr (Frau;1;-); 23. Heinrich Rosenkranz (Frau;3;2); 24. Johannes Pfeil (Frau;1;2); 25. Johannes Markus (Frau;4;2); 26. Johannes Roß (Frau;4;1); 27. Ludwig Mell (Frau;1;2); 28. Johannes Pfetzing (Frau;2;1); 29. Conrad März (Frau;-;1); 30. Valentin Sandrock (Frau;3;1); 31. Heinrich Klaus (Frau;1;2); 32. Johannes Mausehund (Frau;-;1); 33. J? Lotz (Frau;-;-). Weiter werden angeführt. 1. Heinrich Deist Witwe (-;2;1); 2. Conrad Jacobs Witwe (-;2;2); 3. Johannes Wilhelms (Frau;1;-); 4. Ludwig Schmidt (Frau;-;2); 5. George Nädings (Frau;1;1); 6. Johannes Johr (Frau;-;-); 7. Elias Seitz (Frau;1;-); Conrad Degenhard (Frau;1;1). Spangenberg am 13.12.31 (StadtaSp: Best. 11 b, 864 b). 118 Meister des Leinwebergewerbes, die am 1.6.1835 die Wiedereinführung der Zunftordnung beantragen: 1. Johannes Markus; 2. Justus Merker; 3. Johannes Schäfer; 4. Adam Lotz; 5. Johannes Sandrock; 6. Adam Merker; 7. Heinrich Reubert; 8. Adam Rehde; 9. Heinrich Rosenkranz; 10. Ludwig Mell; 11. George Biehl; 12. Johannes Roß; 13. Johannes Pfetzing; 14. Valentin Sandrock; 15. Conrad Mentz; 16. Heinrich Claus; 17. Heinrich Kann. (Kursiv gedruckte Namen werden auch 1831 bereits angeführt, die Betriebe Markus und Merker bereits in der nächsten Generation weiter organisiert.) (StadtaSp: Best. 11b, 864 c.) 42 Ober-Zunft-Amt Spangenberg,119 eine Leinweberzunft auf der kurhessischen Ordnung vom 5. März 1816 wiederherzustellen. Das Amt lädt die Meister vor und hört sie an. Eine Wiederher- stellung wird jedoch nicht verfügt; was auch nicht im Kompetenzbereich der untergeordneten Verwaltung120 liegt. Dagegen versucht das Amt im Abwägen des Tatbestandes nur das zu bestrafen, das gegen bestehende Ordnung verstößt.121 Die kurhessische Regierung scheint die Probleme der bestehenden Krise im Leinengewerbe und die damit verbundene Absatzkrise in der Regulierung der Produktqualität und der Einhaltung des rechtmäßigen Verkaufsweges lösen zu wollen. Die Mehrzahl der Webermeister denkt wie- derum, mit Erneuerung der Zunftschranken die Anzahl der Weber zu limitieren und durch fest- geschriebenen Stückpreis die Krise zu beseitigen. Mit umfassender Reglementierung im Hand- werksbereich möchte man die Änderung des Absatzes herbeiführen. Es wird übersehen, dass die merkantilistische Wirtschaftsform sich in einer Strukturkrise befindet, die nur mit kapitalisti- schen Methoden neu zu beleben ist. Der Export über Seehäfen wie Bremen ist verschlossen, auch die Binnennachfrage in Deutschland und besonders in Niederhessen ist wegen geringer Kaufkraft in der Bevölkerung nicht zu beheben. Es bedarf der Kapitalbereitstellung seitens der kurfürstlichen Regierung, um das Handwerk in Industriebtriebe überzuführen. Die politische Verwaltung des Feudalstaates finanziert den Staatshaushalt in dieser Zeit, der Tradition entspre- chend, weitgehend mit Einnahmen aus Domänenbesitz (Waitz, 2002, S. 34/35). Ferner schafft sie keine rechtlichen Voraussetzungen für die Bildung von Kapitalgesellschaften, noch Anreize, die zu Investitionen im Inland beitragen (Waitz, 2002, S. 36). Die privaten Kapitalmengen reichen jedoch nicht aus, um den erforderlichen Bedarf für neue Industrieentwicklungen zu decken. Aus diesen Gründen wird die Heimindustrie bei ihrer weite- ren Vermarktung das Risiko des schwankenden Absatzes und der anfallenden Maschinenkosten tragen. Eine kapitalistisch orientierte Verkaufs- und Heimarbeitsorganisation wälzt zur Steige- rung des Absatzes den Großteil der anfallenden Kosten auf den Heimbetrieb ab; dies ist Teil des Gegenstands der weiteren Überlegungen. Die veränderten Aufgabenbereiche der Industrie als Folge neuer technischer Erfindungen verlangen in den verschiedensten Sektoren den Einsatz beträchtlicher Mengen Schockleinens in jeweils unterschiedlich ausgeführter Webart. 119 Unter 3.2.2 wird der Bildungsstand zwischen Hausindustrie und Handwerk diskutiert, wobei ersterer niedriger sei. Bei der Überprüfung von Unterschriften auf Formularen stellt Köllmann fest, dass die Handwerker ausschließlich mit dem eigenen Namen unterschreiben, während das bei den Mitgliedern der Hausindustrie nicht der Fall ist. Diese Feststellung lässt sich bei den 17 Meistern der Spangenberger Leinweber nicht bestätigen, denn sie haben in ihrer Petition an das Ober-Zunft-Amt alle eigenhändig unterschrieben. (StadtaSp: Best. 11 b, Nr. 864 c.) 120 In der Zunftordnung vom 5. März 1816 ist es jedermann erlaubt „alle Arten von Gespinst, Weberei und Tuchbereitung“ unter Einhaltung der Vorschriften herzustellen. (StadtaSp: Best. 11 b, Nr. 864 c vom 11.6.1835.) 121 Der Spangenberger Weber Johannes Pfeil stellt den Antrag, selbst gefärbtes Leinen auch verkaufen zu können. Die Kurhessische Regierung der Provinz Niederhessen verfügt: Das Ober-Zunft-Amt Spangen- berg soll Pfeil wegen Färbens von Leinen nach Artikel 5 des Regierungsschreibens vom 17. Oktober 1818 bestrafen. (StadtaSp: Best. 11b, Nr. 864 c; vom 7. Dezember 1836.) Dem Ober-Zunft-Amt in Person Ritter erscheint der gestellte Antrag als überflüssig, denn das Gesetz erteilt ihm die Befugnis eigen gefärbtes Leinen zu verkaufen. Pfeil sei deshalb vom hiesigen Amt bestraft worden, weil er Stoffe für andere Leute gefärbt habe. (StadtaSp: Best. 11 b, Nr. 864 c; vom 16.12.1836.) 43 4 Stellung der Juden in Hessen 4.1 Veränderungen der jüdischen Rechtsstellung bis zu ihrer Gleichberechtigung Die Stellung der Juden in Kurhessen, später preußische Provinz Hessen-Nassau, lässt sich bis 1914 in vier Phasen beschreiben. Da ist die Zeit vor und während der französischen Besetzung, der Abschnitt von 1816 bis zum Ende des Kurstaates, die Phase nach der Annektierung durch Preußen und die des Antisemitismus mit einem der extremsten Verfechter antijüdischer Hal- tung, dem Reichstagsabgeordneten Otto Böckel. Der Zeitraum von der aufkommenden antisemitischen Bewegung bis zum 1. Weltkrieg wird wegen ihrer Brisanz gerade für Hessen- Nassau und auch für die Hauptfigur dieser Arbeit, Sigmund Aschrott, in einem anderen Kapitel behandelt, das in Zusammenhang mit Aschrotts Umzug nach Berlin steht. Zitiert man den Verfasser einer Denkschrift für das nassauische Staatsministerium um 1821, so drückt dies die Stellung der Juden im Herzogtum Nassau, was auf Kurhessen übertragbar scheint, treffend aus: „Vom bürgerlichen Gewerbe waren sie ausgeschlossen, sie konnten keine Liegen- schaften ohne besondere Erlaubnis erwerben, kein Handwerk erlernen oder betreiben, Ellenwaren- und Spezereihandel war ihnen an den meisten Orten versagt und nur der Handel mit Vieh, Fellwaren, Schlachten ect. stand ihnen frei“ (Denkschrift, in: Kropat, 1983, S. 325). Den Aufenthalt in Hessen und anderen Ländern haben sich die Juden mit einem Schutzgeld122 zu erkaufen. Dieser Schutz dauert nur eine gewisse Zeit, dann ist er zu erneuern. Ihr Betäti- gungsfeld beschränkt sich auf die oben genannten Arbeiten. Vor der Emanzipation herrscht in Hessen für die Masse der Juden große Armut; denn der Territorialherr hat den an anderen Orten vertriebenen Juden Niederlassungsrecht zugestanden, ohne dabei zu bedenken, ob Chancen für eine ausreichende Ernährung bestehen. Im 18. Jahrhundert gilt Hessen als Gebiet für jüdische Gaunerbanden, die von Streifzügen in abgelegene Gebiete leben. Vor den napoleonischen Krie- gen beträgt die Anzahl der jüdischen Bewohner in Deutschland 275000, wovon fast die Hälfte 124000 in Preußen leben (Prinz, 1984, S. 14). Unter dem genannten Aspekt stellt die große Masse der Juden für Kurhessen ein soziales Problem dar (Kropat, 1983, S. 325). 122 Die restriktiven Bedingungen des Schutzbriefes führt bei einigen Juden dazu, an der Grenze zur Illega- lität zu leben. Da man das Schutzgeld nicht aufbringen und auch ein bestimmtes Vermögen nicht nach- weisen kann, leben Juden in einem Haushalt mit Aufenthaltsgenehmigung und betätigen sich dort als Köchin für koschere Kost, als Dienstbote oder –magd bzw. gehen einer Hilfstätigkeit im Haus nach. Ohne Schutzbrief ist es auch nicht möglich, eine eigene Familie zu gründen oder sich selbstständig zu machen. Diese Vorschrift versucht man zu umgehen, indem man den zuständigen Beamten besticht oder dieser eine andere Überzeugung in Bezug auf die staatlichen Beschränkungen hat. Bei vielen musste die Eheschließung aufgeschoben werden oder ganz unterbleiben. Neben Personen, die zum Haushalt gehören, werden weitere Personen verköstigt, wie durchreisende Gelehrte, umherziehende Bettler sowie Schüler und Lehrer, die auf eine tägliche warme Mahlzeit – stets in einem anderen Haushalt – daher „Wandeltisch“ genannt, Anspruch haben. Bis 1850 werden in jüdischen Haushalten ausschließlich Juden beschäftigt, danach werden sie häufig durch christliches Personal ersetzt. (Kaplan, 2003, S 131 u. 141.) 44 Der Allgemeinheit der „Schutzjuden“ steht der Hofjude auch Hoffaktor123 gegenüber. Sie wer- den wegen ihrer besonderen Geschäftstüchtigkeit im In- und Ausland von den Landesherren für diese Funktion ausgewählt. Den Titel Hofjude erlangen Juden, indem sie dem Fürsten ihre kaufmännische Leistungsstärke und Flexibilität unter Beweis stellen. Über Bewerbungen, durch Empfehlungen von anderen Juden, Antrittsgelder sowie in Erbfolge über verschiedene Generationen ist es möglich, die Position des Hof- oder Kammeragenten zu erlangen (Horwitz, 1909, S. 291ff.). Ihre Zahl ist in Wirklichkeit größer, als man heute vermutet. Gegenüber großen Gesellschafts- teilen scheinen Hofjuden wirtschaftlich, rechtlich und sozial bevorzugt, was zu starken Anfein- dungen führt. Sie erreichen gegenüber den Fürstenhäusern, gleichgültig ob ihnen wirtschaftli- cher Erfolg gelingt oder von ihnen abgepresst wird, einen gewissen Standesstatus. (Prinz, 1984, S. 27/28.) Für die hessischen Hofjuden124 ergeben sich seit Mitte des 17. Jahrhunderts verschiedenste Aufgabenbereiche. Horwitz spricht von der Beschaffung von Edelsteinen, Seidenstoffen und Pelzen für den Hof, die Bereitstellung großer Geldsummen u.a. zur Kriegsführung, An- und Verkauf von höfischen Wechseln und verschiedenen Münzen, Versorgung der Truppen mit Verpflegung, Neuorganisation der Klassenlotterie, um nur einige Bereiche der breiten Aufga- benpalette125 anzusprechen. Die Entwicklung des Hofjudentums schafft umfassende gesellschaftliche Veränderungen in Bezug auf neue wirtschaftliche Möglichkeiten. Der sich einstellende Wohlstand führt zu einem Austausch mit der nicht jüdischen Bevölkerung und beeinflusst die soziale und geistige Einstellung betroffener Juden. Das verstärkt wiederum rab- binische Aktivitäten und festigt das orthodoxe Judentum. (Kaplan, 2003, S. 23.) Die Hofjuden treten auch im sozialen Sektor besonders hervor, indem von ihnen Einrichtungen (Krankenhäuser, Schulen, Altersheime, Siechenhäuser, Waisenhäuser oder Schulstipendien) angeschoben und meist als Stiftung umgesetzt werden (Horwitz, 1909, S. 291/292). Ein Beispiel solcher Initiative126 wird in anderem Zusammenhang später betrachtet. 123 Die Bezeichnung Hofjude oder Hoffaktor ist seit dem 14. Jahrhundert bekannt. Er ist höfischer Aktor für vielfältige wirtschaftliche Aufgaben. Ein zentrales Betätigungsfeld für ihn ist die Beschaffung möglichst großer Geldbeträge. Als Hofbankier tritt der Hofjude nach dem 30jährigen Krieg hervor. Um ihre gesellschaftliche Anerkennung zu komplementieren, sind sie häufig bestrebt, in den Adelsstand aufzusteigen, was seit Mitte des 16. Jahrhundert häufiger erfolgt. Ein signifikantes Beispiel dafür ist die Familie Rothschild. (Mayers, 1982, Stichwort: Hoffaktor.) Die absolutistische Hofhaltung und die Einrichtung stehender Heere erfordern zusätzliche finanzielle Res- sourcen, die auf die herkömmliche Weise im 18. Jahrhundert nicht mehr zu beschaffen sind. Jüdische Kaufleute, mit ihren europaweiten Verbindungen, sorgen für die Beschaffung von Krediten. Sie avancieren zu Waffenhändlern, Armeeausrüstern, Fouragebeschaffern und sorgen für den Sold der Soldaten sowie die am Hof verlangten Luxusartikel. Solche Hofmanager gilt es an den Hof zu binden. Um ihnen die nötige Anerkennung zuteil werden zu lassen, gliedert man sie als Hoffaktoren in den Beamtenapparat des Herrschers ein. Als finanzieller Anreiz wird ihnen ein bestimmtes Gehalt gezahlt oder ihnen werden Zollstätten, bestimmte Produktionsfelder oder die Münzprägung übertragen. Durch Heirat innerhalb der Hofjudenfamilien entwickelt sich so eine jüdische Aristokratie, die innerhalb der jüdischen Gemeinschaft deutlich hervorgehoben ist. (Backhaus, 1994, S. 34/35.) 124 Der aus Frankfurt stammende Benedikt Goldschmidt (gestorben 1642), Obervorsteher der hessischen Gesamtjuden, ist als erster Hofjude namentlich genannt. Er hatte gute Beziehungen zu Landgraf Moritz und finanziert 2000 Taler in Gold für die Kriegskasse vor, die er erst später, indem die Summe auf die Juden in Ober- und Niederhessen verteilt wird, zurückbekommt. (Horwitz, 1909, S. 292.) 125 Die Nachkommen der Hofjuden bewähren sich in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts als erfolgreiche Unternehmernaturen, die jede Chance wirtschaftlichen und persönlichen Erfolgs nutzen. In der Phase geringer Industrialisierung und nicht vorhandener Fachkompetenz bei den heimischen Initiatoren kom- men diese Juden durch wirtschaftliche Initiative und Phantasie zu Erfolg. (Prinz, 1884, S. 27.) 126 Es handelt sich dabei um die Philipp Feidel und Emilie Goldschmidtsche Stiftung zu Cassel sowie die H.S. Aschrott und Regina Aschrott – Stiftung (GStA I.HA, Rep.77, Tit.1017, Nr.32). 45 Während Hessens Besetzung durch die Franzosen127 nimmt die Regierung des Königreichs Westfalen eine liberalere Haltung128 gegenüber Juden ein. In der Verfassung vom 15. November von 1807 wird die Gleichstellung aller vor dem Gesetz und die freie Religionsausübung garan- tiert. In einem weiteren Dekret 1808 sichert man den Untertanen mosaischer Religion gesondert zu, gleiche Rechte und Freiheiten wie alle übrigen Untertanen zu besitzen. Die ihnen bisher aufgelegten Sonderabgaben werden aufgehoben. (Kropat, 1983, S. 327/238.) Das Konsistorium der Israeliten beginnt mit der Einrichtung von Schulen, einem Lehrerseminar, der Einführung in Handwerk und Gewerbe sowie der künstlerischen Ausbildung. Juden treten jetzt auch in den Militärdienst ein (Horwitz, o.J., S. 4). Nach den Befreiungskriegen und der Rückkehr des Kurfürsten wird die Rechtsordnung von 1806 wieder hergestellt, die die Gleichstellung der Juden aufhebt129 und erneut Schutzgeld for- dert. Die Restauration findet auch in Kurhessen130 Anwendung und spiegelt sich im strengen absolutistischen Reglement wieder. Während der Einheits- und Freiheitsbewegung rückt beim Wartburgfest der Burschenschaften 1817 kein anderes Land so negativ in den Mittelpunkt des Interesses wie Hessen; der hessische Zopf als Symbol reaktionären Regierens gilt als anschauli- cher Gegenstand für die Symbol- und Bücherverbrennung (Seien, 2000, S. 138). Der Kurfürst131, er gilt als einer der reichsten Staatsmänner Deutschlands (Backhaus, 1994, S. 20), ist gegen eine Ablösesumme132 nicht abgeneigt, den Juden bürgerliches Recht zu gewähren. Am 14. Mai 1816 erteilt der Landesherr den israelitischen Glaubensbekennern gleiche Rechte. Diese sind jedoch mit erheblichen Auflagen133 verbunden. Ausdrücklich wird der Nothandel ausgenommen, darunter ist geringer Viehhandel zu verstehen, bei dem Vieh angekauft wird, um es am nächsten Ort gleich wieder zu veräußern, sowie das Betreiben von Leihhandel und Hau- siergeschäften. Bei solchen Verstößen wird das bürgerliche Recht aberkannt und der Schutzzoll wieder erhoben. (Horwitz, o.J., S. 8/9.) Kropat dagegen ist anderer Auffassung. Nach ihm wird diese Erklärung der Gleichstellung zwar im Kasseler Regierungskollegium angesprochen, eine wirkliche Umsetzung ist jedoch nicht 127 Am 13. November 1791 erlangen alle Juden in Frankreich gegenüber anderen Staatsbürgern die unein- geschränkte Gleichstellung (Kropat, 1983, S. 326). 128 Der in Bad Homburg das Mittelrheingebiet verwaltende General Cacatte von der französischen Revolutionsarmee verlangt von beiden nassauischen Territorien 1798 keinen Zoll; denn von den links- rheinisch, auf französisch besetztem Gebiet lebenden Juden wird an der Zollstätte kein Leibzoll mehr abgenommen, weil unter französischer Verwaltung der Schutzzoll abgeschafft ist, und deshalb sei von Juden des rechtsrheinischen Gebietes auch kein Zoll mehr zu erheben (Kropat, 1983, S. 327). 129 In Preußen erfolgt bereits 1812 mit der Umsetzung der Hardenbergischen Reformen eine bürgerliche Gleichstellung der Juden, die 1809 in Baden auf Grund der dortigen politischen Verhältnisse instrumen- talisiert wird. 130 Die Kasseler Kaufmannschaft ersucht den Regenten die Gilde-Verfassung wiederherzustellen, um dem niederliegenden Kaufmannsgewerbe zu helfen. Juden und andere hätten während der Besetzung verbote- nen Handel, besonders mit Leinenwaren, betrieben. (Horwitz, o.J., S. 7.) 131 Mit Abschaffung des Schutzzolls verliere die Staatskasse 8000 – 9000 Taler und das Abzugsgeld vom Vermögen der Juden, die in ein anderes Land wechseln wollen (Horwitz, o.J., S. 7). 132 Die Vertreter der jüdischen Gemeinden bieten eine Entschädigungssumme von 75000 Thalern, zahlbar in vier Raten, an. Die betreffenden Schuldscheine sind unterschrieben u.a. von Samson Ruben Gold- schmidt, Levy Feidel und Adolf Feidel. (Horwitz, o.J., S.8.) Sie scheinen mit der Familie Goldschmidt in verwandtschaftlichem Zusammenhang zu stehen. 133 Der Landesrabbiner erfüllt allein kirchliche Aufgaben, die ihm zugestandene Rechtssprechung unter Juden entfällt. Jüdische Kinder besuchen öffentliche Schulen, haben aber eigenen Religionsunterricht. Jüdische Handlungsbücher, bezogen auf ihre soziale Fürsorge, sind in deutscher Sprache mit deutschen oder lateinischen Buchstaben zu führen. Groß- und Kleinhandel sowie Wechselgeschäfte sind Juden er- laubt. Sie können landwirtschaftliche Betriebe erwerben, diese aber erst nach 10 Jahren wieder veräußern. Der Ankauf eines Hauses ist erlaubt. Personen mit bedeutendem Gewerbe oder Fabriken werden auch mehrere Häuser zugestanden. Ein Hauskauf in der Kasseler Oberneustadt bedarf der Genehmigung durch den Kurfürsten. Das Einrichten von Zünften wird nicht gestattet. (Horwitz, o.J., S. 8/9.) 46 gewollt. Die Verordnungen stellen lediglich ein „Erziehungsprinzip“134 dar, um die Juden durch mögliche Berufs- und Bildungsaussichten, aber auch durch staatliche Zwangsmaßnahmen über erzieherische Mittel langfristig in die Gesellschaft zu integrieren. Statt einer wirklich liberali- sierten Stellung für Juden kommt nur eine halbherzige Lösung zustande. Glücklicherweise ver- tritt nur eine Minderheit des Kollegiums die Meinung, die Verhältnisse des 18. Jahrhunderts zu konservieren. (Kropat, 1983, S. 329.) Bei einer anderen Interpretation der Rechtsgleichstellung verfolgt die Regierung die Absicht, die Juden an Berufen wie Kaufleute, Handwerker und Landwirte teilhaben zu lassen (Horwitz, o.J., S. 9). Die neue Rechtslage hat für das Fürstentum Hanau und das neu hinzugewonnene Großherzog- tum Fulda, das sich als „zwangsannektiert“ ansieht, keine Gültigkeit135. Im Kurstaat findet prak- tisch eine Zweiteilung im Umgang mit Juden statt (Seien, 2000, S. 137). Die französische Julirevolution von 1830 wirft in Hessen erneut die Frage nach der Gleichstel- lung auf. Im kurhessischen Parlament wird die Judenemanzipation diskutiert (Kropat, 1983, S. 333); es gibt genügend Sprecher für die Sache, wie Schomburg, Eberhard u.a., das Plenum ent- scheidet sich nicht für die Gleichstellung von Religionen, sondern nimmt das Wort „christlich“ auf. Die Verschiedenheit im christlichen Bekenntnis hat keinen Einfluss auf die bürgerliche Rechtsstellung mehr, somit sind Katholiken und Protestanten gleichgesetzt,136 die Juden jedoch nicht (Kropat, 1983, S.334). Als im Parlament die Frage der Gleichstellung der Juden aus Hanau und Fulda behandelt wird, verlangt der reichsmittelbare Adel Entschädigung137 für den Wegfall des Schutz- und Begräbnisgeldes. Am 29. Oktober1833 erfolgt die Ausführung der Rechtsgleichstellung für Staatsbürger mit mosaischem Glauben im gesamten Staatsgebiet. (Horwitz, o.J., S. 22ff.) Die Diskriminierung der Juden wird an der Situation der jüdischen Nothändler138 deutlich. Die Meinung eines Ausschusses zu dieser Frage deckt sich mit der Regierungsvorstellung, obwohl sich der Ausschussvorsitzende Eberhard für die Gleichstellung der Nothändler ausspricht. Die- ser Handel soll für Juden als unbürgerliche Tätigkeit verboten sein, während Christen ihn weiter ausüben können. Bei Überprüfung der Berufsstatistik139 betreiben 1842 nur 261 Juden, 7 % aller 134 Die Emanzipation der Juden kommt nicht voran, denn konservative Politik ist vorherrschend, die eine „Korrektur“ der Juden im gesellschaftlichen Kontext anstrebt. Der Beamtenapparat will mit Erziehungs- fortschritten eine „Besserung“ der Juden erreichen. (Nipperdey, 1984, S. 250.) 135 Obwohl die Provinzen Hanau und Fulda auch ihren Anteil an der Entschädigungssumme gezahlt haben, müssen sie weiter Schutzgeld und andere zusätzliche Abgaben leisten (Horwitz, o.J., S. 10). 136 Die jüdischen Amtsvorsteher wie u.a. Goldschmitdt bitten bei gleichen Lasten auch gleiche Rechte für alle Bürger zu gewähren (Horwitz, o.J., S. 11). 137 Den Standesherren Graf Degenfeld und Freiherr von Hutten werden ungefähr 18ooo Thaler mit 5% Zinsen aus der Staatskasse zuerkannt (Horwitz, o.J., S. 24). 138 Unter großem wirtschaftlichen Druck stehende, von Ort zu Ort ziehende Nothändler haben meist für eine zahlenmäßig große Familie zu sorgen, so nehmen sie jede sich bietende Erwerbsquelle wahr. Es bietet sich das Kreditgeschäft an, wenn die Kunden nicht zahlen können oder dringend Geld benötigten, so werden Darlehen gegen Pfand gewährt oder Pfandleihgeschäfte abgewickelt. Diese Geschäftsform ist der Anfang für das spätere Bankgeschäft. Aber Hausierer belegen auch den Viehhandel, doch die meisten von ihnen streben nach einem Ladengeschäft, um die körperlichen Anstrengungen zu reduzieren und ein anderes Ansehen in der ländlichen oder städtischen Gesellschaft zu genießen. 1843 wird das Hausiergewerbe in Preußen schon vom stehenden Kramhandel übertroffen. (Prinz, 1984, S. 24-26.) 139 Berufsstruktur der kurhessischen Juden 1842 (nach Hentsch, G., Gewerbeordnung und Emanzipation der Juden im Kurfürstentum Hessen, in: Kropat, 1983, S. 342): Händler 2287 Handwerker 868 Landwirte 170 Lehrer, Ärzte, Staatsbedienstete 209 Summe 3534 Die Unterscheidung bei den Händlern führt 433 Großhändler an. Im Verhältnis zu Nassau weist 47 jüdischen Berufstätigen, diesen Erwerbszweig. Die Entscheidung der Ständeversammlung gegen die Gleichstellung dieser kleinen Gruppe von Juden zeigt, wie voreingenommen die Ab- geordneten gegenüber Juden sind. Als Beispiel ist ihnen stets der „Schacher-Jude“ vor Augen (Kropat, 1983, S. 335/336). Der Kurfürst140 selbst will sich nicht einer in vielen Punkten veränderten gesellschaftlichen Lage anpassen, was sich im Beförderungsstop beim Militär für Juden wie auch bei Vorenthal- tung von Lehrstühlen an Universitäten ausdrückt. Als Folge konvertieren viele; qualifizierte Personen gehen ins Ausland oder ziehen sich aus dem öffentlichen Leben zurück (Horwitz, o.J., S. 25). Unter der Regierung Eberhard und durch die Nachwehen der Revolution gewährt der Kurfürst Friedrich Wilhelm I. am 29. Oktober 1848 „die Religionsfreiheit und die Einführung der bür- gerlichen Ehe.“ Alle Bürger seien unabhängig vom Glaubensbekenntnis in der Lage, Staats- und Gemeindeämter auszuüben. Das Innenministerium spricht auch den Nothändlern die vollen bürgerlichen Rechte zu; es schafft die Voraussetzungen, dass alle zudem öffentliche Ämter be- kleiden, das Ortsbürgerrecht erwerben sowie bei Landtagswahlen wählen bzw. gewählt werden können. (Kropat, 1983, S. 340.) Das Herzogtum Nassau übernimmt 1849 auch diese Rechte. Nachdem die revolutionären Ideen nicht umzusetzen sind, weil Hassenpflug als Innenminister zurückkehrt und auf Betreiben des Kurfürsten eine erneute Zurücknahme des Gesetzes bewirkt, sind nun bürgerliche und staatsbürgerliche Rechte wieder vom christlichen Glaubensbekenntnis abhängig. Erneut wird die Diskriminierung der Nothändler aktualisiert. Zwar räumen einzelne Staaten des deutschen Bundes Rechte gegenüber Juden ein; eine bundesgesetzliche Bestim- mung141 erfolgt nicht (Horwitz, o.J., S. 26). Erst in preußischer Zeit werden durch ein Gesetz des Norddeutschen Bundes vom 3. Juli 1869 Juden gleich behandelt und religiöse Beschränkungen aufgehoben und damit das rechtliche Problem der Gleichstellung142 gelöst. Die gesellschaftliche Situation der Juden, resultierend aus Diskriminierung und vermutlich zu geringer Assimilation ihrerseits, verschiebt die Konflikte auf einen späteren Zeitpunkt, wo diese politisch und sozial ausbrechen. Kurhessen den achtfachen Anteil an Handwerkern auf. Weiter interpretiert Kropat für die Statistik eine gewisse Ungenauigkeit, einen Wert dafür nennt er nicht, denn bei der Berufsnennung werden häufig zwei Berufe angegeben, die sonst gleichzeitig ausgeübt werden. Bei der Angabe wird auch oft die Bezeichnung genannt, die gesellschaftlich gewollt ist. In einer Aufstellung der Berufe von Juden in Preußen (ohne Posen) 1834 sind 60,8% aller Berufstätigen im Handel und Kreditgewerbe angeführt, die Hausierer nehmen die letzte Stelle der Berufsaufstellung ein. Die Gruppe der Bettler, Unterstützungsempfänger und Berufslosen umfasst hier 6,2% der Juden. Die Anzahl der Juden nimmt ebenso wie die der übrigen Bevölkerung in Preußen zu. In der jüdischen Religion hat die Wohltätigkeit einen großen Stellenwert; dazu treten Vorstellungen oder eigene Erfahrungen von Verfolgung und Katastrophen; so werden Bettler meist nicht abgewiesen, sondern mit einem Minimum versorgt und dann weitergeschoben. Für die Gemeinden erweisen sich die Scharen der herumziehenden Juden und Christen als Plage, zumal etliche auch mit der jüdischen Unterwelt in Verbindung stehen. Die berufslos Geführten sind zum Teil Gauner, auch im 2. Viertel des 19. Jahrhunderts können eine getrennte jüdische und christliche Unterwelt angenommen werden. (Prinz, 1984, S. 19f.) 140 So laufen im Parlament bestimmte Anträge darauf hinaus, die Gleichstellung nicht zu akzeptieren. Um den jüdischen Bevölkerungsanteil in Hessen nicht zu vergrößern, wird im Landtag beantragt, nur dem ältesten Sohn einer jüdischen Familie zu erlauben, eine eigene Familie zu gründen (Kropat, 1983, S. 33). 141 Das erste deutsche Parlament entwickelt sich zu einem Scheinparlament ohne Macht. In geschichtlicher Dimension stellt es einen Modellfall dar und seine Ausstrahlung ist dahingehend zu deuten, „dass die konstitutionelle Monarchie in Beamtenträumen überdauert.“ (Seien, 2000, S. 137/138.) 142 Die Emanzipation eröffnet den Juden eine größere Bewegungsfreiheit und gibt ihnen für den freien Wettbewerb, resultierend aus der liberalen Einstellung dieser Zeitepoche, Energie, Mut und Hoffnung für neue wirtschaftliche Unternehmungen im Bankbereich, im Handel und in der Industrie (Sombart, 1922, S. 210ff.). 48 4.2 Antisemitismus als politische Neigung oder latente gesellschaftliche Haltung ? Neben der Entwicklung der Rechtsstellung für Juden in Kurhessen bis zu ihrer gesellschaftli- chen Gleichstellung in preußischer Zeit gilt es, die politischen Strömungen in der Provinz Hes- sen-Nassau vom anfänglichen Liberalismus über den Konservatismus bis zum Flächenbrand des Antisemitismus besonders zu beleuchten. Der Antisemitismus stellt für die vorliegende Arbeit wegen des Juden Sigmund Aschrott eine Schnittstelle dar; denn sein Ausschluss von Militärlie- ferungen, der Widerstand bezüglich seiner baulichen Aktivitäten, seine Wahl in die Handels- kammer und ihre anschließende Annullierung sowie seine Nichtbeachtung bei wiederholter Wahl, die Auseinandersetzung um die Ernennung zum Kommerzienrat bis zu seinem angebli- chen Bemühen um Nobilitierung sind ohne ausreichende Diskussion über schleichenden bis aggressiven Antisemitismus nicht zu bewerten. Die Arbeit beschäftigt sich nur in dem Umfang mit der Problematik, insofern die veränderte politische Haltung gegenüber Juden sich auf die Aktionen und die Person Sigmund Aschrotts beziehen und seine Handlungen beeinflussen können. Die Erörterung der Vorgänge, die zu einer flächendeckenden Judenfeindlichkeit im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts führen, kann heute nur vor dem Hintergrund der Judendeportatio- nen, Auschwitz und dem Holocaust der Hitlerdiktatur gesehen werden. In Deutschland entwickelt sich in dem oben genannten Zeitraum eine antijüdische Haltung, die zu einer Ideologisierung führt und den Antisemitismus in politischen Parteien und anderen Or- ganisationen zum Ausdruck bringt. Die Verfolgung, Diskriminierung und Ermordung von Juden äußert sich dramatisch in Russland, so dass es dort zur Massenflucht kommt; Frankreich und Österreich-Ungarn bilden die klassischen Länder des Antisemitismus. Deutschland zählt dage- gen bis 1914 nicht dazu. (Nipperdey, 1992, S. 289.) Nipperdey führt drei Ursachen für den mo- dernen Antisemitismus an. Das sind einmal der während der Aufklärung und des Idealismus neu entstandene Gegensatz zwischen Christen und Juden. Dieser Kritikansatz beruht auf der orthodoxen Glaubenseinstellung der altjüdischen Religion. Weiter entstehen auf der Grundlage einer sich verbürgerlichenden Gesellschaft neue Normen für: Arbeit und Leistung, Schulbildung und Zusammenleben. Diese Normen sollen für alle Gesellschaftsmitglieder gelten und dulden keine Randgruppen. Nach verschiedensten Anläufen zur Stärkung des Nationalbewusstseins, als drittem Aspekt, wird die Problematik jetzt vor dem Hintergrund der Herkunfts- und Abstammungsgemeinschaft ideologisiert und mündet in der Vorstellung von Nation, um so die eigene Identitätsfindung zu verstärken. Dieser Prozess richtet sich gegen die Juden, die sich selbst als ein Volk sehen. (Nip- perdey, 1992, S. 290.) Die neu beginnende Judenablehnung ist nicht eine Weiterentwicklung der bestehenden Vorbe- halte; die jetzige Haltung wendet sich gegen die Emanzipation der Juden, die es infolge von Flexibilität, Weltoffenheit und Assimilation verstehen, ihren Platz in der Gesellschaft143 über wirtschaftlichen Erfolg und Anerkennung zu nutzen. Im tertiären Sektor, wie Handel und 143 Die Juden sehen im Erwerb von Reichtum einen Weg, soziale Anerkennung zu erlangen, um auf diese Weise Minderwertigkeitsgefühle zu überwinden. Ein Jude, der einem Christen wirtschaftlich gleichgestellt ist, findet keine Beachtung; vor einem jüdischen Millionär hat der Christ jedoch Respekt. Durch Reichtum erlangen die Bürger, besonders unter Wilhelm II., gesellschaftliche Anerkennung bzw. Aufwertung. Die Verleihung von Orden und Titeln, wie Kommerzienrat, stärkt das Selbstwertgefühl. Nicht wenige Juden benutzen ihren Reichtum, um ihn mit Luxus, entsprechend dem Protzertum von Neureichen, öffentlich zur Schau zu stellen. Das hilft ihnen über ihre innere Unsicherheit hinweg, stößt bei der breiten Masse der Bevölkerung aber auf Neid und entwickelt Ungunstgefühle. (Prinz, 1984, S. 10/11.) 49 Bankwesen, in Medizin und Jurisprudenz, als Arzt oder Anwalt, gelingt es ihnen innerhalb eines kurzen Zeitraums führende Positionen einzunehmen. In der Gruppe der Gymnasiasten und Stu- denten144 sind jüdische Mitbürger im Verhältnis zur übrigen Bevölkerung überproportional vertreten. In der liberalen Phase unter dem Primat der Gleichstellung von Randgruppen gelingt einem Teil der Juden der soziale Aufstieg, Übernahme deutscher Kultur- und Verhaltensnormen und, um sich im öffentlichen Dienst anzupassen, auch die Konversion. Dieses Abrücken von jüdischer Tradition führt zu stärkerer Assimilation der Juden in der Gesellschaft. So kann festgehalten werden, dass antisemitische Äußerungen sich rückläufig entwickeln. Es bildet sich in den 70er Jahren der Ansatz eines aufkommenden Nationalbewusstseins heraus, das sich über Herkunfts- und Abstammungsgeschichte des Volkes definiert und zur Schärfung der eigenen Ziele ideologisch und demagogisch eine nationale Abgrenzung gegenüber dem „jüdischen Volk“ betreibt. In gesellschaftlichen Fehlentwicklungen, ökonomische Krisen wird jüdisches Handeln als Ursache gesehen. (Nipperdey, 1992, S. 290/291.) Die 1873 einsetzende Gründerkrise als große wirtschaftliche Depression wird von einer breiten Masse als eine Folge der liberalen Wirtschaftsauffassung gedeutet. Diese Vorstellung findet besonders Resonanz bei den durch die Krise Betroffenen, das sind Handwerker und Kleinhänd- ler, die durch den Preisverfall in Bedrängnis geratenen Bauern und die im Statusdenken und bei Einkommen gegenüber Beschäftigten in der Wirtschaft zurückgefallenen Akademiker. Weiter werden große Bevölkerungsteile mit zunehmender Entfremdung und Anonymität, Lösung von Religion und veränderten Moralvorstellungen nicht fertig. Zudem verlangt die Gesellschaft auf Individualität und Rationalität ausgerichtete Mitglieder. (Nipperdey, 1992, S. 294/295.) Ein Teil der Bevölkerung führt seine wirtschaftliche Lage auf den Erfolg jüdischer Bürger zu- rück. Antisemitische Äußerungen finden ihre Umsetzung auf breiter journalistischer Basis. In der auflagenstarken „Gartenlaube“, einer Familienzeitschrift von 460000 Exemplaren, verfasst Otto Glagau eine Serie über den „Börsen- und Gründungsschwindel“ in Berlin, bei welchem Juden Auslöser und Verursacher darstellen. Die Leserschaft wird in mobilisierenden Zeitungs- berichten mit verdeckter antisemitischer Akzentuierung angesprochen. (Stern, 1977, S.608.) Glagau vertritt die Ansichten des durch die Wirtschaftskrise besonders betroffenen Mittelstan- des und vergleicht die soziale Frage mit der Judenfrage. „Sie (Juden, Anm. d. Verf.) schieben uns Christen stets beiseite, sie drücken uns an die Wand, sie nehmen uns die Luft und den Atem. ... Die Weltgeschichte kennt kein zweites Beispiel, dass ein heimatloses Volk, dass eine ent- schieden degenerierte Rasse bloß durch List und Schlauheit, durch Wucher und Schacher über den Erdkreis gebietet.“ (Glagau, O.: Der Börsen- und Gründungsschwindel, in: Knauß, 1969, S. 47.) Als Glagau in die Kritik gerät, mit der Begründung nur mittelalterliche Einstellungen und Verbreitung von Intoleranz wiederzubeleben, verstärkt er seinen verzerrten Entwurf und führt an, Judenherrschaft und deren Auswüchse seien nur auf dem Hintergrund von Sentimentalität und Schwäche der Christen möglich. Heute zeigten sich die Juden als reichste Gruppe in Ber- 144 Nach 1879/80 ist der Antisemitismus an deutschen Universitäten nicht mehr zu übersehen. 40 Prozent der Studierenden in Berlin unterzeichnen antisemitische Erklärungen. 1881 wird der Verein deutscher Studenten (VDSt.) gegründet, dessen Ziele Nationalsozialismus, Monarchismus, antikatholisches Christentum und Antisemitismus umfassen. Äußerungen wie: Juden sind gefährlicher als Sozialisten und sie können trotz deutscher Bildung nie Deutsche werden, gehören zur Argumentation. Als 1890 ausländische jüdische Studenten, vorwiegend aus Russland, nach Preußen kommen, nehmen antise- mitische Haltungen noch zu. Während 1886/87 der Anteil jüdischer Studenten in Preußen bei 17% liegt, steigt er 1911/12 auf 40%. Schlagende Verbindungen, die sich aus Studenten der Oberschicht rekrutieren, verbieten ihren Mitgliedern, „romantische“ Beziehungen zu Jüdinnen einzugehen. Dagegen lädt die Freistudentenschaft, die dem Verband liberaler Männer zuzurechnen sind, Jüdinnen ein, behandelt diese jedoch herablassend. (Kaplan, 2003, S. 272/273.) 50 lin, einen Luxus vertretend, der den des Hofes und der Aristokratie weit übertreffe. (Stern, 1978, S. 608.) Selbst in der konservativen „Kreuzzeitung“145 wird versucht, Sittenverfall, Wirtschaftskrise und Kulturkampf146 als ein Komplott zwischen Bismarck, den Liberalen und Juden zu erklären. (Nipperdey, 1992, S. 295.) Die Probleme mit gesellschaftlichem Antisemitismus brechen nicht offen aus, sie bewegen sich unter der Oberfläche, haben allerdings auf das tägliche Leben von Juden einen direkten Ein- fluss. Dabei sind sie gravierender als die Agitation politischer Parteien. In der Schule, bei der Berufsausübung, am Wohnort, bei der Eröffnung eines neuen Geschäfts, bei der Wahl von Freunden und Bekanntschaften sind sie häufig von informellem Antisemitismus betroffen. Bei ihnen gehören Vorurteile über sie zu etwas Selbstverständlichem; sie wehren sich unbewusst dagegen, passen sich an oder äußern Zorn und Verletztheit. (Kaplan, 2003, S. 338.) 4.3 Von liberaler zu konservativer Politik als Kräfteverschiebung in Kurhessen Die liberale politische Richtung in Kurhessen vor der Annexion, welche erstmals 1831 in der fortschrittlichen Einzelstaatsverfassung hervortritt, setzt sich auch unter der neuen preußischen Führung fort. In Kassel selbst geben meist Juristen dem Nationalliberalismus neuen Auftrieb. Gegenüber der zu neunzehntel aus Protestanten bestehenden Gesamtbevölkerung fallen dagegen die Katholiken, weitgehend in und um Fulda verdichtet und bei Wahlen dem Zentrum ihre Stimme gebend, kaum ins Gewicht. Eine andere althessische Gruppierung, als „Partikularisten“ bezeichnet, verliert in den 70er Jah- ren gänzlich an Bedeutung. Die wiederum aus den Spannungen innerhalb der evangelischen Kirche (Eingliederung der Landeskirche in die Kirche des preußischen Gesamtstaates) sich her- auskristallisierende „Kurhessische Renitenz“ schwindet in ihrer politischen Kraft. Die liberale kurhessische Bewegung artikuliert sich redaktionell in der Hessischen Morgenzei- tung147 mit Sitz in Kassel (Klein, 1995, S. 14). Die liberale Politik wird Ende der 70er Jahre durch den preußisch-deutsch beeinflussten Kon- servatismus abgelöst, dessen Ausgangspunkt für die Provinz Hessen-Nassau Oberhessen ist. Die treibende Person findet sich in dem Marburger Rechtsanwalt Grimm, der bereits 1871 bei den 145 Eigentlich: Neue Preußische (Kreuz-) Zeitung genannt. Einen intellektuellen Sprachstil vertretend, stellt sie sich als Vordenker strenggläubiger Protestanten dar (Stern, 1977, S. 609). 146 Unter der Bezeichnung Kulturkampf versteht R. Virchow die Auseinandersetzung des Preußischen Staates mit der katholischen Kirche seit 1872. Dieser Begriff wird in die allgemeine Diskussion über- nommen. Die politische Opposition verkörpert die Partei Zentrum, die von den Katholiken gewählt wird. Sie vertritt die Vorstellung einer kleindeutschen Lösung von 1871. Für die liberalen und gemäßigten Konservativen stellt diese politische Haltung eine Gefahr für den Staat dar. Das Dogma der Kirche über die Unfehlbarkeit des Papstes bedeutet für Bismarck eine Gefahr für die Staatssicherheit. Der Kanzel- paragraph erhebt Erörterungen in der Kirche zu staatlichen Angelegenheiten und wird zu einem Straftat- bestand. Gleichfalls verabschiedet der preußische Landtag das Gesetz zur Änderung der Schulaufsicht, welche jetzt ausschließlich dem Staat obliegt. Diese Maßnahmen des Reichskanzlers bilden den Anfang der Auseinandersetzungen gegen die katholische Kirche. (Brockhaus, 1970, Stichwort: Kulturkampf.) 147 Herausgeber der seit 1859 erscheinenden Hessischen Morgenzeitung ist der nationalliberale Publizist und spätere Reichstagsabgeordnete Dr. Friedrich Oetker (Klein, 1995, S.22). Er tritt mit einer Vielzahl von Publikationen hervor. In einem Flugblatt stellt er 1860 zu den Wahlen des Landtages fest, dass „alle Verhältnisse... dem verfassungsmäßigen Rechtsboden entrückt“ seien (Oetker, 1860, S. 4). Er fordert die Kammermitglieder auf, alle gesetzlichen Mittel anzuwenden, um bei der Ständeversammlung eine Zustimmung für das Gesetz von 1849 zu erreichen. Die Verfassung von 1860 sieht dagegen eine Unzuständigkeitserklärung der zweiten Kammer vor, damit habe die erste Kammer, repräsentiert durch die Ritterschaft, ausdauernd gezeigt, dass es ihr nur um Standesvorteile nicht aber um gleiches Recht im ganzen Land gehe (Oetker, 1860, S. 2-5). 51 Reichtagswahlen ein Mandat erhält. Als publizistisches Organ für den Konservatismus und auch für Grimm selbst, dient die Oberhessische Zeitung148 in Marburg. (Klein, 1995, S. 22/23.) Ist die Wahlbeteiligung149 anfangs mit 35% gering, so wächst diese bis Ende der 70er Jahre auf 50 % an (Klein, 1993, S. 21). Die beiden neu entstehenden Massenbewegungen, basierend auf einer sich langsam organisierenden Arbeiterbewegung und einem sich ausbreitenden Antisemi- tismus150, dessen Rekrutierungsfeld die kleinbürgerlichen und kleinbäuerlichen Bevölkerungsgruppen darstellen, lassen die Wahlteilnehmer auf über 70 % und bis zu Beginn des 1. Weltkrieges auf 85% ansteigen (Klein, 1993, S. 26). Wie lässt sich ein solcher Anstieg erklären? Mit der Abgabe ihrer Stimmen hofft ein großer Prozentsatz, dass sich ihre wirtschaftliche Lage verbessert. Zum anderen, das betrifft die Kandi- daten mit antisemitischer Aussage, verstehen sie es, ihr Klientel mit aggressivem Verbalismus zu mobilisieren und in manchen ländlichen Gebieten zu einer einheitlichen Stimmabgabe zu bringen. Ein politischer Gedankenaustausch innerhalb von Vereinen und Vereinsverbänden, auch in Verbindung mit nationalweiten Organisationen, führt in den 70er und 80er Jahren in Hessen- Kassel zu einer Verdichtung von aktuellem Interessen (Klein, 1995, S.68). Im Dezember 1878 kommt es in Bebra zur Gründung eines „Hessischen Vereins zur Beratung und Förderung wirtschaftlicher Interessen“, an der etwa 90 Personen aus Landwirtschaft und Handwerk, Unternehmer und Kaufleute der umliegenden Kreise, allerdings nicht aus Osthessen, beteiligt sind. Die als politisch konservativ und rechtsliberal zu beschreibende Gründungsver- sammlung hat sich als Ziel die Förderung wirtschaftlicher Interessen gesetzt. (Klein, 1995, S. 69.) 148 Die Oberhessische Zeitung erscheint seit 1866 und wird von Koch verlegt, der zusammen mit Grimm deutsch-konservative Ziele in Oberhessen vertritt (Klein, 1995, S. 22). 149 Wahlberechtigt, um an den Wahlen zum Deutschen Reichtag von 1867/68 – 1918 teilnehmen zu können, sind alle Männer über 25 Jahre mit der Staatsangehörigkeit deutsch, die nicht wirtschaftlich in Konkurs oder Vormundschaft stehen sowie durch strafrechtliches Urteil als vorbestraft gelten. Aktive Militärangehörige dürfen nicht wählen. Gewählt werden Einzelpersonen, die meist von Parteien und parteiähnlichen Gruppen getragen und gefördert werden. Auf Wahlzetteln werden vorgedruckte Namen gewählt. Im ersten Wahlgang erhält das Mandat, derjenige, der die absolute Mehrheit, also mehr als 50% der Stimmen seines Wahlbezirks, bekommt. Bei weniger als 50% für den Kandidaten mit dem meisten Stimmenanteil gibt es einige Tage danach eine Stichwahl zwischen den beiden Kandidaten, die die meisten Stimmen auf sich vereinen. Hier einigen sich Interessenverbände vorher, einen bestimmten Kandidaten zu unterstützen, weil der eigene ausgeschieden ist. Die Wahlen können als allgemein, gleich und direkt gelten. (Klein,1995, S. 9/10.) Die Wahl der Abgeordneten des Preußischen Landtages erfolgt in zwei Wahlverfahren nach dem Dreiklassenwahlrecht. Die Voraussetzungen, um wählen zu können, sind dieselben wie bei den Wahlen zum Reichstag. Die Wähler werden jedoch nach ihrem Vermögen oder ihrer Steuerleistung in drei Klassen eingeteilt. Das gesamte Steueraufkommen wird durch drei geteilt. Die Steuerzahler erhalten einen Rangplatz von höchster zu geringster Steuerabgabe. In der ersten Klasse dürfen die Steuerzahler bis zu dem Rangplatz wählen, bei dem das erste Drittel der Steuersumme erreicht ist. Danach erfolgt eine Einteilung nach Rangplätzen in die zweite und dritte Klasse. So werden die Klassen mit unterschiedlich vielen Wählern belegt. Während in der 1. Klasse, auf Grund ihrer hohen Steuerabgaben, sich die wenigsten Wähler befinden, umfasst die 3. Klasse die meistem Wähler. Alle drei Klassen können die gleiche Anzahl an Wahlmännern wählen, die schließlich für bestimmte Abgeordnete votieren. Bei solchem Wahlrecht ist die Stimmgewichtung zwischen den Klassen unverhältnismäßig groß. (Klein, 1995, S. 10.) Für diese Wahlen kann man von einem ungleichen und indirekten Wahlrecht sprechen. 150 Die wirtschaftliche Depression von 1873 und die einsetzende Agrarkrise bestärken einen politisch bürgerlichen Antisemitismus. Otto Böckel beginnt sich im Reichstag öffentlich antisemitisch zu äußern und versucht einen Boykott jüdischer Geschäfte zu erwirken. In der Bevölkerung scheuen sich Nichtjuden bei Auseinandersetzungen, eine bestimmte Grenze zu überschreiten, die das „wirtschaftliche, soziale und kulturelle Gleichgewicht“ verletzen könnte (Kaplan, 2003, S. 288). 52 Auch in Kassel findet fast ein Jahr später im November 1879 eine Versammlung zur Gründung eines konservativen Vereins in dem Saal des „Stadtparks“ statt. Von den 120 – 150 teilnehmen- den Personen sind die meisten Beamte. Das Vereinsprogramm, als Basis dient dazu das Pro- gramm der Deutsch-Konservativen Partei, ist im Januar 1880 fertig. Zum Vorsitzenden wird der Kasseler Landrat Ernst Weyrauch151 gewählt; in kurfürstlicher Zeit ist er Generalsekretär des Gesamt-Staatsministeriums und vortragender Rat im geheimen Kabinett, seit 1868 königlich preußischer Landrat von Kassel. (Klein, 1995, S. 74.) Der Vorstand setzt sich weiter wie folgt zusammen: Landgerichtsrat Otto Göbell als Stellver- treter, Regierungsreferendar Theodor Krekeler als Schriftführer, Kaufmann Franz August Knappe als Kassierer. In den Beirat werden Regierungsrat Karl Wilhelm Althaus, Polizeiin- spektor Ludwig Bödicker, Freiherr Hugo v. Dörnberg, Kaufmann Ferdinand Linzen und Gym- nasialoberlehrer Professor Dr. Otto Weber beordert. Als Ziele gelten: Handwerk, Landwirtschaft und arbeitendes Volk von Gründer- und Schwind- lertum zu befreien, für die Revision der Gewerbeordnung und eine härtere Justiz, um nur die wichtigsten Punkte herauszustellen, einzutreten. Als Informationsorgan und –träger fungiert das Hessische Wochenblatt, dann Tageblatt, was ab 1881 in Kasseler Journal152 umbenannt wird (Klein, 1995, S. 75/76). Anlässlich der Reichstagswahl im Mai 1880 siegt in Wahlkreis II (Kassel-Melsungen) der Kan- didat der Deutschen Fortschrittspartei Dr. Philipp Schwarzenberg, ein in Kassel wohnender Bergwerksdirektor, im ersten Wahlgang. Der konservative Bewerber Otto Göbell erhält in Kas- sel selbst nur 5,4% der Stimmen153. Auf Grund ihres Erfolges wird die Parteiversammlung der Fortschrittspartei für Hessen im September 1880 in Kassel abgehalten. (Klein, 1995, S .77.) 151 Dr. Ernst Weyrauch, seit 1888 geadelt, wurde 1832 in Neukirchen (Schwalm-Eder-Kreis) geboren und starb 1905 in Marburg. Seit 1862 mit Sophie v. Trott zu Solz, geb. 1839 in Kassel, gest. 1919 in Marburg, verheiratet. Schwiegereltern sind: Friedrich v. Trott zu Solz, kurhess. Staatsminister, verh. mit Friederike v. Baumbach. Weyrauch wurde 1889 Direktor des Konsistoriums für den Reg. Bez. Kassel und 1891 Unterstaatssekretär im Kultusministerium. Er tritt 1899 in den Ruhestand. 1889 in Marburg zum Dr. theol. h.c.; 1894 in Königsberg zum Dr. jur. h.c. ernannt. (Klein, 1988, S. 236.) In einem Brief vom 9. Aug. 1912, verfasst vom Geheimen Justizrat Friedrich Ernst an den Kriegsminister, setzt Ernst sich für die Rehabilitierung Sigmund Aschrotts bezüglich der Beamtenbestechung ein, was noch angesprochen wird. Er führt dabei v. Weyrauch als Zeuge an, der als guter Leumund für Aschrott aussagen könnte. 152 Später in „Casseler Journal“ abgeändert, berichtet die Zeitung mehr oder weniger über die politische Arbeit in der Region. In diesem öffentlichen Organ hatten die Mitglieder des Konservativen Vereins im Dezember 1880 judenfeindliche Darstellungen entweder nicht bemerkt oder (absichtlich) übersehen. Im Kasseler Tageblatt vom 12.12.1880 begrüßen die Konservativen zwar die Aktion des Kasseler Oberbür- germeisters Emil Weise (nationalliberal), eine Petition des Berliner Antisemiten Bernd Förster an Bismarck abzulehnen (Förster verfolgt mit der Petition die Absicht, den Einfluss der Juden [gemeint ist besonders der Bankier Gerson v. Bleichröder – Anm. d. Verf.] zu verringern), aber wenige Tage danach wird eine judenfeindliche Meldung verbreitet, die über zwei Vorträge u.a. vom „wucherischen Treiben“ hessischer Juden und von der Lösung der „Judenfrage“ als Teil einer Reform bezüglich der Gewerbe- freiheit berichtet. Darauf erfolgt seitens des Konservativen Vereins keine Reaktion. Der Vortragende, Vorsitzender des linksliberalen Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereins der Stadt, Ernst Weisheit, wird darauf seitens des Generalrates des Gewerkvereins in Jena sofort von seinem Vorsitz entbunden und der Kasseler Verein aufgelöst. (Klein,1995, S. 88/89.) 153 Zehn Jahre später, 1890, verliert der preußisch-deutsche Konservatismus seine vorher bestimmende Stellung ganz. Auch seine judenfeindliche Haltung, mit der man der Böckelpartei Wähler abnehmen will, hat diesen Abgang nicht verhindern können. Konservative Kandidaten verbuchen bei Reichstagswahlen keinen Erfolg, und ihr Sprachorgan, das „Casseler Journal“, stellt 1896 den Vertrieb ein. (Klein, 1995, S. 274/289.) 53 4.4 Antisemitismus – Zeitausdruck in Hessen - Nassau Mit Gründung des Deutschen Reformvereins 1881 kristallisiert sich Kassel zum Mittelpunkt des regionalen Antisemitismus heraus. Er bedient sich zweier „Hetzblätter“, des „Geldmonopols“ und des „Reichsgeldmonopols“ (Klein, 1993, S. 27), und wird nun durch zunehmenden Ein- fluss zum Konkurrenten des Konservativen Vereins. Als 1886 der Deutsche Antisemitenkon- gress in Kassel stattfindet, weitet sich die antijüdische Bewegung ins Umland aus. Teilnehmer dieser Veranstaltung setzen sich aus unbedeutenden Personen antisemitischer Politikauffassung zusammen. An diesem Treffen nimmt auch der 27jährige Marburger Universitätsbibliothekar Dr. Otto Böckeltto teil. Er verschafft sich bei Wanderungen über das Marburger Land ein Bild von der Armut und den Problemen mit dem Viehhandel, der zum großen Teil von Menschen mit jüdischer Konfession, als „Wucherjuden“154 bezeichnet, abgewickelt wird. Zu einem groß angelegten Wahlkampf155 zur Reichstagswahl im Februar 1887 zieht er im Wahlkreis V, Marburg-Frankenberg-Kirchhain von Dorf zu Dorf und gewinnt die Landbevölkerung mit seiner antisemitischen Agitation. Den ersten Wahlgang156 gegen seinen konservativen Gegner entscheidet Böckel schon für sich. In den Jahren 1890, 93 und 98 ist in diesem Wahlkreis ein antisemitischer Kandidat erfolgreich. (Klein, 1993, S. 26/27.) Mit der Gründung von Bauernvereinen, Spar- und Darlehenskassen157 (Klein, 1993, S. 27) will Böckel der Geldnot der Landbevölkerung entgegentreten. Großen Anklang finden die von ihm begonnenen „judenfreien Bauernmärkte“158. Mit der Einrichtung des „Mitteldeutschen Bauernvereins“ steigt er für die oberhessische Landbevölkerung zum „großen Sozialrevolutio- när“159 auf oder auch, wie in Berichten aus der Zeit zu lesen ist, zum König der Bauern (Knauß, 1969, S. 53/54). 154 Mit einer Statistik über Zwangsversteigerungen ländlicher Grundstücke wollte man in Preußen den antisemitischen Vorstellungen entgegentreten, die Zerschlagung von bäuerlichem Besitz sei hauptsächlich Ursache jüdischen Wuchers. So ergab die Analyse von 2835 Zwangsversteigerungen im Jahre 1886/87, dass 42% Folge eigenen Verschuldens, bedingt durch die Faktoren: Schlechte Wirtschaft, Trunksucht, Verschwendung, leichtfertige Prozesse, sei; 19% wiesen auf ungünstige finanzielle Bedingungen bei Hofübergabe hin, 10% auf ungünstige Familienverhältnisse und Krankheit, 6% auf Geschäftsverlust, Bauten u.a., 6% auf Naturereignisse und Unfälle, 6% durch allgemeine schlechte landwirtschaftliche Lage, 5% wegen falscher Erbregelungen und 3% wegen Wucher (Klein, 1995, S. 248), wobei dieser, wie bereits vorher angeführt, nicht ausschließlich von Juden betrieben wurde. 155 Böckel entwickelt einen strategischen Wahlkampf, der bisher unbekannt ist. Die Wahlveranstaltungen allgemein beschränken sich auf drei oder vier Veranstaltungen in den Städten über die in der Presse kurz berichtet wird (Klein, 1993, S. 26). Der Antisemit Böckel tritt in jedem Ort seines Wahlkreises persönlich auf. Da oft auf dem Land keine Säle vorhanden sind, veranstaltet er seine Wahlreden unter freiem Himmel und lässt sich zum Abschluss der Veranstaltung von der Versammlung zum Ort hinausgeleiten (Knauß, 1969, S. 55), um so eine Geschlossenheit zu demonstrieren, ehe er zu der nächsten Veranstaltung aufbricht. 156 Böckel erhielt im 1. Wahlgang 5388 Stimmen, und das ist die absolute Mehrheit. Damit ist er für den Reichstag gewählt. Auf seinen Gegenkandidaten, den vorher schon beschriebenen Rechtsanwalt Grimm, entfallen 2489 Stimmen (Knauß, 1969, S. 52). 157 Die Landeskreditkasse in Kassel existiert schon als öffentlich-rechtliche Einrichtung, um bei der Ver- schuldung landwirtschaftlicher Betriebe mit Hypothekenkrediten gegenzusteuern. In der Fläche werden erst in den 80er und 90er Jahren Darlehensvereine in Selbsthilfeorganisationen nach dem Beispiel von Schulze-Delitzsch und Spar- und Darlehenskassen nach dem Raiffeisenmodell gegründet, und so ist die Landwirtschaft hier noch auf private Geldvermittler, das sind noch jüdische Kapitalgeber, angewiesen. (Klein, 1993, S. 29.) 158 Auf dem Höhepunkt der antisemitischen Bewegung 1890 kommt es zu einem judenfreien Markt in Lang-Göns (Landkreis Gießen) mit der Beteiligung von über 15000 Menschen (Knauß, 1969, S. 619). 159 Einen Prozess vor dem Marburger Schwurgericht im Oktober 1884 benutzt Böckel, um bei den vielen anwesenden Bauern aus der Umgebung durch aufwiegelnde Reden das ihnen (angeblich) geschehene Unrecht zu verdeutlichen und sich zu ihrem Fürsprecher zu erheben (Knauß, 1969, S. 52). In dem Prozess 54 Schon 1887 gründet er seine eigene Partei, die „Antisemitische Volkspartei“ und die Zeitung „Reichsherold“, die von den Mitgliedern des „Mitteldeutschen Bauernvereins“ zu abonnieren ist, der 1888 bereits auf die Zahl von über 10000 anwächst. Auf diesem Weg ist die Informa- tionsverbreitung für die Mitglieder160 gesichert, und für einen Monatsbeitrag von 33 Pf. den Bauern unentgeltlich Rechtsauskunft gewährt. Sie sind Mitglied einer Sterbekasse, können kos- tenlos im Reichsherold annoncieren und erhalten für eine Hagel- und Feuerversicherung güns- tige Konditionen. (Knauß, 1969, S. 55.) Bei der Einordnung des Mordfalles Hedderich, der Schmied Hedderich hat ein jüdisches Ehe- paar getötet, in die politisch-gesellschaftliche Entwicklung treten bezüglich des Verteidigers und Politikers Grimm verschiedene Fragestellungen auf. Warum übernimmt der konservative Jurist Grimm diesen Fall? Wie ist die Beurteilung der angeblichen Stimmung auf dem Land zu verstehen? Wie beurteilt er den Agitator Böckel? Der zu dem Zeitpunkt des Prozesses 58jährige Dr. Karl Grimm161 ist ein angesehener Jurist und Politiker. Vor seiner Wahl zum Reichstagsabgeordneten 1871 wird er in der „Marburger Zei- tung“, Sprachorgan seiner politischen Gegner, als hochkonservativer Anhänger der „Kreuzzei- tungstheorien“ charakterisiert. Er habe mit seiner Einstellung „preußen- und reichsfeindliche Wähler“ auf sich konzentrieren können. Das kann Grimm leicht entkräften. Denn vorher hat er selbst in der Oberhessischen Zeitung, Medium seiner politischen Vorstellungen, eine konse- quente und nicht parteiorientierte Unterstützung der Bismarckschen Innenpolitik gefordert. Fer- ner soll die Bevorzugung des Großkapitals aufhören und für die Landwirtschaft die überhöhte Steuer des Grundvermögens verringert werden. (Klein, 1995, S. 27/28.) Mit dieser kurzen Be- schreibung seiner politischen Aussagen wird deutlich, dass er sehr wohl in der Lage ist, die gesellschaftlichen Abläufe zu analysieren. Bezogen auf die anfängliche Fragestellung ließe sich vermuten, er habe den Fall übernommen, um die Bauern von seiner positiven Einstellung gegenüber der Landbevölkerung zu überzeugen und ihnen seine Analyse der augenblicklichen bäuerlichen Situation darzulegen. Die offen zu- tage tretende antisemitische Haltung der Kleinbauern will er wahrscheinlich nicht weiter nähren und denkt, sie würde schnell abklingen. Dem späteren Konkurrenten Böckel und seinem „Wahlkampfverhalten“ traut er wenig Einfluss auf die Landbevölkerung zu, zumal Böckel nicht seine, Grimms, soziale Stellung annähernd erreicht. Grimm scheint die Einstellung von Klein- bauern und Gewerbetreibenden, einer auf die Böckelschen Argumente wartender Wahlbevölke- rung, nicht zu erkennen. Dies wird dann bei der Reichstagswahl 1887 bereits im 1. Wahlgang wird dem angeklagten Schmied Konrad Hedderich aus Rossberg (Kreis Marburg) vorgeworfen, das Ehepaar Wolf, „gebrechliche, jedoch wohlhabende Israeliten,“ getötet zu haben. Der Mord sei aus Rache geschehen, da Wolf als Gläubiger den Schmied um sein Haus gebracht habe. (Klein, 1995, S. 133.) Verteidiger Hedderichs ist der Rechtsanwalt Grimm, der 1887 Gegenkandidat Böckels bei der Reichstagswahl wird. In seinem Plädoyer geht Grimm auf die Ausführungen des Staatsanwalts ein und führt an, man könne nicht von einer Judenhetze im oberhessischen Land oder einer antijüdischen Bewegung sprechen, die bewusst Stimmung in der Bevölkerung für den Angeklagten gemacht habe. Ihm sei die Stimmung auf dem Land über 40 Jahre bekannt, und es habe sich nichts geändert. Es habe jüdischen Wucher gegeben, durch den die Bauern Haus und Hof, Hab und Gut verloren hätten, aber zu Gewalttaten sei es nie gekommen. Grimm erreicht für seinen Mandanten Freispruch. Die Kosten übernimmt die Staatskasse. (Klein, 1995, S. 133.) 160 Böckels Gegenkandidat in Marburg, v. Gerlach, berichtet über dessen Auftreten bei Versammlungen: „Meilenweit kamen sie zu seinen Veranstaltungen gewandert. Beehrte er einen judenfreien Viehmarkt mit seiner Gegenwart, so wurde er von berittenen Bauernburschen eingeholt. Girlanden waren über die Strasse gespannt, die Mütter hielten ihre kleinen Kinder hoch und sagten zu ihnen: Seht euch den Mann an, das ist unser Befreier.“ (Hellmuth v. Gerlach, in: Knauß, 1969, S. 55.) 161 Grimm wird am 16.5.1826 in Kassel geboren. Er selbst berichtet, 1830 Zeuge von antisemitischen Pogromen gewesen zu sein. Seit 1851 Obergerichtsanwalt in Marburg, erhält er 1871 die Auszeichnung Justizrat, 1882 den Kronenorden Vierter Klasse und 1883 den Roten Adlerorden Vierter Klasse. Grimm stirbt am 23. Juni 1893. 55 überdeutlich. Die Hessische Morgenzeitung begründet das „Wahldrama“ von Marburg mit den Worten: „Böckel sei unterschätzt“ worden. (Klein, 1995, S. 214.) Die Wahl Böckels in den Reichstag ist kein Einzelfall. In zahlreichen Wahlkreisen des Regie- rungsbezirks kommt es für kurze Zeit zu sechs von acht möglichen Reichstagsmandatsträgern mit antisemitischer Haltung (Klein, 1993, S. 28). In den Jahren 1887 bis 93 erreichen die Anti- semiten mit ihren radikalen Populisten wie Böckel und Ahlwardt ein Stimmenergebnis von 3,4% (16 Sitzen). Allein die Böckel-Bewegung erringt 7 Mandate (Nipperdey, 1992, S. 298). Nach Böckels Rücktritt 1894 schließen sich seine Anhänger mit anderen Lagern zu einer Einheitspartei, der „Deutsch-Sozialen Reformpartei“, zusammen. Sie verfügt 1897 noch über 13 Reichstagsmandate, davon entfallen fünf auf Hessen. Um 1900 fällt die Partei auseinander, weil es zu keinem dauerhaften einheitlichen Parteiprogramm kommt und die Antisemiten im Reichstag keine Erfolge mehr vorweisen können. (Knauß, 1969, S. 65.) Mit der Argumentation zum Antisemitismus versucht das Zentrum, Bismarck innenpolitisch anzugreifen und den Kulturkampf abzumildern. So sind Artikel in der katholischen Zeitschrift „Germania“162 von 1875 zu deuten. Für die Katholiken sind Juden die Träger des Liberalismus und der sich entwickelnden Säkularisation und damit auch Träger des Kulturkampfes (Knauß, 1969, S. 48). Es setzt sich schließlich bei der katholischen Kirche die Meinung durch, dass das für eine katholische Minderheit geltende Recht der Tolerierung auch auf andere Minderheiten, hier Juden, anzuwenden sei. Die antijüdische Einstellung einiger Abgeordneter des Zentrums wird von Kirchenvertretern abgelehnt (Nipperdey, 1992, S. 306). Auf protestantischer Seite tritt besonders Stoecker163, der als Hofprediger Kirche und Krone repräsentiert, hervor. Von der Polarität zwischen dem Gewinnstreben der wirtschaftlich orien- tierten Oberschicht und der vom Sozialismus geprägten Arbeiterschaft leitet er das Abrücken der Gesellschaft gegenüber der Kirche ab.164 Nach seiner Wahlniederlage ändert er seine programmatische Zielrichtung und übernimmt anti- semitische Tendenzen noch ironisch, indem er sich der Kritik seitens der konservativen Juden bedient und gleichfalls mehr Bescheidenheit und Großzügigkeit gegenüber anderen fordert. Er 162 In einer Artikelfolge wird in der „Germania“ die stärker werdende Judenherrschaft missbilligt und eine kritische Haltung gegenüber jüdischen Geldgeschäften und ihren Trägern eingenommen. In der Zeitung kommt zum Ausdruck, dass man sich nicht gegen die jüdische Religion oder die Juden insgesamt wendet, sondern gegen die jüdische Geldherrschaft, welche den Wohlstand der Nation wie der jüdische Geist das Christentum und das deutsche Wesen bedrohe (Stern, 1977, S. 609). 163 Der Antisemitismus im konservativen Protestantismus ist beeinflusst von Agitationen Stoeckers und Treitschkes, auch eine Gruppe von Pfarrern vertritt diese gesellschaftlichen Vorstellungen (Nipperdey, 1991, S. 308). Stoecker stammt aus armen Verhältnissen, und durch seine patriotische Einstellung im Krieg 1870/71 steigt er vom Feld- zum Hofprediger auf. Mit seiner sozialen Botschaft versucht er Arbeiter für seine 1878 gegründete Christlichsoziale Arbeiterpartei, die eine Gegenposition zu marxistischen Klassenkampfvorstellungen einnimmt, zu gewinnen. Sein Vorhaben die Berliner Arbeiter- schaft zu überzeugen misslingt, er erhält mit seiner Arbeiterpartei weniger als 1% der Berliner Stimmen. (Stern, 1977, S. 619.) 164 Die gebildeten protestantischen Großstadtbewohner zeigen eine veränderte Einstellung gegenüber ihrem Glauben. Zwischen 1870 und 1880 ist die Kirchenbesucherzahl auf 1-5 Prozent, als tiefstem Wert, gesunken. Die Protestanten entwickeln ein eigenes Religionsverständnis, das sich auf Ziele der deutschen Aufklärung beruft, auf einer inneren Spiritualität beruht und als „Bildungsreligion“ beschrieben werden kann. Dabei ist nicht der Kirchenbesuch, sondern das persönliche Gotteserlebnis von entscheidender Be- deutung. Ebenso beeinflussen die deutsche Aufklärung sowie die protestantische „Innerlichkeit“ die Juden, dazu treten die Forderungen der Wirtschaft und Gesellschaft, das „Judentum“ einer neuen Rich- tung anzupassen und die Bedeutung „jüdisch“ zu sein, verändert zu definieren. So suchen jetzt Juden in der Form des Eklektizismus religiöse Bräuche zu verwenden, im Glauben unterschiedlichen Sinngehalt zu entdecken und so eine veränderte individuelle Einstellung aufzubauen. Das bedeutet, die Synagogen- besuche gehen zurück und die Religionsausübung entwickelt sich zur Privatsache. (Kaplan, 2003, S. 301- 305.) 56 verschärft schließlich seine Äußerungen und sieht die Juden165 als tödliche Bedrohung, als Krebsschaden, „der [den] deutschen Geist verjudet, das deutsche Wirtschaftsleben verarmt“ (Stoecker, A., 1890, in: Stern, 1977, S. 622). In einer Großveranstaltung wird Stoecker von sozialistischer Seite angegangen, die Kirche habe zweitausend Jahre nichts getan, worauf er antwortet: „Warum fordern sie nur von den Geistlichen soziale Hilfe? Warum nie von den Ju- den? Herr v. Bleichröder166 hat mehr Geld als alle evangelischen Geistlichen zusammen“ (Stoecker, A., 1890, in: Stern, 1977, S. 622). Diese Äußerungen veranlassen Bleichröder wiederum zu einer Petition an den Kaiser, worin er die Agitation bestimmter sozialer Gruppen auf das Kapital allgemein beklagt. In einer Petition Stoeckers an Wilhelm I. spricht dieser davon, nicht die Juden anzugreifen, „sondern nur das fri- vole, gottlose, wucherische, betrügerische Judentum, das in der Tat das Unglück unseres Volkes ist“ (Goldschmidt an Bleichröder, 23. Sept. 1880, in: Stern, 1977, S. 625). Unter dem Aspekt der Analyse der preußischen Gesellschaft167 fällt auf, dass „militärische Denk- und Verhaltensformen“ diese durchziehen, die die Bedeutung des Militärs für den Staat unterstreichen. Äußerungen von Offizieren im zivilen Leben, beeinflusst durch deren zur Schau gestellte Autorität und Erscheinung, wird kaum widersprochen. Das Tragen von Uniformen übt Respekt und Anerkennung aus. Militärische Eigenschaften wie Disziplin, Gehorsam, Ordnung rangieren vor dem Begriff der Freiheit. Diese Einstellungen unterstreichen de facto den Obrig- keits- und Klassenstaat. (Nipperdey, 1991, S. 243/245.) Als eine Schnittstelle in dem preußi- schen System kristallisiert sich die Offizierslaufbahn168 heraus, die Zahl von fast 29000 Offizie- ren im Stehenden Heer von 1913 (Witt, 1993, S. 153) zeigt auch die quantitative Bedeutung. Trotz hohem Sozialprestige169 ist diese Stellung für bürgerliche Mitglieder nur beschränkt erstrebenswert, denn in höchste Militärränge steigen nur nobilitierte Bürger auf. So kommt dem Erreichen des „Reserveoffiziers“ mit einem einjährigen Militärdienst in der Gesellschaft besondere Bedeutung zu. Diese Position zu erreichen ist ausschließlich Mitgliedern der mittleren und oberen Schichten möglich. Denn die Voraussetzung für das „Einjährig-Frei- willige“ bildet der Abschluss an einem Gymnasium mit dem „Einjährigen“, weiter hat der Sol- dat selbst für Ausrüstung, Wohnung und Lebensunterhalt zu sorgen. Auch spielt bei der Zulas- sung die politische Einstellung eine Rolle. Katholiken benachteiligt man bei der Aufnahme, Juden sind von dieser Laufbahn ausgeschlossen. (Nipperdey, 1991, S. 230.) Das Patent des Re- serveoffiziers öffnet den Weg ins zivile Leben und stellt beste Reputation für junge Menschen dar. Die allgemeine gesellschaftliche Stellung der Juden im Deutschen Reich beurteilt Nipperdey so, „die deutschen Juden sahen in der Mehrheit die Lage positiv: Es gab gewiss Hindernisse und Hemmun- 165 Pogrome in Russland zwingen 1881 viele Ostjuden zur Flucht ins Deutsche Reich, was im Straßenbild Berlins deutlich wird (Knauß, 1969, S. 51). 166 Weber, v. Bleichröders Syndikus, berichtet über eine Einladung in dessen Villa in Berlin. „Himmel, in welchem Palast bewegt sich der Banquier! Was will die Ausstellung des fürstlichen (damit scheint er das Schloss der Familie Reuß in Gera zu meinen, wo er vor der jetzigen Tätigkeit Oberbürgermeister ist, Anm. d. Verfs.) gegen die Pracht dieser Säle und Boudoirs bedeuten!“ Die Festlichkeiten Bleichröders finden in dessen Bankethalle statt, einem mit Marmor und Gold üppig dekorierten Saal, in dem die Musiker auf einer Galerie stehend die Gäste unterhalten. (Weber-Kellermann, 1990, S. 41/42.) 167Erfährt man staatliche Anerkennung, so stehen viele Wege im Staat offen, dies bietet beste Start- chancen für die Offiziers- oder Beamtenlaufbahn (Witt, 1993, S. 153). 168 Die Bedeutung der Uniform für Gesellschaft und Träger wird deutlich an der Person Bismarcks, der im Preußischen-Landtag auf der Ministerbank in Uniform mit Generalleutnantsrang Platz nahm, nur Roon und Moltke sind als Generalfeldmarschalle höher dekoriert; dagegen zieht auch Bethmann-Hollweg häufig die Uniform des Majors der Zivilkleidung vor, was auch Anstoß zur Lächerlichkeit bieten kann (Witt, 1993, S. 156). 169Das Repräsentationsdenken der Kaiserzeit fordert nach Ansicht des oben genannten Syndikus Weber für die persönliche Erscheinung: „ Körperliche Größe, breite Schultern, einen für Ordensschmuck ausge- rüsteten Brustkasten und einen Leibesumfang, auf dem eine goldene Uhrkette zur Geltung kam“ (Weber- Kellermann, 1990, S. 82). 57 gen, hartnäckige Relikte und Rückfälle, aber man hatte doch die Hoffnung auf eine abschließende Lö- sung. Die Identifikation mit Deutschland im August 1914 war eindeutig, einhellig und gewaltig.“ (Nip- perdey, 1991, S. 308.) 4.5 Öffentliche antisemitische Haltungen auch in Kassel und Wehlheiden Die Ablehnung eines Teils der Kasseler Bevölkerung gegenüber der Entwicklung des Stadtteils Neu-Wehlheiden sowie das Verhalten der Stadtverwaltung bzw. des Oberpräsidiums bezüglich der Bauvorhaben Aschrotts, wie später beschrieben wird, bekommen mit dem existenten Anti- semitismus eine veränderte, nicht zu vernachlässigende Sichtweise für ihre Beurteilung. Nach Klein entwickelt sich ab 1882 eine erstarkende antijüdische Haltung,170 als deren Sprach- rohr die vorher im Zusammenhang mit Böckel angeführte so genannte Wochenzeitung für das deutsche Volk, „Das Geldmonopol“171, fungiert. Für die redaktionelle Leitung zeichnet Karl Hennies172 aus Wehlheiden verantwortlich. Er wird als ehemaliger Gutsbesitzer beschrieben. (Klein, 1995, S. 119.) Der Kasseler Oberstaatsanwaltschaft fällt es schwer, einer allgemeinen Hetze gegen Juden nachzugehen, da sich nach ihrer Meinung die antijüdischen Äußerungen des Kasseler Journals in den vorliegenden Fällen nicht gegen die Gesamtheit der Juden richtet, sondern nur gegen Personen des Handels und der Presse, bei denen Übervorteilungen gegenüber christlichen Mit- bürgern stattgefunden haben. Der Nachweis eines Aufrufs zur Gewalt seitens des Kasseler Journals, d.h. einer „gewaltsamen Vertreibung, Plünderung oder Unterdrückung eines Teils der jüdischen Staatsangehörigen“ ist nicht zu bestätigen. Weiter zitiert Klein die Hessische Morgenzeitung vom 20.9.1882, in der berichtet wird. „Man kann nicht über die Straße gehen, ohne von frechen, das „Geldmonopol“ anbieten- den Jungen in zudringlicher Weise belästigt und, falls man ihre Blätter nicht kauft, mit Schimpfworten verfolgt zu werden. Täglich kommen Fälle vor, dass durchaus achtbare und ehrenwerte Juden und Jüdin- nen ohne jeden Grund auf offener Strasse, in Restaurationen, Trambahnwagen etc. gröblich provoziert, ja insultiert werden. Die Anzeigen solcher Fälle auf der Polizeidirektion mehren sich, ohne dass eine wirk- same Abhilfe – trotz des diesseits nicht bezweifelten guten Willens derselben – zu erreichen wäre! Der sorgsam gepflegte Racenhaß dringt schon in die Gemüter der Kinder und treibt in den Schulen die häss- lichsten Blüten in Verhöhnung und Beschimpfung jüdischer Mitschüler.“ (Klein, 1995, S. 121.) Die Kasseler Justiz bewertet in Einzelfällen, ob es sich bei den Äußerungen und Handlungen um Straftatbestände handele, will aber nicht erkennen, dass antijüdische Aktionen gegen Ein- zelne in der Gesamtbewertung der Vorfälle Aktionen gegen Juden überhaupt darstellen und als solche beabsichtigt sind. Wie wirkt sich die antijüdische Einstellung in der Bevölkerung auf Aschrotts Bemühen, land- wirtschaftliche Flächen zu erwerben und ein Stadtviertel aufzubauen, aus? Bei den Wehlheider, Wahlershäuser und Kirchditmolder Bauern, von denen Aschrott einzelne Parzellen kauft und zu einer geschlossenen Großfläche zusammenfügt, handelt es sich weitge- hend um Kleinbetriebe, die ohne zusätzliche Lohnarbeit nicht existieren können. So sind sie mit 170 In dem Landtagswahlkreis III (Kassel-Stadt) setzt sich der nationalliberale Marburger Rechtsprofessor Ludwig Enneccerus durch, das heißt, eine gemäßigte politische Linie wird von einem Großteil der Wähler gewollt. Enneccerus kann sein Mandat bis 1898 halten (Klein, 1995, S. 123). 171 Exemplare dieser Zeitung scheinen nicht mehr vorhanden zu sein, nur in der Hessischen Morgenzeitung wird über viele Beleidigungsklagen jüdischer Bürger gegen Hennies vor dem Kasseler Schöffengericht berichtet, in denen er immer wieder zu Geld- und Haftstrafen verurteilt wird, die zweite kann er wegen seines Gesundheitszustandes nicht antreten (Klein, 1995, S. 119/120). 172 Carl Hennies wird am 16.12.1816 geboren (sein Heimatort ist Grimmelsheim bei Hofgeismar), ist evangelisch und wird als Gutsbesitzer geführt. Seine Ehefrau, katholisch, stammt aus Driburg, am 6.7.1824 geboren. Mit 38 Jahre wird Hennies Vater eines Sohns, 1865, ein Jahr später einer Tochter. Am 23.6.1877 zieht Familie nach Kassel, in die Holländische Str. 77 und ist Mieter bei dem Oeconom Koch. Hennies stirbt 1886. (StadtaKs: GMK.) 58 Transportarbeiten der Braunkohle aus dem Abbaugebiet des Habichtswaldes in die Stadt und das Umland beschäftigt; oder sie finden andere Tätigkeiten in Wehlheiden bzw. angrenzenden Gemeinden. Mit dem Verkauf ihres Landes erhalten sie einen einmaligen Gewinn, der ihre augenblickliche Lage bessert, aber bald aufgebraucht ist. Anderen ehemaligen Bauern dient der Erlös durch den Landverkauf dazu, in Neu-Wehlheiden ein Haus zu bauen und von den zusätzlichen Mietein- nahmen dort weiter als Rentier zu leben. In der Phase der Umgestaltung des Ackerlandes in parzellierte Bauflächen und dem parallel dazu erfolgenden Straßenbau sowie der weiteren Projektierung des Gebietes in Richtung Main- Weser-Bahn wird sich ihre Meinung ändern. Sie schätzen den gesteigerten neuen Bodenwert ihres ehemaligen Grundstückes ab, vernachlässigen aber die Kosten der enormen Projektionsar- beiten und die mit der Erschließung verbundenen Investitionskosten sowie das damit verbun- dene gewaltige Unternehmerrisiko. Ihre Auffassung ändert sich und sie werden jetzt öffentlich oder privat von Aschrott als „Wucherjuden“ sprechen. Auch von der Stadtverwaltung werden die Pläne Aschrotts unterschiedlich beurteilt, man sieht sich mit dem Großprojekt eines Einzelnen konfrontiert, eigener Kompetenz, städtebauliche Vorhaben zu entwickeln, beschnitten und überlegt ständig Schritte, das Vorhaben zu erschweren oder zu verhindern. Das Vorhaben stößt auf noch größeren Widerstand, wenn es sich dabei um einen Juden handelt. Bei den aufsteigenden Bürgern der oberen Mittelschicht173, die die Gründerjahre174 nutzen, um mit kleinen Grundstücksspekulationen wegen geringeren Kapitals und mit Neubauten ihre wirt- schaftliche Lage zu verbessern, finden die Vorhaben Aschrotts wohlwollendes Verständnis oder sie versuchen daran zu partizipieren. 173 Schmidtmann, der mit einem Hausbau an der Hohenzollernstrasse Ecke Prinzenstrasse beschäftigt ist, erhält von dem Bauherrn, Brauereibesitzer Habich, den Auftrag mit Aschrott über Grundstückszukauf zu verhandeln. Er berichtet darüber: „ Aschrott, der damals noch sein Engros-Geschäft in Segeltuchen be- trieb, hatte sein Kontor in seinem Hause an der unteren Königsstraße, neben der Synagoge. Das Geschäft für Habich kam zustande, aber nicht allein mit diesem – auch mit mir wurde ein Geschäft gemacht. Aschrott verstand es, mich zu überreden, auch ein Grundstück von ihm zu kaufen, und so kam ich in den Besitz meiner Bauplätze an der Ecke der Hohenzollern- und Bismarckstraße.“ (Schmidtmann, 1993, S. 169/170.) 174Blumenauer, späterer Stadtvermessungsdirektor, schreibt über seine gebauten Häuser, um sich wegen seiner unsicheren Anstellung als städtischer Landvermesser eine Existenzsicherung zu schaffen. „... baute ich im Jahre 1885 das Haus Parkstr. 17. Das Haus verzinste sich gut. Diese Bautätigkeit und wohl auch mein Anfangs-Studium der Architektur mögen mich veranlasst haben, noch einige Häuser zu bauen, Parkstr. 19 und 21, zu denen mir der bei der Stadt inzwischen entlassene Architekt Kukro die Entwürfe anfertigte; dann in 1887 noch drei kleinere Häuser am Philosophen-Weg.“ (Blumenauer, 1965, S. 94/95.) 59 5 Beispielhafter Verlagsaufbau in der Provinz Niederhessen 5.1 Organisation des väterlichen Leinenhandels durch Sigmund Aschrott 1844 tritt der 18jährige Sigmund Aschrott in das elterliche Geschäft175 für Leinenhandel,176 H.S. Aschrott Gutsbesitzer und Kaufmann, ein. Sigmund hat seine Lehrzeit in Frankfurt im kauf- männischen Gewerbe177 absolviert. Die Lehrstelle wird er durch elterliche oder großmütterliche Kontakte178 bekommen haben. In der Zeit, als die Familie Herz Seligmann Aschrott in Hoch- heim am Main lebt, worauf später eingegangen wird, existieren sicher wirtschaftliche und per- sönliche Verbindungen zwischen dem Vater Herz Seligman und Geschäftsleuten im Frankfurter Judenviertel. Ob das elterliche Geschäft in Kassel als Handelshaus, wie dem später angeführten Handelshaus Schröder in Spangenberg, oder lediglich als Mittler zwischen Produzent und Käu- fer, wo nur Fertigwaren vom Erzeuger zum Verbrauchen gebracht werden, fungiert, ist nicht bekannt. Sigmund findet die weitverzweigten Verbindungen zwischen Handelskaufmann und Erzeuger einerseits sowie den Kontakt zwischen Kaufmann und Verbraucher andererseits in Kassel nicht vor, wie er es sicher im Frankfurter Judenghetto während seiner Ausbildung erleben kann. Hier wird auf engstem Raum der vielfältigste Handel abgewickelt. Dieser beschränkt sich keines- wegs auf das Kurfürstentum Hessen, sondern er kontaktiert die Messen und Märkte in Deutsch- land, Europa und Übersee. Auf Messen werden Geschäfte unter verschiedenen Partnern anders als auf Märkten und Jahr- märkten, wo die Ware vom Erzeuger oder Zwischenhändler direkt an den Endkunden weiterge- geben wird, abgewickelt. Kaufleute treten während der Messen als Hauptkunden auf, indem sie von anderen oder auch vom Hersteller kaufen. Die Hauptmessen in Deutschland finden in Frankfurt und Leipzig statt, wobei die Leipziger Messe wegen ihrer geografischen Lage an der Schnittstelle zwischen Ost und West eine hervorragende Rolle spielt. (Kaplan, 2003, S. 84.) Sigmund Aschrott wird während seiner Ausbildungszeit auch Messen im In- und Ausland besu- chen, denn ein Kaufmann des 19. Jahrhunderts betreibt sein Geschäft weniger an seinem Wohn- ort, er versucht vielmehr durch häufigen Kontakt außerhalb der Wohnstadt auch mit weit ver- streut lebenden Kunden Geschäftsabwicklungen durchzuführen. Wenn große Jahrmärkte oder Messen aufgesucht werden, kommt es vor, dass der Händler mehrere Wochen am Stück unter- wegs ist.179 Um das elterliche Geschäft auszuweiten, wird der junge Kaufmann die Region Kas- sel bereisen, um dort vor Ort die Situation des Leinenhandwerks zu erkunden. Da im hiesigen Raum vorwiegend Schockleinen handwerklich gewebt wird, baut er auf dieses Material seinen Handel auf.180 175 Nach Hermsdorff betreibt der Vater Herz Seligmann Aschrott im Haus des Schreinermeisters Franz Josef Lücken in der Oberen Karlsstraße 16 in Kassel ein Leinengeschäft (Hermsdorff, HNA, Nr. 1239). 176 In einem Brief anlässlich der Ernennung zum Kommerzienrat teilt der Polizei-Präsident von Berlin dem Regierungs-Präsidenten 1897 mit, H.S. Aschrott betreibe „seit dem Jahre 1821 in Cassel mit geringen Mitteln und in mäßigem Umfange die Herstellung von Segeltuch, Sackleinen und gewöhnlichen Drell in der Weise, dass er das Rohmaterial von einer Anzahl kleiner Handweber verarbeiten ließ.“ ( A Pr. Br. Rep. 030 Nr. 8795.) 177 Baetz schreibt von einer Lehrstelle in der Lebensmittelbranche (Baetz, 1951, S. 1). 178 Die Berufsausbildung wird bei jüdischen Jungen mit der Wahl der Lehrstelle häufig durch familiäre Beziehungen bestimmt. Auch die Dienste durch Freunde und entfernte Bekannte werden dafür in Anspruch genommen (Kaplan, 2003, S. 282). 179 Kaplan berichtet von dem Juden Raff aus Schwaben, der nur einmal in vier Wochen von seinen Geschäften nach Hause kommt. Der Kaufmann Hamburger aus Schmiegel sucht ein- oder zweimal wöchentlich Jahrmärkte auf, an Sabbat und an Feiertagen ist er wieder an seinem Wohnort. (Kaplan, 2003, S. 142.) 180 Die Leinenherstellung wird in stagnierendem Produktionsumfang als Haupterwerb oder in Form 60 Der Königliche Polizei Direktor Albrecht beschreibt in einem Brief anlässlich der Verleihung des Kommerzienrattitels für Aschrott an den Königlichen Ober-Präsidenten Herrn Freiherr v. Ende, dass Sigmund Aschrott „im Hinblick auf seine kaufmännische Intelligenz, praktisches Geschick und bedeutendes Vermögen unter den hiesigen [Kasseler] Industriellen hervorragende Bedeutung“ besitzt.181 Die Verbindung Leineweberei und Landwirtschaft ist in der Region Kassel unterschiedlich or- ganisiert. Im Norden182 Kassels, z. B. in der Stadt Grebenstein,183 existiert seit 1455 eine Leineweberzunft, die sich erst 1905 auflöst. Sie hat wahrscheinlich mehrere Jahrzehnte zuvor schon keine Bedeutung mehr. Die Hauptnahrungsquelle184 der Stadt ist die Landwirtschaft (Lan- dau, 1858, S. 83). Die Flachsverarbeitung185 erfolgt in den Monaten ohne Feldarbeit. Im Kreis Melsungen und im Amt Spangenberg, im Südosten Kassels, kann die Landwirtschaft, wie beschrieben, viele Familien nicht ernähren und der Lebensunterhalt wird mit Weben186 gesichert. In Spangenberg regelt das Oberzunftamt Fragen die Produktqualität, Garnerzeugung, Einhaltung der Maße betreffen, dazu werden Leinenaufseher187 berufen. Diese stellen 1861 ihre bäuerlichen Nebengewerbes, das der Struktur der mittelalterlichen Feudalgesellschaft entspricht, betrieben. Gleichzeitig hat sich die Umwelt entscheidend verändert, jedoch kann die bestehende Methode der Leineweberei noch einige Jahrzehnte überleben, da die nicht zeitgemäßen Produktionsmethoden im deutschen Industriesektor relativ langsam überwunden werden. (Blumberg, 1960, S. 70.) 181 G St A Berlin Hpt. I Rep. 120 CB V Fach A Nr. 16 P 1208. 182 In den Städten Hofgeismar, Grebenstein, Liebenau, Trendelburg und Helmarshausen und den Dörfern an Diemel und Weser existiert die Leineweberei neben der Landwirtschaft als wichtigste Verdienstquelle der Bevölkerung (Jäger, 1951, S. 161). Auf Grund der Bodengüte bestehen in diesem Bereich gute landwirtschaftliche Produktionsergebnisse. 183 1791 gibt es in Grebenstein 91 Leinewebermeister, Hauptprodukt ist Schockleinen (Grobleinen). Der Verfasser der Quelle führt den Rückgang des Leinengewerbes hier zunächst auf die Kontinentalsperre, weiter die Einführung des mechanischen Webstuhls im Ausland und die Zunahme von Baumwoll- produkten zurück (o.V., o.J. Vom Flachs zum Leinen-Ausstellungsführer-Ackerbürgermuseum, Grebenstein). 184 Landau rechnet, dass auf jeden Einwohner Grebensteins eine Anbaufläche von fast 3 Morgen fällt (Landau, 1858, S. 83). – 1 Morgen = 25,532 a = 2553,2 qm – (Meyers, 1972, Stichwort: Morgen) 185 Die Flachsernteerträge (Flachs im grünen Zustand samt Samen) in dem hier angegebenen Zeitraum für 1 Morgen Anbaufläche gelten für Hessen: a. In sehr guten Jahren 55-65 Cntr. (Zentner) b. In guten Jahren 40-50 Cntr. c. In schlechten Jahren weniger als die Hälfte Gewicht: Getrockneter, roher Flachs 6-20 Cntr. Gebrechter Flachs 3- 8 Cntr. Geschwungener Flachs 1,5-3 Cntr. Gehechelter Flachs 75-120 Pfund Abwerg 85-130 Pfund „Im Allgemeinen nimmt man folgende Verhältnisse an: 100 Pfund Flachs im grünen Zustand geben 57 Pfund getrockneten, 100 Pfund getrockneter oder roher Flachs geben 10-12 Pfund geschwungenen. (Schlipf, 1847, o. S.; in: Janzweert, 1986, S. 40.) 186 Eine Aufstellung der Webstühle im Jahr 1847 für Leinen/Halbleinen sowie die Anzahl der Beschäftigten (Meister, Gehilfen, Lehrlinge) wird angegeben: Residenz Cassel 29 Webstühle und 46 Beschäftigte Kreis Cassel 28 Webstühle und 31 Beschäftigte Melsungen 387 Webstühle und 395 Beschäftigte. Die Summe im Kurfürstentum insgesamt beträgt: 3393 Webstühle und 3689 Beschäftigte (St A M; Best. 30, Rep. II., Kl. 10, Nr.2). Jeder 10. Webstuhl in Hessen steht in Melsungen. 187 In einem Schreiben vom 11. April 1856 fordert das Kurfürstliche Landratsamt den Spangenberger Bürgermeister Sinning auf, von den Erben des Leinenaufsehers Merker die dienstlichen Gegenstände wie 61 Tätigkeit ein und werden von „Kreisbereitern“ ersetzt, die seither die „Visitationen“ vorneh- men188 (StadtaSp, Best. 11 b, Nr. 864c, unter 21/8. 61, Nr. 7526). Die Leineweberzünfte in Bergheim, Mörshausen, Neumorschen und Spangenberg werden vom Oberzunftamt organisiert und überwacht. Aus dem Bericht der Leineweberzunft des Gerichts Mörshausen, geführt durch den Zunftmeister Christian Riemenschneider zu Bergheim, geht für 1807/08 aus dem Missverhältnis189 zwischen Einnahmen und Ausgaben die Bedeutungslosigkeit der Zunftkasse hervor, die eine solche Fehlkalkulation nicht lange überdauern kann. Gleiches weist das Abrechnungsergebnis für die Leinweberzunft in Spangenberg190 aus. Wie bereits für Hessisch Lichtenau angeführt, liegt der Flachsverkaufspreis unter dem Erzeugerpreis, damit bleibt für ein Zunftgewerbe in Bezug auf vorher festgelegte Gewinnspannen kein finanzieller Spielraum bei der Schockleinenproduktion mehr. Messkette, Eichstempel, Leinenordnung von 1829 und Instruktionen einzuziehen und bis auf weiteres aufzubewahren. Dies bestätigt Sinning am 16.4.56. Bei den abgegebenen Gegenständen ist auch ein Dienstbuch vorhanden. (StadtaSp: Best. 11 b, Nr. 864 b.) 188 Der Beschluss des „Kurf. Landrathsamtes“ wird am 23. August durch den Stadtdiener Trauvetter in Spangenberg ausgerufen (SadtaSp: Best. 11b, Nr. 864 b). 189 Die Zunftkasse weist Einnahmen über 9 Thaler und 2 Silbergroschen aus, während die Ausgaben sich auf 23 Thaler, 3 Silbergroschen und 6 Heller belaufen (StadtaSp: Best. 11 b, Nr. 864 c). 190 Der Zunftmeister Peter Noding vermerkt für Spangenberg im oben angegebenen Zeitraum bei Einnahmen 3 Thaler und 17 Silbergroschen, während die Ausgaben 11 Thaler, 18 Silbergroschen und 9 Heller betragen (StadtaSp: Best. 11 b, Nr. 864 a – c). 62 Abb.: 4 Karte zu Konzentration der Heimweber im nördliche Teil Hessens191 Aschrott versucht zu Heimwebern im Kaufunger Wald, mit dem Schwerpunkt Eschenstruth, am Meißner und in Spangenberg in Kontakt zu treten. In Spangenberg wird er wahrscheinlich eine 1835 aufgelistete Leineweberfamilie besucht haben. Die Tätigkeit des Webens, wie schon ange- führt, wird in der nächsten Generation fortgeführt. Gleiches belegen die Meisteraufstellungen von 1831 und 1835. Ist unter den Genannten eine Familie jüdischen Glaubens,192 so könnte 191Westermann, 1991, S. 10/11. 192 Aufstellung: „Judenübersicht 1818“. Für Melsungen bis 14 Jr. 15 bis 60 Jr. Über 60 Jr. Von diesen Personen leben in Ehe m w m w m w m w Summe 128 19 27 32 44 - 6 17 17 für Spangenberg 1818: Summe 149 39 31 28 44 5 2 22 22 63 dieser sein erster Besuch gelten. Hier erfährt der junge Verleger von den Absatzproblemen und ihrer wirtschaftlichen Not. Er wiederum unterbreitet den Webern seine Vorstellungen von Pro- duktabnahme. Weiter sucht Sigmund Aschrott vor Ort nach Persönlichkeiten, die Einfluss auf die Handweber ausüben und bei Schwierigkeiten gleich eingreifen können. Ferner vermag die- ser die Produktion zu kontrollieren, auf Veränderung der Arbeitstechniken Einfluss zu nehmen oder dazu beitzuragen, dass die Weber für den neuen Verlag arbeiten und nicht die Waren an ortsansässige Handelshäuser oder Leinenhändlern veräußern. Jedoch wird Aschrott gegenüber den anderen Leinenaufkäufern nach einer Anlaufphase den Vorteil bieten, Schockleinen in grö- ßerer Stückzahl abzunehmen, da gut geführte Verlagsgeschäfte über einen größeren Kunden- stamm verfügen, als das ein ortsansässiges Geschäft leisten kann. Eine solche Vertrauensperson als privaten Leinenaufseher findet Aschrott in J. G. Salzmann,193 der in Spangenberg Landwirt- schaft betreibt und im Leinenhandwerk194 zuhause ist (Eckelmann, 1913, S. 32). Sein Einfluss auf andere Mitbürger wird dadurch unterstrichen, dass er nach der Einstellung des Verlagsge- schäfts seitens Aschrotts 1887 –1893 das Amt des Bürgermeisters ausübt (Buhre, 1984, S. 28). Eine gleiche Rolle wie Salzmann bekleidet für die Heimindustrie am Meißner der Bürgermeister Range der Ortschaft Hausen (Kasseler Post vom 13.6.1926). Wie die „privaten Leinenaufseher“ von dem Verleger entlohnt werden, ob Salzmann und Range finanziell an dem Verlagsgeschäft beteiligt sind oder irgendwelche Vergünstigungen erhalten, ist nicht nachweisbar. Von Range wird berichtet, dass er und andere Weber aus dem Siedlungsbereich Hausen mit ihren mit Leinen beladenen Schiebekarren 1848 vor dem kurfürstlichen Schloss erschienen wä- ren, um dem Regenten in einer Audienz die Probleme und Abgabenlast der Weber darzulegen. Diese seien danach seitens der Kurfürstlichen Regierung für die Weber verbessert worden. Die Anregung zu dieser Demonstration soll von dem damals 22jährigen Sigmund Aschrott ausge- gangen sein. (Kasseler Post vom 13.3.1926.) Er hat gewiss die öffentliche Unzufriedenheit der Kasseler Bevölkerung, wie eingangs geschildert, erkannt und die damit verbundene Schwä- chung der monarchistischen Autorität. Diese politische Schwächung wird der junge Aschrott nutzen, um der von ihm vertretenen Branche zu mehr wirtschaftlicher Geltung zu verhelfen. Bevölkerungsübersicht für 1852: Gesamt davon reformiert Juden m w m w m w Melsungen 1782 1966 1715 1876 51 77 Spangenberg 916 951 823 853 72 77 Bevölkerungszahlen für die Jahre: 1834 1852 Melsungen 3665 3748 Spangenberg 1794 1867 Die Gesamtbevölkerung steigt von 1834 bis 1852 für beide Städte leicht an. Die Zahlen der jüdischen Bevölkerung in dem Zeitraum von dreieinhalb Jahrzehnten deuten auf Konstanz. Die jüdische Einwohnerzahl ist in Spangenberg im Vergleich zur Gesamtbevölkerung fast doppelt so groß wie in Melsungen. Die Anzahl der Kinder bis 14 Jr. pro Ehe ist im Mittelwert 3. (StAM, Best. 180 Melsungen; 1890/19, Nr. 1318.) 193 Salzmann, Georg W. Bürgermeister, Kaufmann und dessen Ehefrau Anna, Martha geb. Kretsch, Sohn: Salzmann, Heinrich * 3.02.1851, gest. 3.11.1915 (Evangelisches Kirchenbuch Spangenberg, Taufen, S. 4) Der Eintrag im Kirchenbuch stimmt nicht überein mit den Initialen J. G. (Johann, Georg) in dem Verzeichnis Spangenberger Bürgermeister. Wem der Namensfehler zuzuschreiben ist, kann nicht festgestellt werden (Anm. d. Verf.). 194 Auch der Vater von J. G. Salzmann hat in Spangenberg mit Garnen und Waren gehandelt (Eckelmann, 1913, S. 32). 64 5.2 Übergangsphase in der Proto-Industrialisierung von Handelhäusern zum Verlag In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts setzen sich die Handelshäuser für Leinen, die Familie Riemann195 in Hessisch Lichtenau und die Familie Schröder in Spangenberg, gegenüber der Konkurrenz durch und erweitern ihren Schockleinenabsatz über Karlshafen nach Bremen196 von wo die Waren verschifft werden (Daschner, 1968, S. 150). Die Produktion von Schockleinen halbiert sich im Jahre 1807/08 fast gegenüber 1805/06. Als ab 1816 England die Vorherrschaft auf den Kolonialmärkten übernimmt, wird auch deutscher Import in die Vereinigten Staaten und Spanien durch abschottende Zollgesetze gestoppt. Das führt schließlich zum Zusammenbruch des Gewerbes (Daschner, 1968, S. 153-159). England erhebt einen Eingangszoll von 66 2/3% auf hessisches Schockleinen, so schirmt sich der englische Markt für Leinen ganz ab. Dafür gelingt eine Anbindung an Spanien und Portugal. Um auch das zu verhindern, schließt England mit den betreffenden Ländern Handelsverträge. Auf hessisches Leinen erfolgt 35% Zoll, dagegen wird britisches Leinen auf 15% vermindert. Auch in Südamerika sind als Folge von Revolutionen keine Geschäfte zu tätigen. Ab 1829 öff- net sich der spanische Markt wieder, ebenso wird das Geschäft mit Amerika belebt, ohne die Exportzahlen früherer Jahre wieder zu erreichen. Schockleinen wird jetzt nach Westindien, beste Qualität nach Teneriffa, Mittelsorte nach St. Domingo und die geringere nach Havanna ausgeführt. Für die Bezeichnung der Ware gilt der Ausdruck „Hessian“. Nach Beschränkung des westindischen Marktes erfolgt eine erneute Belieferung Hollands. Hier wird die Bezeich- nung „Hundert-Leinen“ gebraucht. Der jährliche Umsatz der Leinenproduktion in den Kreisen Melsungen, Rotenburg, Witzenhausen, Hersfeld beträgt ungefähr 700000 rt.197 Der Niedergang der Heimarbeit schlägt sich in der Schließung der Tuchhandlung198 Hupfeld und Riemann 1840 in Spangenberg (Buhre, 1984, S. 180) nieder. Schließlich gibt 1848 das größte Handelshaus in Spangenberg, Schröder199, seinen Betrieb auf (Wittmann, 1958, S. 24). 1854 schließt in Hessisch-Lichtenau das alte Haus Seitz, das aus den im Leinenversand tätigen Familien Rie- mann und Seitz hervorgegangen ist. In Melsungen betrifft es die Häuser Huter und Scholl (Daschner, 1968, S. 158). In diesen Zusammenhang ist der Bericht in der Kasseler Post zu überprüfen. Dort wird behaup- tet, Aschrott kaufe in den 40er Jahren des vorigen Jahrhunderts die Firma J. S. Scholl jun. in Melsungen auf, als sie den Betrieb einstellen will, um die Schockleinenherstellung fortzusetzen (Kasseler Post vom 13.6.26). Auch Baetz schreibt in seinen Aufzeichnungen über Aschrott hin- sichtlich der Scholl´schen Weberei, sie werde nach deren Erliegen von Aschrott übernommen und die Produktion von ihm erneut angefahren (Baetz, 1951, S. 2). Die Arbeit von Knobling 195 Bereits 1722 findet der Bürgermeister und Handelsmann Joh. Georg Riemann als Leinenhändler Erwähnung. 1735 erhält er Erlaubnis Leinen selbst zu zeichnen und zu messen. Der Kaufmann Schröder wird schon 1743 als Leinenhändler in Spangenberg angeführt. (Daschner, 1968, S. 150.) 196 Von Bremen gehen alle 14 Tage regelmäßig Frachtladungen nach England. Die Waren zeichnen sich wiederum durch hochwertige Qualität aus, sodass man in England versucht, für das noch minderwertige schottische Leinen mit Hilfe des hessischen Zeichens eine Absatzerhöhung zu verschaffen (Eckelmann, 1913, S. 21). 197 StAM, Best. 30, Rep II, Kl. 10, Nr. 2. 198 Eckelmann berichtet über die Leinenproduktion, dass zwischen Handweberei und Leinenhandel teilweise ein Handels- und Lohnverhältnis besteht. Wobei Leinenkaufleute Rohflachs und Gespinste aufkaufen und das Material den Webern gegen bestimmte Lohnkosten zur Weiterarbeit überlassen, oder selbstständige Webermeister mit den selbst erzeugten Flachs spinnen und weben und das Fertigprodukt wiederum an den aufkaufenden Kaufmann abtreten. (Eckelmann, 1913, S. 31.) 199 „Das stolze Handelshaus Schroeder in der Rathaustrasse nimmt den Webern für wenige Groschen das handgewebte Leinen ab...“ (Wittmann, o.J., S. 32). 65 stellt den gleichen Vorgang dar und beruft sich dabei auf die Jüdische Wochenzeitung200 (Knobling, 1986, S. 36). Eine Übersicht der Gewerbe und Handelgegenstände im Kreis Melsungen vom 24. August 1840201 führt einen Leinentuchhandel J. G. Scholl, engros, an, mit einer unbestimmten Anzahl von Arbeitern und einem Versand ins Ausland von 12 bis 14000 Stück Schock, 7/4 Ellen als Breite. Ferner wird für Spangenberg eine Leinentuchübersicht für den Leinenhandel Johann Schröder mit einer unbestimmten Arbeiteranzahl wie einem jährlichen Schockleinenversand ins Ausland von 15000 Stück 7/4 breit und bei Eduard Hupfeld ebenfalls mit unbestimmter Anzahl von Arbeitern und 6000 Stück Schockleinen angegeben.202 Die Schließung der Leinenhandlung Hupfeld und Riemann ist zwangsläufig eine Folge rückläufigen Absatzes. Es stellt sich die Frage, wie das Ende des Hauses Schröder 1848, der Leinenhandlung J. G. Scholl Mitte der 40er Jahre und des Hauses Seitz in Hessisch Lichtenau zu erklären ist? Zum einen kann die Aufgabe der Handelshäuser den gleichen Ursachen unterliegen wie bei dem Erstgenannten. Zum anderen kann das Ende eine Folge der neuen Verlagsgründung durch Sigmund Aschrott sein. Dieser wird durch seine verstärkten Aufkäufe der Leinenprodukte, bedingt durch neue Vertriebsmöglichkeiten, die Heimproduzenten nach einem oder zwei Jahren in sein Verlagssystem einbinden. Die Übernahme des Schollschen Hau- ses durch Aschrott wird von anderen Autoren unbewusst oder bewusst als Weiterführen einer Leineweberei beschrieben, in der sicherlich auch mehrere Webstühle vorhanden sind. Es wird sich hierbei vielmehr um ein Handelshaus handeln, das das Vertrauen der Heimarbeiter verliert und keine Produkte zum Weiterverkauf erhält, da Abnehmer für Produkte mit dem vom Han- delshaus erwarteten Preisen nicht zu finden sind. Das hat zwangsläufig die Schließung des Han- delshauses „engros“ Scholl zur Folge. Für Aschrott bietet die Übernahme die Chance, am Ort, in dem die höchste Konzentration an Webstühlen in Hessen besteht, direkten Einfluss auf die Heimweber auszuüben. So kann er unmittelbar an die Produkte gelangen. Die in der Literatur gegebene Interpretation von der Übernahme durch Aschrott entspricht auch nicht dem Konstrukt eines Verlagsaufbaus. Dort verbleiben die Produktionsmittel im Zustän- digkeitsbereich des Heimwebers. Diese Form der Verlagsführung erlaubt dem Verleger eine höhere Gewinnspanne und beim Verkauf Variabilität bei der Preisgestaltung. Erst in einer späte- ren Phase der wirtschaftlichen Entwicklung, in die auch eine veränderte Produktpalette fällt, ist der Verleger gezwungen, neue Webstühle aufzustellen, mit denen abgewandelte Leinenbreiten hergestellt werden können. Dabei variieren auch die Lohnstückkosten, denn diese Webstücke werden mit verlagseigenen Stühlen gewebt. Für die Weber im Kaufunger Wald und Eschenstruth lässt sich im Ort selbst oder in Nieder- oder Oberkaufungen kein Handelshaus203 oder eine ähnliche Einrichtung nachweisen. So wer- den die Weber hier ihre Waren in der Zeit der Leinenhäuser in Hessisch Lichtenau, Kassel oder auch Melsungen verkauft haben. 5.3 Strategie des Geschäftsaufbaus Damit ein reibungsloser und für den Verleger204 unproblematischer Geschäftsaufbau garantiert werden kann, bedarf es der Beachtung bestimmter organisatorischer Voraussetzungen. Dabei 200 Jüdische Wochenzeitung , 2 (1926), H. 23, S. 2f. 201 StAM, Best. 180 Melsungen 1890/19, Nr. 1318. 202 Für Eduard Hupfeld werden die gleichen Angaben für die Jahre 1842 und 1844 wie für 1840 vermerkt (StAM, Best. 180 Melsungen 1890/19, Nr. 1318). 203 Der Leiter der Regionalmuseums Dr. Wroz berichtet mündlich, dass keine Handelshäuser in den oben angeführten Orten existierten. 204 Ebenfalls jüdische Unternehmer in anderen deutschen Staaten reagieren auf die Konkurrenz der mechanischen Weberei, indem sie dampfgetriebene Maschinen einsetzen. Andere wiederum, deren Geschäft durch Auftragsarbeiten bestimmt ist, verlegen sich auf ´s Groß- und Einzelhandelsgeschäft 66 spielt die räumliche Entfernung zwischen Heimweber und Verlagsgeschäft in Kassel eine ent- scheidende Rolle. In der bisherigen Phase der Proto-Industrie gibt es Leinenhändler vor Ort oder in nur geringer Entfernung, wo das Fertigprodukt ohne Aufwand verkauft und die Garne in Empfang genommen werden. Während des Verlagsaufbaus wird Aschrott die Fertigware noch selbst von den Webern abnehmen und sie gleichfalls mit Garn versorgen. Der Salzmannsche Hof könnte für den Raum Spangenberg dabei als Zwischenlager gedient haben. Nachdem die Konkurrenz mit den Handelshäusern entfällt, hat Aschrott möglicherweise den Garn- und Wa- rentransport verändert. Die Annahmestelle für das gewebte Schockleinen ist schließlich sein Verlagsgeschäft in Kassel, das der Heimweber in einem Halbtagesmarsch erreichen kann. Hier wird das Leinen nach Qualität begutachtet und von Aschrott bezahlt. Gleichzeitig erfolgt von Seiten des Verlegers die Garnversorgung an die Heimindustrie. Ist der Vorgang des Waren- und Garnaustauschs an einem Tag zu erledigen, geht dem Lohnarbeiter weniger Arbeitszeit verlo- ren, und damit ist die Verdienstmöglichkeit größer. Weiter entfällt der Zwang, an der Strecke oder in Kassel übernachten zu müssen. Das heißt für den Weber, einmal wöchentlich im Kasse- ler Geschäftshaus zu erscheinen. Gleichzeitig wird Aschrott die Bezahlung staffeln, um damit die Qualität der Ware zu steigern. Bei besonders guten Produkten wird vermutlich eine Extra- vergütung gezahlt. Während des Verlagsbesuchs findet zwischen Weber und Aschrott ein Informationsaustausch in Bezug auf die Technik des Webens statt. Es ist anzunehmen, dass auch bauliche Variationen an den Handwebstühlen erörtert werden, um die Produktqualität und die Webbreite zu verändern. Ob dabei eine Arbeitserleichterung für den Weber erreicht wird, ist nicht von vordergründigem Interesse für den Verleger, was im Abschnitt der Garnversorgung weiter zu diskutieren ist. Für Aschrott und für seine Reisenden, die in späterer Zeit die Außenorganisation bei den We- bern übernehmen, bedeutet die jetzt bestehende Distanz zwischen dem Verlagshaus in Kassel und den Hausbetrieben, dass diese in sechs bis sieben Stunden Fußmarsch zu erreichen sind und auf diese Weise mehrere Betriebe an einem Tag aufgesucht werden können und so häufiges Übernachten erspart bleibt. Auch muss für die Lohnarbeiter das Gefühl von geringer räumlicher Distanz zu ihrem Arbeitgeber existieren. So erscheint ihnen die Kontrolle gegenwärtiger und sie sind indirekt bestärkt, dass erstellte Produkte leicht zu verkaufen sind. Das Erreichen des Raumes Meißner dagegen beansprucht einen Tagesmarsch in einer Richtung. Die notwendigen arbeitstechnischen Abwicklungen, das bedeutet Kontrollen der Werkstätten, des Webvorgangs selbst und ebenso zusätzliche Auftragsveränderungen zwischen Verleger und Lohnweber, sind nur mit zeitraubenden Fußmärschen, dem Pferd oder Pferdewagen zu erledi- gen. Um in das Gebiet Meißner, Spangenberg und Eschenstruth verkehrstechnisch zu gelangen, bie- tet sich die alte Heerstraße205 von Kassel aus über Eschenstruth bis nach Waldkappel durch das Lossetal an, diese Straße führt weiter nach Leipzig. Ab 1820 ist es auch schweren vierspännigen Frachtwagen206 möglich, einigermaßen gleichmäßig die Straße zu befahren. (Jacobi, 1927, S 38). Die Waren aus Spangenberg oder Melsungen können erst auf der Straße der „Kurzen Hessen“ und dann in der Fuldaaue sowie weiter über den Körler Berg nach Kassel transportiert werden. Eine kürzere Variante bietet der Fußweg über die Söhre, der bereits erwähnte Schusterpfad. Ein Eisenbahnnetz mit dem Mittelpunkt Kassel, wie in 3.1.2 skizziert, ist noch nicht vorhanden. Wir (Kaplan, 2003, S. 183). 205 Im 18. Jht. wird die Heerstraße wegen des feuchten Untergrunds über die Höhen rechts der Losse (in Fließrichtung gesehen) geführt. Auf diesem Weg legt im 18. Jht. ein Lastpferd mit 10 Zentner Frachtgewicht in einer Stunde 2 bis 3 km zurück. (Jacobi, 1927, S. 38.) 206 Während der napoleonischen Besatzung wird die Heerstraße in die Flussniederung rechts der Losse gelegt. Nach 1820 wird die Heerstraße ausgebaut und nun können auch schwere, vierspännige Frachtwagen verhältnismäßig sicher fahren. Noch im 19. Jht. wird die Postmeile (7,42 km) mit Gespannen in zwei Stunden bewältigt. (Jacobi, 1927, S. 38.) 67 finden keine Ausdehnung der Schiene in die Fläche, denn die Eisenbahn ist noch auf wenige Strecken beschränkt. Erst in der Zeit nach der Proto-Industrie, in der sich die Industrialisierung mit der Gründung von Leinenfabrikationen an einem festen Standort entwickelt, kann man sich dieses zentralen Verkehrsmittels bedienen. Die Eisenbahnerschließung in die Seitentäler erfolgt nicht wegen der wirtschaftlichen Notwendigkeit, sondern wie bei der „Kanonenbahn“ beschrie- ben, unter der Prämisse, damit militärische Ziele verfolgen zu können. Der Transport zum Verlagshaus wird meist auf dem Rücken des Webers stattfinden. Diese Ab- wicklung erweist sich für den Heimarbeiter als am kostengünstigsten. Beschwerlicher dürfte der Weg mit der Schiebekarre, wie im Fall Range angesprochen, zu bewältigen gewesen sein. Die Lieferung schwerer Planen und Einschlagtücher erfolgt wahrscheinlich per Kuh- oder Pferde- transport. Die in der Hausindustrie vorhandenen Webstühle207 entsprechen häufig nicht mehr den Anforderungen einer veränderten Produktpalette, die der Verleger anbieten und verkaufen will. Dies verlangt ein Umrüsten der Stühle oder Aschrott stellt auf eigene Kosten neue Webstühle auf (Kirchner, 1921, S. 85/86). Die mit diesem Vorgang für den Verleger verbundenen Kosten wird dieser mit den Lohnstückkosten208 verrechnen. Die herkömmliche Breite beim Schockleinen beträgt nach Landau 7/4 Ellen209 (Jacob, 1938, S. 8), da der Rahmen des normalen Webstuhls210 keine größeren Maße zulässt. Schließlich gelingt es Webern des Aschrottschen Verlags auf Grund umgebauter Handwebstühle schweres Leinen in 33/4 Ellen Breite herzustellen (Kasseler Post vom 13.6.1926), was in der damaligen Zeit ein absolutes Novum in der Handweberei bedeutet. In Zentimetern211 umgerechnet, beträgt die er- zielte Breite 462 cm. Bei schwierigen Geweben, d. h. bei größeren Breiten, arbeiten mehrere Männer an einem Webstuhl (Jacob, 1927, S. 40), um die Fache durchzutreten (Kirchner, 1921, S. 86), damit der Webschütze mit Schussspule (Janzweert, 1986, S. 27) durch das geöffnete Fach212 geschossen werden kann. Kinder sind gleichzeitig damit beschäftigt, die Gewichte und Zugleinen des Stuhls zu bedienen (Jacob, 1927, S. 40). Im Aschrottschen Verlagshandel finden als Reisende Salomon Fröhlich213 und Johannes Cönning214 Beschäftigung. Sie tauschen Informationen zwischen Verlagshaus und Heimin- dustrie aus, kontrollieren Arbeitsabläufe und organisieren möglicherweise den Abtransport der Ware sowie die Garnversorgung. Weiter betreuen die Reisenden auch die Kunden und präsen- tieren dort neue oder veränderte Waren. Sie besitzen sicher kaufmännisches Talent und sind in der Lage, mit den verschiedensten Verhaltensweisen der Heimweber umzugehen und diese von den Verlagsprojekten zu überzeugen. Die Größe des Verlagsgeschäftes wird dadurch unterstri- chen, dass Aschrott einen Lagerverwalter beschäftigt, Moritz Gottschalk215 (Kirchner, 1921, S. 207 Eckelmann beschreibt auch für die Phase der aufkaufenden Kaufleute, dass diese der Heimindustrie Webstühle auf eigene Rechnung aufstellen und damit den Übergang zu einer „geschlossenen, organisch gegliederten, wohldurchdachten Industrie“ beginnen (Eckelmann, 1913, S. 31/32). 208 Jacob berichtet von den Eschenstruther Webern, sie hätten einen Wochenlohn von einem Taler erhalten, was in den 50er und 60er Jahren, zur Zeit Aschrotts, nicht selten vorkommt (Jacob, 1927, S. 40). 209 Die Kasseler Elle misst rund 56 cm (Jacob, 1938, S. 8). Die Webbreite beträgt folglich 98 cm. 210 Jacob zitiert Landau, der von dem Eschenstruther „Schockleinen“, das 60 Ellen (3360 cm – Anm. d. Verf.) lang und 7/4 Ellen breit ist, behauptet, es sei das beste in ganz Hessen. (Jacob, 1938, S. 8.) 211 Rechnung: 56 cm multipliziert mit 33 und dividiert mit 4 ergibt 462 cm. 212 Bei Janzweert werden die Fache als Tritt 1 und Tritt 2 bezeichnet (Janzweert, 1986, S. 27). 213 Fröhlich, Salomon, Fabrikant (Jude), geb. Rexingen am 10.12.1840, Sohn des Kaufmanns Jacob Joseph F. und Babette Löwengardt von dort , Ehemann der Rosalie Wolff geb. Bernburg 30.7.1846 (Tochter des Webermeisters Moses W. und Berta Gumpel) Obere Carlsstr. ¼ (Inhaber der Fa. Fröhlich und Wolff, mechanische Weberei, Wolfhagerstr. 69) (Thiele, 1986, S. 358). 214 Cönning, Johannes, geb. 1837, Kommerzienrat, Kaufmännischer Angestellter, Herkulesstr. (Kasseler Adressbuch). 215 Gottschalk, Moritz, Fabrikant, Kommerzienrat, geb. 10.3.1851, gest. 1943 Kassel, Sohn des Bürgers und Buchhändlers und Antiquars David G. und Henriette Wiesenheim, Ehemann der Anna Wertheim, 68 86). Aus einer anderen Information geht hervor, er sei auch Reisender gewesen. Für Fröhlich und Gottschalk trifft die Aussage Kaplans zu, dass Juden durch Informationen von Verwand- ten, Freunden oder entfernten Bekannten andere Juden in ihren Dienst stellen (Kaplan, 2003, S. 282 ff.). Diese jungen Angestellten zeichnen sich durch besonderes Engagement aus, um sich für weitere Aufgaben zu qualifizieren. Karl Behrens216 soll nach Baetz bei Aschrott eine Lehre absolvieren (Baetz, 1951, S.3). Er hätte sie dann im verhältnismäßig fortgeschrittenen Alter angetreten, da Behrens am Tag seines Ein- zugs ins Aschrottsche Haus am 20.11.68 (StadtaKs GMK) bereits 22 Jahre und gut vier Monate alt ist. Nach Kirchner findet Behrens bei Aschrott als Werkmeister Beschäftigung (Kirchner, 1921, S. 86). Er ist sicherlich weitgehend für die Reparatur von Webstühlen zuständig und auch am Umbau dieser für größere Breiten beteiligt. Im Gegensatz zu Fröhlich, Cönning und Gott- schalk handelt es sich bei ihm nicht um einen kaufmännischen, sondern um einen technischen Angestellten. Neben den Lohnwebern in den beschriebenen Ortschaften sucht Aschrott nach weiteren Pro- duktionsstätten, die sicher im Qualitätsstandard den Waren der Heimindustrie nicht gleichen, aber bei den Stückkosten die der Lohnweber noch unterbieten. Für solche Arbeiten sind An- stalten prädestiniert, in denen Menschen zeitweilig oder lebenslang untergebracht sind. Die Dienststelle des „Staats-Procurators (Verwaltung des Zuchthauses in der städtischen Ka- serne) zu Cassel“ teilt am 25. Juni 1849 dem Bezirksdirektor für die städtische Verwaltung im Bezirk Kassel mit, dass der Kaufmann Aschrott, wie aus dessen Schreiben vom 23. April und 19. Mai des Jahres hervorgeht, in dem Zuchthause der städtischen Kasernen eine Weberei217 betreibe. Über das Volumen der Arbeit und deren Bezahlung finden sich keine Unterlagen. Dar- aus lässt sich, wie in der Garnversorgung umfangreicher dargestellt, ableiten, dass der Verlag Aschrott zu einem Teil billig gewebte Produkte im Zuchthaus herstellen lässt. 5.3.1 Ausblick auf die Beschäftigungssituation von Aschrott Mitarbeitern Das Verlagsgeschäft im Leinengewerbe von Sigmund Aschrott stellt 1881 (Jacobi, 1927, S. 41) seinen Betrieb ein. Es beginnt die Phase der mechanischen Weberei, an der Aschrott keinen geb. Witzenhausen, geb. 1.10.53, Wohnung: Kleine Rosenstr. 4 (Thiele, 1986, S. 350). 216 Behrens, Karl (Vorname nach Kasseler Post vom 16.6.1926), geb. 1850. Er erhält nach Baetz angeblich durch Aschrotts Einsatz eine Ausbildung in Rechen- und Schreibunterricht (Baetz, 1951, S. 3). Die Ausführungen der Kasseler Post und von Baetz stehen im Widerspruch zu der Einwohner- Meldekartei (GMK). Die Einwohnermeldekartei der Stadt Kassel jedoch führt Carl Friedrich Wilhelm Behrens,geb. am 29.6.1844 in Deensen bei Holzminden an, er ist lutherischen Glaubens. Er zieht am 20.11.1868 in der Unteren Königsstr. 86 (neue Nummer) bei Aschrott ein. Unter Bemerkung steht: Arbeit. Behrens heiratet am 19.7.1872 Leia Ude, geb. am 5.6.52 in Stadt Oldendorf. Beide wohnen ab dem 18.7.72 in der Holländischen Str. 2 und sind Mieter bei Kaufmann Lieberg bis zum 6.1.73. Danach wohnen sie bis nach der Geburt der zweiten Tochter wieder bei Aschrott in der Unteren Königsstr. Sie sind anschließend ein Jahr wohnhaft in der Holländischen Str. 46 beim Pferdehändler Rosenkranz, danach 6 Monate in der Holländische Str. 106; hier wird die dritte Tochter geboren. Im Januar 1876 meldet sich die Familie nach Spangenberg ab, wo die zweite Tochter stirbt. Ab Dezember 76 bis November 79 sind die Behrens in der Großen Rosenstr. 12 bei Maurermeister Bachfeld als Mieter gemeldet. Hier werden die vierte, fünfte und sechste Tochter geboren. Von 1879-84 ist die Familie bei Dr. Schotten in der Holländischen Str. 6 untergebracht, bis sie sich im Mai 84 nach Einbeck abmeldet. Vom Oktober 87 bis Dezember 88 lebt die 1873 geborene Tochter Johanne Wilhelmine in der Victoriastr. 10 bei Frl. Heuser in Pension. Die gesamte Familie ohne Tochter Johanne mietet ab 1.12.88 bei Gundlach in der Hohenzollernstr 25. Ab 1.5.89 wird auch Johanne bei der Familie angemeldet. In der Moltkestr. 5 wohnt die Familie vom 1.4.90 bis zum 13.10.91 als Mieter. Dann zieht die Familie in eine Weberei nach Einbeck um. Die beiden zuletzt geborenen Töchter verbleiben wiederum bei Fräulein Heuser in der Victoriastr. 10 bis zum 1.10.92, ehe auch sie der Familie nachfolgen. 217 Betrieb der Weberei im Zuchthaus der städtischen Kaserne hierselbst ( St.AM Best. 18/ 1052). 69 Anteil mehr hat.218 Sein kaufmännisches Engagement hat sich längst in andere wirtschaftliche Bereiche verschoben, was an anderer Stelle genauer zu belegen ist. Die Reisenden gründen nach der Zeit bei Aschrott neue Maschinenwebereien und führen das Verlagsgeschäft als Industriebetrieb fort. Dabei können sie sich der vielen Heimweber als neuer Fabrikarbeiter vom Fach bedienen. Fröhlich gründet in den 80er Jahren mit Simon Wolff zu- sammen eine mechanische Segeltuchfabrik. Der frühere Lagerverwalter Moritz Gottschalk be- ginnt 1881 mit Johannes Cönning, der als letzter Reisender in dem Verlag (Kirchner, 1921, S. 86) arbeitet und von dem auch gesagt wird, er habe die Kundenliste von Aschrott mit übernom- men, eine Schwerleinenweberei. J. G. Salzmann sowie schon dessen Vater haben neben der Landwirtschaft bereits ein beschei- denes Geschäft für Handel mit Garnen und Waren, d. h. er besitzt einige Handwebstühle. Dies Geschäft tritt nicht offiziell in Erscheinung, ebenfalls wird es nicht in der Handelsgeschäfte- übersicht aufgeführt. Es stellt keine Konkurrenz zum Haus Schröder dar und kann nur für Aschrott in dem Bereich ein kleiner Partner sein.219 Am 1. November 1876 übernimmt der Sohn Salzmanns, der spätere Kommerzienrat Heinrich Salzmann, im Alter von 25 Jahren das Ge- schäft (Eckelmann, 1913, S. 32). In diesem neuen Geschäft wird Behrens Partner. Sicherlich werden dessen handwerkliche Fähigkeiten nicht mehr im Aschrottschen Verlag gebraucht, weil einmal der Umbau der Webstühle abgeschlossen und zum anderen dieser wirtschaftliche Sektor rückläufig ist. Die neue Unternehmung unterhält anfangs in Kassel ein Kontor. Bei der Umstel- lung auf mechanische Weberei erwirbt man in Melsungen die Zitchsche Mühle (Kirchner, 1921, S. 87). H. Salzmann und Behrens arbeiten noch bis 1884 zusammen, dann wird eine Trennung beider notwendig (Eckelmann, 1913, S. 32). Ein Grund kann das Expansionsbestreben Salz- manns sein, bei dem der Techniker Behrens nur hinderlich ist. Vielleicht wird Behrens auch dort nur als Kompagnon benutzt, um sich wirtschaftliche Vorteile zu verschaffen. Das lässt sich aus der Jubiläumsschrift der Firma Salzmann nicht herauslesen. Für den jungen Kaufmann Heinrich Salzmann wird er ein Hindernis darstellen, denn die Firma soll sich schnell weiterentwickeln, und so erscheint die Trennung H. Salzmann und Behrens zwangsläufig zu sein. Salzmanns Va- ter wird nun stiller Teilhaber. Behrens betreibt eine andere Weberei in Einbeck weiter, die vermutlich während der Koopera- tion Salzmann und Behrens übernommen wird und nach der Trennung als Abfindung für Behrens zu betrachten ist. „Behrens Mechanische Weberei Aktiengesellschaft“ meldet 1904 Konkurs an. Der Magistrat der Stadt Einbeck, als Hauptgläubiger der Hypotheken, übernimmt die Firma. (Kirchner, 1921, S.88.) Salzmann weitet dagegen seine Produktion in Melsungen und Kassel aus. 1907 übernimmt Salzmann schließlich neben anderen Fabriken auch die von Behrens in Einbeck. An Aschrotts Techniker Behrens, der sicherlich auf seinem Gebiet große Fähigkeiten besitzt, sonst hätte Salzmann ihn nicht mit in das neue Geschäft geholt, bewahrheitet sich die Äußerung Wutzmers, dass es Handwerkern weniger leicht fällt, zu einem “industriellen Kapitalisten220 in der Textilindustrie aufzusteigen“ (Wutzmer, in: Blumberg, 1960, S. 159). 218 Der Polizeipräsident von Berlin berichtet in dem bereits zitierten Schreiben vom 13.8.1897 über Sigmund Aschrott. Er sei 1848 in das elterliche Geschäft eingetreten. Durch Gewandtheit und Fleiß habe er das Geschäft „nach und nach zu einer gewissen Blüte geführt, zog sich jedoch Ende der 60er Jahre davon zurück, nachdem er dabei den Grund zu seinem großen Vermögen gelegt hatte. Bei seinen Arbeiten soll er sich jedoch keines besonderen Rufes erfreut haben.“ ( A Pr. Br. Rep. 030 Nr. 8795.) 219 Es kann sich hierbei um eine Übertreibung seitens Eckelmanns handeln, da sie einer Festschrift für die Firma Salzmann & Comp. entstammen und in solchen Würdigungen auf Bestellung häufig nach Informationen gesucht wird, die das Bild ausweiten können. 220 Bei den Kaufleuten, die in den 40er Jahren des 19. Jhts. in eine industrielle Bourgeoisie aufsteigen, handelt es sich bei den meisten um Verleger. Mit Hilfe des Verlagsgeschäfts entwickeln sich „Handelskapitalisten zu Industriekapitalisten“; dabei profitieren sie stets von ihrer kaufmännischen Ausbildung und vielfältigen Handelskontakten. (Wutzner, in: Blumberg,1960, S. 158.) 70 Das spätere Ehepaar Behrens und Ude findet im Hause Aschrott zueinander. Allerdings werden sie sich schon gekannt haben, liegen doch ihre Geburtsorte nur gut drei Kilometer auseinander. Als Karl vier Jahre in Kassel gearbeitet hat, kommt sie wahrscheinlich nach. Die Wohnungsda- ten der Familie Behrens von ihrem Einzug im Hause Aschrott bis zu ihrem endgültigen Umzug nach Einbeck geben einen Einblick in die Schwierigkeiten ihrer Wohnverhältnisse. Der dauernde Wechsel ließe sich dadurch erklären, dass es sich bei dem Techniker Behrens um einen unzuverlässigen Menschen handelt, der deshalb als Mieter nicht zu ertragen sei. Eine andere Vermutung kann lauten, die Familie vergrößere sich ständig und die alte Wohnung sei zu klein. Es kann auch an den Verdienstmöglichkeiten von Behrens liegen, die sich nicht in dem Rahmen bewegen, um die Wohnung zu finanzieren. Diese Deutung scheint die wahrscheinlichere, denn für den Verlag Aschrott ist Behrens von Bedeutung und auch J. G. Salzmann arbeitet mit ihm weiter. Der finanzielle Ertrag reicht wahrscheinlich nicht, um entstehende Unkosten zu begleichen. Nur im Jahr des Zusammengehens 1876 mit Salzmann ist die Familie Behrens in Spangenberg gemeldet. Hier scheint er den Umzug der Firma nach Melsungen vorzubereiten. In Spangenberg stirbt auch die zweite Tochter der Familie. Dies kann der Grund sein, warum die Familie ab Dezember 1876 wieder in der Kasseler Großen Rosenstraße wohnt. Von hier wird er mit der Bahn zu seinem Arbeitsplatz nach Melsungen fahren.221 Zur Ergänzung zu den möglichen Wohnverhältnissen sei ein Bericht Adolph Damaschkes, Sohn einer Berliner Handwerkerfamilie angeführt. Er drückt seine Wohnverhältnisse wie folgt aus: „Unsere Wohnung im Hinterhaus bestand aus Stube, Kammer und Küche. Die Kammer wurde natürlich vermietet. Wir begnügten uns mit der einen Stube. Sie konnte unsere Betten nicht fassen. So habe ich denn in den ersten zehn Jahren meines Lebens nie ein Bett gehabt. Ich schlief in einem `Bettkasten`, der auf Rollen lief, abends unter dem Bett hervorgezogen und mit den Kissen, die am Tag auf dem Bett lagen, zurechtgemacht wurde. Kinder haben eben kein Bett“ (Beuys, 1980, S. 279/280). 5.3.2 Sicherung hessischen Flaches mit Hilfe der Kurhessischen Regierung Bei den Nebenerwerbswebern wird der Flachs häufig selbst angebaut, durchläuft die verschie- densten Stufen der Bearbeitung bis zum Spinnen, um dann am eigenen Webstuhl verarbeitet zu werden. Der Lohnweber erhält in der Verlagsphase den Flachs ausschließlich vom Verlagshaus und hier bietet sich Aschrott die Chance, die Garnversorgung seiner abhängigen Heimweber auszubauen. Als Sigmund Aschrott in das väterliche Geschäft eintritt, wirkt sich die Absatzkrise negativ auf den Ausbau von Spinnereien aus, die Rohmaterial zu Garn verarbeiten. Wegen fehlender Ent- wicklungsmöglichkeiten sehen die Flachsspinnfabrikanten keine Perspektive für Investitionen zum Ausbau ihrer Garnbetriebe. Sie verhalten sich ähnlich wie Handelskaufleute und legen ihr erwirtschaftetes Kapital in Baumwoll- und Wollspinnereien an. Denn in diesem Spinnsektor ist das Risiko bei der Verarbeitung und der Arbeitsvorgang selbst weniger intensiv als beim Flachs. Eine andere Variante, Geld mit großen Gewinnchancen zu investieren, sind der sich schnell entwickelnde Eisenbahnsektor und der Bergbau (Blumberg, 1960, S. 111). Aus obigen Gründen ist festzuhalten, Spinnen von Flachsgarn, bezogen auf die Periode 1834- 1870, wird weitgehend im Nebengewerbe betrieben. Die Entwicklung der Weberei zeigt eine enge Verknüpfung zwischen Flachsanbau und Weiterverarbeitung222 mit Spinnrad und Spindel, was auf den aufwendigen Prozess von der Flachsernte über Brechen, Schwingen und Hecheln bis zum folgenden Spinnvorgang zurückzuführen ist. 221 Eine Statistik aus den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts gibt Aussage über Wohnungen mit nur einem Zimmer. In Frankfurt/M. beläuft sich der Bestand auf 23%, in Hamburg 28%, in Berlin 49 %, in Dresden 55%, in Chemnitz sogar 70% (Beuys, 1980, S. 374). 222 Im Bielefelder Leinenzentrum soll jeder dritte Bewohner, das sind ca. 89ooo bis 100000 Menschen, mit der Produktion von Flachsgarn beschäftigt gewesen sein (Blumberg, 1960, S. 112/113). 71 Die Spindelzahl bei der Flachsverarbeitung nimmt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert nicht zu. Dagegen kommt es zur Erhöhung der Wergspinnerei, das heißt, bei der Gewinnung von Flachs entsteht als Abfallprodukt Werg223 als minderwertiger Faden, mit dessen Weiterverwen- dung die Flachsfaser vollständig verarbeitet wird. In den 50er Jahren ist die Handflachsspinnerei in einigen Gebieten Deutschlands rückläufig, um in den 70er224 Jahren ganz von der Maschinenspinnerei abgelöst225 zu werden. Die Veränderung im Preis- und Qualitätsstandard infolge verstärkt auftretenden Maschinen- garns lässt den Herstellungspreis bei den Handspinnern226 weiter sinken. Um diesen Preisverfall aufzufangen, verlängert sich seine Arbeitszeit, was wiederum zwangsläufig wegen Überbean- spruchung seiner Arbeitskraft zu Qualitätsverlusten beim Garn führen muss. Damit er nicht ganz konkurrenzunfähig ist, kauft er minderwertige, billigere Ware ein und vergrößert damit die Qualitätsspanne zwischen Hand- und Maschinengarn. Dem Aufkommen der Maschinengarnproduktion versucht Aschrott entgegenzutreten. Da die Maschinenspinnereien mehr Flachs verarbeiten können, als in ihrer Gegend angebaut wird, so versuchen Aufkäufer den Rohstoff auch in anderen Ländern, wie auch in Kurhessen, zu be- kommen. Das erhöht sowohl die Flachspreise und lässt wiederum den Handspinnern weniger Material zur Verarbeitung. Diese Marktverschiebung beim Rohstoff stört Aschrotts Verlagsge- schäft und mindert seine Gewinnmargen. Ein Auszug aus dem General-Protokoll des Finanz- Ministeriums vom 3. Dezember 1855 bestätigt dies. In einem Gesuch227 des G.S. Aschrott228 wird darauf gedrängt, die Ausfuhr von Flachs und „Guede“229 aus Kurhessen zu verbieten. Das Ministerium des Inneren wird um die Beantwortung einer Eingabe vom 25. Oktober 1855 ge- beten. Das Ministerium des Inneren antwortet am 3. Dezember 1855, es sei nicht in der Lage die An- gelegenheit zu bearbeiten und bitte um eine Frist von 8 Tagen. Aus einem weiteren Protokoll des Ministeriums des Innern geht hervor, dass bezüglich der Eingabe des Fabrikanten H.S. Aschrott kein Beschluss erfolgen könne und das Ministerium erinnert seinerseits die Kommis- sion für Handels- und Gewerbe-Angelegenheiten an die Erstattung des angeforderten Berichts. Das Kurhessische Finanzministerium230 hat in der Zeit vom 25. Januar bis zum 11. August 1856 insgesamt sieben Mal das Ministerium des Inneren wegen des Aschrottschen Gesuchs vom 25. Oktober 1855 zum Verbot der Ausfuhr um einen Beschluss angemahnt. Das Ministerium des Inneren wartet weiterhin den Bericht der Kommission für Handels- und Gewerbeangelegenhei- ten ab, der am 16.9.56 abgefasst wird und am 19.9.56 beim Ministerium eingeht. In ihrem Bericht kommt die Kommission zu der Auffassung, dass ein solches Verbot nicht ge- rechtfertigt ist und legt einen Auszug als Abschrift an die Ober-Zoll-Direktion bei. 223 Werg ist der spinnbare Abfall beim Hecheln. Mit Werggarn als grobem Garn werden Säcke, Heutragetücher, Strohsäcke u.a. gewebt (Janzweert, 1986, S. 46). 224 Ende der 60er bis Mitte der 70er Jahre ist die Hausindustrie nur noch punktuell vorhanden und das hessische Leinengewerbe wird dann in maschinelle Betriebe verlegt (Eckelmann, 1913, S. 31). Fröhlich und Wolff sowie Gottschalk und Co., wie vorher angesprochen, sind in Kassel führende Beispiele. 225 Ursache für den Rückgang bildet die Zunahme der Maschinenspinnerei mit dem Ausgangsland Schlesien (Blumberg, 1960, S. 66). 226 Blumberg sieht die Existenzberechtigung der Handspinnerei in der Herstellung von Schussgarnen sowie groben Flachs- und Werggarns, die bei der Erzeugung von Packleinen Verwendung finden. Die Juteweberei beginnt in den 60er Jahren für den alten Produktionssektor zur Konkurrenz zu werden. (Blumberg, 1960, S. 114.) 227 StAM Best. 16, Nr. 8224 - Beförderung des Leinengewerbes. 228 Es handelt sich um den falsch geschriebenen Vornamen, die Firma heißt: H.S. (Herz Seligmann) Aschrott. 229 Guede ist ein anderer Ausdruck für Werg. 230 StAM Best. 16, Nr. 8225, Beförderung des Leinengewerbes. 72 Am 22.9.56 ergeht dann ein Beschluss des Ministeriums231 des Innern, „dass dem ohnehin schon durch die Verhältnisse abfällig gewordenen Gesuch des p. Aschrott keine Folge zu geben seyn dürfte.“232 Wie der Schriftwechsel zwischen den staatlichen Institutionen anzeigt, kann sich Aschrott mit staatlicher Hilfe die für ihn erforderlichen Flachsmengen nicht besorgen. Er wird andere Wege beschreiten müssen, um auch den Garnweg für seinen Verlag zu sichern. Die ständigen Erinne- rungen an die verschiedenen Verwaltungen deuten auf häufige Interventionen seitens Aschrotts hin, um den Vorgang positiv für sich abzuschließen. 5.3.3 Gewinnmaximierung bei der Garnversorgung Wie auch schon beim Weben nachgewiesen, bedient sich Sigmund Aschrott bei der Garnver- sorgung staatlicher oder städtischer Einrichtungen, um die eigenen Kosten zu senken. Im Januar 1852 beginnt Aschrott, er ist 25 Jahre alt, im Zuchthaus in der Stadtkaserne bei Kassel Flachs spinnen zu lassen. Bereits 1842233 oder schon früher erkennt sein Vater Herz Seligmann die Chance, für ein kleines Entgelt in der Anstalt spinnen zu lassen, jedoch handelt es sich dabei um geringes Garnvolu- men. Von dem Sigmund Aschrott Verlag werden 1852 zwei Mengen Rohstoff abgegeben. Dabei geht es um Flachs, der wahrscheinlich vom Erzeuger schon vorbehandelt ist. Das heißt, gebrochner und geschwungener Flachs wird geliefert. Sein Auftrag lautet, Flachs und Werg234 zu hecheln und zu spinnen. Beim zur Bearbeitung abgegebenem Werg235 handelt es sich um den beim Flachsspinnen angefallenen Abfall. Folglich wird Aschrott bei Heimbetrieben, die ihr Garn selbst spinnen, den Abfall aufkaufen und zur Verspinnung in minderwertiges Garn an die An- stalt liefern. Er erhält Flachsgarn und Werggarn sowie das bei der Verarbeitung entstehende Abfallprodukt zurück. Damit die monatlichen Abrechnungen zwischen der Anstalt und dem privaten Auftraggeber mit gegenseitiger Anerkennung abgerechnet werden können, wird auch das Längenmaß von Aschrott überprüft. In einem Schreiben fordert der Zunftverantwortliche Aschrott nochmals und zum letzten Mal auf, die erforderliche Ellenmessung mit der Verwaltung zu erledigen. Die Auf- forderung lässt darauf schließen, dass Aschrott dem Vorgang bisher nicht nachgegangen ist.236 Die Aufstellungen237 seitens der Anstalt238 erfolgen jeweils monatlich ab März 1852. Im April 1861 brechen die Abrechnungen ganz ab. Mit dem Zahlenmaterial können keine Rückschlüsse auf den Umfang beschäftigter Heimweber getätigt werden. Das Material wird für Aschrott nur 231 Eckelmann stellt fest, dass das gesponnene Garn weitgehend im Land weiterverarbeitet wird. Jedoch auch in beträchtlichem Umfang im Ausland verschwindet. Es sei dort unter dem Qualitätsbegriff „Hessengarn“ bekannt. (Eckelmann, 1913, S. 31.) 232 StAM Best. 16, Nr. 8225 - Beförderung des Leinengewerbes. 233 In einem Protokoll vom Oktober 1842 wird angeführt, dass der Werkführer Abel, wahrscheinlich ein Beschäftigter in dem Arbeitshaus, für verwendetes Aschrottsches Garn, welches ihm aus der Kasse des Arbeitshauses vergütet wurde, keinen Ersatz leistet. Es handelt sich dabei um den Streitwert von 65 ¼ Pfd. und 91 Pfd.. Da dieser nach mehrmaliger Aufforderung dem nicht nachkommt, soll Anzeige als geeignetes Mittel zur Erledigung erstattet werden. (StAM Best. 251 Kassel, Nr. 249.) – Friedrich Wilhelm Abel, Werkmeister bei der Straf- und Besserungsanstalt Kassel. Bei Franz Abel wird wieder auf ihn Bezug genommen. 234 Bei Werg kann es sich um Flachs-, Hanfabfall oder Hede handeln. Hede wiederum ist der niederdeutsche Ausdruck für Werg. (Duden, 1973, Stichwörter: Flachs, Hanf, Hede, Werg.) 235 Werg wird auch als Abwerg bezeichnet. 236 StAM Best. 251 Kassel, Nr. 209. 237 StAM Best. 251 Kassel, Nr. 209. 238 Das Spinnen von Garn ist, wie beim Weben angeführt, eine leicht zu erlernende Tätigkeit und die Ausführung des Flachs- und Wergspinnens gehört wahrscheinlich zu den Arbeiten, die Häftlinge täglich zu verrichten haben. 73 einen Teil der Garnversorgung darstellen. Teilweise, besonders 1853/54, haben sich die Garn- zahlen gegenüber 1852 verdoppelt.239 Hypothetisch sollen die Verhältniszahlen zwischen dem Webermeister Franz Abel240 und dem Fabrikanten Aschrott verdeutlichen, welche Anzahl von Lohnarbeiter für den Aschrottschen Verlag im Vergleich zu dem Betrieb des Webermeisters Abel zu veranschlagen ist. Die meisten Weberbetriebe verfügen über 1 bis 2 Gesellen. Mit dem Beginn der Aufzählungen241 im März 1852 beträgt die Relation (Abel : Aschrott) 1:12, im November 1855 liegt der Spitzenwert um 1:35 und bei dem letzten Vergleich im April 1861 handelt es sich um ein Verhältnis 1:20. Dieser letzte Wert ist für den oben eingegrenzten Zeit- raum als Durchschnittswert anzusehen. Daraus lässt sich ableiten: Wenn es sich bei dem Abelschen Betrieb um einen Meister mit zwei Gesellen handelt, dann arbeitet der Verlag Aschrott, nur bezogen auf die hier nachgewiesene Garnversorgung vom März 1852 bis April 1861, mit 20 Webermeistern und den dazu gehörigen 40 Gesellen oder Mitarbeitern.242 In den Abrechnungen243 werden das Gewicht und die Art des Rohmaterials genannt, das Aschrott zum Spinnen abgibt und zusätzlich wird vermerkt, in welcher Form der Verleger das Garn wünscht. Dieser bittet wiederum den Verwalter, ihm das Gesamtgewicht der abgegebenen Säcke mitzuteilen. Ein Vorgang verdeutlicht auch die Zeit für den Spinnvorgang. Am 4. März 1856 wird Hanfwerg in die Anstalt eingeliefert und am 28. März 1856 erhält Aschrott das fer- tige Garn zurück. Dabei handelt es sich um ein Gesamtgewicht von 1386 Pfd. Im Oktober 1856 wird Flachs zum „Gecheln“ und Schwingen244 gebracht, die Lieferungen an die Anstalt erfolgen jeweils am 6., 10. und 14. des Monats. In diesem Jahresabschnitt finden landwirtschaftliche 239 Im gleichen Bestand zu den Aschrottschen Aufträgen ist die Abrechnung des Webermeisters Franz Abel für den gleichen Zeitraum mitgeführt. Ob dieser mit Aschrott im Zusammenhang steht oder ein anderer privater Auftraggeber ist, kann nicht nachgewiesen werden. Es ist jedoch anzunehmen, dass Abel gleichfalls hat spinnen lassen. Mit Hilfe einer Relation zwischen der Abelschen und Aschrottschen Garnversorgung lässt sich eine Größenordnung der beiden Betriebe aufstellen. (StAM Best. 251 Kassel, Nr. 209.) 240 Der Damastwebermeister Franz Abel, nach dem Kasseler Adressbuch von 1853 heißt er Franz Wilhelm Abel, wohnt im Königthor 18, der städtischen Kaserne. Schon im Adressbuch 1828 ist er für die gleiche Wohnung angegeben. Abel wird 1852-61 in der Ablage Aschrott mitgeführt. Es ist möglich, dass der Buchstabe A bei der Ablage der Garnvorgänge zusammengefasst wird. 1866 wohnt er noch an gleicher Stelle, und laut Aussage des Adressbuchs von 1870 ist er in das Haus Königsthor 30 ½ umgezogen. Es ist anzunehmen, dass er mit dem Werkmeister bei den Straf- und Besserungsanstalten Friedrich Wilhelm Abel verwandt ist. Dieser wohnt auch in der städtischen Kaserne Königsthor 18. Für 1866 wird er dort gleichfalls wohnend geführt. 241 In den Abrechnungen taucht die Bezeichnung: Zuhlee oder auch Zuflee auf. Um welche niederhessische Bezeichnung es sich handelt, ist noch nicht geklärt. Bei Daschner existiert eine solche Bezeichnung nicht. Auch im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm wird der Begriff nicht aufgeführt. Nach mündlichen Informationen seitens des Leinenmuseums in Haiger vom 11.08.03 könnte es sich um Strang oder Gebinde handeln. 242 In absoluten Zahlen ergeben sich für 1853: 25466,25 Zulee; für 1854: 37078,5 Zulee; für 1855: 34877 Zulee; für 1856 (nur Januar und November): 6780 Zulee; für 1857: 11154,58 Zulee. 243 Am 28 Januar 1856 schickt Aschrott 9 Sack G.R. Werg und 6 Sack H.B. ordinär mit 603 Pfd. Gewicht zum Spinnen in die Anstalt und bittet darum, ihm noch das Gewicht von 9 Sack Hanfheerd mitzuschicken. Am 29.1.56 vermerkt der Verwalter Mühlhausen 15 Säcke Werg, welche 2353 ½ Pfd. wiegen, in Empfang zu nehmen. Am 8. Februar 56 fordert Aschrott das Garn baldmöglichst zu liefern, wobei es ihm egal ist, ob es sehr grob wird. – Für 9 Sack Flachsheede, die am 12. März 56 zum Spinnen abgegeben werden, möchte Aschrott das Gewicht mitgeteilt haben. Dabei wird von Mühlhausen auch am 12.3.56 jeder Sack mit entsprechendem Gewicht angeführt, wie 1 Sack Brutto 228 Pfd. Flachsheede. Die 9 Sack haben ein Gesamtgewicht von 2231 Pfd. (StAM Best. 251Kassel, Nr. 211.) 244 Diese Angaben erfolgen auf losen Zetteln. Eine solche Form reichte bei den häufigen Aufträgen seitens Aschrott aus, um von der Verwaltung akzeptiert zu werden. 74 Betriebe Zeit, sich mit der weiteren Flachsverarbeitung zu beschäftigen, so wird Aschrott von verschiedenen Betrieben aufkaufen und zur Weiterverarbeitung der Anstalt liefern. In einem offiziellen Brief mit Briefkopf245 bittet Aschrott den Inspektor Haas um 135 Stück und 300 Stück „Wergengarn“ für den 24. Oktober d.J. (1856) leihweise abzugeben oder ob er es auch käuflich erwerben könne? Aschrott liefert auch den von ihm durch Erkundigungen einge- zogenen Preis mit. Dieser beträgt derweil für „zwebes Wergengarn“ (schweres Werggarn) für 1 Stück gleich 4 Albus und für feines Werggarn 1 Stück gleich 2 Albus, 8 Groschen.246 Aschrott scheint seine Produktionsaufträge mit der eigenen Garnversorgung nicht mehr ab- decken zu können. Ob die Ursachen auf schlechte Flachsernten, durch Aufkäufe ausländischer Garnkaufleute, wie am Beginn des vorigen Kapitels mit der Stellung des Ausfuhrantrags ange- sprochen, oder auf eine Folge größeren Auftragsvolumens zurückzuführen sind, ist nicht ein- deutig zu beantworten. Aschrott wendet sich am 29.11. 56 an den Verwalter des Zuchthauses, Herrn Mühlhausen,247 um von ihm Garn zu kaufen, da bei ihm „gänzlich Mangel in diesem Artikel eingetreten ist.“248 Bei abschlägigem Bescheid seiner Bitte sehe er sich gezwungen, die Kaserne von seinen Ar- beitsaufträgen eine Zeit lang zu suspendieren. Er fügt noch den Preis pro Stück für starkes und kleines Garn hinzu. Er hoffe, der Preis werde akzeptiert und eine bald mögliche Entscheidung getroffen. In dieser Mitteilung ist eine Maßnahme seines kaufmännischen Kalküls zu erkennen. Er setzt die Verwaltung, von der er annimmt, dass sie an einem langfristigen Geschäft mit ihm interes- siert ist, unter Druck, eine fortwährende und damit wichtige Einnahmequelle zu verlieren, wenn man seinen Forderungen nicht nachkommt. Zum weiteren blickt er voraus und sieht in der wachsenden Rohstoffkonkurrenz als Folge von Flachsverknappung eine Erhöhung seiner Pro- duktionskosten, die zur Schwächung seines Produktionsabsatzes beitragen könnte. Spätestens hier stellt sich die Frage, warum verwendet er das handgesponnene und kein oder kaum Ma- schinengarn? Denn das Maschinengarn ist von besserer Qualität, weil es gleichmäßige Stärke und größere Festigkeit aufweist. Zudem erreicht der Weber mit dessen Einsatz eine höhere Pro- duktivität,249 da sich mit solchem Garn ein gleichmäßiger Webvorgang erreichen lässt, der wie- derum die Leinenqualität verbessert. Für Aschrott bedeutet der Verzicht auf Maschinengarn zugunsten des Billigprodukts mit hand- gewebtem Garn das Erzielen eines Niedrigpreises beim Ausgangsmaterial, dem Faden. Diese Gewinnmaximierung geht wiederum ausschließlich zu Lasten des Heimwebers, bei dem sich die Arbeitszeit mit handgesponnenem Garn um geschätzte 33 Prozent verlängert, was für ihn eine geringere Produktivität bedeutet. (Blumberg, in: Mottek, 1960, S. 66.) Die Qualität scheint bei einem Teil der Produkte Aschrotts eine untergeordnete Rolle zu spielen, das trifft z.B. für Ver- packungsmaterial zu. Damit bleibt die Frage offen, ob sich handgewebte Produkte aus Maschi- nengarn gleichfalls gewinnbringend verkaufen lassen. Diese Überlegung muss unbeantwortet bleiben. 245 Briefkopf: H.S. Aschrott – Leinenfabrikant – Kassel – Kurhessen – H.S. Aschrott – Wein-Gutsbesitzer – Hochheim – Herzogtum Nassau – Alle Correspondenzen werden nach Kassel erbeten (StAM Best. 251 Kassel, Nr. 211). 246 StAm Best. 251 Kassel, Nr. 211. 247 In dem hier ausgewerteten Bestand befindet sich auch ein Schreiben vom 16. März 1857 an Herrn Rudolf; „anbei befindliche Wolle= 50 ¼ Pfd. Netto zu färben.“ Ob es sich hierbei um einen falsch eingeordneten Beleg handelt oder ob Aschrott auch mit Wolle hat arbeiten lassen, lässt sich nicht klären. 248 StAM Best. 251 Kassel, Nr. 211. 249 Schmoller führt an, dass der Einsatz von Maschinengarn und der damit verbundene stärkere Einsatz des Schnellschützen das Produktionsergebnis des Webers um ein Drittel steigern lässt (Schmoller, 1870, S. 465; in: Blumberg, 1960, S. 66). 75 5.4 Aktivitäten beim Garnhandel im Bereich des Ober-Zunft-Amts Spangenberg In den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts stellen verschiedene Personen aus Spangenberg Anträge an das Kurfürstliche Verwaltungsamt250 in Melsungen, um Konzessionen für den Leinengarnhandel251 zu erhalten. Es handelt sich dabei um bereits bestehende Genehmigungen, die zu erneuern sind oder um Neuanträge. Diese Aktivitäten deuten daraufhin, dass Mangel an Garn besteht und lässt wiederum Rückschlüsse auf neue oder steigende Leinwebaktivitäten zu. Dem Handwerk scheinen verstärkt Arbeitsaufträge vorzuliegen, die nur mit einer umfassenden Garnbeschaffung zu erledigen sind. Da sich seit der Schließung des letzten Handelshauses Schröder die Absatzorganisation verän- dert, verläuft die Auftrags- und Verkaufsabwicklung nur mittels eines Verlegers. Es ist aber möglich, dass neben Aschrott ein anderer Verleger für den Aufschwung der Hausindustrie im Schockleinen sorgt. Jedoch sagt die Quellenlage über eine solche Existenz nichts aus. So ist anzunehmen, was auch aus anderen Unterlagen hervorgeht, dass sich die Aschrottsche Verlags- organisation nach sechs Jahren Arbeit manifestiert hat. Aus diesem Grund liegt die Vermutung nahe, die beantragenden Personen arbeiten weitgehend als Garnbeschaffer für Aschrott oder sie haben eine Marktnische entdeckt, in der sie ihre eige- nen Produkte verkaufen können. Dass die durch die Garnhändler in Spangenberg erzielten Mengen auch dort zur Verarbeitung kommen, ist anzunehmen, da die angegebenen Personen auch als Weber arbeiten. Ein Nachweis dafür liegt nicht vor. Möglicherweise setzt Aschrott das durch Subunternehmer aufgekaufte Garn an Standorten ein, an denen Heimweber auf Grund umgebauter oder neuer Webstühle, wie in Eschenstruth nachzuweisen, Produkte fertigen, die bei aktuellen Aufträgen mit größerer Breite überhaupt nur dort abzuwickeln sind. Die Anträge der Garnhändler nimmt das Verwaltungsamt Melsungen entgegen und fordert von den Bürgermeistern, hier Spangenberg, Aussagen über das Einkommen, familiäre Situation und Eigenschaften des Antragstellers abzugeben. Folgende vier Anträge lassen sich in dem Bestand nachweisen. Bei Johannes Schäfer jun.252 handelt es sich 1850 um einen Neuantrag. Das Gleiche gilt für Heinrich Siebold.253 Ob er als Folge seiner Bewerbung auch eine Konzession erhält, geht aus den Quellen nicht hervor. Georg Lotz254 dagegen bittet im gleichen Jahr seine „Leinengarnhandel-Conzession“ zu erneuern. Auch bei Verlängerung seiner Erlaubnis wird der Ortsvorstand, seitens der Verwaltung, aufge- fordert festzustellen, ob der Antragsteller den Handel zu seinem Lebensunterhalt benötigt. Im 250 Die hier als Kurfürstfürstliches Verwaltungsamt Melsungen bezeichnete Einrichtung wird auch als Hessisches Landrathsamt (Briefkopf 1852), Kurfürstliches Landrathsamt (1853) und Kreisamt Melsungen geführt. 251 StadtaSp, Best. 11 b, Nr. 842 b. 252 Johannes Schäfer jun. beschreibt Bürgermeister Sinning –von 1840-51 als A. Sinning, Teichmüller, im Bürgermeisteramt (Buhre, in: Magistrat des Stadt 1984, S. 28) – als rechtlichen und fleißigen Familien- vater, der auch seinen alten Vater versorgt. Schäfer betreibt das Leinengeschäft und einen geringen Garn- handel (StadtaSp, Best. 11 b, Nr. 864 b vom 9. Feb. 1850). 253 Siebold beschreibt in seinem Antrag seine Erwerbssituation. Er will mit Lohnfuhren und Ackerbau für den Lebensunterhalt sorgen. Weiter führt er an, für einen Leutnant Bick gearbeitet zu haben, bei dem er mit dem Geschäft des Leinenhandels vertraut wird. Auch mit einem Attest des Assessors Schröder aus Spangenberg könne er seine Kenntnisse nachweisen. (StadtaSp, Best. 11 b, Nr. 57/50.) 254 Zur Person Lotz gibt es in diesem Zusammenhang keine Angaben. Als dieser am 8. Feb. 1853 einen Antrag auf Erneuerung der Konzession stellt, gibt der Stadtvorstand von Spangenberg (eine Unterschrift ist nicht zu erkennen) am 29. Feb. 1852 (hier liegt wahrscheinlich ein Schreibfehler vor) Informationen zu George Lotz. Er lebt in mittleren Vermögensverhältnissen, betreibt Leinengewerbe und Leinengarn- handel, sei ordentlich und fleißig und benötige den fraglichen Handel zum Lebensunterhalt. (StadtaSp, Best. 11 b, Nr. 864 b ; Nr. 11297.) 76 August 1850 stellt Ruben Levi Spangenthal255 ebenfalls einen Antrag zur Erneuerung seines Garnhandels. Aus dem erneuten Verlängerungsantrag beim „Hessischen Landrathsamt“ am 3. März 1852 von Johannes Schäfer lässt sich schließen, „Leinengarnhandel-Conzessionen“ werden nur für zwei Jahre erteilt, das durch den Antrag von Georg Lotz am 8. Februar 1853 um Erneuerung der Konzession noch unterstrichen wird. Zur Begründung des von der politischen Verwaltung gewählten Zeitraums lässt sich vermuten, dass in der Periode sowohl Veränderungen im Bezirksgarnhandel berücksichtigt und gleichfalls wirtschaftliche Unterschiede von den Händlern einkalkuliert sind. Auf diese Weise kann man flexibel auf Verschiebungen reagieren. Von ihrem Bürgermeister erhalten die Antragsteller stets eine positive Beschreibung. Bei dem Juden Spangenthal ist nicht zu klären, welche Gründe für die Verzögerung der Bearbeitung vorliegen können, seine Beschreibung aber zeigt sich positiv. 5.5 Veränderung der Produktpalette als marktstrategische Offensive Die Produktion von hessischen Schockleinen dient bisher zur Herstellung von „Negerkleidung, Warenverpackung, Kaffeesäcken und in Spanien besonders zu Zelten“ (Kirchner, 1921, S. 85). Der Leinenabsatz leidet jedoch unter den dargestellten Handelsbedingungen und veränderten Produktionsmethoden. Diese Barrieren will Sigmund Aschrott überwinden, indem er das Angebot seiner Produkte er- weitert und gleichzeitig die Produktionskosten senkt, um mit den Webern anderer Regionen und der Maschinenweberei konkurrieren zu können. Auf diesem Wege möchte er neue Märkte für seine Produkte öffnen. Aschrott nutzt die Zunahme der Warenströme, die Ausdruck größerer Flexibilität nach Aufbau der Eisenbahn sind, mit der Herstellung von Verpackungsmaterial, wie Packtücher für verschiedene Anwendungen. In diesem Warensegment sind jährliche Steigerun- gen durch Ausweitung und Verknüpfung von Industrieanlagen zu erwarten. Weiter kann er hier als Rohstoff Werg, wie bereits erwähnt das Abfallprodukt des Flaches, oder Hanf verarbeiten. Die Unregelmäßigkeiten beim Fadenlauf als Produktergebnis der Handspinnerei sind bei den an die Ware gestellten Anforderungen von keiner Bedeutung. So lässt er für die sich ausbreitende Rübenzuckerproduktion Presstücher weben. Auch hier nutzt er die veränderten Handelsbedin- gungen. Rohrzucker ist bis zum Zusammenbruch des Überseeleinenhandels das wichtigste Tausch- oder Zahlungsmittel, was jedoch nach Aufkommen der Rübenzuckerherstellung nicht mehr gebraucht wird. Jetzt wird Zucker in deutschen Regionen produziert und gibt damit hand- gewebten Waren neue Chancen, einen Absatzmarkt zu finden. Eine sich ebenfalls entwickelnde Gummiindustrie versorgt seinen Verlag mit Segeltuchen für die Bereifung (Jacob, 1927, S. 42). Abgesetzt werden können ebenfalls handgewebte Postbeutel ohne Naht sowie Säcke, die man beim Hopfentransport benötigt. Die neuen Warenarten lassen sich vom Heimweber produzieren. Für Segeltuche der Schifffahrt, in diesem Produktionssektor nimmt England eine Monopolstel- lung ein, entwickelt der Aschrottsche Verlag eine Webmethode, die es erlaubt, mit englischen Segeltüchern zu konkurrieren. Diese Ware verlangt eine Leinenbreite, die der Heimweber bisher nicht herstellen kann. Unter der Regie des Verlegers kommt es zum Um- oder Neubau von Handwebstühlen, die Leinenbreiten bis zu sechs Metern erlauben. Damit bei diesem Webvor- gang das Fach geöffnet werden kann, müssen zwei Männer ihre Kraft aufbieten, um die Tritte des Stuhls zu bewegen. Weiterer Absatzmarkt für Tuche dieser Breite bietet die Eisenbahn. Für Seidenfabriken in Krefeld wiederum, die mit dem Webvorgang eigentlich vertraut sind (Kasse- 255 Bei Spangenthal wird lediglich angeführt, dass er die gesetzlichen Erfordernisse zum Betreiben erfüllt (StadtaSp, Best. 11 b; Nr. 6406/50). Am 7. August 1850, 6 Tage nach der ersten Aufforderung vom Ver- waltungsamt kommt es zu einer weiteren Weisung an die Stadt Spangenberg. Die wird am 29. Aug. 1850 an die alte Verfügung erinnern. Bürgermeister Sinning beschreibt Spangenthal als Ellenwarenhändler und er führe für seine Mutter den Garnhandel, weiter sei er von unbescholtenem Rufe und besitzt die nötigen Fachkenntnisse. (StadtaSp: Best. 11 b, Nr. 207/50, Nr. 216/50.) 77 ler Post vom 13.6.1926), liefert Aschrott Einschlagleinen. Hier zeigt sich erneut, dass mit der Hand gewebte Produkte durch kostendämpfende Maßnahmen noch zu verkaufen sind. Die sich aufbauende chemische Industrie erwartet bei der Herstellung bestimmter Spezialer- zeugnisse feines Gewebe (Baetz, 1951, S. 2) für Filter und Presstuche (Jacob, 1927, S. 42). Auch in diesem Bereich lässt der Verleger arbeiten. Die Leistungen des Verlegers Aschrott für die industrielle Entwicklung werden in einem Schreiben des Königlichen Regierungspräsidenten v. Brauchitsch vom 21. Juli 1879 an den Königlichen Ober-Präsidenten Freiherrn v. Ende dahin gehend gewürdigt, dass er die Fabrika- tion von Segeltuchen, wasserdichten Wagendecken und Säcken ohne Maß hervorhebt.256 Aschrott versucht seine Produkte in der näheren Umgebung, in anderen deutschen Ländern,257 europaweit und in Übersee zu vertreiben. Er ist bestimmt ein zielgerichteter Verhandlungspart- ner und flexibler Kaufmann, der den größten Teil der Länder bereist, in denen er seine Leinen- waren absetzt. Auch auf Messen wird er vertreten sein. Bei den Welt- und Industrieausstellun- gen in München, Paris und London ist er zugegen, denn hier findet er den Ort und die Kulisse, an dem er seine Produktleistungen präsentieren kann und für andere Käufer, Kaufinteressenten und Wiederverkäufer ist er bei solchen Veranstaltungen gleichzeitig ein kompetenter Ansprech- partner. Da auf Messen und Ausstellungen umfangreiche Geschäfte abgewickelt werden, findet Aschrott hier den Ort für Ausweitung und Steigerung seines Umsatzes. Im Angebot der anderen Aussteller wird er Produkte entdecken, die sich in gleicher Art oder veränderter Form ebenfalls herstellen oder in verbesserter Funktion auch auf den Markt bringen lassen. Seine Verkaufsstrategie ändert Aschrott in der Richtung, dass er nicht wie die regionalen Lei- nenhändler vorgeht, die die hergestellten Waren weiter veräußern. Seine kaufmännische Denk- weise lautet: Für den Markt produzieren. Das bedeutet, mögliche Nachfragen auf dem Markt zu erkennen, frühzeitig Angebotslücken aufzuspüren, um dann von Heimwebern veränderte Pro- dukte zu verlangen. Ein neues oder verändertes Werkstück kann so zu Massenabsatz führen, ehe die in ihrer Organisation schwerfälligeren vorindustriellen Betriebszusammenschlüsse oder Leinenfabriken sich auf die gewandelten Ansprüche einstellen. 1854 findet in München die Veranstaltung der „Allgemeine[n] deutsche[n] Industrie- und Ge- werbs-Erzeugnisse“ statt.258 „Die Industrie-Ausstellungs-Prüfungs-Kommission für Ober- bayern“ bereitet die Schau vor. Die Firma H.S. Aschrott erwirbt hier als Auszeichnung die Große Medaille erster Klasse. Mit dem gleichen Titeln kehrt die Firma von der Pariser Weltaus- stellung 1855 und 1867 zurück. Baetz führt dazu an, die Diplome seien noch 1900 im Büro der Aschrottschen Grundstücksver- waltung in der Museumsstrasse Nr. 10 zu sehen. Mit diesen Symbolen wirtschaftlicher Kompe- tenz zeigt er halböffentlich seine Leistungserfolge sowohl auf dem handwerklichen wie kauf- männischen Sektor. Gleichzeitig verkörpern die Medaillen einen Spiegel, der seine Anerken- nung auf einem eingegrenzten Sektor des öffentlichen Leben wiedergibt. Kirchner und die Kasseler Post259 berichten, der Verlag Aschrott habe auch auf der ersten Weltausstellung 1851 in London teilgenommen. Ein Ausstellungsstück, ein Segeltuch von 36/4 256 GStA: Hpt.I Rep. 120 CB V Fach A Nr. 16, Nr. 2376. 257 Die jüdische Familie setzt sich nicht nur bei der Lehrstellensuche ein, sondern sie gibt auch Start- kapital zum Aufbau eines Unternehmens. Die erweiterte Familie hilft ebenso; da wiederum viele Ver- wandte, eine Folge der Niederlassungsrestriktionen, in Frankreich, England und den Vereinigten Staaten leben, ist es möglich dort leichter Kontakte zu knüpfen. Das hilft bei der Produktvermarktung und bei technischen Änderungen innerhalb eines Gewerbes. (Kaplan, 2003, S. 285.) 258 StAMü, RA 35188, als schriftliche Antwort seitens des StA München vom 09.05.03 auf Anfrage durch den Verfasser. 259 Kirchner stützt ihre Veröffentlichung auf Gesprächsnotizen mit dem letzten Reisenden bei Sigmund Aschrott Johannes Cönning. - Cönning ist später Teilhaber der Schwerleinenfirma Moritz Gottschalk u. Co., die 1881 gegründet wird. Er baut hier den Kundenstamm der Firma aus und setzt somit nur mit 78 Breite260 habe besonderes Aufsehen erregt, weil die Fachbesucher der Ansicht sind, dass solche Breiten mit Handwebstühlen nicht zu erzielen sind. Die Zeitung „Illustratet London News“ schreibt dazu einen Artikel über dies besondere Aus- stellungsstück (Kirchner, 1921, S. 86 und Kasseler Post vom 13.6.1926)261. Auf seinen Reisen versucht der Verleger für seine Produkte zu werben, um diese in großen Stückzahlen in verschiedenen Industriezweigen zu vertreiben. Aber ebenso wird er sich einset- zen, die Produktionsstätten der mechanischen Weberei262 aufzusuchen, damit er sich von dem augenblicklichen technischen Stand überzeugen kann. Sicherlich interessieren ihn auch maschi- nelle Besonderheiten, die er auf seine Handwebstühle übertragen kann. Bartolosch geht davon aus, dass deutsche Gewerbetreibende in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Reisen benutzen, um den technischen Vorsprung der Konkurrenz zu erkennen, also Industriespionage zu betrei- ben. Auf diese Weise ist es leichter möglich den Produktionsprozess zu verändern und die ei- gene Produktqualität zu steigern. (Bartolosch, 1992, S. 486.) 5.6 Veränderungen im Textilbereich, eine Chance für Aschrott Wie auch bei den Siegerländer Verlegern (Bartolosch, 1992, S. 427) zu beobachten ist, zeigt Sigmund Aschrott sich nur in sofern bereit, in sein Verlagsgeschäft zu investieren, als es mit veränderten Handwebstühlen möglich ist, mit größeren Webbreiten zu arbeiten, um den neuen Qualitätsstandards an die Leinenprodukte für den Verkehrssektor zu genügen. Dieser stark prosperierende Markt wird mit Aschrotts Erzeugnissen beliefert. Durch den gezahlten Niedrig- lohn ist es für ihn möglich, genügend Gewinn abzuschöpfen. Aschrott ist jedoch nicht bereit, den Schritt in die mechanische Weberei zu vollziehen. Das be- deutet für ihn den Aufbau einer zentralen Fabrikation und hohe Investitionskosten für die Auf- stellung mechanischer Webstühle. Im personellen Bereich heißt das, mit Hilfe der vorhandenen Heimweber eine neue Industriearbeiterschaft aufzubauen. Nicht nur die technische Entwicklung eines kapitalistischen Industriebetriebes ist zu vollziehen, auch die Arbeiter sind in fabrikmä- ßige Arbeitsabläufe einzugliedern und weiter zu spezialisieren. Darüber hinaus entstehen paral- lel vielfältige soziale Fragen für seine Arbeiterschaft. Das Lösen solcher komplexen Aufgaben entspricht nicht den Vorstellungen und Veranlagungen Aschrotts. Es wird über ihn berichtet, dass er bei Problemen seiner Mitarbeiter bei der Lösung geholfen habe.263 Jedoch würde die Auseinandersetzung mit einem „Industrieproletariat“ seine Aktivitäten in Bereichen binden, die seinem kaufmännischen Lebensweg nicht entsprechen. So verfolgt er weiter im Sinne seiner Begabung, den erzielten Verlagsgewinn nicht in das rückläufige Heimgewerbe einzubringen, veränderten Produktionsmethoden seine bei Aschrott gelernte Arbeit fort. 260 Hier würde eine Breite von 504 cm vorliegen. 261 Auf Anfrage des Verfassers teilt das Victoria and Albert Museum mit, keine Informationen zu dem genannten Ereignis bei der großen Ausstellung 1851 und zu der Internationalen Ausstellung 1867 gefunden zu haben. Auch in der „London Illustratet News“ seien keine Vermerke zu finden, die auf diesen Umstand hinweisen. (Schriftlich vom 23.10.02 durch das Victoria and Albert Museum London an den Verfasser.) 262 Die Anregungen anlässlich des Besuches englischer Tuchfabriken und die Präsentationen der Londoner Weltausstellungen „von 1851 und 1860“ beeinflussen eine Reihe jüdischer Tuchhersteller so, dass sie versuchen, ihren Betrieb auf maschinelle Stoffproduktion umzustellen. (Kaplan, 2003, S. 183.) – Das Jahr 1860 muss 1867 heißen. (Anm. d. Verf.) 263 Betz führt ein Vorkommnis in Aschrotts Residenz in der Bellevuestraße in Berlin an, wo der Bürodie- ner Lindner wegen seiner großen Familie in dem Untergeschoss unter dem Aschrottschen Büro beengt wohne. Dort habe Lindner während eines Kuraufenthalts seines Arbeitgebers dessen Privatbüro genutzt, um dort ein Kinderbett aufzustellen. Die Angestellten lassen dies zu und warten auf die Reaktion von Aschrott nach dessen Rückkehr. Als dieser die Veränderung bemerkt, erkundigt er sich nach der Ursache. Als Lösung ordnet er lediglich an, mit einer spanischen Wand das Bett zu verbergen. (Betz, 1951, S. 18/19.) 79 sondern in wirtschaftliche Bereiche zu investieren, die unter dem Aspekt ökonomischer Ent- wicklung ein Vielfaches an Gewinn versprechen. In seiner Funktion als Verleger und damit als Warenbesitzer kann er auf Märkten agieren, auf denen sich Menschen einer kommerziellen Gesellschaft in der Öffentlichkeit treffen, ihre Pro- dukte miteinander vergleichen und austauschen. Der eigentliche Produzent, hier der Heimwe- ber, bleibt dabei anonym; er muss die für einen Marktbesuch erforderliche Zeit nutzen, um sei- nen geringen Verdienst durch Quantität der Produktion zu erhöhen. Der Verleger dagegen ist in der Lage, durch seinen Zugang zu dem öffentlichen Bereich des Marktes den Gewinn zu akku- mulieren und sein Kapital zu erhöhen. In einer kommerziellen Gesellschaft, die nur Waren sieht, um die Sichtweise Marxs weiterzu- führen, erkennt man nicht die Arbeitskraft und setzt diese gleich Ware. Da der eigentliche „Be- sitzer“ der Ware nichts mehr mit ihrem Vertrieb zu tun hat, spricht Marx hier von Selbstent- fremdung des Menschen, den eine kapitalistische Gesellschaft als Produzenten entwürdigt und seiner Ware gleichsetzt. Die Bewertung des Produktes existiert folglich nicht aus dem Einsatz menschlicher Arbeitskraft, sondern nur durch die Ware selbst. Eindeutig steht das Produkt im Vordergrund, obwohl es ohne den Menschen nicht existieren würde. Der Produzent bildet le- diglich das Mittel zum Zweck (Arendt, 2002, S. 194/195). 5.7 Zusammenfassung - Seit dem Eintritt in den elterlichen Leinenhandel 1844 ordnet Sigmund Aschrott diesen neu. Er baut ein Verlagssystem auf, in dem Heimweber in der südöstlichen Region um Kassel in Lohnarbeit produzieren. - Die Produktionsmittel als Eigentum der Hausindustrie verursachen in der Aufbauphase keinerlei Kosten. Die Weber müssen Absatzschwankungen durch Lohnverzicht kompensieren. Seinen Flachs- oder Hanfeinkaufspreis versucht Aschrott durch Anträge auf Exportverbot in Kurhessen zu sichern. - Beim Weben und nachweislich in großem Umfang bei der Garnversorgung, bedient er sich des Niedriglohnsektors. Als Beispiel kann das Zuchthaus in der Stadtkaserne Kassel gelten. - Der Einsatz von Maschinengarn kommt in seinem Verlag nicht zum Tragen. Die mögliche Arbeitseinsparung muss der Heimweber selbst tragen. - Das Heimgewerbe kontrollieren und organisieren einflussreiche ortsansässige Bürger. Später sind es die Reisenden, meist kaufmännisch talentierte junge Juden. Sie avancieren in der nächsten Phase der Industrialisierung zu den Gründern Kasseler Leinenfabriken. - Eine veränderte Produktpalette berücksichtigt die Bedürfnisse der sich entwickelnden Industriezweige. Aschrott kontaktiert sicherlich europaweit zur Umsatzsteigerung. Auf überregionalen Ausstellungen werden seine Produkte zwecks Erhöhung seines Bekanntheitsgrades eingesetzt. 80 6 Die Familien H. S. Aschrott und Selig Feist Goldschmidt Im Jahre 1823 zieht H.S. Aschrott mit seiner Frau Regina,264 geborene Goldschmidt, von Kas- sel, wo er seit 1821 ein Leinengeschäft betreibt, nach Hochheim am Main (Luschberger, 1988, S. 197). Herz Seligman und Regina haben am 5. Mai 1817 in Kassel geheiratet. Zuvor bekommt Aschrott auf Betreiben seines zukünftigen Schwiegervaters eine Aufnahmebestätigung für Kur- hessen (Knobling, 1986, S. 32). Mit der Heirat 1816 von Abraham Hirsch, einem Sohn eines Kasseler Handlungshauses und einer Schwester von Herz Seligman, der Vater ist damals bereits verstorbenen, beginnt der Auf- enthalt der Aschrotts in Kassel. Die Familie ist davor in Osterode im Harz ansässig. Abraham Hirsch beantragte beim zuständigen Amt des Kurfürstentums für seine neue Familie eine Auf- nahmegenehmigung. In der heißt es, seine Schwiegermutter wolle wegen der Schulsituation und ordentlicher Erziehung ihrer drei minderjährigen Kinder nach Kassel ziehen. Die Voraussetzun- gen in der Residenz seien besser als in der Landstadt. Ihren Lebensabend möchte sie im Rahmen ihrer Familie verbringen. Ihren Unterhalt bestritte sie von Geldanlagen ihres verstorbenen Man- nes, des Bankiers S.A. Aschrott. Ferner beabsichtige sie keinen Handel zu treiben, sich der Er- ziehung ihrer Kinder zu widmen und ihre bürgerlichen Pflichten zu erfüllen (Jüdische Wochen- zeitung, 4, 1927, H. 45, S.5, in: Knobling, 1986, S.31). Das Gesuch wird genehmigt. Das „Kontrakten-Kontrollbuch des Amtes Hochheim für 1823“ (Luschberger, 1988, S. 198) legt offen, dass der „Banquier Aschrott“ am 3. Februar 1823 mit mehreren Kaufverträgen in Hoch- heim Weinberge und Äcker im Wert von 17500 Gulden von Peter Schmaeder, weiter ein Erb- leihgut mit Äckern, Wiesen und Weinbergen im Wert von 4500 Gulden von dem ehemaligen Eigentümer Obristleutnant Tielemann und Frau sowie Gebäude, Äcker und Weinberge von Oberkellermeister Koepp aus Biebrich erwirbt. Dabei handelt es sich um den einstigen Präsenz- hof, einen früheren Besitz der Mainzer Dompräsenz, in der Kirchgasse mit einem zweistöckigen Wohnhaus, einer einstöckigen Scheune, einstöckigem Vieh- und Schweinestall, dem Gutshof des Weinguts, sowie einem Haus in der Kirchgasse 15, das Aschrott aber 1826 wiederverkauft. Der Erwerb des Weinguts kann als ein vorher ausgezahltes Erbe für die Tochter Regina angese- hen werden. Mit diesem neuen Gutsbesitz erhebt sich die Familie Herz Seligman Aschrott in einen anderen sozialen Status, wie es sich für die Tochter eines Finanziers gehört, der seit Gene- rationen Hofgeschäfte mitbeeinflusst. Über das in Kassel aufgebaute Leinengeschäft kann nur vermutet werden, dass bis zum beruflichen Wechsel nach Hochheim sich ein entscheidender Aufschwung nicht zeigt265, wie man sich im Familienkreis wahrscheinlich erhofft. Der Erwerb des Weinguts mit ausgesprochen guten Weinlagen ist für die soziale Stellung des Familienver- bandes Goldschmidt von Bedeutung. Zwei Brüder von Regina lassen in ihrem Titel erkennen, dass sie sich als Finanziers im Geldsektor betätigen. Der drei Jahre ältere Bruder Philipp Selig führt den Titel „Hof- und Kriegs-Banquier“, der zwölf Jahre jüngere Bruder Samson Selig nennt sich „Hofbanquier.“ (Thiele, 1986, S. 6.) Die gesellschaftliche Wertigkeit dieses neuen Grund- besitzes unterstreicht die Berufsangabe, die H.S. Aschrott nach seinem erneuten Wohnungs- wechsel nach Kassel stets angibt. In den Kasseler Adressbüchern wird er als Gutsbesitzer oder auch als Aschrott sen., Gutsbesitzer, geführt. In der von Thiele angelegten Aufstellung über jüdische Einwohner der Stadt Kassel von 1867 wird er Weingutbesitzer genannt, diese Bezeich- nung wird gleichfalls im Kasseler Adressbuch verwendet. Später ist auf der Visitenkarte der Witwe Regina Aschrott266 nur noch ihr Name zu lesen.267 Die gesamte Kaufsumme des Wein- 264In der Literatur wird häufig der Vorname Regine gebraucht, auch die Adressbücher vermerken stets diese Bezeichnung. Auf ihrer Visitenkarte vom November 1881 steht jedoch: Regina Aschrott. (StadtaKs: S1, Nr. 234 /1.) Der Vorname wird weiter als richtig angenommen. 265 Knobling schreibt über H.S. Aschrott, er habe sich in Düsseldorf und Berlin ein beachtliches Vermögen erwirtschaftet. Diese Anmerkung stammt wahrscheinlich aus der Jüdischen Wochenzeitung 3 (1926), H. 23, S. 2 ff. (Knobling, 1986, S. 32). Die Anmerkung in der Jüdischen Wochenzeitung wurde vom Verfasser nicht überprüft, ist aber nach den Recherchen nicht aufrechtzuerhalten. 266 Das Adressbuch ergänzt zu Regina Aschrott, Ww. des Weingutbesitzers. 81 guts finanziert der Schwiegervater, der „Hof-Banquier und Finanzrath“ Selig Feist Goldschmidt (Philippstein)268, vor. Die Familie besitzt das Haus Pauli-Str. 526 in der Kasseler Altstadt. Abb.: 5 Haus der Familie Goldschmidt Pauli-Straße269 Sie gehört zu den wenigen Juden, die bereits 1809 über Grundbesitz verfügen. (Thiele, 1986, S. 307.) Als der Hof-Bankier am 16.9.1823 stirbt (Thiele, 1986, S. 6), erhält der älteste Sohn 267 StadtaKs.: S 1 Nr. 234 /1. 268 Goldschmidt, Selig, Feist (Philippstein) geb. ca. 1755; gest. 26.9.1823; 68 Jahre; Hof-Banquier und Finanzrath; verh. vor 1795 mit Goldschmidt, Bela (Bule) geb. ca. 1758; gest. 8.10.1829 71 Jahre 4 Monate. Kinder: Philipp Selig geb. 17.12.1795, Ruben geb. 5.11.1796, Ranchen, geb. 1.7.1798, Samson Seelig geb. 22.5.1810 (Thiele, 1986, S. 307). In der Arbeit von Knobling wird über Regine Goldschmidt angeführt, sie sei die einzige Tochter Selig Feist Goldschmidts und am 20. Juli 1798 geboren. Die Arbeit stützt sich auf Aussagen Niemeyers, bei dem lediglich das Datum, nicht aber die Quelle genannt wird. (Niemeyer, 1960, S. 1). Bei der von Thiele oben angegebenen Ranchen muss es sich um Regina Goldschmidt handeln. Wie es hier zu verschiedenen Aussagen kommt, soll nicht weiter nachgeprüft werden. Der am 5.11.1796 geborene Ruben Goldschmidt taucht bei weiteren Angaben nicht mehr auf, er ist sicher schon als Kind verstorben. 269 Ausschnitt Stadtplan Selig 1822 (Fundstelle: Fenner, Vermessungsamt). 82 Philipp Selig Goldschmidt270 von der Mutter Bela (Bule) Goldschmidt und dem jüngeren Sohn, dem Bankier Samson Selig Goldschmidt,271 die Vollmacht über die Erbmasse des Verstorbenen. Das Anwesen in Hochheim wird unter den drei Geschwistern geteilt, wobei der Besitz Regina Aschrotts mit 9500 Gulden und der der Brüder zusammen mit 36500 Gulden geschätzt wird. Die Liegenschaften insgesamt werden fortan von Aschrott verwaltet und bewirtschaftet. (Luschberger, 1988, S. 198.) In Hochheim kommt am 14. Juni 1826 Sigmund Aschrott zur Welt. Er ist das dritte Kind der Familie Herz Seligman Aschrott. Die beiden älteren Geschwister, die Zwillinge Albert und Jo- hanna, sind 1821 in Kassel geboren. Das vierte Kind der Familie, die Tochter Rachel, erblickt am 5. Januar 1829 in Hochheim das Licht der Welt. Abb.: 6 Mögliches Wohnzimmer der Familie Aschrott in Hochheim – heute Probierstube des Wein- guts Künstler272 Die Zwillinge besuchen 3 Jahre bis 1829 die Hochheimer Elementarschule273 und wechseln dann zu einem Institut in Frankfurt. (Luschberger, 1988, S. 197.) Bei der neuen Schule wird es sich um eine jüdische Privatschule274 handeln. Rachel,275 die in der Familie Rose genannt wird, 270 Philipp Selig verh. am 22.6.1825 mit Johanna Goldschmidt geb. 1.6.1803, Tochter des Elias Goldschmidt und der Emma Herz (Thiele, 1986, S. 323). 1828 wohnt S. Goldschmidt noch in der Paulistr., während er 1844 als Bankier, Inh. d. Firma R.H. Goldschmidt seel. Sohn, in der Köllnischen Str. 305 geführt wird. Die Angaben gelten auch für 1845 (Kasseler Adressbuch). 271 Samson Selig (Banquier) verh. am 23.11.1825 mit Julie Feidel geb. 25.5.1805, Tochter des Banquiers Levy Feidel und Johanna, Wohnung: Untere Königsstr., Inhaber der Fa. R.H. Goldschmidt sel. S. (Thiele, 1986, S. 323). 1828 lebt Samson Selig in der Martinistr. und 1844 wird als Wohnung Untere Königsstr. 954 angegeben. Gleiche Angaben stehen für 1845 (Kasseler Adressbuch). 272 Aufnahme des Verf. 2005. 273 Bei religiösen Unterschieden wie evangelisch oder katholisch entstehen in Schulen, wo Schüler beider Religionen unterrichtet werden, Spannungen. Sind jüdische Schüler in öffentlichen Schulen, kommt es im schulischen Leben, aber auch im Alltag, zu unterschiedlichen Formen antisemitischer Äußerungen. So werfen Mädchen ihren jüdischen Mitschülerinnen, mit denen sie sonst ein gut freundschaftliches Ver- hältnis haben, vor, Jesus ermordet zu haben. In Jungenklassen mit Juden kommt es zu Beschimpfungen seitens der Rüpel der Klasse. Diese Vorkommnisse verletzen die jüdischen Schüler nicht so sehr, denn sie empfinden sich durchaus als andersartig. Viele Dorfjuden nehmen die Beleidigungen als selbstverständ- lich an. Sie versuchen die Beschuldigungen zu vergessen, jedoch entstehen aus Äußerungen auch Rache- versuche der jüdischen Schüler. (Kaplan, 2003, S. 263ff.) 274 Eine nachhaltige Veränderung erhält das jüdische Ausbildungswesen in Deutschland mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht. Der Beginn dieses Gesetzes variiert sehr von 1816 bis 1870. In verschiedenen deutschen Staaten müssen jüdische Kinder christliche Schulen besuchen. In anderen 83 verbringt ein Jahr in der Hochheimer Schule,276 bis die Familie 1836 nach Kassel umzieht. Sig- mund dagegen ist nie Schüler in Hochheim. Er beginnt mit Unterricht in einer Privatschule, ob es sich dabei um ein Institut handelt, an dem schon die Zwillinge unterrichtet werden, ist nicht bekannt. Begabte Jungen jüdischer Familien, besonders in ländlichen Gemeinden, wechseln im Alter zwischen neun und zwölf Jahren an eine weiterführende Schule oder ein Gymnasium. Ver- wandte oder befreundete Familien nehmen die Knaben auf. Ferner besteht die Möglichkeit, die Kinder bei Religionslehrern oder Kantoren unterzubringen. (Kaplan, 2003, S. 142.) Eine solche schulische Laufbahn wird Sigmund auch beschreiten. Privatschulen sind der Ort für die traditionelle jüdische Erziehung, diese findet meist im Haus oder der Wohnung des Lehrers statt, im Cheder,277 einem Zimmer der Lehrerwohnung. Dort werden mehrere Schüler zusammen unterrichtet, die über die unterschiedlichsten Kenntnisse verfügen. Der Lehrer unterrichtet häufig mehrere Gruppen gleichzeitig. Das Cheder-System entspricht der Einklassigen Volksschule.278 Da die Lehrer der Cheder279 auf Schüler angewiesen sind, kommt es vor, dass sie Lernfortschritte ihrer Schüler zu positiv darstellen, was von den Rabbinern und Eltern nach Ende des Schulbesuchs kritisiert wird. Sie stellen oftmals die Lehrer als inkompetent und unterwürfig hin. (Kaplan, 2003, S. 69 ff.) Die bekannteste jüdische Schule in Frankfurt ist das Philantropin,280 gegründet 1804, eine hö- here jüdische Schule, die auch für Mädchen zugänglich ist. Dieser Lehranstalt, getragen von „liberalen religiösen Gedanken“ (Kaplan, 2003, S. 160), stehen eigene Gebäude zur Verfügung. Das zahlreiche Lehrpersonal stützt sich auf gut ausgearbeitete Lehrpläne. Ein Internat ist dieser Schule angeschlossen. Ferner existiert in Frankfurt die Hirsch-Realschule, eine gut geführte orthodoxe Anstalt (Kaplan, 2003, S. 160). Weiterhin bestehen in der Stadt noch andere jüdische Privatschulen. Eine Mitgliedschaft281 in den beiden erstgenannten Schulen ist für Sigmund Aschrott nicht nachzuweisen. Neben dem normalen Unterricht werden häufig Hauslehrer verpflichtet, die meist Sprachen wie Englisch und Französisch sowie zusätzlich Musik, Tanz und Kunsterziehung den Schülern ver- mitteln. Nach dem Umzug der Familie Aschrott nach Kassel, Sigmund ist jetzt 10 Jahre alt, wird die Organisation des Weinguts einer Verwalterfamilie übertragen. Herz Seligman Aschrott ver- bringt den Sommer und Herbst weiterhin oft auf dem Weingut. Die kommunale Verwaltung werden eigene jüdische Anstalten mit weltlicher Ausrichtung gegründet. (Kaplan. 2003, S. 158.) 275 Dr. Rosalie Bacher, geb. Aschrott, wohnhaft in Stuttgart, stirbt am 27. Februar 1907 (Kobling, 1986, S. 86). 276 Besonders empfindlich registrieren jüdische Schüler abfällige Bemerkungen von Lehrern ihnen gegen- über. Solche Lehrer scheinen aber in der Minderheit zu sein. In den Memoiren jüdischer Schüler tauchen antisemitische Kränkungen durch Lehreräußerungen auf. So führt Kaplan u.a. ein Beispiel an einem Gymnasium an. Ein jüdischer Schüler setzt sich am ersten Tag ohne Absicht neben einen anderen Juden. Darauf äußert der Lehrer: „Natürlich die Schwarzköpfe stecken immer zusammen.“ (Kaplan, 2003, S. 265.) 277 Cheder/ Chadarin ist die Bezeichnung für die traditionelle jüdische Schule (Kaplan, 2003, S. 627). 278 Viele jüdische Kinder empfinden das antisemitische Verhalten ihrer Mitschüler als „schlimm und peinlich“, aber es geht nicht so weit, dass das eigene Selbstwertgefühl grundsätzlich gestört wird (Kaplan, 2003, S. 359). 279 In der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts ändert sich die Ausbildung jüdischer Schüler, und statt der traditionellen Religionsschule (Cheder) entwickelt sich ein neuer Schultyp, der allgemeine Fächer in deutscher Sprache anbietet. In diesen Schulen sind auch Mädchen zugelassen; ihre Ausbildung wird jedoch weniger umfangreich als die der Jungen gestaltet. (Kaplan, 2003, S. 154 ff.) 280 In Preußen wechselt jeder vierte jüdische Volksschüler auf eine weiterführende Schule, während das nur bei jedem 20. Protestanten und jedem 38. Katholiken der Fall ist (Kaplan, 2003, S. 164). 281 Die oben genannten jüdischen Schulen verfügen nicht über Namenslisten ehemaliger Schüler (Info: Frau Dr. Heuer, Archiv Bibliographia Judaica, Frankfurt/ M.). 84 Hochheims beschreibt ihn als Forense (eine volkstümliche Bezeichnung für große Weingutbe- sitzer) und nicht als Juden. In der Bevölkerung gilt er als geachteter Bürger (Luschberger, 1988, S. 197). Die Jahre 1832-1844, d.h. vom sechsten bis zum achtzehnten Lebensjahr, verbringt Sigmund meist wegen seiner schulischen und beruflichen Ausbildung282 außerhalb des engen Familienverbandes. Bis 1844 ist er amtlich in Hochheim gemeldet und zieht im gleichen Jahr nach Kassel283 um, wo er bei der Familie284 Wilhelmshöherstr.285 (Fünffensterstr.) 147286 wohnt. Der Vater Herz Seligman Aschrott gibt für dieses Jahr als Berufsbezeichnung Gutsbesitzer und Handelsmann an. Eigentümer des Hauses sind die Erben Richter. Über eine Leinenhandlung287 gibt es im Adressbuch keine Angaben. 6.1 Der Umzug in die Carlsstrasse 1853 scheint der Fabrikant für Leinen und Drell, Gutsbesitzer zu Hochheim a. M., in die Obere Carlsstr. 85288 umgezogen zu sein. Das Haus schließt an das zum Rathaus gehörende Gebäude Nr. 86 an, es folgt das Oberneustädter Rathaus.289 Unter Kategorie Leinenhandlungen existiert H.S. Aschrott en. gros.290. Es ist anzunehmen, dass Sigmund bisher mit in der elterlichen Woh- nung lebt, wenn er sich in Kassel aufhält. Seine Verlagsorganisation erfordert häufig auf Reisen zu sein, um die Heimweber zu kontrollieren und sich um die Pflege der Kundschaft zu bemü- hen. Da sich der Vater über längere Zeit des Jahres auf dem Weingut aufhält, kommt die Fami- lie wenig zusammen. 282 Die Berufsausbildung dauert meist drei Jahre. Während dieser Zeit erhält der Lehrling außer Unter- kunft und Verpflegung meist ein geringes Taschengeld. (Kaplan, 2003, S. 282.) 283 Das Kasseler Adressbuch verzeichnet für 1840 einen Aschrott J.S., Liqueur-Fabrikant wohnhaft Martinistr. 35. Eine Verbindung zu H.S. Aschrott kann nicht hergestellt werden. 284 Das Leben einer jüdischen Familie bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts ist geprägt von der erforder- lichen Mobilität beider Elternteile. Die Familienväter bleiben der Wohnung oft über mehrere Wochen fern, um ihren Geschäften in weitem Umkreis nachzugehen. Auch die Ehefrauen gehen häufig Erwerbs- tätigkeiten nach, die außer Haus liegen. Die Bedingungen für die Kinder heißen schon früh, eine Betä- tigung aufzunehmen. - Im Gegensatz dazu tritt die bürgerliche Familie in der ersten Hälfte des Jahrhun- derts hervor, die der deutschen Familie gleicht. Jetzt lebt man zusammen in einer Kernfamilie, bei der der Vater jeden Abend oder nach wenigen Tagen, wie wahrscheinlich bei der Familie H.S. Aschrott, heimkommt, und die Muter den Haushalt führt und für einen kultivierten Rahmen sorgt. (Kaplan, 2003, S. 140.) 285 In Kassel resultieren bis 1867 die Hausnummern aus der Durchnummerierung auf den jeweiligen Stadtteil bezogen. Danach bezieht sich die Hausnummer nur auf die Straße. (Info: Klaube, Stadtarchiv) 286 In dem Haus wohnen: „Coß, Hof- Wagenfabrikant; Coß, Partikulirer; Aschrott sen. Gutsbesitzer; Herrlich, Wechsel; Hornthal, Kaufmann; Franke, desgl.; v. Bordeleben, Fräulein; Francke und Ponnaz, Kaufl“ (Kasseler Adressbuch 1846). 287 Unter Leinenhandlungen werden angeführt: „Hirsch, Höhmann, Lindenfeld, Schaumlöffel, Schnell“ (Kasseler Adressbuch 1844). 288 In dem Haus wohnen: „Lüken, Joseph, Schreinermeister; Lüken, Jean, desgl.; Feige, Hofrath; Kinkerfues, O-A-G-Rath; Feetz, Obristlieutenant a. D.; Robert, Buchhalter; Aschrott, Fabrikant, Appell, Cath. Näherin; Appell, Landgestütewärter; Pfennig, desgl.; Wachenfeld, Münzportier; Rabe, Schneider- meister; Wiegand, Wwe., Wäscherin; Schinke, Schuhmachermeister“ (Kasseler Adressbuch 1856). 289 Im Oberneustädter Rathaus wohnen: „Hartwig, Oberbürgermeister; Roesler, Stadtsekretär; Lohmann, Pedell“ (Kasseler Adressbuch 1856). 290 Siehe: Kasseler Adressbuch 1853. 85 Abb.: 7 Sigmund Aschrott (1826-1915) Abb.: 8 Wohnung von S. Aschrott und Geschäft H.S. Aschrott – Obere Carlsstraße291 291 Ausschnitt aus: Stadtplan Böckel 1854 (Sr. Königliche Hoheit dem Kurfürsten – Friedrich Wilhelm I.) 86 Am 12.8.1855 heiratet Sigmund Aschrott die sieben Jahre jüngere Anna Herz, die am 4.5.1833 in Braunschweig geboren ist (Thiele, 1986, S. 74). Auf den ersten Blick scheint Sigmund seine Frau auf seinen Reisen kennengelernt zu haben, denn Schwiegervater Hartog Herz hat ein Ju- weliergeschäft in Braunschweig und ist in Hildesheim geboren. Doch bei der Untersuchung weiterer Daten stellt sich heraus, dass Hartog Herz und Henriette Büding am 9.6.1813 in Kassel geheiratet haben; die Braut stammt also aus Kassel.292 Aus diesem Grund ist anzunehmen, dass die Familien sich kennen oder über andere Kasseler Kontakte die Bekanntschaft der späteren Eheleute Sigmund und Anna hergestellt wird. Kaplan beschreibt verschiedene Möglichkeiten für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts, wie Juden ihre Lebenspartner finden. So ist es bei vermögenden Familie häufig Usus, dass die Hochzeit von den Eltern arrangiert wird, wobei die erste Begegnung unter dem „Hochzeitsbal- dachin – auch Trauhimmel genannt“ – stattfindet. (Kaplan, 2003, S.145.) Da unter den Juden in Kassel allgemein häufig Kontaktmöglichkeiten bestehen, sei es bei Synagogenbesuchen, im erweiterten Familienkreis oder bei anderen jüdischen Festlichkeiten, spricht man sicherlich auch mögliche Partnerwahl293 an. Man könnte gleichfalls vermuten, da die Schwiegermutter Aschrotts aus Kassel stammt, dass die zukünftigen Ehepartner294 weitläufig miteinander ver- wandt sind. Der neunundzwanzigjährige Ehemann sorgt beim Start in die Partnerschaft für eine eigene adä- quate Wohnung. Zu diesem Zeitpunkt ist Sigmund schon vermögend.295 Die Unterkunft für das junge Paar liegt in der Oberen Carlsstrasse Nr. 99, ganz in der Nähe der Aschrottschen Han- delsniederlassung, in der die Eltern weiter wohnen. Bei der Durchsicht der Mitbewohner296 in Sigmunds neuem Domizil fällt auf: Hier leben nur sieben Parteien, die alle der gehobenen Ge- sellschaftsschicht angehören. Am 13. Mai 1856 kommt das erste Kind zur Welt, der Sohn Felix.297 Sigmund ist fast dreißig Jahre alt. (Fundstelle: StadtaKS). 292 Henriette Büding ist bei ihrer Hochzeit 21 Jahre alt und 1792 in Kassel geboren. Sie ist die Tochter des Banquiers Moses Joseph Büding und dessen Frau Marianne Gans. (Thiele, 1886, S. 74.) 293 Für Juden ist die Wahrscheinlichkeit viel größer als bei Christen, einen Partner zu heiraten, der nicht aus dem Heimatort stammt (Kaplan, 2003, S. 145). Das liegt an der geringeren Auswahl als Folge niedri- ger Population und der hohen Mobilität, die für die jüdischen Bevölkerung aus Existenzgründen notwendig ist. 294 Kaplan berichtet über eine mögliche Form der Eheschließung unter jüdischen Familien. Die überwiegende Mehrzahl der Ehen wird mit vorher festgelegter Mitgift und anderen finanziellen Absprachen eingegangen. Jedoch kann ebenso persönliche Zuneigung ein wichtiger Bestandteil sein. Aus diesem Grund werden häufiger Vernunft- als Liebesehen geschlossen. Kaplan berichtet auch von einer beginnenden Verlobungsfeier, bei der die Verlobungspartner sich in einem abgetrennten Zimmer erst kennenlernen sollen. Als ein Vetter nachsieht, ob sich beide akzeptieren, sitzen sie bei dessen Eintreten von einander abgewandt und die Braut antwortet: „Den Menschen nehme ich nicht.“ Als die feiernde Gesellschaft davon erfährt, versucht man gemeinsam das Paar mit Zureden und Aufforderungsrufen zu einer Feierteilnahme zu bewegen, was schließlich von Erfolg beschieden ist. Ungeachtet des schwierigen Anfangs soll es zu einer zufriedenen Ehe gekommen sein (Kaplan, 2003, S. 145-147). 295 Es ist möglich, dass die jüdische Familie im Laufe ihres Zusammenlebens, wie bei gleichgelagerten Familien Brauch, jüdische Dienstboten beschäftigt. Dabei handelt es sich meist um Köchinnen, die die koschere Kost zubereiten können und um Dienstmädchen. Die Angestellten leben nicht selten mit in der Familie (Kaplan, 2003, S. 140). 296 Die Bewohner Carlsstr. 99 sind: „Rösing`sche Erben; v. Stockhausen, Hauptmann; v. Stockhausen, Fräulein; Kaysem, Krämer; Coch, Wwe. des Pfarrers; Aschrott, S., Fabrikant; Hüpfner, Stadtkämmerer; Schloß, Opernsänger“ (Kasseler Adressbuch 1856). 297 „Paul Felix Aschrott, geboren am 13. Mai 1856 in Kassel als Sohn eines Fabrikanten, Grundstücksspekulanten und Multimillionärs, 1874 bis 1876 Studium der Rechtswissenschaft in Leipzig, Heidelberg und Berlin, 1877 Referendarexamen in Berlin und Promotion zum Dr. jur. utr. in Leipzig, Referendar in Köpenick und Berlin, 1883 Gerichtsassessor am Amtsgericht Berlin, 1884/85 Studien- 87 6.2 H. S. Aschrott, Leinen- und Drell-Fabrikant, Untere Königstrasse Bis 1860 wird die Leinenhandlung H.S. Aschrott in der Oberen Carlsstr. geführt, doch dann verlagert man den geschäftlichen und privaten Lebensraum aus der Oberneustadt in die Altstadt, untere Königsstrasse 960298. In dem bisherigen Geschäft besteht möglicherweise eine zu geringe Lagerkapazität. Sicher möchte der Fabrikant einen Teil seines Kapitals in Grundbesitz299 investieren und deshalb erwirbt er 1860 ein Haus300, in das er seinen Firmensitz: H.S. Aschrott, Leinen- und Drell-Fabrikant, verlegt. Hier ist für Material, Webstühle und Fertigwaren ausrei- chend Platz. Gleichfalls können die Produkte einfacher als aus der Oberneustadt zu den Bahnhö- fen Ober- und Unterstadt (siehe auch Kap. 8.1) gebracht werden. Das Produktionsvolumen des Verlages scheint sich an einem gleichbleibenden Niveau auszurichten. Für 1861 reicht allein die Garnversorgung durch das Zuchthaus in der Stadtkaserne (siehe auch Kap. 5.3.3) aus, um 20 Meister zu versorgen. Das bedeutet, mehr als 60 Heimweber arbeiten für den Fabrikanten. Die Investition in eine Immobilie kann nur mit Aschrotts vollem Engagement im Leinengewerbe interpretiert werden. Bei rückläufigem Geschäft wäre eine Anlage auf dem Kapitalmarkt sinn- voller. Jedoch scheint die wirtschaftliche Entwicklung der Leinenfabrikation zu diesem Zeit- punkt der proto-industriellen Phase sich weiter fortzusetzen. Die politische Situation zeigt keine Anzeichen einer Wende in der ökonomischen Ausrichtung Kurhessens, damit sind auch ein- schneidende Veränderungen sowohl von staatlicher, wie privater Seite, nicht zu erwarten. In- vestitionen in Grund und Boden, um auf zukünftige Kapitalgeschäfte des Fabrikanten hinzuwei- sen, scheinen unter solchen Vorbedingungen als nicht lohnend. Zwar hat sich auf der einen Seite die Unterbringung in der Altstadt weiter verschlechtert, aber auf der anderen lehnt der Kurfürst Kapitalinvestitionen im erforderlichen Umfang ab. Erst die wirtschaftspolitischen Impulse der preußischen Administration verändern die Investitionsbereitschaft langsam. Von diesem Zeit- punkt ab, scheint Aschrott bereit in einen noch nicht existenten Kasseler Bodenmarkt einzustei- gen. aufenthalt in England. Ein Ergebnis ist u.a. sein Werk über das englische Armenwesen, womit er 1886 in Leipzig zum Dr. phil. promoviert (übersetzt ins Englische und Russische), 1887 Amtsrichter in Lands- berg/Warthe, 1888 Studium in den USA zum dortigen Strafvollzug, anschließend bis 1903 Richter am Amts-, später am Landgericht Berlin. In dieser Zeit maßgebliche Mitwirkung im „Deutschen Verein“, wobei er besonderes Interesse am „englischen System“ und den Grenzgebieten zwischen Armenpolizei und Strafrecht zeigt. 1903 Landgerichtsdirektor in Elberfeld. 1905 Entlassung aus dem Staatsdienst auf Antrag, um sich mehr seiner Tätigkeit für die Internationale Kriminologische Vereinigung und der Ver- mögensverwaltung widmen zu können. Mit Franz von Liszt u.a. ist er maßgeblich an der großen Straf- rechtlichen Reformbewegung beteiligt. Er stirbt am 31. Oktober 1927 in Berlin; einen Teil seines großen Vermögens vermachte er zwei Wohltätigen Stiftungen in seiner Vaterstadt.“ (Sachße, 1983, S. 297.) Diese Laufbahn im preußischen Staatsdienst ist nur möglich, wenn er zum christlichen Glauben konvertiert. 298 Im gleichen Haus wohnen mit Familie Sigmund Aschrott: „ Hostmann, Banquiers; Hochheimer, Opernsänger; Rau v. und zu Holzhausen, Fräulein; Briede Postsekretär; Meyer, Wwe.; Kleinhans, Kriegs- rath; v. Marschall, P.-Lieut.; Dunker, Lieut. a. D.; Cöster, Landmesser.“ (Kasseler Adressbuch 1861.) Es handelt sich um die Grundstücke Untere Königsstr. 86 und teilweise 84 (Info: Liegenschaftsamt Kassel). 299 So schreibt Schmidtmann das Anwesen gehöre Aschrott, als er dessen Kontor aufsucht. (Schmidtmann, 1993, S. 169). 300 Bis zu Aschrotts Einzug scheint der Porzellan-Fabrikant Rojahn in den Räumen zu arbeiten. 88 Abb.: 9 Untere Königsstraße 86: Wohn- und Geschäftshaus301 von Sigmund Aschrott Das neue Domizil in der unteren Königsstr., gleichzeitig Lebensraum der jungen Familie Sig- mund Aschrott, wird im Volksmund wegen seiner Dimensionen als „Elefantenkasten“ bezeich- net. Holtmeyer beschreibt das „Geschäftshaus des Großindustriellen“ u.a. als ein 5-geschossiges Gebäude mit Mittelbalkon302 auf Konsolen und Atlanten über dem Erdgeschoss ruhend, mit einem Eisengitter umgeben.(Holtmeyer, 192, S. 697.) Hinter dieser repräsentativen Front, neben der Synagoge, wird der erfolgreiche Fabrikant gut zwei Jahrzehnte seine Geschäfte führen und sein gesellschaftliches Leben gestalten. In den Geschäftsräumen sind wahrscheinlich mehrere Webstühle aufgestellt. Ferner lagert man hier fertige Leinenprodukte sowie gesponnenes Garn. Beim Abliefern der Waren wird mit den Heimarbeitern über die Qualität des gewebten Produktes sowie veränderte Aufträge gesprochen, am Webstuhl der Webvorgang selbst demonstriert und bauliche Veränderungen der Stühle er- läutert. Die Eltern Sigmunds ziehen in die Nähe und sind jetzt Mieter in der unteren Königstrasse Nr. 979.303 Bei dem Vermieter handelt es sich um die gleiche Familie, bei der das Ehepaar bereits in der Wilhelmshöherstr. 147 wohnte. 301 Quelle: StadtaKS. 302 Hermsdorff berichtet, dass die Frontseite der Baulichkeit durch einen gewaltigen Balkon gestaltet ist, den Karyatiden tragen (Hermsdorff, 1965, Nr. 153). Als Karyatiden bezeichnet man Mädchengestalten. Gegenstück dazu sind die männlichen Atlanten, die Träger des Gebälks sind. Der Atlas stemmt sich der Last entgegen, im Gegensatz dazu stehen die Karyatiden ohne sichtbare Anstrengung aufrecht. Auf dem Kopf tragen sie ein korbähnliches Polster, auf das der Abakus folgt, der wiederum das Gebälk trägt. Die Korenhalle des Erechtheions auf der Akropolis ist das bekannteste Beispiel. (Pevsner, 1976, Stichwort: Karyatide.) 303 Das Haus Nr. 979 bewohnen: „Coß (Besitzer), Hof-Wagenfabrikant; Herrlich, Wechsler; Niemeyer, Hofrath; Aschrott, Banquier; Franke und Ponnaz, Kaufleute“ (Kasseler Adressbuch 1861). Für eine Erklä- rung des Wechsels der Berufsbezeichnung bei H.S. Aschrott könnte angenommen werden, dass der Ver- 89 Abb.: 10 Geschäft H.S. Aschrott Untere Königsstraße 960304 Für Sigmund existieren in dem veränderten Umfeld emotionale Bindungen an seine Großeltern Goldschmidt, die in unmittelbarer Nähe in der Paulistraße ein Haus besessen haben. Zwar hat er den Großvater nie gesehen, aber dessen Begabung für Finanzgeschäfte scheint in Sigmund fort- zuleben. Die angesprochenen Verflechtungen werden durch die in diesem Altstadtteil Kassels wohnenden jüdischen Bürger sowie die unmittelbare Nachbarschaft der Synagoge verstärkt. Als Herz Seligman Aschrott im Frühjahr 1869 erneut das Weingut in Hochheim besucht, stirbt er dort am 19. März. Auf dem jüdischen Friedhof in Flörsheim, in der Nähe seines Hauptwir- kungskreises, wird er begraben. Bei den von Hochheim übermittelten Daten fehlt Herz Selig- mans Geburtsdatum (Thiele, 1986, S. 227). Im gleichen Jahr verlegt die Witwe ihren Wohnsitz in die Kölnische Str. 14.305 Ebenfalls wohnt in dem Haus der Justizrat Dr. Oetker. 1870 erfolgt ein erneuter Umzug der Mutter an den Friedrich-Wilhelms-Platz Nr. 2.306 Regina Aschrott lebt bis zu ihrem Tod am 12. Juli 1886 am Friedrich-Wilhelms-Platz 2.307 Sie wird 88 Jahre alt und überlebt ihren Mann um 17 Jahre. mieter die veränderte Angabe getätigt hat. Die Angabe im Adressbuch 1862 lautet erneut: Gutsbesitzer. 304 Der Kartenausschnitt basiert auf dem Neumannplan 1878. 305 Im gleichen Haus leben: „Kleefeld, Privatmann; Bettke, Diätar; Fey, Buchhandlung; Lepper, Schmied; Aschrott, Wwe.; Handwerk, Maler; Handwerk, Wwe.; Schlegel, Sprachlehrerin; Wambad, Schutzmann; Luccan, Eisenbahnbeamter; Oetker, Dr., Justizrath; Klepper, Kaufmann; Klepper, Fräulein“ (Kasseler Adressbuch, 1870). 306 Die Belegung im Haus am Friedr.- Wilhelmsplatz zeigt folgende Parteien: „Kegel, Photograph; v. Bock-Wülfingen, R-Rath; Kallmeier, Pol.-Commissar; Leichtweiß, Wwe.; Golden, Hofschauspieler; Gerson, Fräulein, Emte, Schutzmann; Aschrott, Wwe., Bischoff, desgl.; Zöllner, desgl., Vogt, Kreisgerichtsrath; Hassenpflug, Rath a.D.; Schlegel, Lehrerin; Hammerschlag, Rentier, Otto, Telegraphen-Inspekt.; Straube, Cigarrenhandl., Wulp, Restaurateur; Zöllner, Clavierlehrerin.“ 307 Folgende Parteien werden für das Haus Nr. 2 aufgeführt: „Zimmer, Hofzahnarzt; Hotop, Wwe.; Schönian, Ober-Reg.-Rath; Kähler, Sec. Lieut.; Franz, Gymnasiallehrer; Kühlwetter, Assistent; Neyen, Wwe.; Schmidt, Biergeschäft; Kallmeier Polizeicommissar; Möller, Wwe.; Vial, Ger.-Referendar; Selig, Wwe.; Leichtweiß, desgl.; Aschrott, desgl.; Wißner, desgl.; v. Dresky, Oberst; Sterner, Kaufmann; Haase, 90 In der unteren Königsstraße werden die vier Töchter geboren, am 28. September 1858 Julie308, am 16. Oktober 1861 Hedwig309, am 15. Februar 1869 Olga310 und am 23. August 1870 Marie311. Alle Kinder treten zum christlichen Glauben über;312 ob das in der frühen Kindheit geschieht, ist nicht bekannt. Durch die Taufe der Kinder zeigt sich die Familie aus der Sicht des Staates als emanzipiert und assimiliert. Nach dem sich stets antisemitisch äußernden Hofpredi- ger Stöcker macht die Taufe jeden Menschen zum Christen. Allerdings erkennt die spätere rassisch stereotype Vorstellung die Veränderung eines Juden zum Nicht-Juden durch die Taufe nicht an (Nipperdey, 1992, S. 296/297). In manchen jüdischen Familien sitzen die Lehrlinge und Angestellten mit am Tisch, weiterhin werden andere Personen, wie durchreisende Gelehrte, Kinder und deren Lehrer oder auch um- herziehende Bettler, mitverköstigt. Bei einer solchen Tischzusammensetzung spricht man vom „Wandeltisch“, wie bereits erwähnt. Ob das Haus Aschrott eine solche Tischmahlzeit anbietet, ist nicht nachzuweisen. Das Jahr 1870 kann als ein Schicksalsjahr von Sigmund Aschrott bezeichnet werden, denn er wird zu diesem Zeitpunkt von seinen umfangreichen Armeelieferungen durch die Armeeinten- dantur entbunden. Dieser Vorgang beschäftigt ihn sein weiteres Leben bis zu seinem Tod und ist in den folgenden Ausführungen unter verschiedenen Fragestellungen erneut aufzugreifen. Im Jahr 1881 endet nach Angaben von Jacob, wie bereits angesprochen, das Engagement Aschrotts im Leinenbereich.313 Das bedeutet, seine Aktivitäten in diesem Wirtschaftssektor sind fast ganz erloschen. Sein Verlagssystem wird schon Ende der 60er Jahre nicht weiter ausgebaut oder auf der gleichen Stufe gehalten. Denn sein erwirtschaftetes Kapital kann er in anderen Wirtschaftsbereichen gewinnbringender anlegen. 1881 ist Sigmund 55 Jahre alt, und er vollzieht den Schritt der Auflösung seiner organisierten Heimarbeit auch wohnlich. Lagerräume und Webstühle für seinen Leinenhandel benötigt er nicht mehr, und damit ist für ihn das Haus in der unteren Königsstrasse funktionslos. Seine neuen Geschäftsräume, zwar noch unter dem Titel als Leinenfabrikant und Großgrundbesitzer geführt, befinden sich dann in der Museumsstr. 10. Der Königliche Regierungs-Präsident von Brauchitsch314 schreibt (Schreiben vom 21. Juli 1879) in seiner Beurteilung über Aschrott zu einer möglichen Ernennung zum Kommerzienrat an den Kgl. Ober-Präsidenten Freiherrn von Ende315, dass es für ihn schwer sei zu beurteilen, „ob sich die Ansichten über den Fabrikanten Aschrott in hiesiger Stadt in letzter Zeit wesentlich geändert haben und ob der Verruf bezüglich Thatsachen von ihm angeführt werden könnten. Es ist nicht leicht bei so großer Zurückhaltung und von sehr vorsichtigen Auftreten, dessen sich p. Aschrott den letzten Jahren betheiligt ... [hat], ein bestimmtes Urtheil über die angeregte Frage zu gewinnen.“316 Wirtschafterin; Augustin`s Musik-u. Instrum.-Hndlg., Vertreter Kuprion; Heller, Kaufmann; Fischer, Kurzwaarenhandlung; Spangenthal, Fabrikant“ (Kasseler Adressbuch, 1887). 308 Julie Aschrott heiratet Victor v. Boschan, Wien. Im April 1940 lebt Julie in Luzern (Schweiz) (HHSt AW, 519/3 Bd. I.). 309 Hedwig heiratet Alphonse Strauss aus London (Best. s.o.). 310 Olga heiratet den Fabrikanten Dr. Alfred Mengers aus Berlin. Sie wird in der Nazizeit nach Theresien- stadt verschleppt, kehrt jedoch nach Berlin zurück, worauf sie bald darauf stirbt (Baetz, 1951, S. 19). 311 Marie heiratet Artur v. Boschan aus Wien ( Baetz, 1951, S. 19). 312 Auf der Bescheinigung des Sterbefalles Sigmund Aschrott, durch das Kgl. Standesamt Berlin Nr. III ist vermerkt: „5 Kinder (getauft)“ (Archiv des Jüdischen Friedhofs Weißensee). 313 Als die Webstühle aus den Häusern in Eschenstruth verschwinden, haben die verschiedenen Generationen unterschiedliche Auffassungen dazu. Die Jungen sind über den Wegfall ständiger häuslicher Arbeit, die von ihnen weitgehend als Fron empfunden wird, froh. Für die Alten geht ein Werkzeug verloren, mit dem sie ein Leben lang gearbeitet und sich von dieser Arbeit ernährt haben. (Jacob, 1927, S. 41.) 314 Heinrich v. Brauchitsch geb. 1831, gest. 1916, ab 1876 Reg. Vize Präsident; 1883 Kgl. Reg. Präsid., 1884 K. R. P. in Erfurt (Klein, 1988, S. 23 ff.). 315 Freiherr v. Ende thür. sächs. Adel, geb. 1815 in Waldau bei Kassel, gest. 1889; Kgl. Ober- Präsid. 1876-1881; i. R. wegen Gesundheitszustand (Klein, 1988, S. 23 ff.). 316 G St A Berlin Hpt. I Rep. 120 Cb V Fach A Nr. 16 zu Nr 2376. 91 Das Haus in der unteren Königsstr. scheint der Unternehmer erst an den Mehlhändler en. gros. Nikolaus Herder317 verkauft zu haben, was dieser Ostern d. J. bezieht. Im folgenden Jahr gibt das Adressbuch die Deutsche Lebensversicherungs-Gesellschaft318 zu Potsdam und Köln als Eigentümer an. Vermutlich scheint der Vorbesitzer nicht über die erforderlichen Finanzen zu verfügen, so dass Aschrott von seiner neuen Berliner Geschäftszentrale die Immobilie an eine zahlungsfähige Gesellschaft verkauft. 6.3 Wechsel des privaten Lebensraums beim Fabrikanten Sigmund Aschrott In dem entstehenden Stadtquartier mietet er eine neue Wohnung in der Annastraße. Das Areal entspricht schon punktuell seiner Vorstellung von großstädtischer Urbanität. Mit dem Woh- nungswechsel in das sich entwickelnde Quartier für gehobene Bevölkerungsschichten segre- giert Aschrott von der mit Arbeitern überbelegten Altstadt. Dies hat er gleichfalls in der Han- delsübersicht der Stadt vollzogen. Dort nennt er sich Fabrikant und Großgrundbesitzer und nicht mehr Leinenhändler. Der Hauseigentümer des Neubaus Annastr. 18319 ist der Bauunternehmer Scholz. Auf die Bedeutung einiger Straßennamen des neuen Viertels wird in einem anderen Zusammenhang eingegangen, doch unter dem Gesichtspunkt eigener Inszenierung ist anzuneh- men, dass der Name der Straße dem Vornamen der Ehefrau, Anna Aschrott geb. Herz, ent- spricht und ihr bzw. der gesamten Familie eine überhöhte Identität verleiht und sie so von anderen Familien der Straße oder gar des Viertels abhebt. Verlässt man das Haus in der Anna Str. Nr. 18 und geht nur eine Querstraße weiter, kann sich die Familie in dem von Aschrott320 selbst unter dem Namen Bismarckpark angelegten, auf dem vorliegenden Plan sowie auch in anderen Fluchtlinienplänen als „Aschrott Park“ bezeichneten, grünen Areal ergehen. Durch den Wohnungswechsel ist die Familie nicht mehr dem sich ständig vergrößernden Be- völkerungsdruck in der Altstadt und den aus der industriellen Produktion der Firma Henschel resultierenden Wohnbeeinträchtigungen ausgesetzt. Summa berichtet über den Bielefelder Oberinspektor Liebers, der im Auftrag des Vereins „Arbeiterheim“ unter Leitung des Pastors von Bodelschwingh in deutschen Städten Wohnungsfragen untersucht. Liebers` Artikel in der Beilage zur Zeitung „Volk“ über seine Erfahrungen greift die Casseler Allgemeine Zeitung vom 9. August 1899 mit dem Titel auf: „Gibt es in Cassel eine Wohnungsnot?“ Darin verdeutlicht der Verfasser, was er zusammen mit Liebers in Kassel gesehen hat. Er umschreibt seine Ein- drücke über Wohnungszustände der Altstadt, die er als höchst ungesunde Verhältnisse in ein- zelnen Stadtteilen vorgefunden habe und es als angenehm empfinde, wieder in die Oberneustadt und „die Königsstrasse mit ihren stattlichen Häusern“ zurückkehren zu können. Die Stadtver- waltung solle sich dringend der notwendigen Sache annehmen. Liebers stellt in seinem Bericht heraus, dass jede Fläche zu Wohnzwecken genutzt werde, selbst feuchte Keller, rauchige Dach- geschosse und Hinterhäuser mit wenig Licht und geringer Lufterneuerung. Die Ärmsten der Stadtbewohner würden in Räumen Quartier ergreifen, die nicht zum Wohnen geeignet seien und nur ein menschenunwürdiges Dasein erlauben. Die Untersuchung Liebers` führt zum Eingreifen der Behörde, die 97 Häuser kontrolliert und bei mehreren Räumungs- und Benutzungsverbote verlangt. Der Kasseler Magistrat lehnt es in einer Darstellung an den Regierungspräsidenten ab, die Zustände als Wohnungsnot zu bezeich- 317 Kasseler Adressbuch 1887. 318 Kasseler Adressbuch 1888. 319 Neben dem Eigentümer Scholz und dem Fabrikanten Aschrott wohnen dort Eckhardt, Wwe.; v. Kietzel, Wwe.; Wiederhold, Wwe.; Kleefeld Gebrüder; Lester, Postschaffner; Loos, Sekretär; Spohr, Werkmeister; Weidemann, Assessor; Wichard, Diätar; Giese, Tagelöhner; Giese, Bahnhofarbeiter; Dickhaut, Maschinenmeister; Wiederhold, Büreaugehülfe (Kasseler Adressbuch 1882). Heutige Hausnummer des wieder aufgebauten Hauses ist Annastr. 10/ Eckhaus Parkstr. (Info: Fenner, Vermessungsamt). 320 Kasseler Post vom 13.6.1926, Stadta. KS. 92 nen. In der Ausführung wird über Missstände in Straßen der älteren Stadtteile gesprochen, mil- dert aber gleichzeitig damit ab, dass in vielen großen Städten gleiche Verhältnisse vorkämen. Weiter wird angemerkt, dass durch das Fehlen eines „Zusammenlegungs- und Regulierungsge- setzes“ es der Stadtverwaltung nicht möglich sei, Wohnungsviertel, die dem damaligen Anfor- derungsprofil nicht entsprächen, abzureißen. Dies treffe im Besonderen für Hinterhäuser zu. Deren Abbruch sowie Neubauten könnten die Situation wesentlich entschärfen. (Summa, 1978, S. 150/ 151.) In dem entstehenden Hohenzollernviertel findet Aschrott den symbolischen Raumbezug (Jüngst, 1988, S. 70), den er als Anerkennung und indirekte Hervorhebung seiner Persönlichkeit benö- tigt. Der Großgrundbesitzer, Planer und Gestalter Sigmund Aschrott erfährt nun ständig auf der einen Seite im Quartier zeitgemäßes großstädtisches Wohnen in seiner szenisch-räumlichen Darstellung. Zum anderen wird für das Großstadtviertel eine schleppende Entwicklung, abgese- hen von verschiedenen fertigen Baublöcken, erkennbar. Territorialität, darunter versteht Jordan den Wunsch einer Person oder Gruppe auf Eingrenzung eines Gebietes, gesteht den Bewohnern bestimmte Regeln zu, die Menschen als Zughörigkeit, Geborgenheit und Sicherheit empfinden. Dieser Zustand stellt sich als ein Bestandteil der eige- nen Identität dar (Jordan; in: Sutjukow, 2002, S. 9). Die präsentativ-symbolischen Formen eines Stadtviertels bestimmen Ausdrucksformen inneren Erlebens der Einwohner mit und rufen als sozial-psychische Indikatoren intra- und interpsychische Resonanzen hervor, die wiederum die Individuen in gesellschaftliche Prozesse einbinden (Sutjukow, 2002, S. 9). 93 Abb.: 11 Anna Straße und Aschrott Park321 321 Der Auszug ist einem Antrag zur Fertigstellung der Victoriastraße entnommen. Dieser enthält den Vermerk: „Cassel, den 9. März 1892 abgeschickt – Stadtbauamt Noel“ (St AM Best. 175, Nr. 539, F 2048). Als Planvorlage dient der Neumannplan von 1877/78. 94 Abb.: 12 Hohenzollernstr. / Ecke Annastr.322 6.4 Reichshauptstadt als neuer Lebensmittelpunkt Im Jahr 1886 endet der Wohnungsaufenthalt der Familien Aschrott in Kassel. Mit dem Tod der Mutter am 12. Juli des Jahres ist für Sigmund der letzte familiäre Halt in der Stadt weggefallen. Der Wohnsitzwechsel ist sicherlich eine längst beschlossene Angelegenheit. Das wirtschaftliche Hauptgeschehen im Deutschen Reich spielt sich seit der Reichsgründung in Berlin ab und Sigmund Aschrott hat dort bereits einen Teil seiner Geschäfte abgewickelt. Schon seit 1821 ist in der Hauptstadt ein „Bankhaus“ oder eine Wechselstube unter dem Namen des Vaters Herz Seligman registriert (Knobling, 1986, S. 32). Bei Verlegung des Lebensmittelpunktes in die Reichshauptstadt ist Aschrott 61 Jahre alt und vom Leinenverlagsgründer längst zu einem Großfinanzier aufgestiegen. Sechs Jahre lebte die Familie bis 1887 in dem von Sigmund wesentlich beeinflussten neuen Viertel in der Annastr.323 Aschrotts wirtschaftliche Aktivitäten laufen in Kassel in der Museumsstr. 10324 zusammen, die in unmittelbarer Nähe zum neuen Bahnhof liegt. Er hofft, dass die Straße in Bezug auf wirt- schaftliche Verwaltung sich zum Portal einer aufsteigenden Großstadt entwickelt und wie in anderen Städten eine Geschäftstätigkeit herausbildet, so dass Bahnreisende gleich auf das Im- mobilienbüro aufmerksam werden, um mit dieser Assoziation einen Wohnungswunsch in der Residenzstadt zu verbinden. 322 Stadtmuseum, In. PO 03/803.103. 323 1887 sind in Annastr. 18 gemeldet: Scholz, Baumeister; Ernst, desgl./ Aschrott, Fabrikant/ Wiederhold, Wwe./ v. Obstfelder, Hauptmann/ Lester, Postschaffner/ Loos, Sekretär/ Spohr, Werkmeister/ Weidemann, Intend.-Rath/ Wiechard, Diätar/ Dickhaut, kgl. Maschineninspekt./ Wiederhold, Büreaugehülfe/ Neuling, Schneider/ v. Derschan, Hauptmann (Kasseler Adressbuch, 1887.) 324 Museums Str. 10 (Kurfürstenstr. 10) wird belegt von: Wertheim, J., jun. Wollhdlg./ Losch, Wwe./ Mosse, Wwe./ Ebel, Eisenbahnsekretär/ Harkort, Fabrikant/ Ernst, Expeditionsvorsteher/ Israel, Wwe./ Aschrott, S./ Comtoir/ Salzmann, Kutscher/ Baumgard, Geschwister. (Kasseler Adressbuch, 1887.) 95 7 Kapitalinvestitionen am Bodenmarkt Im Deutschen Reich bestimmt staatliches Eigentum als eine Folge der früheren Kleinstaaterei, in der Staat und Wirtschaft in irgendeiner Form miteinander verflochten sind, die Industrie. Bei der Reichsgründung werden diese Einrichtungen übernommen und zu neuem, größerem Staatseigentum ausgebaut. Als Beispiel können die Verstaatlichung der Eisenbahn und Teile der Montanindustrie dienen (Dahrendorf, 1965, S. 51). Da das kaiserliche Deutschland später in- dustrialisiert wird als England, baut die deutsche Wirtschaft auf einem anderen Entwicklungs- stand auf und überspringt frühindustrielle Einbahnstraßen bei der Produktion und Bildung von Kapitalgesellschaften. Somit erreicht die Produktion auf großer Breite schnell hohe Produktivi- tät, die bei früh industrialisierten Staaten langsam erarbeitet wird. Der „code civil“ mit dem Grundsatz der Gleichheit definiert das Eigentum als ein Recht, sich an ihm zu erfreuen und davon mit der Einschränkung Gebrauch zu machen, dass die Aktivitäten sich im gesetzlichen Rahmen bewegen. Die von Enzyklopädisten aufgestellte Gleichung Ei- gentum gleich Freiheit (Delfante, 1999, S. 156) bedeutet, die Eigentumsakkumulierung ist voll- zogen und die Freiheit des Individuums in dem „code civil“ garantiert. Diese Freiheit wird zu verstärktem Vermögensinteresse führen und erstmals die Kapitalbesitzer von denen unterschei- den, die lediglich über ihre Arbeitskraft verfügen. Bei der Darstellung der Zeitepoche unter dem Aspekt der Bauentwicklung beginnen sich zwei verschiedene Systeme von Stadterweiterung zu manifestieren, die von ihrem Ursprung her der gegensätzlichen Verfügbarkeit von städtischem Boden entsprechen. In der überkommenen Ordnung werden der Stadtbau und die Stadtplanung von öffentlichen Trägern bestimmt. Das ändert sich dahingehend, dass private Initiativen als Gegenpart auftreten. Diese entwickeln für sich eine neue „private“ Bauordnung, bei der die Träger „öffentliche“ Rechte beanspruchen, mit denen sie ihre Stadtbauprojekte umsetzen können. Der Arbeitsprozess nimmt den Menschen voll in Anspruch und so scheint aus heutiger Sicht die Hauptaufgabe der industriellen Stadt in der Reproduktion der Arbeitskraft für die schaffende Bevölkerung zu liegen. Das bedeutet, Bedingungen zu erzeugen, in denen Wohnen einem regenerativen und hygienischen Standard entspricht. Die vorherrschende Stadtplanung des ausgehenden 19. Jahrhunderts befasst sich dagegen nicht mit der Erneuerung der Arbeitskraft breiter Bevölkerungsschichten, sondern vielmehr mit Plänen und Baubestimmungen (Rodriguez-Lores, 1980, S. 30). Der Grund hierzu liegt in der Eigenschaft des kapitalistischen Städtebaus, wo, wie in einem Wirtschaftsunternehmen, ein hoher Mehrwert zu erzeugen ist. Grundsätzliches Ziel industrieller Fertigung besteht in der Erhöhung des Produktivitätsfaktors. Diese kapitalistische Logik, übertragen auf städtischen Boden, heißt, mit der Standortwahl und der Stärkung der Infrastruktur den Bodenwert oder die Bodenrente zu steigern. Will man die Entstehungsphase des „modernen Städtebaues“ beleuchten, muss man sich mit den Produktionsmechanismen (Fehl, 1980, S. 19) auseinandersetzen, um so seine städtebauliche Syntax zu decodieren. Auf diese Weise ist es möglich, über verschiedene städtebauliche Entwicklungsstufen im 19. Jahrhundert einen Bogen zu spannen. Um den Gesichtspunkt der privaten Initiative wieder aufzugreifen: Es entwickeln sich zwischen den verschiedenen Gruppen von ursprünglichen Landbesitzern, Terraingesellschaften, Eisen- bahn- und Kanalgesellschaften sowie Bauproduzenten Stadtviertelplanungen, die von gewerbs- mäßigen oder spekulativen Antrieben getragen werden. Bei den veränderten Zuständigkeiten für städtisches Bauen wird vordergründig davon ausge- gangen, dass durch den Autoritätsverlust staatlicher und städtischer Bauverantwortung eine planerische Verarmung325 eintritt, die während des Entstehungsprozesses in einem chaotischen 325 Die Städte entwickeln sich zu einer Größe, die den Rahmen überkommener Kunstformen überall sprengen. „Je größer die Stadt, desto größer und breiter werden Plätze und Straßen, desto höher und um- fangreicher alle Gebäude, bis deren Dimensionen mit den zahlreichen Stockwerken und unabsehbaren 96 Stadtquartierbild endet. Alte städtebauliche und planerische Ordnung geht in der „Manchester- Epoche“ des deutschen Städtebaus unter, und die Entwicklung ist geprägt von konkurrierenden privaten Unternehmen. Folglich kommt es in der ersten Phase der baulichen Umsetzung häufig zu negativen Bewertungen des Bauprodukts. In der Folge wird einer Planung von Stadtquartie- ren rationales und geregeltes Handeln zugrundegelegt, das in seinen Eigenschaften der „ge- gründeten Stadt“ mit „geraden Straßen“ entspricht. Die als unregelmäßig zu bezeichnende Stadtanlage wird dagegen als „gewachsene Stadt“ definiert, die einem irrationalen und unverständlichen Prozess mit unkoordinierten Handlungen unterliegt. Kennzeichen dieser Städte sind die „krummen Straßen“. (Rodriguez-Lores, 1983, S. 106.) Eine Reduktion des komplexen Städtebauvorgangs auf Fragen, die ausschließlich Kunstaspek- ten oder Lösungen von Verkehrsproblemen nachgehen, tragen zu einer Einseitigkeit der Prob- lemstellung bei und werden einem wissenschaftlichen Anspruch der Disziplin nach Objektivität und Rationalität nicht gerecht. Nur die Betrachtung der Bauphasen mit dem Werkzeug empiri- scher Erfassung verdeutlicht die Grenzen der Planung, die durch existierende Besitzverhältnisse, wie auch die vorliegende Arbeit zeigt, einem dauerhaften Zwang unterworfen ist (Rodriguez- Lores, 1983, S. 131). Unter dem Gesichtspunkt der ökonomischen Bebauung neuer städtischer Areale treten Boden- aufteilung, Baublockanordnung sowie Baukörpertypisierung in den Vordergrund. Dagegen be- schränkt sich die Institution Stadt auf Fragen der Straßenplanung, Infrastruktureinrichtungen und Fragen der städtischen Sicherheit (Fehl, 1983, S.16). Steigende Grundstückspreise bestimmen die urbane Entwicklung entscheidend mit. Da die bis- her vorhandene Nachfrage nach Grund und Boden gering ist, besitzen Grundstücke unbedeuten- den Marktwert. Die Grundstücksrendite als neue Form der Kapitalvermehrung beruht auf zwei Fundamenten. Erstens die absolute Rendite, sie wird durch die Entwicklung der Stadt, d.h. ihren Flächenbedarf für Wohnungen und Industrieanlagen, vorgegeben. Zweitens die variable Ren- dite, sie gründet auf der Form des Angebots. Als bestimmende Faktoren dominieren hier Lage und natürliche Bedingungen der Grundstücksflächen (Delfante, 1999, S. 158). Den Konzentrationsprozessen auf der einen Seite stehen Abgrenzungsvorgänge auf der anderen gegenüber. Sie durchbrechen den bisherigen städtischen Entwicklungsprozess und konturieren neue Sektoren, die ein Produkt der Spezialisierung der Arbeit und Trennung von Wohnen und Arbeit darstellen. Die Bodenrendite wird stets ihre Bedeutung behalten. Es treten aber auch in der weiteren Entwicklung stärkere Unterschiede bei Tätigkeiten und Funktionen der Bevölke- rung auf, die wiederum den Abstand der sozialen Schichtung verstärken. Die auf dieser Schichtung basierende Unterordnung von Gesellschaftsteilen wird zum ordnenden Faktor im urbanen Konstrukt. In verschiedenen Städten ergeben sich so Charakteristika, die bestimmter Normierung unterliegen. Auf die den Stadtbauvorgang begleitenden Faktoren wird im Folgenden näher eingegangen. 7.1 Terrain- und Baugesellschaften Ein Zeitzeuge im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, der Berliner Architekt und Stadtplaner August Orth,326 kann sich eine damalige Stadtentwicklung ohne Einsatz von privatem Kapital nicht vorstellen und beschreibt die Bau- und Bodenspekulation im städtischen Umfeld als eine Fensterreihen kaum mehr künstlerisch gegliedert werden können. Alles dehnt sich ins Maßlose und die ewige Wiederholung derselben Motive allein schon stumpft die Empfänglichkeit ab,...“ (Sitte, 1909, S. 117). 326 Im Zusammenhang mit dem Entwurf zu einer polytechnischen Hochschule werden die Eigentümer des in Frage kommenden Terrains als Orth und Konsorten bezeichnet. Daraus lässt sich schließen, dass der Architekt wahrscheinlich selbst mit Spekulationen zu seinen eigenen Planungen in Verbindung zu bringen ist. (Bodenschatz, 1983, S. 502.) 97 förderungswürdige Wohnungsbauentwicklung, indem er sagt, „der natürlichen Speculation [sind; Anm. d. Verf.] die Hindernisse aus dem Weg zu räumen.“ (Orth, in: Bodenschatz, 1983, S. 500.) In Berlin hat sich die Wohnungsnot im Vergleich zu anderen europäischen Großstädten wie Wien, Paris und London wesentlich verschlechtert. Gleichzeitig wird der Wohnungsmarkt von ständig zunehmenden Terrain- und Baugesellschaften beherrscht, die wiederum eng mit Groß- banken verflochten sind. (Bodenschatz, 1983, S. 499.) Somit bildet sich hier, anders als in Eng- land, eine Interessensvertretung aus modernem Bürgertum und preußischem Adel heraus, die Spekulation327 mit Boden betreibt. Der Berliner Statistiker Engel stellt für seine Stadt schon 1872 fest, dass sich die gesamte Fläche in einem Umkreis von 2 Meilen im Besitz von „Bau- stellen – Speculanten“328 befindet (Bodenschatz, 1983, S. 500). In den Außenbezirken von Frankfurt/M. treten neben „kleinteiligen Produzenten der Stadt“ auch große Unternehmen im spekulativen Bodengeschäft auf, wie die Frankfurter Baubank, die Fa. Oppenheim und Weill, das erste größere Grundstücksunternehmen, „die Gütergesellschaft für Bauzwecke“, die internationale Bau- und Eisenbahngesellschaft sowie der Berliner Großin- vestor Quistorp; sie betreiben Geschäfte mit Frankfurter Bauflächen. Die bedeutendsten Frank- furter Privatbankiers Freiherr v. Rothschild, Freiherr v. Bethmann und der Rentier Tornow werden zu Großgrundbesitzern, indem sie ausgedehnte Landflächen außerhalb der Frankfurter Gemarkung erwerben (Schulze-Kleeßen, 1985, S. 330-378). Bodengesellschaften wie die hier für die Berliner und Frankfurter Bauentwicklung angeführten Terraingesellschaften existieren nachweislich auch in den meisten anderen deutschen Städten und sind beispielsweise für Aachen, Bonn, Schwerin, Mainz u.a. untersucht. Die Investoren für Stadt- und stadtnahe Flächen hoffen die Bodenrente durch Flächenbesitzmo- nopole bestimmen zu können. Ihre Erwartung ist jedoch u.a. gekoppelt an Infrastrukturinvesti- tionen, die die Vermarktung des Areals erhöhen. Weiter kann hervorgehoben werden, dass nicht allein die Ausrichtung der Fläche auf die Stadt entscheidend ist, sondern auch die Einbindung in ein überörtliches Verkehrssystem sowie Erschließungsmaßnahmen im Quartier selbst in Form von Straßen, Kanalisation, Grünanlagen u.a.. Dies alles bewirkt eine Wertsteigerung des Bo- dens. (Bodenschatz, 1983, S. 83.) Bei planmäßigem Erzeugen solcher Lagen kann leicht ein Überangebot an Bauflächen auftreten, so dass die erwarteten Preise nicht zu erzielen sind. Unter diesen Gesichtspunkten erscheint nicht allein das Privatkapital als ausschlaggebend, sondern die private Investition steht in Abhängigkeit von politischen Entscheidungen und von Investitionen seitens des Staates oder der Kommunen. Die Aufgabe der Bodenproduktion für die Ausbreitung der Stadt ist zurückzuführen auf die wirtschaftliche Dynamik des städtischen Bodens. Die Produktion der Stadt zeigt sich in zwei Entwicklungsschritten: Das sind zum einen der Aufschluss der Baustelle oder auch die Bereit- stellung des Bodens für Bauzwecke. Dabei sind flankierende Maßnahmen wie Straßenbau, Er- richtung öffentlicher Anlagen in diesem Zusammenhang nicht zu berücksichtigen. Die Errich- tung des Baukörpers beginnt mit Planung und Investition in die Bodenverteilung und endet mit der Veräußerung und Kapitalbildung der Bodenparzelle. Auf der anderen Seite kann das Endprodukt, das Gebäude, als Wertmaßstab betrachtet werden. (Rodriguez-Lores, 1983, S. 110.) Der Boom auf städtisches Grundeigentum verläuft mit wirtschaftlichen Zyklen parallel. Er be- ginnt in Deutschland in den 70ern, in Kassel bereits nach Annexion Kurhessens durch Preußen 327 In den 60er Jahren beginnt die Spekulation mit Grund und Boden, um ab 1871 umfassend aufzutreten. Diese Aktionen dehnen sich auch auf die Vororte aus (Lubowitzki, 1990, S. 21). 328 1873 werden die meisten Berliner Terrainunternehmen infolge des Banken- und Börsenkrachs und der einsetzenden wirtschaftlichen Depression insolvent; so steht eine Verwertung des Terrains nicht mehr in Aussicht (Radicke, 1983, S. 354). 98 (1866), allerdings nur schleppend in der Hoffnung, dass sich in einem langsam stabilisierenden Wirtschaftssystem auch hier ein privater Baumarkt entwickelt. Nach der beendeten Inanspruchnahme französischer Reparationsgelder weisen die wirtschaftli- chen Vorzeichen auf Abschwung. Deshalb muss das Entstehen des preußischen Fluchtlinienge- setzes von 1875 mehr unter dem Gesichtspunkt finanzieller Schwierigkeiten der Städte und Gemeinden gesehen werden, die sich mit überzogenen Vorstellungen auf Stadterweiterungen eingelassen haben. Weit weniger dient das Fluchtliniengesetz den an Bedeutung gewinnenden Kommunen dazu, Unternehmergeist oder Gedanken zu fortschrittlichem Städtebau zu ent- wickeln (Sutcliffe, 1983, S. 47). Es gilt zu betonen, dass die städtische Bodenrente im eigentlichen Sinne keine Rente darstellt, sondern es sich vielmehr um die Verzinsung und Amortisation von Kapitalinvestitionen in Grund und Boden handelt. Die Bodenfrage, bezogen auf das städtische Umfeld, wird häufig nur mit der Wohnungsfrage329 verknüpft. Es wird dabei lediglich der Wert der Rente betrachtet. Die damit verbundenen Entstehungsprobleme, die zum Rentenertrag führen, bleiben jedoch ausge- blendet. Bei Untersuchungen zu dieser Fragestellung werden öffentliche und private Interessen häufig gegenübergestellt und als bestehende Gegensätzlichkeiten betrachtet, die nicht aufeinander an- gewiesen sind. Unter dem Blickwinkel von Interessen-, Macht- und Ausbeutungskonflikten können diese Bodenfragen in einem komplexeren Sichtfeld erscheinen. Die Betrachtung eines Vorganges nur unter einzelnen Aspekten wie z.B. dem städtebaulichen, dem volkswirtschaftli- chen oder dem kunsthistorischen führen zu einer Verabsolutierung und Isolierung von Aussa- gen, weil bei derartigen Feststellungen die Einbeziehung in ein umfassendes Bild nicht erfolgt ist. (Bodenschatz, 1983, S. 83/84.) 7.2 Bodenrente als Spekulationsobjekt Das Verlagsgeschäft im Leinenhandel erzeugt wie dargelegt beträchtliche Gewinne. Aschrott als kapitalistischer Verleger überlegt, auf welchen Sektoren des sich entwickelnden Marktes er mit seinem erwirtschafteten Mehrwert den größtmöglichen Gewinn erzielen kann. Die zu schnellem Vermögen gelangten Industriellen der protoindustriellen und nachfolgenden Phase legen ihren Gewinn meist im Industriesektor an, der als Motor des an Fahrt gewinnenden kapitalistischen Systems große Wachstumsraten erwarten lässt. Chancen für Kapitalakkumula- tion biete besonders die Eisenbahn,330 die die Voraussetzung für die Ausbildung zentraler In- dustriestandorte schafft (Sutcliffe , 1983, S. 35), wie in anderem Zusammenhang erläutert. 329 Die Wohnungsverteilung als sozialräumliche Segregation ist kein Vorgang, der aus dem ökonomischen Wettbewerb entsteht, sondern sie wird durch die Ausübung von Machtinteressen bedingt, die sich als Spiegel der gesellschaftlichen Hierarchie offenbaren (Jüngst, 1988, S. 19). 330 Wegner (Stadtmuseum Kassel) vermutet, Aschrott habe sich bei der rumänischen Eisenbahn mit Investitionen engagiert [Gespräch K. H. Wegner mit Verf.] - Strousberg bekommt die Eisenbahnkon- zession für Rumänien; er und sein Konsortium legen einen billigeren Kostenvoranschlag vor. In Rumänien herrscht die Meinung vor, Ausländer würden ihre Eisenbahnkonzession nutzen, um sich am rumänischen Staat zu bereichern. Alle möglichen Schwierigkeiten, ausgelöst durch die ablehnende Hal- tung der Bevölkerung, treten u.a. beim Landankauf für die Strecke auf. Dazu sind hohe Zinszahlungen fällig, mit denen man ursprünglich Kleinanleger locken wollte. Als der Kurs der Obligationen fällt und sich Strousberg in riskante Geldanlagen verfängt, kommt es Anfang 1871 zum finanziellen Großkrach, bei dem der „Eisenbahnkönig“ scheitert. Die Bleichröder-Hansemann-Gesellschaft kommt für zu zahlende Kosten auf. Die internationale Judenschaft sammelt Geld, um die rumänische Bahn gleichfalls mit abzustützen und ihren Glaubensbrüdern zu helfen, da die Rumänen stark antisemitisch eingestellt sind. Bleichröder versucht für die preußischen Junker das Kapital zu retten und erhält für seinen Einsatz die Nobilitierung. (Stern, 1980, S. 440-455.) – Es besteht die Möglichkeit, dass auch Aschrott mit zu den Geldgebern gehört. Recherchen in den Beständen des Geheimen Preußischen Staatsarchivs in Berlin geben darüber keinen Aufschluss. 99 Abb.: 13 Karikatur Arbeitsplatz des Unternehmers Sigmund Aschrott angefertigt anlässlich seines 80zigsten Geburtstags 1906.331 Weiter verspricht der Rohstoffmarkt332 überdurchschnittliche finanzielle Gewinne, denn der Aufbau von Industrieanlagen, Entwicklung von Maschinen oder der Eisenbahnkomplex verlan- gen gewaltige Mengen an Roheisen. Die vorhandenen Kohlereserven, die zur Verhüttung von Eisenerz benötigt werden, sind in Zentraleuropa zu fördern. Da Kohle weitgehend untertage gebrochen wird, sind für den Aufbau von Förderanlagen umfassende Kapitalmengen erforder- lich. Auch hier kann Geld gewinnbringend angelegt werden. Eine andere Variante der Geldanlage bietet der Bodenmarkt, auf dem eine unternehmerische Grundbesitzerschaft, die sich wiederum in „gute“ und „schlechte“ Bodenspekulanten wie kom- plexe Terraingesellschaften unterscheidet, zu agieren beginnt. Der Prozess wird durch Inan- spruchnahme von Bodenkapital, umfassender Beteiligung des Finanzkapitals und einer Heraus- bildung von Hypothekenformen gesteuert. Die städtischen Flächen avancieren auf einem ano- nymen Markt zu einer Ware. Damit werden die „Bodenfrage“ und die Bewertung der städti- schen Grundrente zum zentralen Thema neuer Stadttheorien. (Rodriguez-Lores, 1983, S. 112.) Fehlenden Bauaktivitäten zur Schaffung von Wohnraum in der ersten Hälfte des Jahrhunderts steht in der zweiten Hälfte eine immense Nachfrage gegenüber, ausgelöst durch eine sich vom Land in die Stadt orientierende Bevölkerung, die diesen Vorgang zusätzlich verstärkt. In dem städtischen Raum findet nicht nur Produktion statt, sondern der städtische Boden wird selbst zum Produktionsmittel durch die Errichtung von Gebäuden und das Erfordernis von 331 Fundstelle: Stadtmuseum Treppenaufgang. 332 Aschrott soll auch in Rohstoffkapitalgesellschaften investiert haben; bei Knobling wird ein Bergbauunternehmen in Brüx (Böhmen) und das Braunkohlebergwerk in Oberkaufungen genannt Knobling, 1986, S. 90 entnommen dem Casseler Tageblatt als Quelle.) Wroz, Leiter des Regionalmuseums in Kaufungen, teilt mündlich mit, die Familie Waitz zu Eschen habe in Kaufungen über Schürfrechte verfügt. [Verf. ist dieser Fragestellung nicht weiter nachgegangen.] Auf einer Karikatur zur Person Aschrott ist er und sein mit Plänen überhäufter Schreibtisch zu sehen, die Namen auf den Akten verdeutlichen sein weiteres Engagement. Er scheint bei der Kagraner Bahn, dem Kohlenbergwerk Germania, den Wasserkräften Tirol, in der Mainzer Strasse, seinem Frankfurter Bauprojekt und in der Kasseler Str. in Form von Investitionen und Planungen einzutreten. (Karikatur Aschrott, Stadtmuseum Kassel.) 100 Dienstleistungen. Die Voraussetzung für die Bebauung besteht in der Grundrente, wobei sich der Wert durch Bebauung realisiert und in diesem Prozess einen enormen Zuwachs erfährt. Den größten Einfluss auf die Stadtentwicklungspolitik übt der Grundbesitzer aus. Dem Stadt- planer ist gegen Ende des 19. Jahrhunderts bewusst, dass das Wachstum einer Stadt den Wert der städtischen Grundrente hebt und so einen enormen Reichtum darstellen kann (Rodriguez- Lores, 1980, S. 30/31). Die städtische Bodenrente stellt nach klassischem Vorbild keine Rente dar, es handelt sich hier- bei vielmehr um Verzinsung und Amortisation eines dauernd zirkulierenden und akkumulieren- den Kapitals, das mit oder auf städtischem Boden sich ständig verändert. Die Infrastruktur wird häufig durch die öffentliche Hand bereitgestellt. Die damit verbundenen Vorteile werden so von privater Hand genutzt. Dies gilt besonders für Grundstücke mit Lagequalität. Die Wohnungsmiete wird von den Infrastruktureinrichtungen wesentlich beeinflusst (Bodenschatz, 1983, S. 84). In der Bewertung des Stadtteilaufbaus gilt es zu untersuchen, wie Stadtplanung und Wirtschaft- lichkeit von Stadtentwicklung zu bewerten sind. Der Besitz von Boden führt zu einer Festset- zung von Baurichtlinien, bei denen die Gebäudetypisierung festgelegt wird, weil damit der mögliche Gewinn zu fixieren ist. Rodriguez-Lores stellt als Ergebnis der Interessenvertreter fest: „Stadtplanung besteht – als aller erstes -, um solch enormen Reichtum zu gewährleisten und zu kontrollieren, den die Grundrente darstellt.“ (Rodriguez-Lores, 1980, S. 31.) Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bedarf es der Verbesserung von Infrastrukturmaßnahmen in städtischen Wohnbezirken. Ein Grundbedürfnis für Lebens- und Wohnqualität stellt die Was- serversorgung und –entsorgung dar und ist von immanenter Bedeutung. Die Kommunen selbst sehen sich wegen fehlender strategischer Kompetenz und aus Geldmangel außerstande, aktiv zu werden. Den Notstand erkennen private Gesellschaften und betreiben die Wasserversorgung unter ökonomischen Zielen.333 Als Aschrott sich in den 60er Jahren entscheidet, im Bodengeschäft aktiv zu werden, glaubt er hier sein Geld sicher angelegt zu haben. In dem Wirtschaftssektor bleibt bei nicht erzielter Bo- denrente oder nicht zur Erschließung gelangten Flächen der Grundwert des Bodens allerdings ohne jede Verzinsung erhalten. Jedoch handelt es sich dabei um erworbene Flächen, die als Bauplätze nicht wiederzuverkaufen sind. Das Kapital liegt als nicht arbeitende Geldanlage brach. Formen solcher Spekulationen führen bei eintretender Depression zum Konkurs von Gesellschaften. Das Verlagsgeschäft im Leinen- und Werghandel ist, wie in der Textilindustrie generell, auf Massenabsatz eingestellt und nicht auf einen begrenzten Käuferkreis angewiesen. Der Verleger mit seinen fundierten Kenntnissen in Bezug auf Marktentwicklungen analysiert unter dem Ge- sichtspunkt kaufmännischer Interessen gesellschaftliche Bedürfnisse und setzt sein verfügbares Kapital entsprechend ein. Aschrott selbst verwendet nach Etablierung seines Unternehmens nur einen geringen Teil seines fixen Kapitals, um sein Verlagsgeschäft partiell, wenn erforderlich, in einen Heimindustriebe- trieb zu verwandeln (Wutzinger; in: Mottek, 1960, S. 158/159). Sein Einsatz für die Verbesse- rung der Produktionsmittel ist nur dahingehend zu bewerten, dass durch die Anschaffung neuer Webstühle größere Webbreiten zu erzielen sind, um damit den Markt umfassender bedienen zu können. In diesem Marktsektor erscheint es unbedeutend, ob das Material maschinen- oder handgewebten Ursprungs ist. 333 Aschrott ist finanziell an den Charlottenburger Wasserwerken beteiligt. Der Antrag 1875 und 1876 im preußischen Abgeordnetenhaus, eine Provinz Berlin zu gründen, um in Berlin und Umgebung die Wasser- und Abwasserprobleme sowie die Abfallbeseitigung zu lösen, scheitert. (Hofmann, 1980, S. 230.) 101 Bartolosch berichtet von Verlegern im Siegerländer Textilgewerbe, die ebenfalls wie Aschrott den Schritt vom Handgewerbe zum mechanisierten Betrieb nicht mitvollziehen. Hier finden Kapitaltransfers von dem heimischen Textilgewerbe zum regionalen Eisengewerbe statt. Das zeigt sich dadurch, dass die Verleger Eisenhütten und –hämmer erwerben und in ein Puddel- und Walzwerk verwandeln oder sich Beteiligungen im Eisengewerbe sichern. (Bartolosch, 1992, S. 428-432.) Ebenso handelt Aschrott. Er konzentriert seine Aktivitäten nicht auf die Weiterentwicklung des Textilgewerbes zum Fabrikationsbetrieb, denn von seinen persönlichen Veranlagungen her ist er Kaufmann, der sich perfekt in Handelsfragen auskennt. Er bevorzugt die Anlage in Kapitalge- schäften, bei denen ein gesicherter Gewinn zu erwarten ist. Er gebraucht für sich in dieser Lebensphase den Titel Fabrikant. Dieser Titel wird häufig auch in Verträgen von seinen Partnern verwendet. Verleger der Leinenbranche beanspruchen diese Berufsbezeichnung. Der Begriff Fabrikant verbreitet in der Zeit der Industrialisierung die Aura eines Feldherren, der hinter seinen Fabriktoren über Arbeiterbataillone verfügen kann und hier seine eigenen Gesetze zur Geltung bringt. Es entspricht aber nicht dem Metier Aschrotts, sich mit einer Masse von Menschen auseinandersetzen zu müssen, technische Entwicklungen voran- zutreiben oder einen Kleinbetrieb in ein Großunternehmen zu verwandeln. Schlüge er dennoch diesen Weg ein, müsste er neben Ausrichtung einer kaufmännischen Strategie auch im techni- schen Bereich wesentliche Entwicklungen mittragen und sich ständig mit den Problemen seiner Handwerker beschäftigen. Dabei würde er sich in einem Problemkreis bewegen, der für ihn mit Risiken verbunden ist, die sich nicht klar voraussagen lassen. Aschrott müsste dort punktuell seinen Einsatz verstärken. Eine solche Organisation hätte auch seine persönlichen Kräfte über- fordert. Als Vergleich sei auf den bereits genannten Heinrich Salzmann hingewiesen, der 25 Jahre jünger als Aschrott ist, aber ebenfalls 1915 stirbt. 7.2.1 Fragen der Standortwahl – Stadterweiterungsplanungen 1833 – 1878 Um die mögliche Standortwahl für ein beabsichtigtes neues Wohnquartier zu erklären und Gründe für diese Wahl zu finden, bedarf es der Beschreibung der letzten Stadterweiterung vor dem Einsetzen der Industrialisierung. Ausweitung des städtischen Raumes als Konsequenz von Produktions- und Gewerbeentwick- lung hat ein Anwachsen der Verwaltung und Dienstleistung zur Folge. Gleichzeitig vergrößert sich durch Bevölkerungszuzug die Nachfrage nach Wohnraum. Die Stadterweiterung in der Industriephase beruht auf der kapitalistischen Vermarktung des Bodens im Gegensatz zu Planungen aristokratischer Herrscher. Dagegen kann man die unter 7.4.9 angesprochene Stadtteilentwicklung, die „Margarethen – Höhe“, als das Bestreben einer „Industriedynastie“ einordnen, öffentlich mit einem segregierten Stadtquartier ihr besonderes soziales Engagement zu unterstreichen und für immer zu manifestieren. Der hessische Kurprinz Friedrich-Wilhelm, seit 1831 mit der Regentschaft334 betraut und schließlich auch der letzte Kurfürst bis 1866, beauftragt den Oberbaudirektor Julius Eugen Ruhl mit der Ausarbeitung einer Stadterweiterung und wirkt an den Plänen selbst mit. 334 Die Unruhen in Kurhessen mit Zentrum in Hanau und Kassel resultieren aus der wirtschaftlichen Not der Bevölkerung. Diese ist zum Teil eine Folge landesherrlicher Unentschlossenheit, die wirtschaftlichen Lenkungsmechanismen zu bestimmen und die veränderten wirtschaftlichen Vorstellungen dem Geist der Zeit nicht anzupassen. Die stringente Regulierung seitens des Regenten wirkt sich negativ auf die kurhessische Wirtschaft aus. Zudem zeigt die Julirevolution von 1830 in Frankreich auch in Hessen Auswirkungen. Der Aufruhr in der Kasseler Bevölkerung führt schließlich zum Wohnungswechsel der Gräfin v. Reichenbach, der Nebenfrau des Kurfürsten, nach Hanau. Wilhelm II. folgt ihr dorthin 1831 nach. (Wegner, 1999, S. 111.) 102 Er löst ein Versprechen ein, das Wilhelm II., sein Vater, 1830 den Deputierten der Kasseler Bürgerversammlung gibt, damit eine neue Verfassung, in der u.a. das Modell eines Einkammer- systems335 enthalten ist (Wegner, 1999, S. 111), in Kraft treten kann. Die letzte aristokratische Stadtvision wird zwar durch die fürstliche Bauleidenschaft mitgetra- gen, leidet jedoch unter der wirtschaftlichen Stagnation und damit unter fehlenden staatlichen Finanzen (Hoffmann-Axthelm, 1994, S. 41). Die Ruhlsche Stadtanlage schließt an die bisherige Zollmauer des 18. Jahrhunderts an. Hier verläuft auf der Stadtseite die Schusterstraße, spätere Garde-du-Corps-Straße, die früher das „Alte Wilhelmshöher Thor“ und das „Cöllnische Thor“ miteinander verbunden hat. Das Ge- lände des Planungsareals steigt von der Zollmauer nach Norden in Richtung Kratzenberg leicht an, dabei beginnt mit der Friedrich-Wilhelm-Straße das Höhenniveau des neuen Bahnhofvier- tels. (Hoffmann-Axthelm, 1994, S. 41.) Ruhl bindet seinen „Plan der Vergrößerung der Residenzstadt Cassel“336 von 1833 an das vorhandene Rechtecksraster der Oberneustadt mit der zentralen Achse der Königsstraße an. Zu ihr werden zwei parallele „Boulevards“ nach Nordwesten projiziert und diese wiederum durch die Verlängerung der Friedrich- und Wilhelmstrasse zu einem Rechtecksraster verbunden (Wie- gand, 2002, S. 225). Der zur Oberneustadt liegende Boulevard, die Friedrich-Wilhelm-Strasse, heute Ständeplatz, zeichnet sich durch seine große Breite und durch seine beidseitige Flankie- rung mit doppelten Baumreihen aus, was an einen griechischen Hain erinnert. Er brilliert als Parallelboulevard337 zur Königsstraße und ist als Flaniermeile338 angelegt. Die Wertigkeit des Boulevards konnotiert mit dem neu errichteten Ständehaus. Der klassizistische Entwurf Ruhls lehnt sich an Vorgaben aus dem Empire an und verbindet ihn mit einem im Sinne des Städte- baus idealisierten römischen Castrum (Hoffmann-Axthelm, 1994, S. 41). Der rechteckige „Neue Friedrich-Wilhelms-Platz“ 339 mit seinen sternförmigen Straßeneinmün- dungen bezieht die schräg verlaufende Kölnische Straße mit ein und seine Funktion ist der des Königsplatzes ähnlich. Wie dieser konzentriert der Friedrich-Wilhelms-Platz auf dem Niveau der späteren „Bahnhofsterrasse“ des Kratzenbergs die Verkehrsströme und fungiert als Ver- kehrsscheibe für die Friedrich-Wilhelms-Stadt wie später für das neue Bahnhofsviertel. Um das Ruhlsche Rechtecksraster nach Norden abzuschließen, wird parallel zur Friedrich-Wilhelm-Str. ein weiterer äußerer Boulevard gelegt. Dieser bleibt auf dem Ruhlentwurf namenlos. Er wird später verkürzt als Victoriastraße340 gebaut. 335 Als entscheidender Grund für die Veränderung vom Zwei- zum Einkammernsystem erweist sich, dass die aristokratischen Mitglieder nicht mehr mit ihrem Vetorecht Mehrheitsentscheidungen blockieren können (Flemming, 1999, S. 14). 336 Plan der Vergrößerung der Residenzstadt Cassel auf Befehl Sr Hoheit des Kurprinzen und Mitregenten entworfen vom Hofbaudirector J. E: Ruhl im Jahr 1833, copiert von A. Weber 1840 (Stadta KS). 337 Vorbild dazu kann „Unter den Linden“ in Berlin sein (Info: Ch. Presche). 338 Jacob bemerkt zu diesem Stadtbauabschnitt und dem in preußischer Zeit folgenden: „Es mögen hier nur die gehässigen Geschichten über die Person des Kurfürsten Friedrich Wilhelm erwähnt werden, welche heute noch die Reptilienpresse zieren und von Lügen strotzen. Eine Unterlage der albernen Fabel, der Kurfürst habe in fortschrittsfeindlicher Weise Bauverbote erlassen, bietet die Geschichte der Wachenfeldschen Reitbahn, welche im Zuge der projektierten Straße, deren Stumpf der Ständeplatz in Kassel geblieben, lag, und deren Umbau gehindert ward, also ein reines Fluchtlinienverbot, wie es noch heute täglich widerspruchslos von der königlich preußischen Polizei geübt wird. Wenn die Ausgestaltung der Stadt im übrigen der Zustimmung der Krone unterlag, so ist dies ein Regal, das heute auch in Preußen geübt wird, und Kassel hat am wenigsten Ursache, sich zu beklagen, denn der Kasernenstil der modernen Spekulationsstraßen ist erst eine Errungenschaft der ´helleren Tage´ ”. (Jacob, 1907, S. 28/29.) 339 Bezeichnung entspricht dem Ruhl-Plan. 340 Im Zuge der Errichtung des Bahnhofs 1848 kommt es auch zum Ausbau des Boulevards vom Bahnhofsvorplatz bis zur Kölnischen Straße. Eine Fortführung ist wegen auf der Trasse stehender Gebäude nicht möglich. Die Expropriation dieses Grundbesitzes scheint nicht umsetzbar und scheitert zunächst an den Spekulationsabsichten des Besitzers. Erst 1881 wird die Verbindung zwischen Bahnhof 103 Südwestlich begrenzt die Verlängerung der Friedrichsstraße das neue Viertel, um das Rechteck zu komplettieren. Die Untere Wilhelms-Straße wird nördlich des Prachtboulevards als Obere- Wilhelms-Straße fortgeführt. Die Museumsstraße als Randstraße des Friedrichsplatzes erfährt nach Norden eine Projektion und verläuft ab Friedrich-Wilhelms-Platz bis zum späteren Bahn- hofsplatz als neue Museumsstraße. Dabei fällt sie mit der östlichen Grenze der Friedrich-Wil- helm-Stadt zusammen. Der Plan nimmt die bestehende Chaussee, die Cölnische Straße, mit in ihr Raster als Diagonalstraße auf. An den nördlichen und westlichen Rechtecksseiten enden die Straßen in Halbkreisplätzen, die wieder die Form des Rondells, auch als „Wilhelmshöher-Thor- Platz“ bezeichnet, aufnehmen. Die Plätze erinnern in ihrer Form an Bastionen. Ruhl verfolgt damit wahrscheinlich eine Vereinfachung der Verkehrsführung an Straßeneinmündungen und gibt gleichfalls den Blick in die Umgebung frei. Im Sinne des Ideals für die Schönheit einer Stadt ist der Entwurf geprägt von „Regelmäßigkeit, Proportion, Ordnung“ (Fehl, 1983, S. 137/138), wobei sich Regelmäßigkeit auf die Anlage von Straßen oder Höhe und Gestaltung der Gebäude bezieht, Proportion dagegen die Ausgewogen- heit in Bezug auf Länge und Breite von Straßen und Plätzen sowie eine Begrenzung des Pro- jekts ausdrückt. Die Bauordnung jedoch zeigt sich als Spiegel gesellschaftlicher Unterschiede. Im neuen Quartier der Friedrich-Wilhelms-Stadt entsteht an zentraler Stelle von 1834 bis 1836, in Einklang mit der res publica des entsprechenden Stils der italienischen Renaissance, das Ständehaus als Symbol für Parlamentarismus. In diesem, dem ersten hessischen Parlamentsge- bäude, tritt die Ständeversammlung öffentlich341 zusammen. Aus der Sicht des Regenten erfolgt die Positionierung342 des Parlaments343 abseits der höfischen Regularien, die sich im Bellevueschloss an der Schönen Aussicht, im Residenzschloss am Friedrichsplatz344 und im Schloss Wilhelmshöhe dokumentieren. Dieses Parlamentshaus liegt noch „vor den Thoren“ jenseits der Zollmauer der Stadt, weit ab der höfischen Szene in einem angefügten Stadtteil. Seine Existenz resultiert aus dem bürgerlichen Streben um verstärkte po- litische Einflussnahme. Das neue Bürgerforum befindet sich jedoch in Sichtweite zur Garde du Corps Kaserne, dem Standort der kurfürstlichen Leibstandarte. Aus der Interessenssphäre des absoluten Herrschers ließe sich die Positionierung des Parlaments so interpretieren, dass die Volksvertreter an einem Ort um Tendenzen des Fortschritts und Wan- dels debattieren, der abseits der eigentlichen politischen Herrschaftsentscheidungen liegt und zudem von der auf den Fürsten vereidigten Leibstandarte, Elitesoldaten der Garnison Kassel, und Hohenzollernstraße fertiggestellt. (Wiegand, 2002, S. 226/227.) 341 „Der Andrang ist ungeheuer groß, und man kann von Glück sagen, wenn man alle Wochen einmal eine Eintrittskarte erhält“ (Louis Spohr, in: Flemming, 1999, S. 18). 342 „... der geschäftsführende Kurprinz hatte sich auf die Stadterweiterung nur eingelassen, um einen repräsentativen, der Verfassung von 1830(31) geschuldeten Bauplatz außerhalb seiner Interessenssphäre zu schaffen“ (Hoffmann-Axthelm, 1994, S. 41). 343 Das Haus ist von einem Parlamentarismus geprägt, der das Kompetenzgefälle zwischen Fürsten und Landtag offenbart und bei dem Impulse und Reformansätze aus dem Parlament stets von Regierungsseite unterdrückt werden (Verfassungskonflikt). Deshalb zeigt sich das konstitutionelle System in seinem letzten Jahrzehnt (ab 1852) vor der Annexion nicht weniger krisenanfällig als der Staat vor der Verfassungsänderung. (Flemming, 1999, S. 18/19.) 344 Schmidtmann beschreibt die tägliche Wachablösung: Ungefähr zwei Kompanien marschieren von der Infanterie-Kaserne in der Unteren Königstraße über den Königsplatz zum Friedrichsplatz. Sie stellen sich an den Lindenbäumen an der Platzseite zur Königsstraße auf, fast die gesamte Platzbreite einnehmend. - Das bedeutet in der Tat, die Soldaten stehen vor dem Residenzschloss und zeigen mit ihrer Präsenz den Einfluss des Herrschers gegenüber den untergebenen Bürgern. - Die Soldaten nehmen von den Offizieren die Parole entgegen, dabei leitet der Regiments- oder Bataillonskommandant zu Pferd die Parade. Sonntags nimmt der Kurfürst mit seinem Gefolge, aus dem Roten Palais kommend, eine von den Zuschauern gebildete Gasse, von Gardesoldaten freigehalten, durchschreitend, zu Fuß die Parade der Truppe ab. Dabei erklingt der Parademarsch, dem preußischen ähnlich. Nach Abmarsch der Soldaten verteilen diese sich auf die verschiedenen Wachen der Stadt. (Schmidtmann, 1993, S. 87-89.) 104 kontrolliert und wenn erforderlich mit militärischer Macht entscheidungsunfähig gehalten wer- den kann. Abb.: 14 Ausschnitt des Ruhlplans345 1833 mit der Magistrale, der Friedrich-Wilhelms-Straße, dem späteren Ständeplatz. Das Ruhlsche Konzept stößt auf Widerspruch zu den bestehenden Besitzverhältnissen, denn die Grundstücksgrenzen decken sich nicht mit den Rändern der neuen Straßenführung, sondern liegen diagonal dazu. So erscheint das Vorhaben schon unter dem Eigentumsgesichtspunkt als nicht umsetzbar. Aussagen zu der Grundstücksausrichtung können dem Koppenplan346 entnom- men werden. Dort verlaufen in fast gleichem Abstand zu der Wilhelmshöher Allee (Ausgangs- punkt: „Wilhelmshöher Thor“)347 die Alte Wilhelmshöher Allee348 (Ausgangspunkt: „Königs Thor“) und nördlich davon ein namenloser Weg (Ausgangspunkt: Mitte der Garde du Corps Kaserne) in gleicher Richtung. Folglich richtete man bei der Aufteilung der Flur die entstehen- den Gartenflächen mit ihrer Breitseite an dem alten Wegesystem aus. Die Längsseiten der Grundstücksflächen nehmen den Rand von Ulmenstraße und Karthäuser Weg auf, die die erst- genannten Straßen senkrecht schneiden.349 Die entstehenden Rechtecke haben meist die gleiche Fläche, was darauf schließen ließe, dass Gärten unter Gleichheitsgesichtspunkten vergeben 345 „Plan der Vergrößerung der Residenzstadt Cassel/ auf Befehl Sr. Hoheit des Kurprinzen und Mitregenten/ entworfen von Hofdirector J.E. Ruhl im Jahr 1833“ (StadtaKS). 346 Der Koppenplan soll dem Zustand zwischen 1799 und 1805 entsprechen (Info: Ch. Presche). 347 Angaben nach Koppenplan. 348 Heute Königstor. 349 Gleiche Aussagen können mit Hilfe des Plans von 1822, jedoch nicht so differenziert, getroffen werden. Dieser Blattausschnitt liegt mit geringer Ausdehnung nach Westen vor, weil er von der Aussage her Stadtplan sein soll. Der Plan nennt sich: Plan der Kurhessischen Haupt- und Residenzstadt, Weimar, im Verlag des geographischen Instituts, 1822 (Stadta KS). 105 wurden. Allerdings könnte ebenso ungenaues Maß der Außenflächen zu einer Idealisierung der Gartenaufteilung auf der Karte führen. Der Koppenplan soll hier lediglich die frühe Existenz der Gärten unterstreichen. Abb.: 15 Ausschnitt350 aus dem Koppenplan 1830351 Die Weiterentwicklung des Ruhlschen Projektes findet sich in der ersten Ausführung über die Kurhessische Residenz-Stadt Cassel von Böckel352 von 1854 wieder. Diese Ausfertigung nimmt die Vorstellungen Ruhls in gestrichelter Form auf. Der Böckelplan, als Stadtplan, orientiert sich an real existierenden Besitzverhältnissen. Hier wird deutlich, dass sich die vorgesehene Größe des Friedrich-Wilhelms-Platzes nicht verwirklichen lässt. Die in der Platzfläche stehenden Häu- ser Cöllnische Straße Nr. 273, 272 sind auch bei der kleineren Version im Wege. Die Museumsstraße353 als Verbindungsachse zwischen Bahnhofs- und Friedrichsplatz wird verändert und verläuft ab Wilhelms-Platz nach Süden bis zur Garde du Corps Straße in der Ruhlprojektion, ab dann erfolgt ein Versprung (auf dem Ausschnitt als Bazar bezeichnet), um 350 Aufteilung der westlichen Außenflur der Stadt Kassel in Form von Gärten. 351 Plan von Cassel – Haupt- und Residenzstadt vom Kurfürstenthum Hessen - Sr. Königliche Hoheit Wilhelm II. – allerunterthänigst zugeeignet von O. C. Koppen – Kurh. – Civil – Conducteur (StadtaKS). 352 Anton Böckel, Stadtbauinspektor, geb. 9.1.1809, Rel. kath., Wohnung: Graben 1 (Mieter), eingezogen am 1.7.1868, ab 1.10.1879 in Pension, gest. 24.5.1886 (StadtaKS, EMK). 353 Auf Anweisung des Kurfürsten ist bei der Bahnhofsplanung die Mitte des Hauptportals ausgerichtet auf die Museumsstraße vor dem Friedericianum. Beim Verlassen des Bahnhofs hätte eine Sichtachse bis zur Söhre bestanden. „Daß dieser Plan nicht zur Ausführung kam, haben wir leider der Engherzigkeit und Kurzsichtigkeit unseres Magistrats zu danken.“ (Schmidtmann, 1993, S. 50.) 106 Straßenbreite nach Osten, um neben dem Nahlschen Haus auf die Königsstraße zu treffen. Auch hier beinhaltet der Weiterbau Hausabbruch und Enteignung von Grundstücken. Die Museums- straße354 weist nach Planaussage in dem Teilstück Richtung Bahnhof geringe Bebauung auf. Die Bahnhofsstraße dagegen nimmt bereits städtische Formen an. Abb.: 16 Ausschnitt aus dem Böckelplan 1854 zeigt keine Rücknahme der Friedrich-Wilhelms- Strasse und die Häuser auf der Trasse der Museums-Strasse 354 In einem Schreiben vom 14. Januar 1868 an die Kgl. Regierung teilt der Magistrat der Residenzstadt unter dem Aspekt der „Planmäßigen Erweiterung der Stadt, insbesondere die Durchführung der Museumsstraße betreffend“ mit, der Stadtrat habe beschlossen, sämtliche bei der Museumsstraße beteiligten 18 Grundbesitzer anzuhören, unter welchen Bedingungen sie bereit wären entweder den ganzen oder den in den Straßenraum fallenden Besitz an die Stadt abzutreten (St A M Best. 165, Nr. 1452, Bd. 1, Bl. 33). 107 Abb.: 17 Ausschnitt aus dem Böckelplan 1866355 mit Rücknahme der Friedrich-Wilhelms-Strasse sowie der Museums-Strasse zwischen Wilhelms-Platz und Königsstrasse 7.2.2 Flächen der Bahnhofsstraße und des nördlich davon gelegenen Areals als Gestaltungsraum für ein Aschrottviertel ? Hypothetisch ist anzunehmen, dass das neue Bahnhofsviertel, das sich entlang der Bahnhofs- straße und nördlich davon über den Grünen Weg bis zur Wolfhagerstraße und weiter entlang der Holländischen Straße als Großfläche erstreckt, ein Gebiet darstellt, mit dem Aschrott die Ent- wicklung eines neuen Stadtviertels verwirklichen könnte. Fakten, die gegen ein solches Areal sprechen, sind die Nordhanglage und die anschließende Senke zwischen Kratzen- und Mönche- berg mit ungünstigen klimatischen Bedingungen, d.h. mit geringerem Sonneneinfall und schlechterem Luftaustausch. Das Gelände ist von neueren Vierteln durch die Firma Henschel, die Artilleriekaserne, die Hohentorkaserne und den Altstädter Friedhof abgeschlossen. Die Einordnung des Gebietes als hinter dem Bahnhof liegend stellt im Gegensatz zum Geschäftstreiben davor lediglich Flächen für Handwerker bereit und dient als Ausdehnungsareal der Firma Henschel und anderer Industriebetriebe. Das führt zwangsläufig zur Errichtung von Arbeiterwohnungen, um die Entfernung zur Arbeitsstätte zu minimieren. Ein mit Emissionen von Fabrikanlagen belastetes Quartier eignet sich lediglich zur Unterbringung von Bewohnern der Unterschicht. Diese Fläche Rothenditmolds eignet sich nicht für sein Vorhaben. 355 Fundstelle: Vermessungsamt, Fluchtlinienplan Nr._10 (Plan der Stadt Kassel Böckel 1866). 108 Abb.: 18 Ausschnitt Böckelplan 1866 mit dem Rechtecksstraßenraster nördlich des Grünen Wegs 7.2.3 Die Hänge des Kratzenberges bis zur Wilhelmshöher Allee – als ideales Gelände Die Flächen südwestlich des Bahnhofs am Abhang des Kratzenberges weisen Südexposition mit unterschiedlichen Neigungswinkeln auf und versprechen unter klimatischem Aspekt einen hö- heren Bodenwert zu erzielen. Der Längskamm des Kratzenbergs ist mit Bäumen bewachsen, dem Tannenwäldchen, seine südliche Hangseite teilt eine mit Bäumen bepflanzte breite Chaus- see, die Kölnische Straße.356 Die Wilhelmshöher Allee357, als eine Schöpfung absolutistischer Landschafts- und Stadtgestal- tung, wird als Sichtachse zwischen Stadt - hier Lebensraum der Bürger - und der in Abstand liegenden Residenz,358 dem Schloss Wilhelmshöhe - Lebensraum der Aristokratie – entwickelt und hat zur Aufgabe, Distanz zwischen Herrscher und Untertanen hervorzuheben. 356 Der Böckelplan von 1854 verwendet die Bezeichnung Cöllnsche Straße. Im Böckelplan von 1866 wird die Schreibweise beibehalten. 357 Die Wilhelmshöher Allee wird wie alle Fernstraßen, Holländische -, Kölnische -, Frankfurter – und Leipziger Straße, seit der 2. Hälfte des 18.Jhrts. vor der Stadt als gradlinige Allee angelegt. Sie weist geringe Breite und in einigen Abschnitten kleine Häuser als Randbebauung auf, in den Vororten Wehlheiden und Wahlershausen hatte sie ländlichen Charakter. (Info: Ch. Presche.) 358 Der Herrscher benutzt das Schloss meist in den Sommermonaten als Aufenthaltsort. In obiger Aussage 109 Nach Jüngst dienten die von den Fürsten initiierten weitläufigen architektonisch-räumlichen Ensembles „einerseits wohl eigener Konturierung und Selbstdarstellung, zugleich dürften sie jedoch mittels ihrer repräsentativen Wirkung und Eindrücklichkeit, wie sie durch die absolutisti- sche Axial- und Platzgestaltung und raumbesetzenden Gebäudearrangements vermittelt wurden, wesentlich zur Identifikation der Bewohner und kurhessischen Besucher der Haupt- und Resi- denzstadt mit den bestehenden Herrschaftsverhältnissen beigetragen haben“ (Jüngst, 1996, S. 85). Der Herkules mit Riesenschloss auf dem Kamm des Habichtswaldes zieht in dieser Achse den Blick auf sich, gleichzeitig weisen sie als Insignien auf das hessische Fürstengeschlecht, im Be- sonderen auf dessen Erbauer Landgraf Carl, hin und unterstreichen gleichfalls die städtebauliche Besonderheit. Aschrott wird dieser distanzierte Ausdruck von Macht immer gefallen haben, denn Berliner Sichtachsen wie z.B. von „Unter den Linden“ zum „Brandenburger Tor“ und weiter zum „Stadtschloss“ sind ihm als Prachtstraßen mit Herrschaftssymbolen bekannt. Gleiches kennt er aus Paris mit den Champs-Elysèes oder aus London mit der Regent Street. Solche Sichtachsen, die auf Symbole der Macht ausgerichtet sind, versucht Aschrott in sein Kasseler Projekt zu in- tegrieren, um mit derartigen Zeichen Wohnterrains aufzuwerten. Als Sinnbilder dienen neben dem Herkules exponiert liegende Kirchen oder in der Blockrandbebauung hervorgehobene Wohngebäude. Das Areal am Kratzenberghang weist neben den Straßenachsen bis zur westlichen Grenze der Querallee ein Straßen- und Wegesystem auf. Die zentralste Verkehrsverbindung stellt die vom „Alten Wilhelmshöher Thor“ ausgehende „Alte Wilhelmshöher Allee“, heute Königstor,359 und die Kölnische Allee dar. Diese übernimmt die Funktion des Akazienwegs, der als Rest einer alten Fernstraße nach Westen übrigbleibt. Er hat seinen Ausgangspunkt südlich des Totenho- fes360 und verläuft bis zum Friedrich-Wilhelms-Platz nördlich der Kölnischen Straße, schneidet diese in Höhe des geplanten obigen Platzes, um südlich des Hauses Kölnische Str. 25 wieder in sie zu münden. Der Karthäuserweg bildet die Nord–Süd-Verbindung. 7.2.4 Flur- und Siedlungsformen um 1840 Die ursprüngliche Flurnutzung um 1840361 wird in die digitalisierten Karte 1 und Karte 2 über- nommen und als Teilbereich östlich und westlich der Quer Allee362 dargestellt. In den Karten liegen zwei Ebenen übereinander. Ebene 1 verdeutlicht die ursprüngliche Flurnutzung. Dagegen zeigt Ebene 2 das spätere Straßennetz des Stadtplans von 1913. Diese Darstellung soll Ursprüngliches mit Gegenwärtigem verbinden und Aussagen zu Bauausführungen erlauben. wird nicht auf den Lebensrhythmus der Kurfürsten Bezug genommen. Hier sollen der Baukörper selbst, erhöht und für alle sichtbar, und die dazugehörige Sichtachse als Sinnbild für Macht stehen. 359 Der heutige Straßenname leitet sich von dem anstelle des „Alten Wilhelmshöher Thor[s]“ später als „Königs Thor“ bezeichneten Stadtausgang ab. 360 Gleichfalls gilt die Bezeichnung Ziviler Totenhof, weil sich daneben auch der Militärtotenhof befand. 361 Als Vorlage dient: Plan der Stadt Cassel auf höchsten Befehl – Seiner Hoheit des Kurprinzen und Mitregenten unter Leitung des Kurfürstlichen Generalstabs aufgenommen in den Jahren 1833 bis 1840 (Stadta. KS). 362 Straßenbezeichnungen orientieren sich am „Plan der Entwicklung der Residenzstadt Cassel vom Jahre 1330 bis 1913“. Maßstab 1:10000 (Vermessungsamt Kassel.) Die Quer Allee wird 1787 von einem Feldweg zu einer geradlinigen Allee ausgebaut. Sie verbindet Wehlheiden über den Kratzenbergrücken mit Rothenditmold (Wiegand, 2005, S. 23). 110 Karte 1: Zustand zum Stand 1852/1866 – Ausschnitt östlich der Querallee Kölnische Allee, Akazien Weg, Alte Wilhelmshöher und Wilhelmshöher Allee stellen die Flurverbindung in Ost-West-Richtung, Karthäuser Weg und Quer Allee in Nord-Süd-Richtung her. Neben den Verkehrsflächen, einschließlich Eisenbahn363 im Norden und Westen, bestimmen Gärten, unmittelbar an die ehemaligen Zollmauern anschließend, die Außenflur Kassels. Diese dienen weitgehend der städtischen Bevölkerung zur Selbstversorgung. Siedlungsflächen konzentrieren sich, von einigen Ausnahmen abgesehen, am bestehenden Ver- bindungsnetz. Sie verdichten sich an der Alten Wilhelmshöher Allee. Hier tritt besonders der in napoleonischer Zeit errichtete Baublock der Städtischen Kaserne364 hervor, der als Multifunktionsareal für Wohnen, Arbeiten und als Zuchtanstalt genutzt wird. Der Baukörper, quadratisch angelegt mit großem Innenhof, bestimmt wesentlich die Gesamtfläche. Ebenso kommt es an der Kölnischen Allee, im südöstlichen Kartenteil (dem Ortskern von Wehlheiden, sowie an der Kreuzung von Wilhelmshöher und Quer Allee) zu Hausverdichtungen, gleichfalls von Gärten umgeben. Die Restflur zwischen Tannenwäldchen im Norden und Wilhelmshöher Allee im Süden wird auf Kasseler wie Wehlheider Gemarkung ackerwirtschaftlich genutzt. Der Druselgraben365 als Wasserversorgung366 Kassels in der Kartenmitte und die Drusel als Bachlauf folgen dem Geländeabfall von West nach Ost bzw. Südost. Die bereits mehrfach angesprochene Quer Allee verbindet die Gemeinden Wehlheiden und Ro- thenditmold miteinander. Zwischen Wilhelmshöher Allee und Kölnischer Allee367 verläuft sie gerade, die Isohypsen fast orthogonal schneidend, bis zum Kamm des Kratzenbergs368. Ebene 2 der Karte verdeutlicht neben bestehenden Straßenzügen die Aufnahme neuer Verbin- dungswege in die Stadterweiterung. Lediglich der Abzweig von der Quer Allee nach Westen , der Wahlershäuser Weg (s. Karte 2), wird dabei nicht berücksichtigt, wahrscheinlich ein wenig befestigter Landweg. Zwischen die Straßenführung von Ost nach West legt man parallele Ver- kehrsachsen, die mit Querstraßen verbunden Rechtecksraster bilden. Die so entstehenden Bau- flächen lassen sich optimal mit Baublöcken nutzen. Bei dieser Lösung weisen Anna- bzw. Kronprinzenstraße erhebliche Steigungen oder Gefälle auf. Eine erste Diagonalstraße entsteht beim Abzweig Kaiserstraße von der Hohenzollern .Die Luisen Str. als Fortführung der Alten Wilhelmshöher Allee, wird anfangs gradlinig an der Städt. Kaserne vorbeigeführt (noch aus dem Neumannplan 1878 ersichtlich). In den 80er Jahren scheint die Diagonallösung von Luisen- und Nebelthau Str. eingebracht zu werden. Wiegand verweist auf einen Fluchtlinienplan 1886/88, auf dem eine Festlegung der beiden Diagonalstraßen erfolgt. Zu diesem Zeitpunkt sind alle Straßen „in den Besitz der Stadt“ übergegangen. (Wiegand, 2005, S. 342.) Regina- und Olga Str. erschließen bei Ausbaufortsetzung den Hang als Diagonalstraße. Gleiches gilt für die Germania Str. 363 Dazu zählen das Streckennetz der Friedrich-Wilhelm-Nordbahn und der Main-Weser-Bahn und der 1857 eröffnete „Oberstadtbahnhof“. 364 In den Jahren 1811-13 erbaut (Simon, 1988, S. 78). 365 Der Druselgraben wird auch als Druselkanal bezeichnet. 366 Friderici führt an, die Wasserversorgung sei schon in kurfürstlicher Zeit und weiter durch die Niesteleitung (1869-1872) wesentlich verbessert worden. Es käme jedoch häufig vor, dass das Wasser breits um 3 Uhr abgstellt würde, weil nicht genug vorhanden sei. Erst mitVerwendung des Grundwassers an der Neuen Mühle 1892 würde das Problem behoben. (Friderici, 1960, S. 29.) 367Die Bezeichnungen in dem Abschnitt des Textes sind einer Skizze entnommen. Verfasser: Noel (Baurat der Stadt) – „Die Wasserversorgung der Stadt Kassel, 1890" (Fundstelle: Vermessungsamt Kassel). 368 An dem steilen Nordhang des Kratzenberges wird Die Querallee bis zur Mühle unterm Kratzenberg in Serpentinen geführt, um dann als Müllerweg Rothenditmold zu erreichen. 111 Quellen: Gemarkung Kirchditmold : Katasterkarte (1852) Gemarkung Wehlheiden : Katasterkarte (1852) Gemarkung Kassel : Katasterkarten und Karte Neumann (1878) Landnutzung Nutzungsart bebaut Wilhelmshher Allee Feldweg Hauptstrae Nebenstrae Strae-bestehend Strae-geplant Eisenbahn-allgemein Acker Friedhof Gewsser Hausgarten Park See / Teich Wald Wiese 1:10.000 0 1.000500 Meter Universitt Kassel September 2005 R. Demme K. Horn (Kartographie) S.Aschrott : Das Hohenzollern-Stadtteil-Unternehmen Karte 1 : Zustand zum Stand 1852/1866 Ausschnitt stlich der Querallee Hintergrund Stadtplan 1913 Q ue r A lle e 112 Karte 2: Zustand zum Stand 1852/1866 – Ausschnitt westlich der Querallee Der Kartenausschnitt setzt sich aus Gemarkungsflächen von Rothenditmold im Norden, einem Sporn Kasseler Flur südlich davon und im Zentrum aus der Wehlheider sowie im Nordwesten der Kirchditmolder und im Westen der Wahlershäuser Flur zusammen. Auch westlich der Querallee existiert in der Wehlheider Flur ein Wege- und Pfadsystem. Be- deutend ist der Kirchweg als Verbindung des Dorfes Wehlheiden mit Kirchditmold. Da für Wehlheiden keine eigne Kirche existiert, sucht die Bevölkerung zu kirchenfeierlichen Anlässen den allsonntäglichen Hauptgottesdienst des Kirchenspiels Kirchditmold auf.369 Die Kölnische Allee, der in gleicher Richtung verlaufende Wahlershäuser Weg370, zwischen Quer Allee und Kirchweg und als dessen Abzweig, der Kirchditmolder Weg, gliedern die Fläche. Die Wil- helmshöher Allee ab Wilhelmsplatz schneidet die Karte in zwei Teile; im südlichen stellt die Kohlen Str. zwischen Ortskern Wehlheiden und den Kohleabbaugebieten im Habichtswald die Verbindung her. Für Rothenditmold und Zwehren gilt die Quer Allee und deren Fortführung, die Schönfelder Str., als direkte Verbindungsstraße. Als signifikante Wasserläufe erweisen sich der Druselkanal, in den der Zulauf des von Norden kommenden Entwässerungsgrabens des Kirchditmolder Teiches, der Schuppachgraben, mün- det, sowie die Drusel, wie auf Karte1 zu sehen ist. Siedlungskonzentrationen finden sich in Kirchditmold im Nordwesten und, siehe Karte 1, in Wehlheiden sowie an der Kreuzung Kirchweg/ Wilhelmshöher Allee. Neben den Gartenbezirken um die Ortskerne treten Wiesenflächen in Nähe der Wasserläufe auf. Große Teile der Ge- markung nutzt man ackerbautechnisch, worauf noch genauer eingegangen wird. Der in Ebene 2 liegende Stadtplan weist in der Straßenführung starke Unterschiede zum östli- chen Teil auf. Ab Höhe des Hohenzollernplatzes, ursprünglich als rechteckiger Platz geplant, beginnt ein Diagonalstraßennetz, wobei als Folge unterschiedliche Platzformen entstehen. Das Oval des Neumarkts, der Platz vor der Stadthalle, eigentlich als quadratische Form geplant, und der in gleicher Art gestaltete Berliner Platz auf Kirchditmolder Flur treten besonders hervor. Dominiert wird der westliche Teil vom Aschrott Platz, der in dem Plan erhebliche Dimensionen annimmt, jedoch vor seiner Erbauung wieder aufgegeben wird. Gleiches gilt für den weiter nördlich angelegten symmetrischen Felix Platz.. 369Das Kirchditmolder Kirchspiel im Westen der Residenz besitzt eine besondere Bedeutung, denn zu der Kirche gehören neben den Ortschaften Wehlheiden, Wahlershausen, Rothenditmold und Harleshausen noch Schloß Weißenstein, an dem der Pfarrer des Kirchspiels als Hofprediger arbeitet. Es finden jedoch in den Orten, so auch in einer alten Kapelle in Wehlheiden, Nebengottesdienste statt, die häufig von Lehrern des Ortes gehalten werden (Wölbing, 1992, S. 8/9). Bis Anfang der 30er Jahre des 19. Jahrhunderts hält man die Beerdigungen der Nachbardörfer Harleshausen, Rothenditmold, Wahlershausen und Wehlheiden in Kirchditmold ab. Die Beerdigungen werden nach drei Sterbeklassen mit unterschiedlicher Gebühr unterschieden, die wiederum den Steuerklassen entsprechen, abgeleitet von dem Drei-Klassen-Wahlrecht (Heinemann, 1985, S. 4). 370 Nach Karte: Gemarkung Wehlheiden Karten A-J, 1852 (Vermessungsamt Kassel). 113 Quellen: Gemarkung Kirchditmold : Katasterkarte (1852) Gemarkung Wehlheiden : Katasterkarte (1852) Gemarkung Kassel : Katasterkarten und Karte Neumann (1878) Landnutzung Nutzungsart bebaut Wilhelmshher Allee Feldweg Hauptstrae Nebenstrae Strae-bestehend Strae-geplant Eisenbahn-allgemein Acker Friedhof Gewsser Hausgarten Park See / Teich Wald Wiese 1:12.500 0 1.000500 Meter Universitt Kassel September 2005 R. Demme K. Horn (Kartographie) S.Aschrott : Das Hohenzollern-Stadtteil-Unternehmen Karte 2 : Zustand zum Stand 1852/1866 Ausschnitt westlich der Querallee Hintergrund Stadtplan 1913 Wahlersh user We g Kirchweg Q ue r A lle e 114 Abb.: 19 Ausschnitt von der Gegend von Cassel.371 (Grundlage für die Karten 1 und 2) Karte 3: Zustand zum Stand 1852/1866 – Übersicht Sie verdeutlicht die Flächennutzung des gesamten westlichen Teils. Neben der auf die Ortskerne beschränkten Bebauung, wie bei Kirchditmold, Wahlershausen und Wehlheiden, fallen Siedlungsentwicklungen entlang der Wilhelmshöher Allee in Höhe der jeweiligen Orte auf. Die Stadterweiterung in der Kasseler Gemarkung beschränkt sich nach Westen lediglich auf Bauten entlang der bestehenden Ausfallstraßen. Die Informationen dazu sind dem Neumannplan von 1878 entnommen, mit dem Aschrott neben seinem Stadterweiterungsprojekt die geringe Bebauung in Kurhessischer Zeit darstellen will. Weiter verdeutlicht die Karte die Flächennutzung in Ortsnähe, wo Intensivkultur vorherrscht, die in Ackerflächen und Wiesen übergeht. Diese Nutzung gilt gleichfalls für die Gemarkung der Stadt Kassel. Eisenbahnflächen geben vor, in welcher Größe ein Stadterweiterungsprojekt er- folgen kann. In ausschließlich ländlicher Flur beabsichtigt Aschrott, eine Erweiterung mit groß- städtischem Weichbild zu errichten. Dabei wird er wahrscheinlich mit seinem in die Zukunft gerichteten Vorhaben auf verschiedenartigen Widerstand stoßen. 371 Plan der Gegend von Cassel auf höchsten Befehl – Seiner Hoheit des Kurprinzen und Mitregenten unter Leitung des Kurfürstlichen Generalstabs aufgenommen in den Jahren 1833 bis 1840, 1/0 kurhess. Wegstunde à 16000; cass. F = 1222,2 rhl. = Rth. (Stadta KS). 115 Quellen: Gemarkung Kirchditmold : Katasterkarte (1852) Gemarkung Wehlheiden : Katasterkarte (1852) Gemarkung Kassel : Katasterkarten und Karte Neumann (1878) Landnutzung Nutzungsart bebaut Wilhelmshher Allee Feldweg Hauptstrae Nebenstrae Strae-bestehend Strae-geplant Eisenbahn-allgemein Acker Friedhof Gewsser Hausgarten Park See / Teich Wald Wiese 1:25.000 0 1.000500 Meter Universitt Kassel September 2005 R. Demme K. Horn (Kartographie) S.Aschrott : Das Hohenzollern-Stadtteil-Unternehmen Karte 3 : Zustand zum Stand 1852/1866 bersicht Hintergrund Stadtplan 1913 116 Karte 4: Urkarte Wehlheiden Der Ausschnitt der Flurkarte372 Wehlheiden, nördlich der Wilhelmshöher Allee, ist nach seiner Flächenaufteilung als Mischflur zu bezeichnen, da ein einheitlicher Flächentyp nicht nachweisbar ist (Niemeier, 1967, S. 45). Überwiegend liegt Streifenflur373 vor. Da die Breite von 40 m nicht überschritten wird, kann man von Schmalstreifen sprechen. Ob diese sich als Besitzgemenge (d.h. mehrere Streifen gehören zu einem Betrieb) auf einen Landwirt oder auf mehrere verteilen, ist nicht nachprüfbar. Das existente Erbrecht erhärtet die Annahme der Besitzteilung. Somit gehören die Schmalstreifen vielen Eigentümern. Mit den vorliegenden Flurformen lässt sich das sozioökonomische Gefüge der Ortschaft als Bestand vieler kleiner Bauernstellen beschreiben. Bei dieser Besitzstückelung können viele Felder nicht über Wege erreicht werden; das erfordert bei Bestellung und Ernte Absprachen. Die Karte weist Parzellen in Gemengelage auf, so kann man bei vorliegender Aufteilung von Zelge sprechen. Das bedeutet, die Flächen stehen unter Flurzwang, bei dem die Nutzer gleiche Anbaufrüchte zu gleicher Zeit einbringen (Hanle, 1978, Stichwort: Flurzwang). Möglich ist, dass mehrere Bauern auf Grund der Betriebsgröße den Ackerbau aufgegeben haben und andere deren Parzellen mitbewirtschaften. Somit wäre der Flurzwang hinfällig. Die Kleinparzellierung könnte als eine Erklärung für die Umorientierung der Erwerbstätigkeit (Engelhardt, 1999, S. 18) unter der Wehlheider Bevölkerung gelten, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verstärkt als Tagelöhner, im Fuhrbetrieb für Kohlebeförderung und als Handwerker arbeitet. Die geringe Betriebsfläche ist für landwirtschaftliche Betriebe unrentabel. Die Anlage der Parzellen zeigt keine dominante Richtung. Sie liegen sowohl mit dem Hang als auch gegen ihn. Folglich ist von „kreuzlaufende[r] Gewannflur“ (Niemeier, 1967, S. 48) zu sprechen. Diese ist von der Ackertechnik abhängig, die je nach Hangneigung oder Bodenquali- tät die Pflugrichtung ändert. Neben Streifen treten auch Blöcke374 auf. Entlang der Drusel befinden sich Wiesen zur Beweidung und Grünlandgewinnung. Man kann annehmen, dass der Bereich weitgehend zur Allmende375 gehörte und von der Gesamtheit dörfli- cher Betriebe genutzt wird. Die bestehende Form wird für die Gemarkung aufgegeben, denn seit dem 17. und besonders im 19. Jahrhundert werden viele Allmenden aufgeteilt (Niemeier, 1967, S. 43). Dies verdeutlichen die unterschiedlichen Blöcke. Die in Ebene 2 erkennbaren späteren Straßenverläufe sollen in Relation zur Pflugarbeit gebracht werden. Überall vorhandener Wellenkalk bedeutet gleiche Bodenqualität, dadurch wird die Pflugrichtung nicht beeinflusst. Im nördlichen Teil, unmittelbar westlich der Quer Allee verlaufen die Schmalstreifen fast parallel zur Straße. Sie hat hier starke Steigung, folglich wird gegen den Hang gepflügt. Die westlich anschließende Fläche bearbeitet man parallel zum Hang. Hier liegen terrassenartige Parzellen mit geringer Steigung vor. Die Fläche erscheint für einen Kasernenkomplex geeignet, was später zum Bau der Infanterie-Kaserne führt. Ihr Grundriss wird von amtlicher Seite in den Plan nachträglich eingetragen. Das südliche Areal zwischen Regina Str. und Kaiser Platz weist gleichfalls abfallendes terras- senartiges Gelände auf. Folglich legt man die Parzellen parallel zum Hang, Pflugrichtung gleich Isohypsenverlauf. Das bestätigt die aufgestellte Behauptung, bei schwachem Gefälle mit und bei starkem gegen den Hang zu arbeiten. Die Anlage von Straßen in Ost-West-Richtung scheint weitgehend, wenn möglich, der Parzel- lenausrichtung zu folgen. Man versucht so, Steigungen und Gefälle zu minimieren. Die Verbin- 372 Kreis Cassel - Gemarkung Wehlheiden, Karten A-J – Gemarkungskarte in 9 Blätter im Jahre 1852 (Vermessungsamt Kassel). 373 Geht das Verhältnis Breite – Länge über 1:5 hinaus, spricht man von Streifenflur (Niemeier, 1967, S. 44). 374 Im Verhältnis Breite zu Länge spricht man bei 1:1 bis 1:5 von Blockflur (Niemeier, 1967, S. 44). 375 Bei der Allmende geht es um Ländereien, meist Weide oder Wald, die die Mitglieder einer Gemeinde gemeinschaftlich nutzen (Hanle, 1978, Stichwort: Allmende). 117 dungs- oder auch Diagonalstraßen schneiden die Parzellen im Winkelmaß von 45° bis rund 60°. Mit diesem Verlauf wird eine Geländeanpassung optimiert. Somit kann zwischen Parzellenaus- richtung sowie Pflugrichtung und der Projektierung neuer Straßen ein direkter Zusammenhang bestehen. Für die Umsetzung einer Stadterweiterung ist eine geschlossene Fläche in der Hand eines Besitzers erforderlich. Bei vorliegender Zersplitterung der Flur in eine Vielzahl kleiner Flächen mit mehreren hundert Eigentümern376 sind endlose Verkaufsverhandlungen erforderlich, um die Flur zu einem einzigen Besitz zu koppeln. Karte 5: Zustand zum Stand 1852 – Ausschnitt Kirchweg – Main-Weser-Bahn Der Ausschnitt westlich des Kirchwegs bis zur Main-Weser-Bahn zeigt als Grundkarte die Fluraufteilung in Schmalstreifenparzellen für Ackerbau, wie in voriger Karte, sowie einge- streute Grünlandnutzung wie bei Struthwiesen und der Grünlandzone entlang der Drusel. Der die Morphologie bestimmende Wellenkalk bildet hier Kuppen wie am Stuthkopf oder Kalkofen- berg. Deutlich tritt letzterer heute noch als Tannenkuppen Park hervor. Die von Heinemann377 nachträglich in das Kataster eingezeichneten Höhenlinien378 geben Anhaltspunkte zum Profil der Oberfläche. So erscheint nach Kartenaussage der Struthkopf als höchster Ort des Ausschnitts. Von diesem fällt das Gelände nach Nordwesten und Westen ge- ringer ab, während die Depressionszone zum Druselgraben, nach Süden, wesentlich stärker ist. Die Steigungen am Kalkofen dagegen verdeutlicht die Karte ungenau. Hier sind heute noch starke Höhenunterschiede sichtbar. Die dahinter liegende Ebene 2 der Karte stellt die Behauptung Blumenauers in Frage, der schreibt, laut Fluchtlinienplan seien die neu angelegten Diagonalstraßen in Wehlheiden falsch projektiert, da sie die Höhenlinien senkrecht schneiden (Hülbusch, 1977/78, S. 9). Dies kann, wenn vorherige Aussage über Ausrichtung der Parzellen nach Pflugrichtung stimmt, teilweise widerlegt werden. Im vorliegenden Ausschnitt trifft Blumenauers Vermutung lediglich für Wey- rauch Str. und Aschrott Str. im Abschnitt Hohenzollernstr. und Aschrott Platz zu. Dagegen nehmen Pappenheim-, Baumbach- und Diakonissen-Str., als ausgewählte Beispiele, einen für die Steigung der Straßen günstigen Geländeeinfall auf. Im Bereich Hohenzollernstr. sind für ein einheitliches Straßenniveau im vorliegenden Ausschnitt erhebliche Erdbauarbeiten notwendig. Der ursprüngliche Flurweg, beginnend an der Quer Allee, dem Wahlershäuser Weg mit dem Abzweig Kirchditmolder Weg (siehe auch Karte 1 und 2), nimmt weitgehend den Höhenlinien- verlauf auf und orientiert sich gleichzeitig am Druselgraben. Letzterer Weg passiert den Kalk- ofenberg im Norden, während der Druselgraben die südliche Isohypse nutzt. 376 Kirchner schreibt, Aschrott habe mit „etwa 420 Eigentümern“ verhandelt (Kirchner, 1921, S. 72). 377 Gemarkung Kirchditmold, Kreis Cassel im Jahre 1852 – Nach Katasterkarten: Blatt A-B-C-E im Maßstab 1:1500 d.w.Gr. u. Blatt D (Ortslage) im Maßstab 1:750 d.w.Gr. umgezeichnet auf den Maßstab 1:5000 und ergänzt durch andere kartographische Unterlagen, sowie durch eine eigene Flur- und Straßennamenssammlung von Heinrich Heinemann, im Jahre 1950 (StadtaKS). 378 Die Höhenlinien sind in einem Abstand von 10 m eingezeichnet. Den höchsten Punkt stellt der Struthkopf mit 210 m über N.N. dar. Die nachfolgenden gestrichelten Isohypsenverläufe geben die Höhe von 200 und 190 m an. Die südwestlich die Gemarkungsgrenze schneidende Höhenlinie beträgt 180 m. 118 Quellen: Gemarkung Wehlheiden : Katasterkarte (1852) 1:5.000 0 10050 Meter Universit t Kassel September 2005 R. Demme K. Horn (Kartographie) S.Aschrott : Das Hohenzollern-Stadtteil-Unternehmen Karte 4:Zustand zum Stand 1852 Ausschnitt Gemarkung Wehlheiden Hintergrund Stadtplan 1913 119 Quellen: Gemarkung Kirchditmold : Katasterkarte (1852) in der Bearbeitung H.Heinemann (H henlinien) Gemarkung Wehlheiden : Katasterkarte (1852) 1:5.000 0 10050 Meter Universit t Kassel September 2005 R. Demme K. Horn (Kartographie) S.Aschrott : Das Hohenzollern-Stadtteil-Unternehmen Karte 5 :Zustand zum Stand 1852 Ausschnitt Kirchweg - Main-Weser-Bahn Hintergrund Stadtplan 1913 210 m 200 m 190 m 180 m 120 7.2.5 Kleinparzellierung verhindert einen geschlossenen Flächenkauf Abb.: 20 Übergang von Gartenparzellen zu landwirtschaftlichen Flächen in Kasseler und Wehlhei- der Flur379 Im Bereich der Gärten, von Kleinparzellierung geprägt, in unmittelbarer Stadtnähe, kann es Aschrott, wie sich bei späteren Expropriatiosverfahren belegen lässt, kaum gelingen, eine ge- schlossene Fläche als Bauland aufzukaufen. Die gleiche Aussage gewinnt man durch den folgenden Ausschnitt aus dem Stadtplan um 1860.Dagegen erscheint der Ankauf der landwirtschaftlich orientierten Flur zu einer geschlossenen Gesamtfläche wahrscheinlicher (s.o.). 379 Plan der Gegend von Cassel auf höchsten Befehl, 1840. 121 Abb.: 21 Ausschnitt aus der Reproduktion eines Stadtplans380 aus der Zeit um 1860 In dem Ausschnitt aus dem Böckelplan von 1866 (nächste Abbildung) werden die Ausrichtung der Grundstücksbreite an der Wilhelmshöher Allee und Alten Wilhelmshöher Allee sowie die Grundstückslänge an dem Karthäuser Weg deutlich. Die projektierte Ulmen Str. und der Karthäuser Weg als westliche Grenze der Friedrich-Wilhelms-Stadt sind wahrscheinlich erstmals in den Plänen (Grundlage bildet der Böckelplan von 1854) der Oberbaukommission und der städtischen Behörde aufgenommen (Wiegand, 2005, S. 33). Lediglich der Karthäuser Weg existiert als alte Wegfläche. Das Rechtecksraster wird in obigen Plänen südlich der Wilhelmshöher Allee fortgeführt. Eine Veröffentlichung eines Fluchtlinienplans westlich des Ständeplatzes einschließlich Hohenzollernstr. ist für den 7.9.1869 nachweisbar (Wiegand, 2005, S. 121). Die Umsetzung gerät in Konflikt mit den Eigentumsverhältnissen. Die Gewannverteilung am Karthäuser Weg orientiert sich am alten Flurweg, das gilt auch weiter bei Teilung in kleinere Nutzflächen oder Baugrund. Während die Gärten an der Alten Wilhelmshöher Allee nach Ver- lauf der Straße ausgerichtet sind, verläuft die barocke Achse, der absolutistischen Vorstellung entsprechend, als willkürliche Planung entgegen möglicher Eigentumsinteressen. Die nachfol- genden Planungen nehmen, wie bei der skizzierten Ulmenstraße, die geltenden Planungen des absolutistischen Städtebaus wieder auf und schneiden die Achse orthogonal, was in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wiederum zu Problemen mit den Besitzern führt. 380 Plan von Cassel – Haupt- und Residenzstadt – Kurfürstentum Hessen – 1884 – 100 Jahre Vermessungsamt der Stadt Kassel – 1984. 122 Abb.: 22 Kartenausschnitt des Böckelplans 1866 7.2.6 Geomorphologische und hydrografische Probleme des zu erschließenden Baugrundes Die Interpretation der vorhandenen Kartenlage lässt keine eindeutigen Schlüsse auf die Verän- derung der Erdoberfläche seitens landschaftsverändernder menschlicher Eingriffe zu. Unter hydrografischem Aspekt fungiert das Areal als Entwässerungsfläche für den Ostabfall des Ha- bichtswaldes, der durch seine westliche Riegelfunktion für das Kasseler Becken häufig Nieder- schlägen ausgesetzt ist und die Wasserscheide zwischen Wolfhager Land und Kasseler Becken bildet. Auf Wahlershäuser Gebiet nimmt der Neue Wasserfallgraben die Niederschlags- und Schicht- wasser auf, gleiches gilt für die westlich verlaufende Drusel. Der Lac, der das Wasser des Berg- 123 parks und der Wasserspiele zusammenfasst, entwässert über den Schlossteichgraben381 durch Wahlershausen und wird dann von der Drusel aufgenommen. Der Druselgraben,382 eine Ableitung des Druselbaches oder einfach Drusel nimmt den Neuen Wasserfall- und den Entwässerungsgraben des Kirchditmolder Teiches auf. Der Druselgraben fließt dann südlich der Tannenkuppe, bildet eine Nordschleife, um schließlich den Südrand des Höllenküppels383 zu passieren. In diesem Abschnitt384 ist er tief eingeschnitten, schneidet östlich gradlinig die Querallee, passiert die Städtische Kaserne385, um weiter in Bruchsteinkanäle am Druselturm386 in den Druselteich zu münden.. Die Flurnamen der Katasterurkarten387 erlauben Rückschlüsse auf Flächennutzungen bzw. geologische oder geschichtliche Besonderheiten des Areals. Namen wie: Unterm Kratzenberg, Hinter der Hölle stehen für Flurbezeichnungen. Westlich der Querallee und nördlich des Wah- lershäuser Wegs werden sie ergänzt mit: Die Porzellankaute388 und Becker-Hann`s Berg. Der Teil östlich der Querallee heißt lediglich: Hinterm Kratzenberg. Daran schließt sich südlich bis zur Wilhelmshöher Allee: Aufm Glei,389 das noch zur Kasseler Gemarkung zählt, an. Im südlichen Teil des Areals treten von Ost nach West auf: Kleewiesen, Die Scheibe Breite, Die Struth, Die Drusel Wiesen, Die Pfingst-Weide, Auf der Fischbreite und Die Kaute als Namen hervor. Die westlich anschließende Kirchditmolder Gemarkung führt Bezeichnungen: Wie Am Sam- melkasten, Im Struth Feld, Am Struthkopf, Im Berge, Im Vogelgarten, Kalkofen,390 Am Truselgraben, Die Mittelbinge. 381 Auch als Grunnelbach bezeichnet. - Wahle resultiert aus sal(a), das dem altpreußischen salus – Regenbach, wie in Thüringen Sala = Flüsse oder Saale, entspricht (Baumbach, 1974, S. 12.) Eine andere Erklärung führt Wahlershausen als „Warolfeshusen“ (1123) auf den Personennamen Warolf zurück (Andrießen, 1990, S. 92). 382 Der Druselgraben (auch Druselkanal), eine Ableitung die durch Aufstauen der Drusel erfolgt, dient ursprünglich zum Betreiben der Unteren Mühle in Wahlershausen. Der Druselgraben versorgt ebenso die Stadt Kassel mit Brauchwasser; er ist als Wassergraben angelegt und weist geringes Gefälle auf, was durch seine Führung an einer Höhenlinie erreicht wird und erklärt so seinen meandrierenden Verlauf (Info: Herr Helmut Brier, ehemals Mitarbeiter im Vermessungsamt). 383 Der Plan der Gegend von Cassel weist zwischen den beiden genannten Kuppen etwas nördlich versetzt den Stuthkopf, heute Gelände des Stadthallengartens, auf. 384 Bei Kanalarbeiten in der Goethestraße (früher Kaiserstraße) konnte man in einem geöffneten Wasser- sammler in 6-7 Meter Tiefe Wasser sehen. Dieses entspricht der Höhenlinie, an der der Druselkanal verläuft (s.a. Noel, 1890, Skizze). 385 Auf dieser Höhe endet die Noelsche Wasserversorgung. 386 Am Messtischblatt von 1855/56 lässt sich die künstliche Wasserführung entlang der Isohypsen nachweisen (Info: H. Brier). 387 Pläne um 1690 werden in Fachkreisen als erste Katasterkarten bezeichnet (Standort: Staatsarchiv Marburg). Durch Verkoppelung verschiedener Fluren und die Vermessung der Bahnstrecken Friedrich- Wilhelms-Nordbahn und Main-Weser-Bahn werden Neuvermessungen notwendig. Es entstehen in den Jahren 1835-70 auf dieser Grundlage Karten, die heute vom Kataster- und Vermessungsamt als Urkarte betitelt werden. Sie bilden gleichfalls die Ausgangslage für die nach 1875 zu erstellenden Fluchtlinienpläne (Info: Friedhelm Fenner, Vermessungsamt). 388 Hier lässt sich eine Fundstelle für Quarz oder Feldspat oder gar Kaolin (Grundstoffe der Porzellanherstellung) vermuten. 389 Flurnamen haben oft eine lange Geschichte. Häufig sind ihre ursprünglichen Bezeichnungen nicht mehr verstanden worden und aus dem Klang des Namens entstehen Neuschöpfungen, die mit dem Ursprung nichts gemein haben. Wurm bedeutet Berg, daraus wird dann Wurmberg (Baumbach, 1974, S. 42). Die Menschen der Bronzezeit leben auf den Höhen als Hirten. In der jüngeren Bronzezeit siedeln sie erneut in der Ebene, halten aber an der herkömmlichen Wirtschaftsform fest. Ackerbau wird in geringem Umfang betrieben. Viele Flurbezeichnungen lassen sich auf die Zeit der Viehweidung zurückführen. Erst im 18. und 19. Jahrhundert wird verstärkt Ackerbau betrieben (Baumbach, 1974, S. 83/84). 390 Die Wehlheider Kalkbrenner fördern ihr Material aus dem Wellen- und Muschelkalk des 124 Der Höllenküppel sowie die tiefe Einsenkung des Druselgrabens erweisen sich beispielsweise bei der Umwandlung der Landfläche in Bauland als Problemzonen, denn hier müssen große Erdbewegungen391 und Kanalarbeiten stattfinden. Gleiches gilt für den nördlich gelegenen Geländeabfall des Kratzenbergrückens bis zur Kölnischen Straße. Der Struthkopf, auch als Tannenkuppe bezeichnet, zeigt zusätzlich zu seinen starken Steigungen in seiner Ausdehnung nach Westen stark abfallende Hänge im nördlichen und südlichen Bereich. Hier sind ebenfalls aufwendige Erdarbeiten erforderlich. Ähnliche Depressionsflächen finden sich im Bereich des Druselbaches. So zeigt sich das Relief kleingegliedert mit Hängen, tiefen Einschnitten und stetig nach Süden einfallend, morphologisch unruhig durch erosionsbedingte Abtragungen des Wel- lenkalks. Abb.: 23 Ausschnitt aus dem Urkataster Wehlheiden von 1852 westlich der Querallee mit Flurna- men392 7.3 Aschrott gewinnt am kapitalistischen Bodenmarkt an Format Mit dem Ankauf von Boden beginnt Aschrott im kapitalistischen Bodenmarkt Fuß zu fassen. Zunächst verhandelt er in den sechziger Jahren mit „etwa 420 Einzelbesitzern“ (Kirchner, 1921, S. 72) sowie den Gemeinden Wehlheiden, Wahlershausen, um ein geschlossenes Gebiet in der westlichen Gemarkung Kassels und den anschließenden Fluren Wehlheidens, Wahlershausens und Kirchditmolds zu erwerben. Mit diesem Vorgehen sichert er sich frühzeitig ein Flächenmonopol in einem Areal, das als Stadterweiterungsprojekt in den kommenden Jahrzehnten als zwingend notwendig in Frage Kratzenbergs, hier entstehen folglich Kalkgruben (Hermsdorff, Bd. 3, 1980, S. 57). Kalkofen deutet auf den Ort des Brennens. 391 Zur Reliefinterpretation werden die Karten benutzt: Plan der Gegend von Cassel auf höchsten Befehl – Seiner Hoheit des Kurprinzen und Mitregenten unter Leitung des Kurfürstlichen Generalstabs – aufgenommen – in den Jahren 1833 bis 1840, und die Handskizze von Noel: Die Wasserversorgung der Stadt Kassel, 1890. Katasterkarten sind wegen fehlendender Höhenangaben nicht zu verwenden. 392 Der Grundriss der Infanteriekaserne wird nachträglich in die Karten eingezeichnet. Gleiches geschieht mit den Trassen der Eisenbahn auf anderen Ausschnittsbeispielen. 125 kommt; denn auch in Kassel herrscht absolute Wohnungsnot. Diese besteht aber hauptsächlich zur Zeit von Aschrotts Bodenerwerb für Arbeiter und gering Verdienende in den expandieren- den Industriesektoren. Seine umfangreichen Landkäufe verbindet er mit Tauschmaßnahmen mit Wehlheiden und Wahlershausen, über deren verschiedenen Gemeindebesitz er gern verfügen würde, weil er diesen für ein zusammenhängendes Bauareal benötigt. Seine Maßnahmen setzt er in einem politischen Klima um, in dem zögernde Kasseler Kleinspekulanten, als Folge un- schlüssiger kurhessischer Politik, sich nicht trauen, Boden zu erwerben oder nicht in der Lage sind, solche Großprojekte anzugehen. Aschrott scheint sich in seinen wirtschaftspolitischen Zielvorstellungen sicher zu sein, was sich bei kaufmännischen Aktivitäten für Militärlieferun- gen bestätigt, ein Gegenstand späterer Erörterung. Das Kasseler Umfeld hat unterschiedliche gesellschaftliche Strömungen. Es sind Bevölkerungs- gruppen, die auf Anschluss an Preußen hoffen, konservativ geprägt, Vorsteher öffentlicher Ämter sowie der hessische Adel, der an kurhessischen Verhältnissen festhalten will. Kapitalistischen Unternehmern und Grundbesitzern in Kassel fehlen Weitsicht sowie wirt- schaftliche Erkenntnis oder erforderliches Kapital zur Vermarktung von Boden. Aschrott hat einen geschärften Blick für anstehende wirtschaftlichen Aufgaben. Bei Reisen und Geschäfts- aufenthalten in Berlin wird Aschrott vermutlich mit Bodengesellschaften konfrontiert und be- ginnt sich mit der Problematik auseinanderzusetzen. Sein Vater betreibt seit 1821 ein eingetra- genes Bankgeschäft, das wahrscheinlich mehr einer Wechselstube gleichkommt. Dies führt Sigmund weiter. In Berlin entwickelt sich schon früh, seit Ende der 50er Jahre, ein Bodenmarkt, während der Grundstücksmarkt in Frankfurt später entsteht. In der Periode vorkapitalistischen Städtebaus hat der Boden an sich noch keinen Marktwert. Wird er trotz geringer Hausbautätigkeit benötigt, veräußern entweder Eigentümer diesen für einen geringen Preis oder stellen ihn einfach zur Verfügung. Im letzteren Fall wird dem Schen- kenden öffentlich Lob und Dank ausgesprochen. Die Verfügbarkeit von Boden wandelt sich, nachdem dieser „kapitalistische Eigenschaften“ erlangt. Der Boden stellt jetzt ein Kapital dar, das wie andere Produkte veräußerbar ist. Durch Wandlung von Flurstücken in Bauland steigt der Wert, und der Boden wird zum Träger der „städtischen Grundrente“. Bei Verkauf wird er wiederum zu Kapital, dem „Bodenpreis“. „Agra- rische“ und „städtische“ Grundrente sind wesentlich verschieden. Bei ersterer handelt es sich um die Ertragsfähigkeit des Bodens und den Wert, der auf diesem durch agrarische Produktrente erzielt wird. Dagegen erweist sich die „städtische Grundrente“ als Wertanzeiger des Grund- stücks und stellt eine Beziehung zu dem auf dem Boden errichteten Gebäude her. Der zu erzie- lende Ertrag hängt im Wesentlichen von der erzeugten Grundrente oder dem erzielten Bodenpreis ab. ( Rodriguez-Lores, 1983, S. 109.) Aschrott ist lange vertraut mit der Kasseler Industrieentwicklung und der Ausweitung von Dienstleistungen und weiß, dass sich in wenigen Jahren hier ein Bodenmarkt einstellen wird. So beginnt er vorausschauend die Berliner Entwicklung zu kopieren. Seine Bodengeschäfte in Frankfurt, Berlin und Chemnitz entsprechen von ihrer Lage jedoch nicht denen im Kasseler Westen. Die Aufkäufe außerhalb Kassels beginnen zu einem Zeitpunkt, an dem Grundstücksspekulationen in Zentrumsnähe bereits erfolgt sind. In Kassel versucht Aschrott anfangs mit einer Terraingesellschaft, dem „Consortium“, sein Ziel der Errichtung eines Stadtteils umzusetzen. Neben Bodenankäufen westlich des Ständeplatzes gelingt es ihm westlich der Querallee bis zur Main-Weser-Bahn und zwischen Kölnischer Straße und Wilhelmshöher Allee seine Käufe zu einem geschlossenen Areal zusammenzufügen. Sein Flächenerwerb erstreckt sich auch auf Gebiete jenseits der Main-Weser-Bahn in Kichdit- mold und Wahlershausen. Südlich der Wilhelmshöher Allee, vor allem in der Nähe des Roten Kreuz Krankenhauses, und im Auefeld verfügt er ebenso über beträchtliche Flurflächen. 126 Eine lückenlose Aufstellung und Kartografierung393 seines Grundbesitzes zu seinen Lebzeiten scheint für Kassel nach den bisher gefundenen Quellen nicht möglich. Auch die Unterlagen394 der Rückabwicklung, im Hessischen Hauptstaatsarchiv archiviert, von Aschrottschen Vermö- genswerten in der BRD nach dem Zweiten Weltkrieg geben nur Auskunft über einen bestehen- den Besitzstand von 1932 bis 1945. Vorher verkaufte Flächen sind nicht vermerkt. 7.3.1 Praxis beim Landkauf Eine Klage Aschrotts395 gegen den Ackermann Günther Feldner396 in Philippinenhof wegen Eigentumsstörung deutet eine Form des Landkaufs an. Das Streitobjekt befindet sich an obigem Ort. Mit dem Prozess397 verfolgt Aschrott die Anerkennung seines Eigentums, welches er laut Kaufvertrag vom 13.5.1873 nachweist. Er fordert als Gerichtsbeschluss, dem Beklagten zu untersagen, Früchte auf seinem Gelände anzubauen sowie diesen zu bewegen, Stall und Anbau von dem Grundstück zu entfernen. Der Verklagte wiederum stellt die Rechtmäßigkeit des Kauf- vertrages in Frage. Er führt an, durch Aufteilung des väterlichen Besitzes auf mehrere Erben müsse es zu einer Verwechslung gekommen sein, denn die Witwe des Bruders habe einen Teil, über den sie nicht verfügt, verkauft. Als Beweismittel werden Grundbuchauszüge vorgelegt und Bürgermeister sowie Nachbarn als Zeugen angeführt. Die Argumente des Beklagten sind nicht haltbar und es kommt zum Vergleich, bei dem Aschrott bereit ist, den Teil des Grundstücks mit Stall und Haus abzutreten, um dann durch Rücknahme der Grundstücksgrenze eine gerade Grundstücksseite zu erzielen. Die abgetretene Fläche ist mit 125 Talern auszugleichen und Verklagter habe Auflassung und Kosten des Ver- fahrens von 111 M. 90 Pf. zu übernehmen. Als nach sechs Wochen kein Kostenausgleich er- folgt, stimmt Aschrott zwei Wochen Verlängerung zu. Das Verfahren wird im März 1879 erneut aufgenommen, weil die Kosten weiterhin ausstehen. Dabei hält man fest, bei Pfändung von Wohnungsgegenständen keine pfändbaren Stücke vorgefunden zu haben. Der Kläger beantragt erneut eine Festsetzung der Exekution. Hier endet die Akte. Den Kauf des Grundstücks hat Aschrott vermutlich nicht selbst getätigt. Für ihn werden wie beim Leinengewerbe Personen agieren, die mögliche Landverkäufe sei es aus Geldnot, Erb- streitigkeiten u.a. in Erfahrung bringen, mit dem Besitzer den Kaufpreis aushandeln, um mit einem ordentlichen Kaufvertrag abzuschließen. Aschrott selbst wird die Grundstücke nicht in Augenschein nehmen und nur mit ihnen operieren. Ziel scheint die Inbesitznahme möglichst vieler Geländeflächen zu sein, auch unzusammenhängend in Streulage, um bei anderen Grund- 393 Die Grundbücher sind nach Informationen des Grundbuchamts im 2. Weltkrieg durch Feuer vernichtet worden. Die vorliegenden Fluchtlinienpläne, die seit dem Gesetz vom 2. Juli 1875 vorgeschrieben sind, werden nicht systematisch aufgenommen, sondern nur dann, wenn die Verwaltung diese benötigt. So erstreckt sich ihre Erstellung über Jahrzehnte. (Information: Friedhelm Fenner, Vermessungsamt.) Verkäufe Aschrotts vor 1875 oder vor Erstellung von Fluchtlinienplänen sind dadurch nicht dokumentiert. Die Grundstücksflächen der Pläne enthalten nur die Namen des Grundbesitzer, nicht aber das Jahr des Erwerbs. 394 Nach mündlicher Information durch Dr. Kleinlein, Vertreter der Kanzlei, die als Nachtragsliquidator der Deutschen Bodengesellschaft und der Union Bodengesellschaft die Abwicklung der Aschrottschen Vermögenswerte für Flächen in Berlin-Pankow und Chemnitz durchführt, ist die Rückführung in den alten Bundesländern Anfang der 60er Jahre vollzogen. (Gedächtnisprotokoll: Gespräch zwischen Dr. Kornelius Kleinlein und Verf.) Recherchen des Verf. beim Amtsgericht Kassel im Handelsregister A (Einzelfirmen, Personengesellschaften) bzw. im Handelsregister B (Kapitalgesellschaften), die jeweils bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts zurückzuverfolgen sind, geben keine Hinweise auf die Existenz einer Aschrottschen Grundstücksverwaltung. Es bestände die Möglichkeit, dass es sich bei der Terraingesellschaft in Kassel um eine Zweigniederlassung handelt, und diese ist nur an dem Niederlassungsort eintragungspflichtig. (Info: Amtsgericht Kassel.) Die von Kleinlein angesprochenen Akten über Besitz in den alten Bundesländern befinden sich im Hess. Hauptstaatsarchiv Wiesbaden. 395 Aschrott wird vertreten durch den Rechtsanwalt Ludwig Spohr, Cassel. 396 Den Beklagten Günther Feldner verteidigt Rechtsanwalt Wilhelm Gervinus, Cassel. 397 St AM Best. 269 Kassel, Nr. 318. 127 stücksverhandlungen, Zusammenlegungen oder Tauschverfahren leichter auf Ausgleichsflächen zurückgreifen zu können und Geschäftsbeteiligte, Kommunen oder Privatleute damit abzufin- den. Bei vorliegender komplexer Struktur des Bodenwertgefüges im Gesamtraum scheint ein Tausch leichter den Kauf abzuwickeln, als Geldgeschäfte dies vermöchten. Damit gleicht das Vorgehen Aschrotts in Kassel dem anderer Terraingesellschaften, wie z. B. in Frankfurt,398 wo man Gewinne aus Grundstücksgeschäften erneut in Landkäufe mit Bauerwar- tung investiert. 7.3.2 Rechtsstreit gegen Aschrott wegen Flurstück für Wasserreservoir am Kratzenberg Im Jahr 1870 beabsichtigt die Stadt Cassel ein Reservoir zur städtischen Wasserversorgung399 am Kratzenberg anzulegen. Dazu werden verschiedene Flurstücke gebraucht.400 Bei den Eigentümern handelt es sich um 1.) Ehefrau des Försters Wilhelm Renno, Karoline, geb. Renno, 2.) Wilhelmine Renno und 3.) den Fabrikanten Sigmund Aschrott. Bei Verteilung der Gesamt- fläche401 gehören Ersterem und Drittem je ein Viertel und Zweitem die Hälfte der Gesamtfläche. Wilhelmine hat durch Erbe der verstorbenen Schwester Julia Renno ein Viertel bekommen. Der Güteversuch, im Rahmen einer Entschädigung das Problem zu lösen, ist ohne Erfolg. Da es sich um einen Dringlichkeitsvorgang seitens der Stadt handelt, kann eine Lösung nur durch Expro- priation erfolgen. In einem weiteren Brief402 verständigt der OB403 den PD, der das Enteignungsverfahren einzuleiten hat, dass der unter 3. Angegebene, also Aschrott, die Übertragung der Besitzverhält- nisse auf die Stadt genehmigt hat. In einem juristisch exakt formulierten Schreiben nehmen dagegen Karoline und Wilhelmine Renno nochmals Stellung zu ihrer bereits vorgetragenen Beschwerde, erkennen die Notwendigkeit der Wasserleitung an, bestreiten aber, dass wegen der Größe und Art der Verwendung, die Fragen auf dem Weg der Expropriation zu lösen sind. Sie erwarten von der Stadt einen neuen Antrag auf Entschädigung. Von wem die juristische Formu- lierung des Briefes stammt, wird erst in einem anderen Zusammenhang deutlich. Beim Kgl. Kreisgericht404 zu Cassel405 wird eine Klage der oben unter 1. und 2. genannten Personen gegen den Fabrikanten S. Aschrott als Verklagten geführt, die bei I. Instanz am 23. April eingereicht wird. Rechtsvertreter der Klägerinnen ist Dr. Oetker; er scheint häufiger Ge- genanwalt von Aschrott zu sein. Dieser wird von Peters und Dr. Weigell (wahrscheinlich eine Gemeinschaftspraxis) vertreten. Die Anklage klärt über die Besitzdauer des Grundstücks im Familienbesitz, länger als 100 Jahre, auf, verdeutlicht Erbfolgen und Teilungen und bestreitet den Kaufvertrag406 vom 18. November 1868 mit Aschrott. Der Kaufvertrag sei von mehreren Erben außerhalb Kassels betrieben worden. Dabei handele es sich um einen Grundstückspreis von 845 Reichstalern. Weiter wird argumentiert, nicht länger in der „Erbengemeinschaft“ sein zu wollen und man bittet, da eine gütliche Teilung „nach Lage der Sache nicht möglich“ sei, „den Verklagten als Eigenthümer des anderen ¼ schuldig“ zu sprechen und ihn anzuweisen, gerichtlich das Grundeigentum zum Zwecke der Teilung zu verkaufen. 398 So sind in Frankfurt in der ersten Bauzone u.a. Fhr. v. Rothschild, Frh. v. Bethmann, die beiden wichtigsten Privatbankiers Frankfurts, und Rentier Tornow als Großgrundbesitzer vertreten, die auch außerhalb der Frankfurter Gemarkung erheblichen Grundbesitz ankaufen (Weiland, 1985, S. 378). 399 Brief der Kgl. Regierung an den Polizei-Direktor vom 8. April 1870 (Best. 175, Nr. 529, F 1923). 400 Kataster GG; 65a beträgt 1 ¼ Acker 24 Quadrat-Ruthe (Qu. Rth.) = 3365,66 qm, und GG; 65b beträgt 1 ¼ Acker 11 ½ Qu. Rth. =3381,57 qm. 401 Gesamtfläche umfasst 2 ¾ Acker 11 ½ Qu. Rth.. 402 Best. 175, Nr. 529, F 1924. 403 OB weiter abgekürzt für Oberbürgermeister und PD für Polizei-Direktor. 404 Dezernent des Verfahrens ist der Kreisrichter Müller. 405 St. A M, Best. 269 Kassel, Nr. 85. 406 Kaufvertrag vom 18. November 1868 verfasst im betreffenden „Spezialwährschaftsbuch des Amts- gerichts I. dahier.“ 128 „Der Wert des fraglichen Grundeigenthums beträgt etwa 7500 Reichsthaler. Als Streitwert sei dies jedoch unschätzbar“, „aber von erheblichem Wert zu betrachten.“ Die im September 1869 angesetzte Verhandlung muss verschoben werden, da der Angeklagte sich auf einer vierwöchigen Badekur in Carlsbad befindet. Das Gericht setzt für die Parzellen 65a und 65b, Land am Kratzenberg, die große Breite links der Kölnischen Allee, einen öffentli- chen Verkauf an, dessen Termin auch mehrfach in der Hessischen Morgenzeitung407 veröffent- licht wird. Am 30. März 1870 teilt der Kreisrichter Müller408 mit, ein Verkauf der Grundstücke könne nicht geschehen, da die Stadt Kassel expropriieren will. Daher müssten beide Teile den Verkauf ru- hen lassen. Die Klage verrät auch, wer hinter der oben angeführten überzeugenden Eingabe steht: Dr. Oetker. Mit den vorgegebenen Verkaufszahlen lässt sich eine Berechnung des Quadratmeterpreises vornehmen, der als Grundlage für eventuelle andere Preisberechnungen dienen kann. Der Ver- fasser geht davon aus, dass unter „fragliche[m] Grundeigenthum“ der Aschrottanteil gemeint ist. Aschrotts Teil beträgt 1686,81 qm, der Einkaufspreis 2535 Mark, d.h. Aschrott hat für 1 qm 1,50 Mark409 bezahlt. Wird dem Grundstück der ideelle Wert von 7500 Reichtalern410 zu Grunde gelegt, erzielt der qm = 13,34 Mark. Das bedeutet, Aschrott hat für 11% des ideellen Werts das Land gekauft. Bei dem Kaufvertrag handelt es sich um ein Geschäft zwischen zwei Verhandlungspartnern. Mehrere Erben, auch von außerhalb, sind froh, das Grundstück veräußert zu haben. Gleiches hätten Kläger 1 und 2 auch durchführen können, zumal sie als Verwandte besser informiert sind. Daran wird die Kaufsituation deutlich. Der Verkäufer möchte schnelles Geld erzielen. Der Käufer versucht den Preis zu drücken, da kein weiterer Interessent vorhanden ist, ermöglicht dies Aschrott, einen niedrigen Abschluss zu tätigen. 7.4 Tendenz zum Stadtumbau im 19. Jahrhundert Mit einem Rückgriff auf die Situation in Paris und London bestimmen zwei Problemfelder im 19. Jahrhundert die Überlegungen bezüglich des Stadtumbaus: Das sind Verringerung der sozi- alen Spannungen innerhalb der Stadtbevölkerung und der sicherheitspolitische Aspekt, der sich mit der Entflechtung politischen Aufruhrs beschäftigt. Diese Strategie leitet sich aus der 1848er Revolution in Frankreich ab, wo am 5. Mai des Jahres Arbeiter in Folge von Arbeitslosigkeit und Unterversorgung revoltieren und mit Waffengewalt auseinandergetrieben werden. In der „Junischlacht“ kommen in Paris bei ähnlichen Auseinandersetzungen mit radikalen Demon- stranten 5000 Menschen ums Leben, 12 000 Personen werden deportiert (Scharabi, 1993, S. 133). Vor diesem Hintergrund entwickelt sich ein neues Kaisertum, das sich 1852 konstituiert. Der Neffe von Napoleon I. wird als Napoleon III. inthronisiert. Dieser selbst greift in die Pla- 407 Veröffentlichungstermine: 27.1.70, 17.2.70,10.3.70. 408 Zur Verdeutlichung von Grundstückspreis im Verhältnis zum Verdienst in gehobener Verwaltung. Der Etat-Nachweis der Bau-Verwaltung führt die Jahresgehälter der Regierungsräte auf (1 Tl. entspricht 3 M.): Jahr 1873 1874 Assmann, Regierungs- u. Baurat 1400 Tl. 1700 Tl. Landgrebe, Regierungs- u. Landrat 1400 Tl. 1500 Tl. Lange, Regierungs- u. Landrat 1200 Tl. 1300 Tl. 2 Hilfsarbeiterstellen, à 75 Tl. 150 Tl. Summe aller Ausgaben: Etat- 255653 M. 10. April 1879 (GSt A; Hpt. I, Rep. 151 I. C Nr. 9650). 409 Im Rahmen der Expropriation im Gebiet östlich der Querallee wird im Vergleich, wie dargestellt, für die Quadratruthe höchstens 15 Taler gezahlt; das entspricht einem Quadratmeterpreis von 2,83 Mark. Das bedeutet für das angesprochene Grundstück: Aschrott bezahlt 53% des Enteignungspreises. 410 1 Reichstaler entspricht 3 Mark. 129 nungen um ein verändertes Stadtbild mit ein und findet in dem Präfekten der Stadt, Baron Haussmann, einen weitsichtigen Planer und konsequenten Vollstrecker. Die Anlage eines einheitlichen Straßensystems, das durch Haussmann projektiert wird, legt sich zum größten Teil über die alte Stadt. Das bedeutet den Abbruch ganzer Stadtteile, nachdem die Besitzer von Haus und Boden enteignet wurden, um neue Boulevards und Fahrstraßen anzule- gen (Benevolo, 1991, S. 838). Dieses Vorgehen gibt der urbanen Kunst einen anderen Stellenwert. Die Entwürfe der Archi- tekten haben sich in dem Pariser Beispiel den Planungen der Ingenieure und Beamten unterzu- ordnen (Delfante, 1999, S. 160). Das zeigt sich z. B. an der Fassade einzelner Bauten. Damit die neuen Straßenzüge eine einheitliche Aussage auf das Stadtbild transformieren, greift Hauss- mann auf Mittel der traditionellen Planung zurück und versucht, dem Raum eine Regelmäßig- keit und Einheitlichkeit zu geben. Er legt fest, dass alle Hausfassaden an den wichtigsten Stra- ßen und Plätzen einheitlich sind und gleiche Traufhöhe haben. Vier Stockwerke sind vorge- schrieben (Benevolo, 1991, S. 846). Eindrucksvoll tritt das an der Rue de Rivoli411 zutage, wo eine einheitliche Fensterfront, korinthische Pilaster und ein rund gewölbtes Dach das Bild prä- gen (Paul, 1989. S. 67). Vor diesem differenzierten Hintergrund bekommt die Straßenausstattung und –möblierung gro- ßes Gewicht: Bäume, Laternen, Sitzbänke, Kioske, Bedürfnisanstalten, eine Trennung von Fuß-, Fahr- und Reitbahnen verändern die Straße zu einem Raum, in dem ein ständiger Fluss von Fußgängern und Fahrzeugen gegeben ist. 7.4.1 Interpretation der Böckel-Pläne und 1. Stadtbauphase nach Westen In Kassel liegen andere Gesellschaftsverhältnisse vor, doch in der letzten landesherrlichen Stadterweiterung von Ruhl bringt der Kurfürst seine Vorstellungen ein. In dem Böckelplan von 1854 ist der Ruhlsche Plan noch enthalten und erlaubt deshalb eine Weiterentwicklung der Stadt mit direktem Rückbezug auf den Plan von 1833. Die Projektion der Friedrich-Wilhelms-Str.412 (Ständeplatz) wird nach Südwesten bis auf die Verlängerung der Friedrichstraße geführt. Die Planfortführung durch Böckel 1866 nimmt diese Magistrale wesentlich zurück, weil eine Ver- längerung auch schon an den Besitzverhältnissen gescheitert wäre. An der Südwestecke des Prachtboulevards wird in der 66er Fassung eine Straße projektiert, die später zur Jordanstr. aus- gebaut wird. Als Grundlage dafür dient eine alte Wegfläche, die von der Zollmauer bis zum Karthäuserweg verläuft. Dieser neue Straßenabschnitt wird annähernd parallel zur Wilhelmshö- her Allee entwickelt. Die Allee bestimmt als barocke Achse und herrschaftliche Sichtperspek- tive die weitere Entwicklung. 411 Die Rue de Rivoli entwickelt sich bereits unter Napoleon I. Ausführende Architekten sind Percier und Fontaine, die den Abschnitt einer Ost-West-Verkehrsverbindung planen. Die Wohn- und Geschäftsbauten in dieser Straße verkörpern einen einheitlichen Haustypus. Diese Umsetzung erinnert an Palladios Basilika in Vicenca und könnte als eine Anknüpfung an die Studien beider Architekten während ihrer Ausbildungszeit in Italien gesehen werden. Die Rue de Rivoli wird erst in der Zeit der Restauration vollendet (Scharabi, 1993, S. 106). 412 Jeweilige Bezeichnungen erfolgen nach den genannten Plänen, hier Böckel-Plan 1854 und 1866. 130 Abb.: 24 Stadterweiterung der Friedrich-Wilhelms-Stadt im Böckelplan 1854413 mit ihren geplan- ten Hauptstraßenachsen Der Karthäuserweg erfährt von der Alten Wilhelmshöher Allee ausgehend planerisch eine Ver- breiterung zu einem Verkehrsweg und wird vor der Einmündung in den Akazienweg verlegt, um diesen dann fast senkrecht zu schneiden und weiter bis zur Cöllnschen Straße verlängert. Nach Süden erfolgt gleichfalls eine Ausdehnung bis zur Wilhelmshöher Allee, die heutige Ul- menstraße, die ebenso als Boulevard bis auf die Weinberghöhe projektiert ist, um dort in einem Halbkreis zu enden. Dieser wiederum erhält mit der Rondell Str. über die Weinberg Str. eine Verbindung. Hier wird gleichfalls vom Stadtplaner die klassizistische Idealform, dem römischen Castrum entlehnt, als Aussichtsrondell (Blick über südliche Gemarkung bis zur Söhre) über- nommen. 413 Fundstelle: StadtaKS. 131 Abb.: 25 Stadterweiterung der Friedrich-Wilhelms-Stadt im Böckelplan414 1866 (Ausschnitt) Westlich der Ulmenstraße verläuft die bereits miteingezeichnete spätere Hermannstraße. Nörd- lich der Jordanstraße zeigt der Böckelplan auch die Weißenburgstraße. Die Schnittstelle von dem äußeren Boulevard (Victoriastr.) und dem Akazienweg wird zu einem vierseitigen Platz, in der Karte als „Akazienplatz“ (er erfährt keine Verwirklichung) bezeichnet, erweitert. Die Victo- riastraße erreicht hier ihren Hochpunkt. Auf dem Platz mündet ebenso die verlängerte Wil- helms-Strasse,415 diese würde jedoch im letzten Abschnitt extreme Steigung aufweisen (als Lö- sung werden auf dem Plan Treppen eingezeichnet). Das projektierte Raster orientiert sich an den alten Flurwegen. Der Karthäuser Weg wird ver- breitert, gleiches gilt für den Weg von der Zollmauer nach Westen, der späteren Jordanstraße. Die Alte Wilhelmshöher Allee (Königstor), als alt-hergebrachte Landstraße, verbleibt in bishe- 414 Vermessungsamt: Fluchtlinienplan Nr._10. 415 Wird in dieser Schreibweise im Böckelplan verwendet. 132 riger Breite. Das gilt auch für die Verbindung nach Kirchditmold, die Kölnische Straße. Sie weist zur Wilhelmshöher Allee keine Parallelität auf. Friedrich-Wilhelms-Str. und Victoria Boulevard verlaufen diagonal zu den Grundstücksgrenzen. Bei der Ulmenstraße liegt geringere Abweichung vor. Der obere Teil der Friedrichstr. liegt parallel zur verlängerten Grenze von Humboldt- und Weinbergstr. Letztere nehmen alte Wegführungen auf. Der Akazienweg stört das angedachte Rechtecksraster erheblich, deshalb verbleibt er in geringer Breite, da er nicht zu beseitigen ist. Das neue Straßennetz nimmt den Verlauf der Grundstücksgrenzen als Grundlage der Planung auf, so dass das entstehende Straßenraster keinem Rechtecksraster416 entsprechen kann, sich nur an das Idealbild anlehnt. Der vorliegende Entwurf bietet den Vorteil, dass Expropriationsverfah- ren leichter durchzuführen sind und sich nicht, wie das Beispiel Hohenzollern- und Victoriastr. zeigen wird, über viele Jahre hinziehen. Ein Stadtplan um 1871417 (s. Abb. unten) weist zwischen Hohenzollernstr. und Kölnischer Al- lee418 die zu dieser annähernd parallel verlaufende Parkstraße auf (am Karthäuser Weg begin- nend und an der Westend Str. endend). Die Westend Str., als ältere westlichste Querverbindung auf Kasseler Gemarkung, mündet, die Städtische Caserne passierend, in die Alte Wilhelmshöher Straße. Gleiches gilt für die Kronprinzen Str. Zwischen beiden vervollständigt die Bismarck- straße (jedoch nur zwischen Kölnischer und Hohenzollernstr. angelegt) das Rechtecksraster. Die Murhard Str., die Parallelität zur Westend Str. aufnehmend und schon in Wehlheider Gemar- kung liegend, ergänzt als gradlinige Verbindung zur Wilhelmshöher Allee die Planung bis zur Quer Allee. Abb.: 26 Ausschnitt Stadtplan419 Die Bebauung scheint sich in der vorher beschriebenen Fläche gegenüber 1866 kaum verändert zu haben. Vielleicht hat der Planzeichner auch die Bauten von Böckel nur übernommen. Die Häuser an der neu angelegten Kronprinzenstraße, Ecke projektierter Parkstr., sind schon auf dem alten Plan als Gebäude vermerkt. Die Kronprinzenstr. beginnt im Norden bei der Einmün- dung des Akazienwegs in die Kölnische Allee. Die Straße wird zwischen den beiden genannten Gebäude nach Süden geführt, anfangs noch eine alte Wegfläche miteinbeziehend. Auch die Parkstraße verläuft auf den Grundstücksgrenzen, und somit wird das Abtreten von Gärten für Straßenfläche erleichtert. Grundstückseigentümer beidseitig der Straße werden gleichmäßig beansprucht. Die oben angegebenen Gebäude grenzen im Plan von 1870 nördlich mit ihren Grundstücken an die Parkstraße. Die Jordanstraße und die von dieser nach Norden bis zur Vic- toriastr. führende Weißenburgstraße sind bereits eingezeichnet. 416 Im Böckel-Plan von 1866 ist nördlich des Grünen Wegs bis zur Wolfhagerstraße ein vorbildliches Rechtecksraster (siehe dazu Karte in Kap. 7.2.2) geplant. 417 Wiegand führt für 1870 einen „entgültigen Stadterweiterungsplan Nr. 17 III“ an, der erstmals die Hohenzollernstr. zeigt (Wiegand, 20005, S. 36). 418 Bezeichnungen bei Holtmeyer, 1923, S. 54. 419 Quelle: Kasseler Adressbuch 1871. 133 Das Ortsstatut von 1884 führt oben genannte Straßen gesondert an. Die Stadt billigt u.a. in dem Bereich den Übergangsbestimmungen „Beitragspflichten der Anlieger zu den Kosten von Stra- ßenanlagen“420 zu. Die beschriebenen Bauprozesse finden in der Gemarkung Cassel statt. Die im westlichen Teil des Plans von 1870 gestrichelt gezeichneten Straßen, bei der Hohenzollern- straße betrifft es nur den letzten Abschnitt bis zur Quer Allee, liegen bereits auf Wehlheider Flur. 7.4.2 Bau der Hohenzollernstraße als Voraussetzung einer Stadtteilerschließung Nach der Zeit der Stadtpläne, die sich an der Übergangsphase zwischen Stadtbauprojekten der Landesherren und vorindustriellen Stadtbauvorstellungen orientieren, wird die jetzige Phase von Bauentwicklungen geleitet, die ausnahmslos von Kapitalinteressen bestimmt werden. Die fol- gende Darstellung rückt die Entstehungsgeschichte von drei zentralen Straßenzügen in den Mittelpunkt, an denen durch Gegenüberstellung der Planungs- und Bauphasen Entwicklungs- schritte des neuen Stadtviertels zu erörtern sind. Bei diesen Axialstraßen handelt es sich um die Hohenzollern-, die Kaiser- und die Victoria- straße. In ihrer Anlage zeigen die Erschließungs- und Verbindungsstränge in Teilaspekten Übereinstimmung, unterscheiden sich aber durch ihre Zielsetzung wegen verschiedener Planungsperioden. Die beiden Erstgenannten dienen ausschließlich der Raumerschließung nach Westen, die Victoriastraße, der letzte unter landesherrlicher Vorstellung geschaffene Boulevard, entspringt der Vorstellung von Repräsentation. Sie soll mit dem Bahnhof als Tor zu anderen Orten und der Residenzstadt vermitteln und in diese einführen. Später dient sie als kürzeste Verbindung zu repräsentativen Stadtteilen, wie Neu-Wehlheiden, Wilhelmshöhe und Ausflugszielen der näheren Umgebung. Abb.: 27 Gemälde: „Der Dorfplatz zu Wehleiden“421 von Julius Jung422 420 St A M Best. 16, Nr. 1457 Bl. 171. – Für diesen Stadtteil gelten die Statuten vom 22. November 1867 und 7. Februar 1868. 421 Das Bild zeigt die Kohlenstraße in Wehlheiden mit dem Gemeindehaus, das gleichzeitig Schule und Kirchsaal bildet. Von da verläuft nach rechts der Kirchweg. Das Fünfgeschosshaus an der linken Bildseite verdeutlicht den Bruch mit der dörflichen Beschaulichkeit und weist auf die Vorstellung städtischen 134 Die breite Verbindung vom Bahnhof zum neuen Hauptverkehrsstrang, der Hohenzollernstraße, bildet planerisch und optisch die Grenze zwischen dem letzten fürstlichen Stadtbauvorhaben und einem veränderten Zeitalter unter liberaler preußischer Führung. Für die Planung von Stra- ßenraum spielt in kurfürstlicher Vorstellung nur der herrschaftliche Anspruch eine ausschlagge- bende Rolle; die Eigentumsverhältnisse der Bürger finden bei der Planlegung keine Berück- sichtigung. Dies erweist sich in der Epoche der Kaiserzeit als ein fast unüberbrückbares Hinder- nis423 und muss beseitigt und neuen Anforderungen angepasst werden. Die Hohenzollernstraße fungiert als Verbindungs- und Verkehrsstrang für Wohnen und Versor- gungseinrichtungen im entstehenden Viertel und stellt den Bezug zwischen dem letzten aristo- kratischen Stadtausbau mit dem Stadtprojekt unter preußischer Führung her. Die Kaiserstraße wird als Wohnungsmeile und Inszenierungsfläche geplant, auf der man schichtenspezifisch leben und von einem bedeutenden Regenerationsfaktor (der Straßenraum dient hier auch als Erholungsfläche) profitieren kann. Identität424 finden die Bewohner, indem sie sich mit anderen vergleichen können, auf den drei verschiedenen Funktionsräumen in der Straßenanlage: Trottoir, Reitweg und Fahrbahn. Sie entsprechen genau den Vorstellungen des gerade aktuellen Straßenbaus, der den verschiedenen Verkehrsteilnehmern ausreichend Raum zu ihrer Fortbewegung und Entfaltung lässt und mit der Berücksichtigung von genügend Grün in Form von Bäumen dem Ruf nach Hygiene für ein zeit- gemäßes Viertel entspricht. Ferner differieren die genannten Straßen in ihrer Breite425, wenn dies auch als unwesentlich erscheint. Sie werden jeweils mit beidseitigen Trottoiren zwischen 4.50 und 4,35 m entworfen; weiter weisen sie Fahrbahnen mit Breiten von 9,00 bis 9.35 m auf und verfügen alle zusätzlich über einen Reitweg im Ausmaß von 4,00 m. Der Verkehrsordnung entsprechend bleibt nicht nur dem Fußgänger die Möglichkeit, sich in seinem Verkehrsraum angemessen zu verhalten, sondern auch leichte Karriolen426 und schwere Fuhrwerke können sich auf dem Fahrweg gut begegnen und werden durch trabende Reiter nicht beeinträchtigt, die über eine eigene Zone verfügen. Neben den Fuhrwerken ergänzen Reiter das tägliche Straßenverkehrsbild, denn zu einer Garnisonsstadt wie Kassel gehört eine große Anzahl berittener Offiziere. Der Fußgänger kann auf seiner Verkehrsfläche flanieren und im Gespräch mit Nachbarn ver- weilen. Dabei erkennt er z.B. den vorbeireitenden Offizier und wird von diesem wahrgenom- men. Fuhrwerke stören den ruhenden Verkehr nicht. Dieser Vorgang ist gleichzeitig vom Fenster oder Balkon repräsentativer Häuser aus zu beobachten und führt zum Austausch vom Innen zum Außen sowie in umgekehrter Richtung. Wohnens hin. 422 Bei der Personengruppe im Vordergrund soll es sich bei dem Mann in der Mitte um den ehemaligen Bürgermeister Wehlheidens Georg Stock handeln. Die Person rechts wird als Moritz Wertheim (1855- 1927), Inhaber des Bankhauses „S. J. Werhauer jr. Nachfolger“, beschrieben. Dabei scheint die Person nicht, wie oft behauptet, Sigmund Aschrott zu sein (Engelhardt, 1999, S. 97). Der Maler des Bildes „Der Dorfplatz von Wehlheiden“ ist Julius Jung (1851 –1929) (in: Wegner, 1995, S. 96/97). 423 Ein typisches Beispiel bietet die mehrfach angesprochene „Affäre Wachenfeld“ (Wiegend, 2002, S. 223-244). 424 In Vorstellungsmatrizen sogenannten “sektoral-zentrierte[n]“ „mental-maps“ existieren dafür wahr- scheinlich „symbolische Belegungen und emotionale Besetzungen... , sofern die Ansprüche an die sym- bolischen Raumbezüge des sozialen Umfeldes gewahrt“ bleiben. Der Aufenthalt innerhalb eines Sektors ermöglicht „am ehesten Kontakt zu bisherigen Identitätsräumen mit ihren vertrauten Kommunikations- bezügen und den unterlegten Phantasien eines basalen Aufgehobenseins“ und schwächen „das Risiko des Ausgesetztseins gegenüber einer neuen Umwelt mit den dieser angehefteten Bedrohungspotentialen“ ab. (Jüngst, 1993, S. 58.) 425 St A M Best. 175, Nr. 539, F 2047. 426 Vgl. Schmidtmann, 1993, S. 137. 135 Dieser beschriebene neue Straßentypus gewährt neben seiner Aufgabe als Verkehrsachse sowie Erzeugung eines zeitgemäßen Hygienestandards, im Gegensatz zu dicht bebauten Mietshausare- alen ohne Grün, seinen Benutzern auf Grund des jeweils getrennten Verkehrsraums eine ausrei- chende Fläche zur öffentlichen Zurschaustellung und Kommunikation. Hier kann man sich zei- gen oder wird gesehen. Mit solcher Plangestaltung berücksichtigt der Stadtarchitekt Vorstellun- gen und Bedürfnisse zukünftiger Bewohner eines Quartiers für gehobenes Wohnen. Die angeführten Straßen funktionieren alle als Verbindungsstraßen von der Friedrich-Wilhelms- Stadt zum neuen Wohnareal oder wie bei der Kaiserstraße als Fortführung der Verbindung bis zu der erst seit fast zwei Jahrzehnten existierenden Eisenbahntrasse. 7.4.3 Hohenzollernstraße – Startprobleme bei einem kaiserzeitlichen Quartier Ein Zeitgenosse, der dem veränderten Baugeschehen positiv gegenübersteht, schreibt: „Unter den Neuerungen, die sich in unserer Stadt zur Zeit der Ausstellung427 vollzogen, sind besonders die Straßenanlagen zu erwähnen, die in der westlichen Stadterweiterung in Angriff genommen werden, und mit denen der Anfang und zu den jetzt weit ausgedehnten Stadtteilen im Hohen- zollernviertel und auf dem Weinberg gemacht wurde“ (Schmidtmann, 1993, S. 144). Der Bau dieser Verbindungsstraße kann jedoch nicht am Ständeplatz428 beginnen, denn hier stößt das Projekt auf eine Vielzahl von Parzellen, die teilweise als Gärten genutzt oder bebaut sind und verschiedenen Besitzern gehören. Sie warten die weitere Entwicklung ab, möchten das Areal selbst nutzen und verkaufen die benötigte Straßenfläche nicht. Dagegen beginnt westlich des Karthäuser Weges, im Kataster429 als „Am Druselgraben“ bezeichnet, eine regelmäßig in Längsstreifen unterteilte Flur, die für eine Planung günstiger ist. Sie wird wahrscheinlich ackerbaulich genutzt. Mit der Umorientierung der Bevölkerung beim Gebrauch von landwirt- schaftlichen Flächen infolge anderer Erwerbsmöglichkeiten verringert sich die Bedeutung430 für diese Längsfluren. Folglich können kaufmännisch operierende Personen das Land erwerben, um es bei der Umsetzung der Stadtteilerweiterung gewinnbringend zu vermarkten. Vielfach wird berichtet, der Kaufmann Aschrott kann auf Wehlheider Gemarkung eine große, weitgehend geschlossene Fläche erwerben. In diesem Bereich kann sofort mit dem Bau der Hohenzollernstraße begonnen werden. Der östliche Teil, der von Privatgärten bis zum Stände- platz eingenommen wird, hat eine längere Baugeschichte. Nach Abschluss der Planungen wird für die Hohenzollernstraße eine Gesamtbreite431 von 21,70 m veranschlagt. Sie setzt sich aus zwei Trottoiren mit jeweils 4,35 m, einer Fahrbahn von 9,00 m und einem Reitweg von 4 m zusammen. Die Umsetzung ist für die beteiligten Behörden, der Stadtverwaltung in Person des OB, der Polizei-Direktion in Person des PD Albrecht432 sowie der Kgl. Provinzregierung und dem 427 Gemeint ist die 1870 in der Orangerie stattfindende Handels- und Gewerbeausstellung. 428 Bezeichnung für die Friedrich-Wilhelms-Straße ab preußischer Zeit. 429 Kataster-Urkarte: Kreis Cassel; Feldmark Cassel Karte GG 1848/49 (StadtaKS). 430 Die Wehlheider Bauern haben sich wegen der schlechten Ertragsbedingungen und den neu sich bietenden Nebenbeschäftigungen mehr und mehr aus dem primär vom Landwirtschaftssektor bestimmten Erwerb zurückgezogen. Schon zu Beginn des 19. Jhts. prosperieren Tagelöhner gegenüber den bisher am stärksten vertretenen Bauern zur zahlenmäßig bedeutendsten Erwerbsbranche. Zudem verlagern bäuerliche Betriebe ihre Erwerbsmöglichkeiten, indem sie, anknüpfend an die bereits zu landesfürstlicher Zeit existierenden Transport- und Erntedienste, aus den Kohlengruben des Habichtswaldes die Stadt und das Umland mit Brennstoff versorgen (Engelhard, 1999, S. 15 –18). 431St A M Best. 175, Nr. 539, F 2047 „Errichtung eines Planums“ vom 9.7.1882. 432 Albrecht, August geb. 14.1.1813 kath. – Polizei-Direktor, später Polizei-Präsident (1868-1885), Wohnung: Vor dem Schloß 1 (Dienstwohnung eingez. 1.7.1868, ausgez. 31.10.1885 nach Hofgeismar) Ehefrau Emma, geb. Grohmann, geb. 30.5.1825, gest. 8.9.1883, Tochter Catharina geb. 1.11.1850, verehelicht am 10.6.1872 mit dem Rittmeister im Kgl. Dragoner Regiment Nr.5, Emil v. Kählwetter, Umzug nach Frankfurt (Stadta KS). 136 Privatunternehmer Aschrott als Ausführendem des Straßenbaus mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Am 20. Februar 1875 bittet schließlich der „Justizrath Peters“, wahrscheinlich der damalige Rechtsvertreter Aschrotts, den PD seinem Mandanten zu bescheinigen, „dass die Ho- henzollernstraße vom Karthäuser Weg bis zur Querallee ausgeführt und dem Verkehr übergeben ist.“433 Daraus lässt sich ableiten, dass bereits 1874 ein Teilbereich der Hohenzollernstraße fertiggestellt sein muss. Peters führt weiter an, seine Bemühungen bezögen sich auf unter 2. vermerkten Bedingungen, die in einem zwischen der Stadt und Aschrott vom 12. Dezember 1872 geschlossenen Vertrag enthalten seien. Unterlagen zu diesem Vertrag liegen in den untersuchten Beständen nicht vor. Er könnte fol- gendes beinhalten: Grund und Boden für den benötigten Straßenraum gehen vor Erstellung in den Besitz der Stadt über. Aschrott sorgt für die Umsetzung der Baumaßnahmen sowie für die finanzielle Abwicklung. Straßenpflege obliegt dem Unternehmer. Aschrott erhält die Möglichkeit, seinen mit der Stadt vereinbarten Stadterweiterungsplan in verschiedenen Bauabschnitten umzusetzen. Das bedeutet Parzellierung der Grundstücke und Bebauung mit mehrgeschossigen Wohnhäu- sern. Zu einem noch nicht fixierten Zeitpunkt sollen die fertigen Straßen in die bauliche Verantwor- tung der Stadt übergehen. Damit dieses Ziel verwirklicht wird, können Verhandlungen zwischen Grundstückseignern und Unternehmer durch finanziellen Ausgleich oder Flächentausch Lösun- gen herbeiführen. Scheitert dieses Bemühen, bleibt lediglich der langwierige Weg der Expropri- ation, die den Straßenraum in den Besitz der Kommune überträgt. Vor Anberaumung des Ver- steigerungstermins laufen Gespräche zwischen Kleinspekulanten und dem Unternehmer. So teilt der Rechtsanwalt Peters434 dem PD mit, Aschrott stünde in Verhandlung mit Lieberg über eine Verkopplung von Grundstücken, die dieser auch befürworte. Jedoch solle nur darüber im Zu- sammenhang mit Grundstücken an der Quer Allee verhandelt werden. Sicherlich dreht es sich hierbei um den Lieberg Besitz an der späteren Kaiserstr. Peters fordert den PD auf, einen Ter- min anzuberaumen, um die Angelegenheit unter seinem Einfluss zu einem positiven Ergebnis zu bringen. Aschrott versucht in diesem Fall mit Hilfe öffentlicher Instanzen die Verhandlungs- bereitschaft der Beteiligten zu erhöhen, um sie bei einem Treffen gleichfalls unter öffentlichen Verkaufsdruck zu setzen. Hier sei nochmals auf das Beispiel bei der Frankfurter Außenbezirksbebauung hingewiesen, wonach sich bei einer entsprechend großen Anzahl von Grundstücksverkäufen die Anlage einer neuen Straße rechnet. Für Aschrott ist das für den Abschnitt der Hohenzollern Straße bis in Höhe Städtischer Kaserne nicht der Fall, denn in diesem Bereich besitzt er nur wenige Flächen. Aber als Verbindungsstraße, um auf die Weise seinen umfangreichen Grundbesitz weiter west- lich als Baugelände zu erschließen, gewinnt sie wieder an Wert. Die Hohenzollernstraße kann in dem Abschnitt Ständeplatz – Victoriastr. nicht gebaut werden, da einige der Grundstücksbesitzer ihre für den Straßenraum erforderlichen Grundstücksteile nicht an die Stadt abtreten wollen. Um die Rechtmäßigkeit der beteiligten Parteien an den Grundstücken zu überprüfen, wird im April 1870 ein Steuerbuchauszug435 eingeholt. Nach Ab- schluss der Kontrolle kann das Expropriationsverfahren bezüglich der Straßengrundstücke in Gang gesetzt werden. Die Antragsteller des Enteignungsverfahrens stützen sich auf eine Regie- rungsverfügung vom 16. März 1870, in der die Abtretung von Grundeigentum zur Ausführung 433St A M Best. 175, Nr. 529, F 1898. 434 Brief vom 15. November 1870 (Best s.o.). 435 Best. s.o. 137 der s.g. „Hohenzollernstraße“ als notwendig erklärt wird.436 Die Eigentümer werden darüber unterrichtet, welche Flächen zum Straßenplan und welche zur „Abrundung von Bauplätzen“ erforderlich sind. Die Auszüge führen die jeweiligen Eigentümer, Grundstücksparzellen und die Belastungen der Grundstücke in Form von Hypotheken und sonstige Eintragungen wie Wegerecht auf. Des Weiteren ist das Kaufvertragsdatum ersichtlich. Mit Hilfe der Datierung der Kaufvertragsab- schlüsse ist eine Interpretationen der Erwerbsabsichten möglich. Es kann eingeschätzt werden, ob es sich um einen neuen Besitzer aus der Zeit der Planungslegung der Straße oder um einen Altbesitzer handelt. Bei den „Neu-Besitzern“ ist ausschließlich von Grundstückspekulanten auszugehen. Zu dem Steuerverzeichnis existiert auch ein Expropriations-Protokoll437 der Hohenzollern- straße,438 das die einzelnen Flächen und eventuell vorhandenen Gebäude oder andere Nutzungen anführt. In diesem Zusammenhang werden auch Vorstellungen von Grundstückspreisen deut- lich. Schon 1873 teilt Albrecht439 dem Kgl. Amtsgericht II mit, die Expropriation der Grundstücke zur „Fortführung der Hohenzollernstraße bis zur Querallee“ sei abgeschlossen und der Ausbau mit dem Fabrikanten S. Aschrott in Verhandlungen geklärt. Die Bezahlung der Formalitäten sei erledigt, und er bittet die Überschreibung der Parzellen auf den Namen der Stadt baldmöglichst vorzunehmen und ihn darüber zu unterrichten. Fortführung bedeutet in diesem Fall für den PD der Straßenabschnitt westlich des Karthäuser Wegs, der außerhalb der Gartenflächen liegt. Bereits Anfang 1868440 liegt ein Schreiben für die Umsetzung der Hohenzollernstraße vor, in dem auf die Katasterkarte GG der Gemarkung Cassel hingewiesen wird. Die geplante Trasse schneidet laut Karte die Parzellen Nr. 54 –84, die sich nach dem Verhandlungsprotokoll auf 17 Parteien verteilen. Nicht angeführt sind die Parzellen441 der Stadtgärten vom Kataster J1 mit den Nr. 29-42. Eine Anmerkung dazu liegt nicht vor. 1870 findet in diesem Zusammenhang ein „Austausch von Ländereien“ zwischen den Brüdern Gottlieb und Carl Scheel sowie Aschrott statt. 10 Tage vor dem Expropriationstermin setzen sich die genannten Vertragsparteien auseinander und kommen mit dem „Justizrath“ Oetker,442 der das Verfahren leitet, überein, nicht mit einer gerichtlichen Taxe zu einer Entschädigung443 von Grundbesitz zu gelangen. Ein Teil des Scheelschen Grundstücks wird mit dem nördlich 436 Best. s.o. 437 Der Vorgang der Expropriation, der Enteignung, beinhaltet einen Antrag seitens der ausführenden Behörde in der Person des PD an das Amtsgericht. Begründet wird dieser durch ein öffentliches Interesse an privatem Grund und Boden, da es in dem projektierten Straßenraum liegt. Die Expropriation bezieht sich auf das gesamte Grundstück. In dem gerichtlichen Verfahren wird zuerst über die beanspruchte Teilfläche, d.h. die Straßenfläche, verhandelt. Der Eigentümer kann dem Antrag zustimmen. Lehnt er ihn ab, wird über die Form der Taxierung des Grundstücks entschieden. Zuerst wird ein gerichtlich bestellter Sachverständiger angeboten, bei Ablehnung gefragt, ob man einen privaten Sachverständigen zulässt. Der vom Amtsgericht bestellte Verhandlungsführer, hier Dr. Oetker, kann entscheiden, ob er der Lösung zustimmt. Weiter nehmen die Eigentümer zu dem restlichen Grundstück Stellung, ob sie es an die Stadt verkaufen wollen. Die Betroffenen entscheiden in den untersuchten Fällen, es selbst zu bebauen oder bebauen zu lassen. In diesem Fall zieht die Stadt auf den Teil des Grundstücks ihren Antrag auf Enteignung zurück. Erklärt sich der Eigentümer mit der Expropriation nicht einverstanden, kommt es zur gerichtlichen Zwangsenteignung, die den Bauvorgang um Jahre verzögert. – Dr. Oetker, zugelassen am Amtsgericht Kassel, ist der Bruder des schon angeführten Journalisten. 438 Best. s.o. 439 Best. s.o. F 1898. 440 Vermerk vom 21. Januar 1868. 441 Entnommen dem Kataster J 1 für den westlichen Teil Cassels, auch in Zusammenhang mit anderen Blättern Kataster Urkarte genannt. 442 Oetker, Carl, Dr. jur. Obergericht, Rechtsanwalt und Notar, Kölnische Str. 14 (Kasseler Adressbuch). 443 Best. s.o. 138 angrenzenden Aschrottschen Grundstück zusammengelegt444 und entlang der Hohenzollern- straße in zwei gleichgroße Grundstücke geteilt, wobei Aschrott das östliche an der Ecke Karthäuser Weg mit zusätzlich 3000 Talern Abschlag erhält. Im November 1870 unterrichtet OB Weise445 den PD über 12 Grundeigentümer, mit denen zur Bereitstellung des Straßenraums zu verhandeln ist. Ein Problem stellt der Prinzenwasserab- stich446 von Henkel dar, der durch bauliche Veränderungen gelöst werden soll. Beim Expropria- tionsverfahren erklären sich acht Parteien447 bereit, die Flächen der Stadt zu übereignen. Ferner führt er die „Blum`sche Sache“ an, die er in einem Termin von sechs Sachverständigen klären will. Die Verhandlungen mit Frau v. Baumbach haben sich wegen der Ausdehnung auf die Bau- plätze noch verschoben, zur „Abel`schen Sache“ sei keine Antwort erfolgt, die „Lieberg`sche Expropriation“ durch ihn selbst erst mündlich weitergeleitet, und für Aschrott stehe eine Erklä- rung noch aus. Mit den Eheleuten Abel scheint eine gütliche Einigung nicht möglich, und so meldet der PD im Juli 1872 dem Kgl. Amtsgericht I, in das „gerichtliche Zwangsenteignungsverfahren nunmehr baldmöglichst eintreten zu wollen.“448 Bei dem abzuwickelnden Vorgang handelt es sich um 18 Steuerbuchauszüge. Neben dem Ver- handlungsführer Dr. Oetker existiert eine drei Mitglieder umfassende „Commission“, die sich vor allem mit Grenz- und Preisfragen auseinandersetzt. Der Maurermeister Credé möchte den Straßenanteil seines Grundstückes zum Preis von 15 Talern449 die Ruthe abtreten. Als weitere Bedingung gibt er an, die „Oberbesserung“450 selbst zu erledigen und die Stadt soll ihn gegen- über dem mit dem Fabrikanten Aschrott abgeschlossenen Vertrag vom 3. November 1869 ver- treten. Aschrott hat erwirkt, bei Desinteresse der Stadt einen Anspruch auf die Straßenfläche des Grundstücks zu haben. Der Justizrat sagt zu, Credé willigt ein und gibt an, auf dem restlichen Grundstück selbst zu bauen. Die Stadt zieht den Antrag zurück. Aschrott gibt wiederum seinen Anspruch auf und tritt ihn an die Stadt ab. Der Schuhmachermeister Flies in Vertretung seiner Mutter, der Witwe Zann, bietet der Stadt die Fläche zum Preis von 19 Talern an. Oetker widerspricht und beantragt gerichtliche Schätzung. Die Restfläche will Zann selbst bebauen oder verkaufen. Weißbinder Becker und der Maurer- meister Lauckhardt verfügen über mehrere Parzellen, ihre Kaufdaten sind mit Juni und Septem- 444 Best. s.o. 445 Best. 175, Nr. 539, F 1898. 446 Als 1835 auf dem Ständeplatz eine Quelle entdeckt wird, hofft man das Problem der Wasser- versorgung für einen Teil der Stadt gelöst zu haben. Der Austritt des Wassers liegt hoch, das die Weiter- leitung an jeden Ort der Stadt erlaubt. Nach Untersuchungen wird angenommen, 8 Laufbrunnen damit versorgen zu können. Es handelt sich nach seiner Qualität um hartes Wasser ähnlich des Prinzenwassers vom Fuße des Lindenbergs (Ausläufer des Habichtswaldes). Daher erhält die Quelle, von sechs Zuläufen gespeist, wahrscheinlich die Bezeichnung Prinzenwasser. Man fasst es, legt einen Brunnenschacht an und verlegt zur besseren Verteilung in die Wilhelmsstraße einen Kanal. (Noel, 1890, S. 49/50) Prinzenwasser bedeutet auch das Wasser der Prinzenquelle, das durch Eisenrohre zu den herrschaftlichen Gebäuden in der Stadt geleitet wird, aber auch von einigen wenigen Privatleuten genutzt werden kann. 447 Dabei dreht es sich um Lingelbach`sche Erben, zwei Brüder sind in Amerika wohnhaft, Witwe Zann, Maurermeister Lauckhardt, Weißbindermeister Becker, Fabrikant Henkel, Ostheim, Maurermeister Hochapfel und die Geschwister Scheel. 448 Best. s.o. F 1899. 449 In der Provinz Hessen-Nassau gilt vorwiegend die 1 Talermünze (Thaler), die dem Wert von 3 Mark entspricht. Rute wird sowohl als Bezeichnung für Längen- als auch Flächenmaß benutzt. Hier wird differenziert auch von Quadratruten gesprochen. Oder auch das geometrische Zeichen für Quadrat mit Rute gebraucht. 1 (Quadratrute)- Rute = 15,913 m², daraus folgt Wurzel aus 15,913 1 Rute (als Längenmaß) = 3,988 m Quadratmeterpreis: 1 m² = 0,942Taler oder 2,827 Mark (Presche, C., Referat, 2002, nach Witthöft, H., Handbuch der Metrologie, St. Katharinen 1994). 450 Unter Oberbesserung ist die Abräumung des Grundstücks zu verstehen. In diesem Fall möchte der Eigentümer seine Ernte nochmals einbringen und die eventuell vorhandenen Bäume selbst fällen, um sie als Holz oder als Brennmaterial zu verwenden. 139 ber 1868 datiert. Bäckermeister Ostheim lässt sich durch Rechtsanwalt Peters vertreten. In die- sem Zusammenhang wird von einer von Becker und Lauckhardt projektierten Straße, der späte- ren Weißenburgstr., gesprochen. Restflächen wollen die Genannten selbst bebauen. Maurermeister Hochapfel451, wahrscheinlich ein Cousin des Zeitzeugen Schmidtmann, teilt sich mit Aschrott eine Parzelle. Zu diesen Vorgängen berichtet unser Zeitzeuge Schmidtmann: „Der Hauptstraßenzug, durch den das Aschrottsche Gebiet angeschlossen werden sollte, bildete die jetzige Hohenzollernstraße. Vom Stän- deplatz bis etwa zur Bismarckstraße führte dieser Straßenzug über Grundbesitz, den Aschrott nicht er- worben hatte. Für den in diese Straße fallenden Teil dieser Grundbesitze beantragte Aschrott das Enteig- nungsverfahren, das ihm von der Stadt bewilligt und vom König genehmigt wurde. Für die Abschätzung der Grundstücke wurden drei Sachverständige, Kreisbaumeister Schuchard, Baumeister W. Koch und ich, erwählt.“ (Schmidtmann, 1993, S. 144.) Die bestehende Rechtslage gibt Schmidtmann hier falsch wieder. Nicht ein Privatmann oder eine Gesellschaft kann eine Expropriation beantragen, sondern die Kommune leitet das Verfah- ren wegen öffentlichen Interesses ein. Der PD ist dabei der Ausführende, was schließlich durch die Judikative, hier das Kgl. Amtsgericht, entschieden wird. 7.4.4 Interessen des Berliner Handels-Ministeriums am Stadtteilprojekt Das Stadtbaugroßprojekt, die Erstellung von Bauflächen westlich von Kassel beginnt mit den Vorarbeiten und der Fertigstellung der Straßentrasse, die in ihrem Endzustand als fertige Straße mit Bepflanzung existieren soll - allerdings lediglich als Straßenband in der freien Landschaft ohne Randbebauung. Anliegerkosten sind von Seiten der Stadt nicht zu erheben, denn der Pri- vatinvestor ist für die Herstellung verantwortlich. Seinen Erlös erzielt er mit dem Verkauf von Grundstücken. In dem verlangten Quadratmeterpreis sind die Erschließungskosten enthalten. Damit die Straßenbauarbeiten finanziert werden, bedarf es bestimmter Kapitalmengen, die Aschrott sicherlich nicht zur Verfügung hat. Die Finanzierung eines solchen Projektes aus eige- nen Mitteln würde wirtschaftlich keinen Sinn geben. So bedient er sich einer oder mehrerer Banken, um seine Baupläne finanziell abzusichern und seine Terraingesellschaft in einen Ge- sellschafterrahmen zu stellen, damit sie erfolgreich agieren kann. Da Banken als privatwirt- schaftliche Gesellschaften ihre Bilanzen und Geschäfte nicht in öffentlichen Archiven doku- mentieren lassen, kann auf diesem Weg kein Einblick in die Finanzierung von Erschließungs- kosten gewonnen werden. Bereits am 9. September 1869 fragt der Minister für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten in Berlin bei der Kgl. Regierung in Kassel über einen Situationsplan mit einer „Immediat-Vor- stellung“ nach, die Herr Aschrott am 22. d. Mts. eingereicht hat, mit der Bitte, die im Westvier- tel der Stadt projektierte Straße mit dem Namen Hohenzollern belegen zu können. Weiter heißt es, nach Befehl Königlicher Majestät sei baldigst Bericht zu erstatten, wie die Lage des Stra- ßenprojekts zu bewerten sei, welche Aussicht hinsichtlich des Erfolges für die Ausführung be- stehe und welches Persönlichkeitsbild auf den Unternehmer zutreffe. Als persönliche Anmer- kung fügt der Regierungsbeamte Bischhausen an, Herrn PD Albrecht um gefällige Anhörung zu bitten.452 Dreizehn Tage später antwortet Albrecht der Regierung, indem er von der Taufe einer neuen Straße spricht. In seiner Darstellung ereifert er sich über die Anmaßung und den Namensmiss- brauch durch Aschrott. Bei einer „Straße mit solchem Namen ist vor allem nothwendig, dass sie erst vorhanden, dass sie nicht bloß als speculative Absicht in einen Plan eingezeichnet, sondern factisch als öffentlicher Verkehrsweg erworben und ausgewiesen, ja dass mindestens ein Anfang mit ihrer Bebauung gemacht sei zu einiger Gewähr dafür, dass nicht winzige Ausführung den hochgewählten Namen blosstelle.“453 Weiter wird von ihm argumentiert, dass der Antragsteller Aschrott von dem 451 Hochapfel, Ludwig Maurer- und Steinhauermeister Unterer Karthäuser Weg 10 (Kasseler Adressbuch 1868). 452 Best. s.o. 453 Best. s.o. 140 Terrain, das er als Eigentum ausgebe, erst wenig und noch viel weniger für den projektierten Straßenraum erworben habe. Er schätze die augenblickliche Lage so ein: Einmal spekuliere die Stadt auf das Geld Aschrotts und der wiederum auf das der Stadt. Seine, Albrechts, Anregungen würden von beiden Seiten bei diesen Fragen nicht berücksichtigt, so sei trotz Verhandlungen eine Lösung der Durchführung nicht in Sicht. Aschrott habe in der augenblicklichen Lage mehr Interesse als Berechtigung einen obigen An- trag zu stellen, dieses geschehe zu früh und erst nach Erwerb oder Expropriation der fehlenden Flächen sei die Straßenausführung gesichert und sei eine Taufe mit dem vorgeschlagenen Na- men zu befürworten. Aschrott bleibe jedoch der Verdienst der Namensgebung. Er beurteilt die Situation positiv, indem er vermerkt; der Antrag werde „durch die persönlichen Verhältnisse des Antragstellers durchaus nicht beschädigt: Aschrott ist ein sehr vermögender Mann, steht einem erhebli- chen Fabrikgeschäft vor, sein Ruf ist gut.“454 Der Minister für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeit in Berlin legt im Oktober 1869 ge- genüber Herrn Aschrott in Kassel seine Beurteilung des Straßen-Projekts dar. Dabei wird zu einem Gesuch Aschrotts vom 22. August 1869 über neue Straßenanlagen Stellung genommen. Berlin fragt nach und argumentiert, dass das Terrain für die Straßen laut Information durch Kgl. Regierung in Kassel nur zu einem geringen Teil in Aschrottschem Besitz zu stehen scheine und „insbesondere ist das Terrain derjenigen Straße, welcher Sie den Namen „Hohenzollernstraße“ beilegen“, noch zu kleinen Teilen in ihrem Eigentum ist. Deshalb scheine das Projekt, welches zudem noch der Mitwirkung der Stadtbehörden und der Kgl. Regierung entbehre, „zur Zeit noch in Frage“455 zu stehen. Weiter heißt es, mit Berücksichtigung dieses Zustandes habe die Königliche Majestät das Ministerium ermächtigt, die Namensgebung auf die bezeichnete Straße als „Hohenzollernstraße“ zurückzustellen. Die Benachrichtigung erhalten auch die in Frage kommenden Verwaltungen. In einem Schreiben von Februar 1870 teilt der OB Nebelthau der Kgl. Regierung mit, der Fabri- kant Aschrott habe über ihn seine Majestät den König gebeten, dem neuen Straßenprojekt den Namen „Hohenzollernstraße“ geben zu wollen. Aus diesem Grund würde er im Folgenden, um nicht stets umständlich formulieren zu müssen, nur noch diese Bezeichnung gebrauchen. Ende 1874 möchte das Handelsministerium in Berlin von der Provinzregierung in Kassel wis- sen, inwieweit die Bebauungspläne eines „gewissen Aschrott“ „für das Terrain zwischen Cassel und Kirchditmold nördlich der Wilhelmshöher Allee ausgearbeitet und der Königlichen Regie- rung zur Genehmigung vorgelegt“456 wurden. Als Informanten über dieses Vorhaben führt das Berliner Ministerium die Kgl. Eisenbahndirektion in Frankfurt an. Das deutet auf einen gewis- sen Informationsstand in der Stadt Frankfurt hin, der durch Initiativen der Frankfurter Baubank in Kassel noch erweitert wird. Die Administration in Berlin verlangt im Februar 1875 eine Wiedereinreichung der Anlagen vom 9. d. Mts. mit der Aufforderung, alsbaldige Informationen über das augenblickliche Sta- dium der Verhandlungen bezüglich der Bebauungspläne für die Fläche zwischen Cassel und Kirchditmold und Rothenditmold zu liefern.457 Diese Aussage zeigt das Interesse des zuständi- gen Ministeriums an dem Großprojekt. Im Juni 1875 antwortet die Provinzregierung auf die Berliner Anfrage und legt Planungen zu Bebauungsplänen, betreffend a) Terrain zwischen Cassel und Kirchditmold und b) Erweiterungen zum Dorf Rothenditmold, vor. 454 Best. s.o. 455 St AM, Best. 165, Nr. 1452, F 11768 Bl. 367. 456 St AM, Best. 175, Nr. 539 (Buchst. V) F 2047. 457 Best. s.o. 141 7.4.5 Grundstücksspekulationen Kasseler Bürger im Bereich Hohenzollernstraße Bereits im April 1870 führt ein Ladungsverzeichnis458 die Eigentümer und sonstigen Personen für die Abtretung von Grundeigentum an, die zu einer „planmäßigen Straßennutzung zwischen Friedrich-Wilhelms-Str. und Kölnischer Querallee in der Stadt Cassel in Betracht kommen“. Der Durchführende ist der PD, dabei werden 18 Parteien angeführt. Auch über das Erwerbsda- tum gibt die Akte Auskunft. Von den zur Expropriation geladenen Parteien459 hat die Hälfte ihre Parzelle oder Parzellen erst ab 1868 gekauft. Wie erwähnt, ist schon im Januar 1868 bekannt, dass in diesem Bereich eine Straße gebaut wird, die sich zu einer Magistrale nach Westen ent- wickeln wird. Bei den Grundstückskäufen kann mit Sicherheit angenommen werden, dass es sich hierbei um Spekulationen handelt. S. Aschrott kauft als letzter 1870 und zwar die Hälfte der Parzelle Nr. 37, die Maurermeister Erich Hochapfel bereits im Juni 1869 mit zwei weiteren erwirbt. Hochapfel möchte für die Rute mit 15 Taler entschädigt werden und zusätzlich 5 Taler für Oberbesserung. Aschrott bietet der Stadt sein Stück ohne Entschädigung an, verlangt dafür ein „Tausch-Objekt“. Oetker lehnt ab, da das Stück nicht genau bezeichnet wird. Fabrikant Henkel460 verlangt ebenso 15 Taler und erwartet von der Stadt die Übernahme der Kosten für Verlegung des Prinzenwasserabstichs.461 Oetker akzeptiert und bietet Vermittlung mit der Behörde an.462 Die Verhandlung mit den Eheleuten Abel steht nicht in Verbindung mit der Hohenzollernstraße. Sie besitzen die Parzellen J 73 und 74. Hier kann es sich nur um die Projektion der späteren Kronprinzenstraße zwischen Hohenzollern- und Alter Wilhelmshöher Straße handeln. Sie ver- langen 15 Taler für den Rest des Grundstücks. Die neu entstehende Fläche auf der anderen Stra- ßenseite soll 50 Taler pro Rt. kosten. Oetker ordnet gerichtliche Taxe an, von der Restfläche wird der städtische Anspruch zurückgenommen. Es ist anzunehmen, dass Aschrott in diese Flächengeschäfte nicht hineingelassen wird, oder er versucht sein Besitzrecht zu verschweigen. In dem zitierten Vertrag mit Maurermeister Credé ist festgelegt, den Abschluss erst dann bekannt zu geben, wenn die Straße in Angriff genommen wird. Das erklärt, warum Credé zum Expropriationstermin geladen wird und dort erklärt, ver- kaufen zu wollen, die Rute zu 15 Talern. Seine Verkaufsbedingung lautet, die Stadt solle ihm die Oberbesserung belassen und ihn gegenüber dem mit Aschrott abgeschlossenen Vertrag vom 3. November 1869 rechtlich vertreten. Justizrat Oetker akzeptiert. Die verbleibende Restfläche möchte Credé selbst bebauen. Aschrott gibt seinen Anspruch auf den bezeichneten Vertrag auf. 458 Wiegand führt einen Vertrag zwischen dem Maurermeister Georg Credé und Aschrott vom 3.11.1869 aus dem Archiv des städtischen Liegenschaftsamtes an. Darin heißt es: „§1 Herr Credé verkauft Herrn Aschrott denjenigen Theil seines am Friedrich-Wilhelms-Platz liegenden Grundstücks J 29, welches in die vom Stadtbaumeister Rudolph bereits abgesteckten, vom Friedrich-Wilhelms-Platz nach dem Karthäuser Weg führenden Straße fällt, zum Preis von Fuenfzehn Thaler pro Quadrat-Ruthe und hat Herr Verkäufer die Parzelle frei von Schulden und Lasten zu stellen. §2 Der Verkaufspreis ist bei Vertragsunterzeichnung zu bezahlen. §3 Die gerichtliche Vertragsanzeige hat jeder Zeit binnen zehn Tagen nach von einer der Contrahenten an den anderen gerichteten Aufforderung zu geschehen. Wer solche zu bewirken unterläßt, hat den vertragstreuen Theil eine Conventionalstrafe von tausend Thalern zu zahlen. Die Ueberlieferung soll als- mit der Vertragsanzeige bewirkt angesehen werden. Die Pflicht zur gerichtlichen Vertragsanzeige soll jedoch erst mit dem Tag beginnen, an welchem eine vom Ständeplatz nach dem Karthäuser Weg führende, in das fragliche Grundstück schneidende Straße in Angriff genommen ist.“ Das Grundstück ist seit 1852 im Besitz von Credé (Wiegand, 2005, S. 43). 459 Best. F 1898. 460 Erwerbsdatum für das Grundstück: 3. August 1867. 461 Offensichtlich handelt es sich hier um Verlegung eines Abzweigs von der Prinzenwasserleitung, die Henkel versorgt. 462 Aus einem Bericht der Kgl. Regierung geht hervor, dass die Verlegung des „Rohrwasser-Abstichs“ abgelehnt wird, da ein gleiches Gesuch von Maurermeister Credé ebenfalls nicht bewilligt sei. Nach verschiedenen Erklärungen fordert Henkel für den Verlust 1200 Taler. Eine gütliche Einigung lässt sich nicht nachweisen. 142 Der Maurermeister Sigmund Lauckhardt erwirbt im Juni 1868 vier Parzellen und im September d. J. nochmals zwei. Auch die Kaufleute Wolf und Moritz Lieberg463 legen Geld im Januar 68 in zwei Parzellen und Wolf wiederum im August in eine an. Die Kaufverträge lassen erkennen, dass es neben dem Großgrundbesitzer Sigmund Aschrott, wie er sich später nennt, in Kassel auch eine Anzahl von Bodenspekulanten gibt, die mit Hilfe der Bodenrente ihr Kapital erhöhen wollen. Ob sie den Boden nach Straßenerstellung weiter veräußern oder ihn bebauen, damit sie sich durch Vermietung eine Grundrente sichern, wäre zu erforschen. Anfang der 70er wird der Hausbau von einem allgemeinen Wirtschaftsboom begleitet, der zum Teil seine Antriebskraft in den von Frankreich geleisteten Reparationszahlungen nimmt. Die Aufstellung unterstreicht, dass Aschrotts Besitz östlich der Querallee um 1870 nur einzelne Parzellen betrifft. Jahre später erwirbt er auch in diesem Abschnitt Flächen hinzu. Angaben zur südlichen Kronprinzen Str., ebenso im Besitz vieler Eigentümer, erhärten die Aussage. Die im vorigen Kapitel angeführte Einschätzung der Rechtssituation in Bezug auf die Einleitung von Expropriationen beruht sicherlich auf einer Meinung, die innerhalb der Bevölkerung und auch in den Verwaltungen gegenüber Aschrott besteht. Schmidtmann verkörpert einen Bürger- typ, der nicht nur zu den gesellschaftlichen Aufsteigern in preußischer Zeit gehört, sondern auch gegenüber dem neuen Stadtteilprojekt, weil er als Bauunternehmer davon profitiert, aufge- schlossen ist; er lässt zudem gegenüber Aschrott, den er wahrscheinlich wegen seines Erfolges bewundert, eine positivere Einstellung erkennen. Später spekuliert Schmidtmann selbst mit Grundstücken in Mulang. Anfang der 70er Jahre beschreibt Schmidtmann ein geschäftliches Zusammentreffen464 mit Aschrott. Der Inhalt erlaubt eine Deutung der Haltung Schmidtmanns gegenüber Aschrott. Der überwiegende Teil der Kasseler Bevölkerung wird gegenüber dem Juden Aschrott zu dem gleichen Zeitpunkt eine andere, weitaus negativere Einstellung besitzen. Auch mit der Äuße- rung: „Aschrott beantragt das Enteignungsverfahren“, wird dies mit anderen Worten umschrie- ben. Bei der Darstellung antisemitischer Äußerungen gegen Aschrott wird auf das Problem noch eingegangen. 463 1867 wohnt Lieberg, Wolf, Eisenwarenfabrikant, in der Bremerstr. 565, sein Bruder Moritz, Kaufmann u. Fruchthändler, Bremerstr. 833. 464 „Habich [Kunstmäzen und Kunde von Schmidtmann] musste seinen Bauplatz etwas vergrößern und war deshalb genötigt, eine angrenzende Parzelle von Aschrott zu kaufen; er beauftragte mich, das Kaufgeschäft mit A. zu vereinbaren. Aschrott der damals noch sein Engros-Geschäft in Segeltuchen betrieb, hatte sein Kontor in seinem Hause an der unteren Königstraße, neben der Synagoge. Das Geschäft für Habich kam zustande, aber nicht allein mit diesem – auch mit mir wurde ein Geschäft gemacht. A. verstand es, mich zu überreden, auch ein Grundstück von ihm zu kaufen, und so kam ich in den Besitz meiner Bauplätze an der Ecke der Hohenzollern- und Bismarckstraße. Ich war einer von den ersten, der im Hohenzollernviertel anbaute, außer meinen Häusern Bismarckstraße 2 und 4 stand nur das Habichsche Haus und ein weiteres, das mein Vetter Hochapfel erbaut hatte, jenseits des Karthäuser Weges.“ (Schmidtmann, 1993, S. 169-171.) 143 Karte 6: Eigentumsverhältnisse der Grundstücke im Bereich Hohenzollernstraße Hier werden auf Ebene 1 Besitzverhältnisse vor dem Ausbau der Hohenzollern – und der süd- lichen Kronprinzen Str. nach Eigentümern sowie nach Jahr des Erwerbs in drei Gruppen dokumentiert. Die erste umfasst die Alteigentümer, diese kommen durch Kauf oder Erbe in Kur- hessischer Zeit zu ihrem Besitz. Die zweite Gruppe investiert in der Zeit des Umbruchs vom Kurstaat zur Preußischen Provinz. Das trifft lediglich auf den Fabrikanten Henkel zu. Seine Kaufabsichten scheinen in Verbindung mit dem Prinzenwasserabstich zu stehen. Die dritte Gruppe erwirbt in den Jahren 1868-70 die Grundstücke. Diese Neueigentümer können als Bau- spekulanten bezeichnet werden, denn zu dieser Zeit ist die Planung der späteren Hohenzol- lernstr. bekannt. Beim nachfolgenden Expropriationsverfahren zur Erlangung eines geschlosse- nen Straßenareals verhindern Eigentümer mit Spekulationsabsichten den Ausbau. Besonders die Brüder Wolf und Moritz Lieberg beabsichtigen mit ihrer Verzögerung, den Bodenwert zu erhöhen. Gleiches Verhalten zeigen sie beim Bau der Kaiserstr. Ebene 2 verdeutlicht den Straßenausbau von 1943; während die Bebauung den modernen Zu- stand zeigt, ist es hier möglich, den alten Bestand in die bestehende Gebäudeformation einzu- ordnen. Karte 7: Eigentumsverhältnisse der Grundstücke im Bereich Hohenzollernstraße Sie verdeutlicht die Auswirkungen des Expropriationsverfahrens auf die unmittelbar an die Hohenzollernstr. anschließenden Querstraßen. Das sind Weissenburg-, Anfang der Victoriastr., ein Abschnitt des Karthäuser Weges sowie die westlich verlaufende Kronprinzen Str. Im Vergleich mit dem Böckelplan von 1866 und dem Neumannplan von 1878 sind Grundstücksän- derungen abzulesen. In dem Zeitabschnitt sind Flächen verkauft oder durch Erbe geteilt und partiell bebaut. Sowohl bei dem Neumann- als auch bei dem Böckelplan kann von einer ge- nauen Flächenzuweisung ausgegangen werden. 144 1 9 6 17 1 15 100 10 2 1 14 13 85 4 4 17 125 13 11 1 11 1 7 1 100 13 2 2 13 16 1:4.000 Jahr der Erwerbung ohne Angabe 1841 - 1865 1866 - 1867 1868 - 1870 Karte 6: Eigentumsverh ltnisse der Grundst cke im Bereich Hohenzollernstra e 0 50 100 150 20025 Meter Hintergrund Stadtplan 1943 Geb ude (Kataster modern) Nr Inhaber 1 Aschrott 2 Lieberg 3 Meyerhof 4 Abel, Franz 5 Hochapfel 6 Blum 7 Becker 8 Ostheim 9 Henkel 10 Zaun 11 Lingelbach 12 CredØ 13 Scheel, Carl 14 Scheel, Gottfried 15 Becker / Lauckhardt 16 Lauckhardt 17 von Baumbach, Amelie 100 st dtischer Besitz Roland Demme Klaus Horn (Kartierung) Universit t Kassel September 2005 S.Aschrott : Das Hohenzollern-Stadtteil-Unternehmen Datenquellen: Geoinformation der Stadt Kassel Katasteramt Kassel 145 1 9 6 17 1 15 100 10 2 1 14 13 85 4 4 17 125 13 11 1 11 1 7 1 100 13 2 2 13 16 1:4.000 Jahr der Erwerbung ohne Angabe 1841 - 1865 1866 - 1867 1868 - 1870 Karte 7: Eigentumsverh ltnisse der Grundst cke im Bereich Hohenzollernstra e 0 50 100 150 20025 Meter Nr Inhaber 1 Aschrott 2 Lieberg 3 Meyerhof 4 Abel, Franz 5 Hochapfel 6 Blum 7 Becker 8 Ostheim 9 Henkel 10 Zaun 11 Lingelbach 12 CredØ 13 Scheel, Carl 14 Scheel, Gottfried 15 Becker / Lauckhardt 16 Lauckhardt 17 von Baumbach, Amelie 100 st dtischer Besitz Roland Demme Klaus Horn (Kartierung) Universit t Kassel September 2005 S.Aschrott : Das Hohenzollern-Stadtteil-Unternehmen Datenquellen: Geoinformation der Stadt Kassel Katasteramt Kassel Hintergrund : Neumann-Plan (1878) 146 7.4.6 Stadtbebauungsplan – Aspekte zum Vertragsabschluss von 1869 Im 2. Bericht über den erweiterten Stadtbebauungsplan465 spricht der PD im Juni 1869 Verände- rungen an, die von der Stadt allgemein vorgenommen werden sollen. Neben dem gleichmäßigen Ausbau des Oberen Karthäuser Weges, der Verbreiterung der Wolfhager Straße wird sich ebenso mit dem Widerspruch des Maurermeisters Lauckhardt auseinandergesetzt. Dessen Ein- gabe bezieht sich auf den Straßenausbauabschnitt zwischen Oberem Karthäuser Weg und Stän- deplatz, der „Hohenzollernstraße“. Dabei werden Abänderungen des bisher existierenden Be- bauungsplanes angesprochen, der durch Neubauten in diesem Bereich schon fast ausgeführt sei. Sollte es nach Ansicht des PD zu Korrekturen kommen, dann müssten von öffentlicher Seite „doppelte Gründe“ angeführt werden, die die Verletzung privater Rechte rechtfertigten. Albrecht führt an, dass in diesem Fall öffentliches Interesse fehle. Weiter wird von einem An- satz466 (Straßenanschluss) gesprochen, der als „überflüssig, nachtheilig, unschön“ für „die Allee der Aschrott`schen Planlage“ zu bezeichnen ist. Im Anschluss werden die drei Attribute be- schrieben, die die neuen Straßenprojektionen charakterisieren. Für den PD scheint der letzte Abschnitt der Hohenzollernstraße vor Einmündung in den Ständeplatz überflüssig, weil mit den vorhandenen und noch zu erstellenden „Communicationen“ die Verkehrsführung geklärt und bereits durch Bahnhofsboulevard, Akazien Allee, Unterer Karthäuser Weg und Alter Wilhelms- höher Allee gewährleistet ist. Als Nachteil stellt sich für ihn in diesem Zusammenhang der Aus- bau des Unteren Karthäuser Weges auf 60 Fuß467 heraus, wodurch die östlichen Grundstücke so an Tiefe verlieren, dass sie, wie auch der Plan von 1878468 zeigt, vollständig bebaut werden. Zudem führe die schräge Einbindung der Hohenzollernstraße in den Ständeplatz zu einer Stö- rung der „imposanten“ Anlage, denn das regelmäßige rechteckige Raster wird dadurch aufgege- ben. An der südlichen Einmündung werde eine Ecksituation erzeugt, die ein „Häuser Handtuch“ entstehen lasse, an dem das nachträgliche Einfügen sofort zu erkennen sei. Abb.: 28 Darstellung der verwirklichten Einmündung der Hohenzollernstraße in den Ständeplatz469 465 Blumenauer beschreibt die Bebauungspläne von 1867 und 1869. Als Grundlage dient ein Schwarzdruck des Böckelplans. Der Bebauungsplan umfasst die Gebiete: Ulmen-, Karthäuser Str., Bahnhof, Reisberg, Wolfhager-, Königsstr. Der Plan von 1869 dagegen weist nur die von Aschrott bereits ausgebauten Straßen bis zur Quer Allee aus. Bebauungspläne liegen für noch zu erschließende Baugebiete nicht vor. Eine Herstellung von Neubauten kann außer an den von Aschrott ausgebauten Straßen nur noch an der Moltke-, Sedan-, Wörth-, Rosen-, Schomburg-, Spohr Str. und Grüner Weg erfolgen. Der erste von Blumenauer 1885 angefertigte Fluchtlinienplan nimmt die Straßen um das neue Garnison-Lazarett, das Gebiet zwischen Albrecht- und Wittichstr., auf. Blumenauer stellt bei Prüfung des Kartenmaterials fest, dass für bald zu bebauende Grundstücke Kataster-Karten benutzt werden, die auf Messungen der Jahre 1836 und 37 zurückgehen. (Blumenauer, 1965, S. 81-83.) 466 Mit Ansatz kann nur oben angeführte Einmündung der Hohenzollernstraße in den Ständeplatz gemeint sein. 467 1 Kasseler Fuß (ab 1820) = 28,77 cm. 60 Fuß = 17,26 m. 468 Plan der Residenzstadt Cassel von 1878, gedruckt in Leipzig auf 10 Blättern, auch Neumannplan genannt. 469 Ausschnitt aus dem Stadtplan von 1913. 147 Albrecht plädiert für eine direkte Verbindung an den Ständeplatz, auch wenn „Aschrott und Genossen“470 auf ihrem Vorschlag beharren. Allerdings sollte diese auf der Fläche der Jordan- straße am südlichen Ende erfolgen, die er als Verbindungsstraße zum Unteren Karthäuser Weg ausbauen möchte. Am oberen Teil dieses Weges kann mit einer neu geschaffenen Platzsituation die Hohenzollernstraße dann weiter nach Westen verlaufen. Ein solcher Platz rechtfertige auch die Grundstücksnachteile an dem Unteren Karthäuser Weg, führe ferner zu einer Auflösung bei Einmündung des Bahnhofsboulevards471 und erhalte die Regelmäßigkeit des Ständeplatzes.472 Aus den Vorschlägen des PD wird deutlich, dass ein Stadterweiterungsplan von Aschrott existiert. In dieser Ausbauphase kommt es bei Neuanträgen zu Problemen, da die Straßenplanung noch nicht abgeschlossen, geschweige denn die Straßen/Verkehrswege ausgebaut sind. Unter Berück- sichtigung des bestehenden Straßenzustandes erweist sich die Genehmigung von privaten Bau- ten als kaum verantwortbar. Was vor 1875 noch als unproblematisch erscheint, führt sechs Jahre später zu erheblichen Schwierigkeiten. Im Juli gleichen Jahres scheint die Kgl. Regierung die Stadt aufzufordern, Ausführungen mit- zuteilen, zu welchen Straßenherstellungen die Kommune bereit sei, um Anträge für Neubauten zu regulieren. Der Kommentar des OB lautet, in Anbetracht der städtischen Finanzlage seien derartige Verpflichtungen bei unübersehbaren Konsequenzen abzulehnen. Der Stadtrat werde aber im Rahmen seiner Möglichkeiten alles unternehmen, um die „innere und äußere Entwick- lung“ zu fördern. Er473 unterstreicht ferner die unzulässig erscheinende Vorstellung der Kgl. Regierung gegenüber der Stadt, die der Kommune zwingend vorschreibe, Ausgaben zu tätigen, „welche zu der finanziellen Kraft der Gemeinde in keinem ebenmäßigen Verhältnis stehen.“474 Damit es zu einer Balance zwischen der Verwirklichung des genehmigten Stadterweiterungsplanes und der Vorstellung der Kgl. Regierung zwecks Umsetzung des Planes kommt, berichtet der OB Nebelthau am 5. Februar 1870 an die Regierung, einen Vertrag abgeschlossen zu haben. Der Bürgerausschuss habe am 7. Dezember 1869 diesem Abkommen mit dem Fabrikanten Aschrott zugestimmt. Dessen Inhalt stellt die Anlage einer Hauptstraße „von der Oberen Friedrich-Wil- helmsstraße aus in der Richtung nach der Kölnischen Quer-Allee“475 dar. Fabrikant Aschrott ver- pflichte sich innerhalb der Jahresfrist (gemeint ist 1870) die oben genannte Hauptstraße sowie die „beiden von Osten nach Westen laufenden Querstraßen“ fertigzustellen. Nebelthau ergänzt, dass die Straßenlinien bereits amtlich vermessen und auch schon markiert seien. Weiter erwarte er von der Regierung, unmittelbar das Expropriationsverfahren einzuleiten. Der projektierten Hauptstraße möchte Aschrott den Namen „Hohenzollernstraße“ geben, der Stadtrat schließe sich dem Vorschlag an. Der OB bittet nunmehr die Regierung gleichfalls zuzustimmen. Hier wird der geringe Etatrahmen der Stadt deutlich, der durch die private Straßenfinanzierung seitens Aschrotts entlastet wird und überhaupt erst durch seinen Vorschlag die Möglichkeit der Erweiterung in Aussicht stellen kann. Ferner gibt die Reaktion des OB das angespannte Ver- hältnis zu der Kgl. Regierung wieder, die von der Kommune Ausgaben in Form von finanziellen 470 Unter Genossen sind wahrscheinlich Personen zu verstehen, die den Aschrottplan unterstützen. Vorwiegend wird es sich um Bauunternehmer, Banken und Personen mit Bauabsichten handeln. Allgemein wird bei einer Personengruppe der Name des Antragsstellers genannt und bei mehreren Personen Genossen hinzugefügt. 471 Gemeint ist die Fortführung der Victoriastraße von der Kölnischen Straße ab. 472 St AM Best. 165, Nr. 1452, F 11768. 473 Wörtlich schreibt der OB: „Ich muß bei dieser Veranlassung im Namen und Auftrag des Stadtrathes mit Nachdruck betonen, dass die Beziehungen Königlicher Regierung zur Stadt es unzulässig erscheinen lassen, ohne zwingenden Grund, ohne eine höhere, gebieterische Rücksicht des Staates, oder des allge- meinen Interesses, die städtischen Behörden zu Ausgaben zu nöthigen, welche zu der finanziellen Kraft der Gemeinde in keinem ebenmäßigem Verhältnis stehen“ (Best. s.o.). 474 St AM, Best. 165, Nr. 1452, F 11771. 475 Best. s.o., F 11769. 148 Vorleistungen fordert, die diese nicht erbringen kann. Sie vermag aber durch Einbindung von privatem Kapital Stadterweiterungsabsichten umzusetzen. 7.4.7 Vertrag der Stadt Kassel mit dem Consortium vom Dezember 1869 Auslöser für einen Vertrag476 zwischen der Stadt Cassel auf der einen und einem Consortium auf der anderen Seite stellt die planmäßige Erweiterung der Stadt zwischen der Alten Wil- helmshöher–, der Cölnischen Str. und der Quer-Allee nach den Maßen des Stadtplans477 dar. Als Vertragspartner478 treten eine Commission des Stadtrats der Stadt und ein Consortium auf, das sich zum Ziel gesetzt hat, Cassel nach Westen zu erweitern. Das Consortium wird durch Herrn Sigmund Aschrott479 vertreten, für das er sich sowohl solidarisch als auch allein gegen- über dem Vertrag verpflichtet und berechtigt ist, die angeführten Vereinbarungen zu treffen. Es erhebt sich die Frage, wer sich hinter dem Consortium verbirgt? Der Wortführer der Partner- schaft ist genannt; weiter kann man vermuten, dass ein Zusammenhang zwischen dieser Gruppe von 1869 mit dem Consortium von 1870 besteht, das bei Militärlieferungen für die Preußische Armee angeführt wird. So teilt der „Geheime Kriegs-Rath und Militär-Intendant des 11. Armee Corps“480 Ritter481 brieflich dem Königlichen Regierungs-Präsidium in Kassel (23. Juni 1879) mit, vorerst von einer „Provocationsklage gegenüber dem Consortium Aschrott, S. Katzenstein und Gebrüder Sobernheim“482 Abstand zu nehmen. Bei den anderen Vertragsteilnehmern wird es sich folglich um S. Katzenstein483 aus Bielefeld und die Brüder Sobernheim484 aus Berlin handeln. Das Consortium kann in seiner Rechtsform 476 Best. 165, Nr. 1452, Bd. 3; Bl. 214-287; F 11781. 477 Hier kann es sich nur um den von Blumenauer angesprochenen Böckel-Stadtplan von 1866 handeln, der jedoch keinen angegebenen Maßstab besitzt (Blumenauer, 1965, S. 81). 478 Rothschild unterteilt nach der Rechtslage Handelsgeschäfte in zwei Kategorien ein, diese führen “I. objektive oder absolute Handelsgeschäfte“, welche als solche von „einem Kaufmann oder Nichtkauf- mann“ umgesetzt, gewerbsmäßig ausgeführt oder nur in Einzelfällen abgeschlossen werden. Das Gesetz spricht bei diesen Vorgängen (nach Art. 271) von Spekulationsein- und –verkauf. Bei diesem Kauf handelt es sich sowie bei anderweitiger „Anschaffung von Waren oder beweglichen Sachen, von Staats- papieren“ um einen Vorgang zu dem Zweck der Wiederveräußerung. Es ist dabei gleichgültig, ob die Sachen in ihrem bestehenden Zustand oder nach Be- oder Verarbeitung veräußert werden. Beim Vorgang „II. Subjektive und relative Handelsgeschäfte“ kann nur in Verbindung mit gewerbsmäßiger Abwicklung solcher Geschäfte gesetzlich von Handelsgeschäften gesprochen werden. Als Gegenstand des Handels- gewerbes gilt dabei das kaufmännische Grundgeschäft. Das Gesetz (Art. 272, 1-5) weist vier ver- schiedene Arten auf, das sind: Fabrikmäßige Be- und Verarbeitung, Bankier- und Geldwechselgeschäfte, dazu zählen zahlreiche Variationen der Geld- und Vermittlungs- wie auch Warenumsatzgeschäfte von Banken, die Übernahme von Lebensversicherungen sowie Vermittlung oder Abschluss von Handels- geschäften für andere Personen. (Rothschild, 1888, S. 189.) 479 Der Begriff „Personen im Handelsgeschäft“ bedeutet, dass ein solches von Kaufleuten und Nichtkauf- leuten abgeschlossen wird. Ausführung von Handelsgeschäften in gewerblicher Form erfolgt vom Kauf- mann, aber nicht nur als Einzelperson, sondern auch als gesellschaftliche Genossenschaft ebenso wie durch Innungen. Für beide Formen Einzelperson und Gesellschaft dreht es sich um das Recht, Handel durchzuführen. (Rothschild, 1888, S. 191.) 480 G St A; Hpt. I, Rep. 120, CB V, Fach A, Nr. 16. 481 Kasseler Adressbuch von 1870: Ritter, Julius, ritterlicher Geh. Kriegsrath u. Militär-Intendant des XI. Armeecorps, Königs-Str. 29. Weiter werden zu der Hausnummer angeführt: Ehemaliges Kriegs- ministerium/ Ritter, Geh. Kriegsrath/ Intendantur d. 11. Armee Corps und Intend. v. 22. Division/ Bank- Commandite/ Garnisons-Verwaltung; Hartung, Pedell/ Hübner, Diener/ Griesel, Wwe. 482 G St A s.o. 483 St A M Best. 269, Nr 199 Kassel. 484 Bei der Corporation der Kaufmannschaft von Berlin vom 13. Dezember 1887 finden Wahlen der Herren Aeltesten statt. Herr Siegfrid Sobernheim wird in die Finanz-Commission gewählt. Gleiches gilt für die Jahre 1888 u. 89. 1892 sind die Gebrüder Sobernheim als Mitglieder durchgestrichen, wahrscheinlich ausgetreten oder verstorben. Sie wohnten in Berlin Burgstr. 28 u. Alsenstr. 2. (A Pr. Br. A Rep. 200-01, Nr. 261.) 149 als eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung485 angenommen werden; genauere Informationen dazu bestehen derzeit nicht. Vermutlich trennen sich die beiden letztgenannten Partner von dem Consortium (darauf wird in dem Kapitel über Militärlieferungen weiter eingegangen), und Aschrott wird es allein weiterführen. Unter diesen Umständen ist bei zukünftigen Verhandlun- gen nur noch von dem Fabrikanten oder später dem Bankier Aschrott die Rede. In dem Vertrag unter § 1 wird von einer Schienenverbindung, die demnächst gelegt wird, vom Ständeplatz nach Wilhelmshöhe auf der Hohenzollernstr. gesprochen, und diese sei vom Con- sortium bereits projektiert. Bei den zu bauenden Straßen dreht es sich neben der Hohenzol- lernstr. bis zur Quer-Allee um zwei von dieser Hauptverbindung bis zur Cölnischen-Allee aus- gehenden Seitenstraßen mit ihrer Verbindungsstraße. Es wird sich hierbei um die späteren Bis- marck- und Annastr. sowie deren Verbindung, die Parkstraße, handeln. Die Stadt legt, für den Erwerb der Straßenfläche einschließlich Oberbesserung fest, aus eigenen Mitteln nicht mehr als 15 Taler pro Rt.486 ausgeben zu wollen. Jedoch sind die Hälfte der Aufwendungen von den Anliegern nach dem Statut vom 2. November 1867 zurückzuzahlen. Westlich des v. Baumbach`schen Grundstücks bis zur Querallee und den dazugehörigen Seiten- straßen versucht die Stadt durch freiwilliges Einverständnis mit den Besitzern und in Absprache mit dem Consortium oder durch Expropriation die Straßenflächen zu erwerben. Bei Beträgen, die über dem festgesetzten Rutenpreis liegen, verpflichtet sich das Consortium den „Mehrbetrag zuzuschießen.“ Das Consortium verzichtet auf die Rückzahlung des Zuschusses. Allerdings besteht eine Ausnahme. Wenn die Stadt auf Grund des Statuts von 1867 Anliegergebühr erhält, wird diese unverzinslich bei der Stadt für das Consortium gutgeschrieben und zu Beginn des folgendes Jahres an dieses ausgezahlt. Die Grundstücksflächen, die über den Straßenraum hinausgehen und von der Stadt durch Expropriation erworben werden, fallen nach Bezahlung der Unkosten an die Stadt dem Consortium zu. Den Straßenraum, den das Consortium aus eig- nem Besitz an die Stadt verkauft, lässt es sich mit 30 Talern pro Rt. bezahlen. Dieser Mehrpreis von 15 Talern wird aber nur entrichtet, soweit er nicht „der Stadtkasse definitiv zur Last fallen würde“. Verläuft die Hohenzollernstr. auf der Gemarkung Wehlheiden, hat das Consortium nicht nur der Stadt die Fläche für die Straße unter den genannten Bedingungen zu überlassen, sondern auch für die anliegenden Grundstücke aufzukommen, wie im Statut von 1867 vorgesehen, um so zu den städtischen Gemeindeumlagen beizutragen. Die Stadt verhält sich hier, als ob die Flächen sich auf städtischem Grund befinden. Ferner steuert das Consortium zum Erwerb der Straßenflächen der Hohenzollernstr. über den festgesetzten Betrag von 15 Taler pro Rth. hinaus einen Zuschuss von 17600 Talern bei, der bar zu entrichten und vom Stadtrat zu Gunsten des Consortiums verzinslich anzulegen ist.487 Es handelt sich dabei vermutlich um die Form einer Sicherheit, jedoch werden die Anliegerbeiträge bei diesem Straßenabschnitt nicht ersetzt. Der Zuschuss findet weder eine Berücksichtigung bei irgendwelchen Nachforderungen, noch entfällt eine Rückzahlung in jedem Falle. Darüber hin- aus ist die Stadt berechtigt, einen erwirtschafteten Überschuss in diesem Zusammenhang an- derweitig zu verwenden. Nach vollständigem Erwerb der Straßenflächen wird die Stadt inner- halb Jahresfrist (also 1870) die Straßen ausbauen, dass sie mindestens eine Wertsteigerung er- fahren oder „auch gepflastert und mit beidseitigen Trottoirs und planmäßigen Alleepflanzungen versehen“ und für den Verkehr frei sind. In diesem Zeitraum „sollen auch die Straßen mit Gas 485 Die Gesellschaft mit beschränkter Haftung: Das Bedürfnis der Bildung von Kapitalvereinen mit der auf die Einlage beschränkten Haftung der Beteiligten war durch die Form der Aktiengesellschaft nur für Großunternehmen zugelassen. Die G.m.b.H. stellt eine kleinere Form der Aktiengesellschaft dar, die keine Schutzregeln hat, mit denen Gründung und Geschäftsführung überwacht werden (Rothschild, 1922, S. 493). 486 Rh.- Steht für das Längenmaß Rute. 487 Bei Grundstücken die keiner Anliegergebühr unterliegen, übernimmt das Consortium die Kosten nach Statut von 1867 zu der Straßenerstellung. Die Hausbauer entrichten ihre Abgaben gemäß der städtischen Gemeindeumlagen in gleicher Weise, als befänden sich die Grundstücke auf städtischer Gemarkung. 150 beleuchtet werden,“ was durch Vertrag488 mit „der hiesigen Gasbereitungsanstalt“ sichergestellt ist. Die Versorgung der Straßen mit Wasser und Kanalisierung wird nach geltender Norm um- gesetzt. In § 6 erteilt die Stadt die Genehmigung, vom Ständeplatz bis zur Quer Allee eine Eisenbahn zu legen und zu betreiben. Die Bedingungen für diesen Vertrag behält sich die Stadt vor. Weiter bietet die Stadt an, auf Wunsch des Consortiums für die Umsetzung geplanter Straßen anlie- gende Grundstücke, die in Besitz genommen worden sind, diesem zu übertragen. Expropriation nimmt die Stadt in diesem Kontext nur innerhalb ihrer Zuständigkeit vor. Alle dafür erforderli- chen Summen sind der Stadt seitens des Consortiums vorher zur Disposition zu stellen, und es hat weiter auch alle Nebenkosten zu tragen. Dies kann vorher auf Verlangen der Stadt durch Kaution geregelt werden. Die Kosten des Vertrags trägt das Consortium. Den Vertrag489 unterzeichnen am 7. Dezember 1869 von städtischer Seite OB Nebelthau, Dr. Harnier, Becker und Ostheim, sowie Sigmund Aschrott für das Consortium. Aus dem Vertrag wird eine Verteilung der Kosten deutlich, die weitgehend von dem Consor- tium getragen werden, sei es, dass diese sich auf den Erwerb von Flächen beziehen oder auf Verwaltungskosten. Das Consortium verlangt von der Stadt den doppelten Verkaufspreis bei eigener Landabgabe, jedoch heißt es im Zusatz: nach städtischer Kassenlage. Die Stadt entlastet sich finanziell nach der Expropriation mit fälligen Anliegergebühren beim Hausbau und scheint somit eindeutiger Gewinner zu sein. Für Aschrott kann offensichtlich nur im Vordergrund ste- hen, die Erweiterung unter seiner Einflussnahme in Gang zu bringen, neue Flächen hinzuzube- kommen und andere besser verkoppeln zu können, um auf diese Weise die Baumaßnahmen auf das gesamte Gebiet auszudehnen. Für ihn bedeutet dieser Vertrag sicherlich auch die Verwirkli- chung eines Wunsches. Er will in Kassel, der Stadt, der sich seine Mutter und er sehr verbunden fühlen, etwas schaffen, was er in anderen Städten wie Paris, London und Berlin bewundert hat. In dem Vertrag ist von „gedachten“, wahrscheinlich projektierten, Straßen die Rede, die in dem Bebauungsplan vermutlich nur gestrichelt oder nur angedeutet sind. Hier wird die Planungs- strategie ersichtlich, der die Stadterweiterung unterliegt. Mit Hauptstraßenzügen und deren Seitenstraßen möchte man die Großfläche erschließen. Neue Seitenstraßen oder Verlängerungen übernimmt man in den Plan, wenn sie sinnvoll für die Erschließung scheinen. Eine Strukturie- rung für die gesamte Fläche bis zur Quer-Allee scheint bei Vertragsabschluss nicht vorzuliegen. Bei der noch angeführten Kronprinzenstr. wird eine solche nachträgliche Planung erkennbar. Der gleiche Planungsvorgang vollzieht sich in der Anlage der Kaiserstr., der nächsten Haupt- achse. Aussagen zur Umsetzung der Hohenzollernstr. vom Ständeplatz bis zur westlichen Grenze des v. Baumbach`schen Grundstücks liegen nicht vor. Die Vertragspartner scheinen sich einig zu sein, dass zur Verwirklichung in diesem Abschnitt nur mit Expropriation zu verfahren ist, da es sich um mehrere Besitzer handelt, die auch über Bauten im Straßenraum verfügen. Das bedeu- tet, der Prozess würde sich lang hinziehen, und es sei besser, ihn von dem übrigen Straßenbau abzukoppeln. 7.4.8 Erschließungsstraße zu einem Baugebiet für „wohlgestaltete Leute“490 Die starke Hangneigung des Geländes südlich der Kölnischen Straße zwischen Westendstr. und Quer-Allee regt Aschrott an, hier Bauplätze zu schaffen, die besonders für ein Bürgerklientel, gehobenes Wohnen491 bevorzugend, zugeschnitten sind. Aus einem Stadtratsprotokoll vom Dezember 1873 wird deutlich, dass Aschrott dem Stadtbauamt eine Eingabe mit Skizzen zu- 488 Vertrag über Straßenbeleuchtung vom 17. Juni 1867. 489 Die notarielle Beglaubigung findet mit dem Kgl. Rechtsanwalt und Notar im Department Kgl. Appellationsgericht Cassel Carl Peters statt, der auch in anderen Geschäften für Aschrott arbeitet. 490 Best. 165, Nr. 1452, bd. 4, F 11784. 491 Schreibt OB Weise sinngemäß am 9. Februar 1874 an den PD. 151 kommen lässt, die oben bezeichnete Querstraße parallel zur Westendstr. in den Bebauungsplan aufzunehmen. Dem Antrag wird von Seiten der Stadt entsprochen. Anfang Januar 1874 bittet der PD die Kgl. Regierung, ebenfalls der Aufnahme der neuen Straße zuzustimmen. Er stehe dem Antrag befürwortend gegenüber, denn auf der Strecke zwischen Westendstr. und Quer- Allee wird über kurz oder lang das „polizeiliche Bedürfnis“ entstehen, eine Querverbindung anzulegen. Auf diese Weise könnte gleichfalls „ein beschränkter Blick von der Cölnischen Al- lee“ in die Landschaft gerettet werden. Über Erstellung der Straße sei man sich mit dem Unter- nehmer Aschrott einig und der Stadtkasse würden keinerlei Kosten zufallen. Später sei für die Straße eine Fortsetzung durch städtisches und Aschrott`sches Terrain an der Stadtkaserne vorbei bis zur Alten Wilhelmshöher Allee492 möglich. Seit längerem lägen bereits zwei Neubauanträge für die Baufläche vor; eine Genehmigung sei bis jetzt nicht erfolgt, da die Stadt dieser Anlage früher widersprochen habe und aus diesem Grund ein Vertrag mit der Kgl. Regierung nicht möglich scheine. Deshalb bitte er baldmöglichst um Genehmigung, damit er von seiner Seite aktiv werden könne. Weise schwärmt aus städtischer Sicht von diesem Quartier, das an einem „vortrefflichen gelegenen Bergabhang[...]“ sich erstrecke und sich zum Bauen für „wohlgestal- tete Leute“493 anbiete. Für diesen Personenkreis stellten sich gewisse Schwierigkeiten494 nicht, wenn sie dafür gesunde Luft und schöne Aussicht genießen könnten. Daher sei in diesem Fall ausnahmsweise von der bewährten Norm abzuweichen. Er führt weiter an, die eigenen Vorstel- lungen richten sich weniger an der norddeutschen Ebene aus, sondern berücksichtigen vielmehr Beispiele in Stuttgart, Wiesbaden, Zürich, Bern usw. Der PD greift in einem weiteren Schreiben495 an die Regierung rechtliche Probleme auf. Zwar sei die Straße für den Bebauungsplan vorschriftsmäßig „berathen, vorgelegt und genehmigt“, die Sachlage bis heute aber nicht endgültig geklärt. Eine ordnungsgemäße Genehmigung „zu nachträglicher Eintragung in den jetzt in anderweitiger Ausarbeitung begriffenen Bebauungs- plan sei noch nicht erfolgt.“ Vorverhandlungen zwischen Stadt und Aschrott seien im Gange und durch die von Aschrott bereits erfolgten Grundstücksverträge erscheine es, um eine un- glücklich veränderte Straßenführung zu vermeiden, für „Neubauten wünschenswerth ja fast notwendig,“ den Vorschlag zu genehmigen. Ein Problem für den Ausbau stelle das enorme Gefälle der Straße dar. So führe das Gutachten des Stadtbaumeister Rudolph Missverhältnisse an, die nach seiner Meinung jedoch nicht eintre- ten müssten. Das durchschnittliche Gefälle von 1:12 für die Bauform und den damit verbunde- nen Zweck sei nicht so bedenklich und gereiche auch dem allgemeinen Verkehr nicht zum Nachteil. Im Vergleich existiere in der Stadt viel ungünstigeres Gefälle, bei dem sich „lebhafter Verkehr mit schwerem Fuhrwerk“ abspiele. Er bitte um baldige Genehmigung der Querstraße, „weil diese wenigstens in ästhetischer Beziehung einige Sicherheit gegen das Schlimmste bie- tet.“ Wenige Tage danach wiederholt er seine Aufforderung nach „unverweilt[er] Mitteilung nach Genehmigung.“ Nach einem Vierteljahr496 greift er erneut das Problem auf, denn inzwischen liegen ihm vier Neubauanträge für den südlichen Abhang zwischen Kölnischer Allee und Parkstr. vor, die be- reits die technische Spezialprüfung bestanden haben. Es muss offensichtlich zu Schwierigkeiten zwischen den Bauherren und den Behörden gekommen sein, denn die Bauanträge werden nicht genehmigt, während das für Bauten an der „Kaiser-Terrasse“ nicht gilt, obwohl alle Verfahren den gleichen baupolizeilichen Vorschriften unterliegen. Der PD ergänzt, der Plan von 1872 schreibe von vornherein dem Aschrott`schen Terrain vor, es sei „nicht geschaffen“ für Gebäude. Ein Abweichen von bestehenden Bedingungen erscheint dem PD bisher bei Bauanträgen als nicht vereinbar. 492 Fluchtlinienplan Nr. 167 III vom 3. Februar 1888 sieht diese Straßenführung noch vor (Ver- messungsamt Kassel). 493 Brief von OB Weise s.o. 494 Es scheint die starke Hanglage und die damit verbundene aufwendige Bauweise gemeint zu sein. 495 Brief vom 12. Februar 1874, Best. s.o. 496 Brief vom 12. Mai 1874, Best. s.o., F 11785. 152 Bei dem Problem gehe es um ein Fehlverhalten von Aschrott, das entweder aus dessen Unacht- samkeit oder aus dessen Glauben an nachträgliche Bestimmbarkeit der Behörden resultiere und auch von ihm zu regeln sei. Die Stadt habe die Aufrechterhaltung des Bebauungsplanes aus- drücklich abgelehnt und Bauen in diesem Abschnitt „sogar für wünschenswert erklärt.“ Sie scheue lediglich den möglichen Kostenaufwand, von dem in diesem Fall nach seiner Ansicht nie die Rede sein wird. Da es sich hier um eine „erhebliche[...] Angelegenheit“ der Stadt handele, diese sich durch „Theilnahmsigkeit“ in der Sache auszeichnet, habe er sich zu dem äußersten Mittel entschlossen und von dem Unternehmer Aschrott einen Plan zur Bebauung des fraglichen Terrains verlangt. Dieser leiste „Einiges, aber freilich Wenig“ für die Angelegenheit, so lange Aschrott sich an die Aussage der Stadt „bindet.“ Die Stadt befürwortet Aschrotts Vorschlag einer weiteren Straße, ändert jedoch nicht den Be- bauungsplan; Aschrott verkauft derweil schon Grundstücke als Baugrund. Der PD der auch für die Straße ist, kann wegen des noch bestehenden Bebauungsplans, die möglichen Bauanträge nicht genehmigen und fordert die Stadt auf, für die erforderlichen rechtlichen Voraussetzungen zu sorgen. Aschrott versucht sich in dem vorliegenden Fall über die Behörden hinwegzusetzen und bietet das ausgezeichnete Terrain gleich zum Verkauf, ohne auf den noch bestehenden Beschluss hin- zuweisen. Er spielt hier seine Rolle als Großgrundbesitzer aus. Die Stadt nimmt seinen Vor- schlag zumindest von der baulichen Seite her begeistert auf, ohne die Rechtslage vollkommen zu klären. Der PD möchte die Sache im Sinne der Bauherren lösen. Die Kgl. Regierung wartet aus der Distanz ab, welcher der Vertragspartner den ersten Schritt zur Veränderung unternimmt. Die Abt. des Innern der Kgl. Regierung schaltet sich in die Straßenfragen im Februar 1874 mit einem Schreiben an den PD ein. Sie hält eine neue Straße497 zwischen Cölnischer- und Hohenzollernstraße, parallel zur Westendstraße, wegen des Gefälles für nicht machbar. Eine Genehmigung würde nur unter der Voraussetzung erteilt, wenn die „erleichterte Communica- tion“ vom Bahnhof zum neuen Stadtteil, die Victoriastraße, zustande käme. Sollten Verhand- lungen mit der Stadt Zweifel am Bau aufkommen lassen, sei die „vorstehend ertheilte Genehmi- gung einstweilen“ zurückzuhalten.498 Vier Tage später vergleichen die Behörden auf Beteiben des PD den Stand der Umsetzung für beide Straßen unter der Prämisse der Notwendigkeit für städtische Interessen. Mit kritischer Äußerung, nicht frei von Ironie, bringt Albrecht Aschrott ins Spiel; der Fabrikant Aschrott sei am „Zustandekommen auch dieser Straße [beteiligt], sowohl als Adjutant um ihrer selbst willen, als [auch] Poussirung499 [Vernarrtheit in] seine ganzes ... Unternehmen, [an dem er] ein eminentes Interesse hat.“500 Hier begreift der PD die Aktionen Aschrotts als Begeisterung für die Sache und nicht als einen Akt zur Steigerung der Bodenrente. Albrecht scheint bereits zu dem Zeitpunkt überzeugt, dass die Zusammenarbeit mit Aschrott dem Projekt nützt. Unterschiedliche Auffassung könne im Diskurs mit ihm gelöst werden. Albrecht erweist sich als ein preußischer Beamter, der sich nicht ausschließlich am Formalen orientiert, sich aber mit der Sache auseinandersetzt. Die Genehmigung zum Ausbau der späteren Annastr., nur unter dem Vorbehalt einer fertigge- stellten Victoriastr. zu erteilen, beinhaltet, letztere nimmt den gesamten Verkehr auf und die Annastr. wird als Verkehrsweg nach Westen nicht mit eingebunden. Damit fungiert sie weitge- hend als Anliegerstr., und die überhöhte Steigung fällt nicht übermäßig ins Gewicht. Das Bebauungsgebiet stellt sich infolge seiner Südhanglage und Entfernung zum Bahnhof sowie der Nähe zu einer sich entwickelnden Versorgungsstraße als ein Areal für gehobenes Wohnen heraus. Gleichzeitig wird das von Verwaltungsmitgliedern mit der Äußerung, hier wohnen zu 497 Bei dieser neuen Straße kann es sich nur um die Kronprinzenstraße handeln, die im Neumannplan 1878 noch projektiert ist, während die Bismarckstraße schon 1870 als existierende Straße eingezeichnet ist. 498 Best. s.o., F 1930. 499 Poussirung gleich Flirten. 500 Best. s.o. 153 wollen, unterstrichen. Aschrott selbst wählt, wie bereits angesprochen, mit seinem Umzug in die Annastraße 18 dieses Quartier für seine Familie zum Wohnstandort aus. Dem bisher dargestellten Entwicklungsprozess für das Hohenzollernviertel soll ein Stadtteil- projekt gegenüber gestellt werden, an dem die unterschiedlichsten Probleme, die bei der Reali- sierung auftreten, unter anderen Prämissen nicht nachweisbar sind. Im Gegensatz zu Kassel wird das Essener Projekt als Gesamtwerk abgeschlossen. Der Vergleich unterstreicht die vielfa- chen Störungen beim Aufbau eines neuen urbanen Vorhabens. Mit dem Essener Viertel möchte sich eine Unternehmerfamilie ein Denkmal setzen, das deren sozialen Einsatz für die Beleg- schaft unterstreicht. Das eingebrachte Stiftungskapital entwickelt sich vermutlich im Laufe der ersten Jahrzehnte nach Wohnungsbezug zu keinem reinen Verlustgeschäft. 7.4.9 Exkurs zum Ausbau Margarethen-Höhe Essen Die Familie Krupp501 kauft 1903 an der Peripherie von Essen eine ausgedehnte Hügelgruppe, die, durch den „Mühlenbach“ deutlich von dem übrigen Gelände getrennt, eine Fläche von 50 ha umfasst und von einer Waldfläche umgeben ist. Ein Gremium aus Abgeordneten des Stadtparlaments und der von der Familie zu ernennende Vertreter entscheidet über die Umsetzung des Projekts. Vorsitzender ist der Oberbürgermeister von Essen502 (Beigeordneter Rath, 1913, S. 102; in: Die Margarethen-Höhe). Der Architekt Georg Metzendorf, der sich in einer Ausstellung in Darmstadt mit einem Konzept von einge- richteten Kleinhäusern hervorgetan hat, wird mit der Entwicklung des Projektes beauftragt. Er stellte einen ausgeglichenen Gesamtentwurf vor und zeigt dabei Bekundung für „Praktisches“ (Brinckmann, 1913, S. 2). Der Bebauungsplan beinhaltet den Entwurf von Kleinwohnungsbauten, und dazu soll er „vom Praktischen zum Ästhetischen kommen und die vielen wirtschaftlichen und hygienischen Fragen in eine anmutige Gesamtform bringen“ (Brinckmann, 1913, S. 2). Der Stadtteil soll 16000 Menschen beher- bergen, die der „minderbemittelten Klasse“ (Brinckmann, 1913, S. 2) zuzurechnen sind. Die Werksangehörigen der Firma Krupp503 sind entsprechend mit einzubeziehen. Ihr Verhältnis zu der Gesamtheit der Bewohner beläuft sich auf 45 Prozent (Brinckmann, 1913, S. 2). Das be- deutet, die Stiftungsabsicht bezieht sich auf breite Bevölkerungsschichten, die sich nur zum Teil aus den Kruppschen Betrieben rekrutieren. Mit dem Verbot der Untervermietung von Zimmern wird der soziale Standard des Quartiers fest eingeschränkt. Eine Ausweitung der Belegung auf reine Schlafstellen (Brinckmann, A.E., 1913, S. 15) hätte eine pluriforme Population zur Folge, die den Stadtteil gesellschaftlich diskreditieren würde. Das heißt, die elitäre Spezifikation, ob- 501 „Aus Anlass der Vermählung ihrer Tochter Berta mit Herrn von Bohlen-Halbach hat Frau Friedrich Alfred Krupp am 1. Dezember 1906 die Margarethe Krupp-Stiftung für Wohnungsfürsorge errichtet“ (Brinckmann, 1913, S. ½). 1902 erbt Berta Krupp nach dem Tod ihres Vaters Friedrich Alfred Krupp (1850- 1902) den Familienbetrieb, der zu der Zeit über 20000 Beschäftigte hat. Das Stiftungskapital beträgt 1 Millionen Mark, das für die Errichtung von Wohnhäusern auf der familieneigenen Hügelkuppe vorgesehen ist (Brinckmann, 1913, S. 2ff.). 502 Essen, Bochum und Dortmund zählen zusammen ungefähr 30000 Einwohner. Die sprunghafte Zunahme von Arbeitskräften tritt hier erst nach 1890 ein. Bis 1913 schnellt die Zechenbelegschaft von 80000 auf 400000; sie steigt um das Fünffache an. Die Gemeindeverwaltungen sind nicht in der Lage, diese Probleme zu lösen und verweisen auf die Industriellen, deren Aufgabe es sei, die Menschen unter- zubringen. Ein Essener Stadtbaumeister bemerkt 1886 dazu, die Gemeinden sehen von ihrer Seite keinen Handlungsbedarf, „weil die Wohnungsnoth lediglich eine Folge des Emporblühens der Industrie und des damit verbundenen Zuzugs zahlreicher Arbeiter damals eintrat und es daher in erster Linie Sache der Besitzer der sich so glücklich entwickelnden industriellen Werke war, für ein gutes Unterkommen der für sie notwendigen Arbeitermassen Sorge zu tragen.“ (Beuys, 1980, S. 377.) 503 Friedrich Alfred Krupp richtet bereits 1836 eine Krankenkasse und 1855 eine Pensionskasse ein und schafft umfassend ab 1861 Lebensraum durch Werkswohnungen (Brockhaus Enzyklopädie, 1970, Stichwort: Krupp). Er kennt die Lebens- und Wohnungsprobleme seiner Arbeiter und beabsichtigt durch soziale Einrichtungen, auch das Arbeitsklima und die Arbeitsleistung zu verbessern. 154 wohl nur auf untere Mittelschicht und Unterschicht ausgerichtet, würde, da ungewollt, durch eine erweiterte Okkupation unterlaufen. Die Siedlung soll den Bewohnern als „abgesonderte Erholungsstätte und zum beschaulichen Aufenthalt“ dienen (Metzendorf, G., 1913, Vorwort; in: Margarethen-Höhe). Bei den Gebäuden handelt es sich um Kleinwohnhäuser mit zentraler Heizung, Lüftung, Bad und kleinem Garten. Die Inneneinrichtung ist bei allen Wohnungen größtenteils gleich. Die Herstellungskosten be- laufen sich pro Wohneinheit auf 3800-7000Mark ohne Straßen- und Nebenkosten (Metzendorf, G., 1913, Vorwort). Die Margarethen-Höhe ist ein kompletter Stadtteil mit Versorgungseinrichtungen, sowie Kin- dergärten, Schulen und Kirche. Das Flächenverhältnis zu Groß-Essen ist 1/250 (Metzendorf, G., 1913, Vorwort). Der Stadtteil wird mit der Straßenbahn verkehrstechnisch an die Gesamtstadt angebunden und mit einer 172 Meter langen Brücke aus Ruhrsandstein versehen, die demon- strativ die Verbindung Stadtteil und Essener Flur dokumentiert, worauf im Folgenden näher eingegangen wird. „Was hier hochherziger Sinn der Frau Exzellenz Krupp für das Gemeinwohl hat, wird sich ohne Ände- rungen auf andere, weit abweichende wirtschaftliche Bedingungen nicht übertragen lassen“ (Brinckmann, A.E., 1913, S. 16). Die Anordnung von Straßen und Plätzen entspricht einer feinfühligen Planung, dabei findet eine Annäherung von Mensch und Natur als allmählicher Übergang vom öffentli- chen zum halb-öffentlichen Raum statt, der in der Intimität des Hauses endet (Delfante, 1999, S. 211). Der weithin sichtbare Wohnkomplex und die Anlage einer im traditionellen Stil errichte- ten Brücke verdeutlichen allgegenwärtig das außergewöhnliche Engagement der Kruppführung gegenüber der Belegschaft sowie der Gesellschaft und unterstreichen die Leistungskraft und Machtentfaltung dieses Großunternehmens. Der Plan verwirklicht den Traum jedes Städte- bauers, alle Bedingungen, die zum Wohlergehen der Bewohner erforderlich sind, in dem Projekt zu vereinen. Die Brücke als Mittler zwischen urbanem Komplex und allgegenwärtiger Evidenz privaten Handelns wird veranschaulicht durch ein die Generationen überdauerndes Bauwerk. Es wird nicht mit dem Material der Zeit, nämlich Eisen, was zudem noch auf den Tätigkeitsbereich der Familie schließen ließe und dem entsprechenden Konstrukt, einer Gitterkonstruktion, geplant. Man verwendet dagegen Sandstein, einen Baustoff, der einen allumfassenden Zeitraum symbo- lisiert. Als Konstruktionsmittel wird der Brückenbogen gewählt, der als Darstellungsform dem römischen Aquädukt entlehnt ist; er überbrückt den Zeitraum von der Antike zur Gegenwart und symbolisiert auf diese Weise die Lebensdauer des Stadtteils und die Bedeutung der Stiftung für die Gesamtgeschichte der Stadt. Das Beispiel verdeutlicht eine Stadtteilerweiterung in Form einer Stiftung. Planung und Bau- verlauf können mit dem Entwicklungsprozess in Kassel nicht verglichen werden, zeigen je- doch, welche Anstrengungen in Kassel aufzubringen sind, um einen Straßenzug zu verwirkli- chen. In Essen entsteht eine Urbanisation aufgrund feststehender Planung. In Kassel dagegen wird versucht, einen privaten Grundstücksmarkt aufzubauen. Da die Residenz aber nicht über genügend Bauherren verfügt, die ein so großes Areal besetzen können, geht die Entwicklung von Straße zu Straße voran. 155 7.4.10 Regulierungen im Oberen Karthäuser Weg im Kontext mit Aschrott? Der Ausbau des Oberen Karthäuser Weges leidet zudem unter der Gefälleproblematik. Dieser Ausbauvorgang wird ausschließlich deshalb angeführt, weil hier Aschrotts eigentliche Rolle in dem Stadterweiterungsprozess deutlich zu werden scheint. In den normalen Protokollen und Situationsberichten fällt sein Name meist dann, wenn es sich um Grundstücksangelegenheiten handelt. Ansonsten wird sein Name im Allgemeinen nur dann erwähnt, wenn von Verträgen die Rede ist. Im September 1872 bedarf es bei der Korrektur des Karthäuser Weges504 des Verkaufs bestimmter Grundstücke. Betroffen ist der Konsul Wedekind, dessen Grundstück bis zur Victoriastraße reicht. Ferner gehört ein umfassendes Areal von Raabe zu dem Projekt. Parzellen von Blume und Aschrott ragen gleichfalls in den Straßenraum. Über die Preisgestaltung und die Frage Aufkauf oder Expropriation ist in der Verwaltung noch nichts entschieden, wie ein Vertrag mit Aschrott zeigt. Die Stadt möchte für die Grundstücke lediglich einen Minimalpreis zahlen. Hauptsächlich dreht es sich aus städtischer Sicht um den Hospitalgarten, der im Austausch angeboten wird, wenn die Schätzwerte der in Frage kommenden Grundstücke den städtischen Vorstellungen nicht entspre- chen. Für den Hospitalgartenwert setzt der Stadtbaurat einen Preis von 120 Talern pro Rute an und ergänzt, dass dies mäßig taxiert sei. Gleichzeitig wird überlegt, wie die für die Victoria- straße benötigten Flächen mit den genannten auszugleichen sind. Der Grundstücksrichtwert des Karthäuser Weges erscheint mit 20 Talern akzeptabel. Als wei- tere Option denkt die Bürokratie an die Versteigerung des Hospitalsgartens. Der OB in Vertre- tung durch Dr. Weise entwirft eine Kostenaufstellung505, bei der die Stadt gewinnbringend operieren könne. Über die Verwaltungsvorschläge zur Regulierung scheint der Konsul Wede- kind erbost und unterrichtet vier Wochen später den PD, dass er alle Zugeständnisse und Ab- sprachen, die er mit der Stadt getroffen habe, „ganz vollständig annulliere[n]“ würde506. 504 Schon 1867-69 wird unter Verschönerung der Residenzstadt das nördliche Drittel des Oberen Karthäuser Weges genannt, das in gleicher Breite wie das südliche erstellt und mit 40 Fuß Breite durch das Bierner`sche Grundstück bis zur Cölnischen Allee fortgeführt werden soll. Dagegen scheint „wohl vorläufig, ja für immer“ die kürzeste Verbindung bis zur Alten Wilhelmshöher Allee durch das v. Baumbach`sche als zu teuer und bedarf einer kommunikativen Auseinandersetzung, um sie eventuell zu realisieren. (Best. 165, Nr. 1452, Bd. 1, Bl. 1-77.) 505 Die Aufstellung des Stadtrats bezieht sich auf den Bereich Victoriastr. und Karthäuser Weg. Benötigt: I. Victoriastr. 1. von Wedekind 23,22 Rtn. 2. von Raabe 73,72 Rtn. II. Karthäuser Weg 1. Wedekind wird getauscht mit Veränderung in Straße 2. Raabe 6,33 Rtn. Summe 103,27 Rtn. Demgegenüber stellt er den Quadrat-Rutenpreis von 15 Taler. Die Kosten belaufen sich auf 1549,05 Taler. Der Hospitalgarten entspricht 69,99 Rtn. 120 Taler pro Rute ergibt für Hospgtn. 8398,80 Taler. Bleibt ein Saldo zu städtischen Gunsten von 6849,75 Taler. 506 Best. 165, Nr. 529, F1898. 156 Abb.: 29 Oberer Karthäuser Weg507 nach dem Ausbau, Anschluss an Kölnische Straße verbleibt in Ausgangsbreite In den Verhandlungen zur Realisierung des Karthäuser Weges werden in der Zeit vom 18.4.74 bis 18.5.75 in dem untersuchten Bestand zehn verschiedene Mitteilungen genannt, in denen mögliche Absprachen, Korrekturen, Grundstückveränderungen zur Sprache kommen; dabei stellt Aschrott ausschließlich den Ansprechpartner und Organisator dar. Nebelthau teilt mit, in ständigen Verhandlungen mit Aschrott zu einer Ergebnissicherung bei obigen Straßenprojekten zu gelangen. Weiter wird angeführt, Aschrott sei dauernd abwesend, sei nicht zurück, halte sich in der Schweiz auf, sei immer noch nicht aus der Schweiz zurück. Das zeigt exemplarisch seine Bedeutung für die Fortentwicklung des Stadtbauprozesses, wo auch die öffentliche Verwaltung ihr gesteigertes Interesse an der Mitwirkung Aschrotts zum Ausdruck bringt. Weiter wird die finanzielle Situation der Stadt deutlich; nur mit Flächentausch, einem den Marktwert unterschreitenden Quadratmeterpreis beim Parzellenkauf oder dem Stra- ßenausbau durch einen Unternehmer ermöglichen die Verbreiterung und Regulierung bestehen- der Wege. Im März 1880 wird im Bürgerausschuss508 die Fluchtlinie509 im Karthäuser Weg beschlossen, dabei sei eine zweimalige Brechung der Wegführung zu vermeiden, der Ankauf von Grund- stücken zu minimieren und die Breite von 10 m als ausreichend510 anzunehmen. Die Antwort 507 Fluchtlinienplan, Nr. 167_3 vom Februar 1888 (Vermessungsamt). 508 Best. s.o. 509 Die “Stadtbau Direction” informiert im Juni 1879 den PD, dass Nivellierungsarbeiten im Karthäuser Weg in seinen jetzigen Grenzen vorgenommen werden. 510 Der OB gibt dem PD weiter, eine Entscheidung bei der Kgl. Regierung wegen der Korrektion der 157 der Abt. des Innern fällt sehr deutlich aus. In Bezug auf die Akten- und Sachlage werde die Victoriastraße den öffentlichen Verkehr verändern, der Karthäuser Weg verliere jeglichen Ver- kehrswert 511 und fungiere nur noch als Zugangsweg für die anliegenden Gebäude und Gärten. Dabei seien 10 m Breite ausreichend; Bedenken gegen fehlende Feuersicherheit und öffentliche Gesundheit könnten nicht erhoben werden und somit Zustimmung zu den städtischen Plänen aus polizeilicher Sicht möglich. Am 5. Dezember 1885 beauftragt man endlich den Pflaster- meister Strohmeyer aus Waldau, innerhalb von 3 Tagen die Pflasterarbeiten512 im Oberen Karthäuser Weg in Angriff zu nehmen. Die Planungs- und Ausführungsarbeiten dieses kurzen Straßenstückes scheinen ein Ende zu finden. Im Fluchtlinienplan 1888 (siehe obige Abbildung) ist der ausgebaute Karthäuser Weg bis Akazien Allee festgehalten; der Anschluss an die Kölni- sche Straße besteht in der ursprünglichen Breite fort. 7.4.11 Eingetragene Pfandrechte auf Aschrottschen Grundstücken Aus den Unterlagen des Bestandes über Anlage, Ausbau und Korrektur Kasseler Straßen geht ein anderes Problem Sigmund Aschrotts hervor, das in Verbindung mit den Ereignissen der Jahre 1870/71 zu sehen ist. Während dieser Zeit engagiert sich Aschrott bei Verpflegungsauf- trägen für die preußische Armee. Die daraus resultierenden Entscheidungen der Armee-Inten- dantur werden ihn bis ans Lebensende begleiten und stellen für Aschrott eine Degradierung dar, die er auf verschiedenste Weise zu kompensieren sucht. Darauf wird später eingegangen. Am 17. Mai 1871 fordert der PD das Kgl. Amtsgericht I auf, die Grundstücksparzellen, die zur Fertigstellung eines Teils der Hohenzollernstraße erforderlich sind, aus dem Pfandrecht frei- zugeben. Die Militär „Intendantur des 11. Armee Corps als Vertreterin des Fiskus [hatte auf obige Grundstücke] wegen eine[r] von Aschrott übernommenen Armeelieferung bis zum Betrag von 50000 Mark bestehenden[s] Pfandrecht“ erhoben.513 Der Intendant Ritter teilt dem PD am 28.5.71 mit, man sei bereit, von den verpfändeten Grundstücken des Fabrikanten Aschrott aus dem Kataster GG vom 7.1.71 von der Nr. „75-79 diejenigen Parzellen aus dem Pfandrecht freizugeben, welche zu öffentlichen Straßenanlagen expropriirt wurden.“514 7.5 Stadtbauprozess als Ausdruck privater und öffentlicher Interessen Rodriguez-Lores führt in seinen Überlegungen zu Ordnung und Unordnung an, dass die Stadt bisher als Sitz für Politik ihre Herrschaftsfunktion auch in der sie umgebenden ländlichen Ge- sellschaft ausübt. Im 19. Jahrhundert drehen sich die Vorzeichen um, wobei die Stadt zum Ob- jekt der Politik mutiert und Auseinandersetzungen sich jetzt gegen innere Feinde der Stadt richten. Das seien das Proletariat, neue Krankheitserreger (Forderung nach Hygiene), Leistungsunfähige oder –unwillige. Man möchte stark differenziert und mit fiktiven Mauern „Ordnung von Unordnung“ trennen (Rodriguez-Lores, 1985, S. 21). Das heißt zum Einen die Segregation zu erhalten und weiter zu fördern. Zum anderen wird versucht, eine neue Ordnung aufzubauen, mit der man glaubt, die Ursachen der Unordnung beseitigen zu können. Um aber die Quelle des Reichtums an Vielfältigkeiten zu kontrollieren, bauen staatliche und städtische Institutionen durch Reglementierung und Verwaltung eine Ordnung auf, die von unfreiwilligen Zügen des Durcheinanders geprägt ist. Karthäuser Weges eingeholt zu haben ( Best, s.o. F 1930). 511 Der Stadtbaurat informiert den PD im April 1885 das Projekt zur angemessenen Herstellung des Oberen Karthäuser Weges sei in den nächsten Tagen fertiggestellt und werde durch die städtischen Behörden genehmigt (Best. s.o. F 1931). 512 Die Stadt beabsichtigt im Mai 1885 eine Neuherstellung des Trottoirs und fordert die Grundstücksbesitzer auf, Kosten für Schaffung und Setzen der Trottoir-Granit-Randsteine an die Stadtkasse zu zahlen (Best. s.o. F 1931). 513 Best. s.o. 514 Best. s.o. 158 Für Verwaltungsabsichten gilt nach Meinung von Rodriguez-Lores, dass Unordnung nicht unter bestimmten Vorzeichen in Ordnung zu verwandeln sei. Für ihn bedeutet Administration eine Entscheidungsebene, die eine neue Ordnung herstellen möchte. Es werden Mauern aus Vor- schriften, aus architektonischen und städtebaulichen Fassaden errichtet, die den Blick versper- ren, und hinter denen die Kräfte der Unordnung neutralisiert werden. Ordnung ist auf keinen Fall die radikale Alternative zur Unordnung, sondern sie ist die Kontrolle über letztere und be- deutet ihre Reglementierung und Verwaltung (Rodriguez-Lores, 1985, S. 22). Der Verkauf von vier Grundstücken in der späteren Annastraße demonstriert dies. Bei einem Entwurf für einen Bebauungsplan legt man fest, im Bereich Annastr. nicht bauen zu wollen. Diese Entscheidung scheint zu kurz gegriffen, denn Meinungen zum Bauen ändern sich. Aschrott erkennt die Lagegunst für den Hausbau und versucht ein Geschäft zu tätigen, indem er dort Bauplätze verkauft. Auf behördliche Entscheidungen, eine gefasste Ordnung aufzuheben, scheint er nicht warten zu wollen. Als Finanzier handelt er gegen eine behördlich festgelegte Richtung und schafft aus deren Sicht so Unordnung im Sinne der Vorschrift. Die städtische Verwaltung, von diesen baulichen Möglichkeiten angetan, entpuppt sich wegen fehlender Ent- scheidungskompetenz und bestehender langer Verwaltungswege als unfähig, die Regeln zu ändern. Der Polizeipräsident analysiert von seiner Position die Situation und versucht, behördli- che Ordnung wieder herzustellen, obwohl sich Unordnung bereits weitgehend auf obigen Grundstücken manifestiert (siehe Kap. 7.4.8). Ein Hauptmerkmal städtischer Unordnung stellt das Privateigentum an Boden dar. Es setzt ei- gene Bauvorstellungen um, die es zu reglementieren gilt. In mehreren europäischen Staaten werden schon früh die Rechtsverhältnisse in der Form abgeändert, dass das Auftreten von klei- nem privaten Grundbesitz nicht möglich ist. Das geschieht in Belgien, Frankreich oder Italien mit Zonenenteignungsgesetzen. Diese begünstigen die „Konzentration des Bodenkapitals“ (Rodriguez-Lores, 1985, S. 22) und damit ist Spekulation für den öffentlichen Träger oder das Großkapital möglich. Die verschiedenen Kleininteressenten können daher auf den Stadtbaupro- zess keinen Einfluss mehr nehmen. Ihr Agieren gegen kollektives Interesse ist gebrochen und stört durch ihr Festhalten am Boden das gesellschaftliche Stadtbauinteresse nicht mehr. Durchsetzung und Verfolgung von Einzelinteressen ermöglicht dagegen das Fluchtliniengesetz. Es hat allerdings über zehn Jahre gedauert, bis das Parlament die Frage der Expropriation in den Gesetzestext aufnimmt. Die preußischen Junker sehen weiter in Enteignung ein altes Gesetz, das des Bodeneigentums, gebrochen. Zu großräumiger Verwirklichung von Bauvorhaben erweist sich das Fluchtliniengesetz als schlechtes Instrument. Ökonomen des 19. Jahrhunderts kritisie- ren zusätzlich die finanzielle Transparenz durch Hypothekenvergabe auf Grund und Boden so- wie durch Grundbuchvermerke, die bei Expropriation öffentlich werden und letztendlich nur die Spekulation fördern würden. Die dargestellten Straßenplanungen in Kassel zeigen Schwierig- keiten bei der Umsetzung infolge vieler Besitzer auf. Jenseits der Quer-Allee kann in dem groß- flächigen Raum ein geschlossenes einheitliches Straßenbild entstehen, was allein in dieser Stadtbauperiode der Aschrott`schen Flächenmonopolbildung zu verdanken ist. Außerdem funk- tioniert der öffentliche Stadtentwicklungsplan nur, wenn durch Privatfinanzierung von Straßen ein Bauprozess eingeleitet werden kann, der von öffentlicher Hand schon allein aus finanzieller Sicht nicht leistbar ist. Das Aschrottviertel in Kassel, dessen Namensgebung in dem Kapitel zu der Frage des Stadtplaners noch erläutert wird, stellt ein Beispiel privater Bodenverwertung dar und verfolgt in der stringent durchgeführten Bebauungspolitik seitens des Bodeneigners eine einheitliche Gestaltung. Damit wird unter obiger Definition Ordnung hergestellt. 7.5.1 Grundlegende Infrastruktureinrichtung: Bau der Infanterie-Kaserne Mit dem Ziel den Kasernenkomplex aus der Altstadt in die Fläche eines zukünftigen Wohn- quartiers zu verlegen, wird die Voraussetzung für Infrastruktureinrichtungen515 geschaffen. 515 Kassel als Standort einer Garnison verfügt in preußischer Zeit über fast dreimal so viel Militär als unter kurhessischer Herrschaft (Fiderici, 1960, S. 27.) 159 Durch die Präsenz eines der wichtigsten Träger der Staatsmacht und die daraus resultierende gesellschaftspolitische Bedeutung wird der Stellenwert eines in der Planung begriffenen Wohn- bezirks wesentlich angehoben. Weiter entsteht das Bedürfnis, hier für Offiziersdienstgrade und deren Familien Wohnungen zu schaffen, die es erlauben, zu Fuß oder zu Pferd das Kasernenge- lände zu erreichen. Versorgung und Freizeitangebote für Soldaten sind sicherzustellen. Diese Faktoren bilden die Basis für die schnellere Erschließung des Geländes und die Motivation für Teile der Bevölkerung, hier wohnen zu wollen. Die Eingliederung der ehemals kurhessischen Regimenter in die neuformierten preußische Ar- mee führt zur Stationierung516 des Stabes sowie des 1. und 2. Bataillons517 des Infanterie-Re- giments Nr. 83 in den Kasernenkomplex in der Unteren Königsstraße. Die dortigen Unterbrin- gungs- und Exerziermöglichkeiten entsprechen nicht mehr den Vorstellungen der Militärfüh- rung. Zusätzlich bietet die dicht bebaute Altstadt keinen Platz für eine Erweiterung der An- lage.518 Dagegen kann durch Niederlegung der Kasernengebäude Platz für Straßenneuanlagen geschaffen werden. Spätestens nach dem Krieg 1870/71 wird eine Verlegung aus der Innenstadt vor die „Tore“ forciert, weil die französischen Reparationszahlungen auch für Veränderungen innerhalb des Militärs verwendet werden. Wie der Verlauf des Krieges zeigt, müssen zukünftig Truppen schnell mit der Eisenbahn verlegt werden und somit kommt nur ein Standort in Frage, der einen Bahnzugang ermöglicht. Geländeflächen in Rothenditmold sind als Standort expandierender Industrieunternehmen vor- gesehen, und so erweist sich die Fläche des Kratzenbergabhangs als vorteilhaft für einen neuen Kasernenstandort. Zudem bietet die Flur die Möglichkeit, einen zeitgerechten Kasernenbau zu errichten. Von hier aus ist man in der Lage, den Zugang zu dem erforderlichen Transportmittel Eisenbahn über den Oberstadt-Bahnhof (Hauptbahnhof) und den Rangier- oder Central-Bahnhof zu erreichen.519 Sicherlich erfordert es erhebliche Planierungsarbeiten, um das einfallende Ge- lände für Kasernengebäude und Exerzierplatz zu nivellieren. Das Niveau der an der Nordseite vorbeiführenden Straße im Verhältnis zum Kasernenplatzniveau verdeutlicht noch heute, wel- che Erdmassen zur Einebnung des Geländes zu bewegen waren. Ob der Name des ausgewählten Flurstücks mit der Bezeichnung „Vor der Hölle“ in irgendeinem Zusammenhang mit der Mili- täreinrichtung steht, wird nicht belegt. Als anderen möglichen Standort für eine neue Kaserne hat die Intendantur des 11. Armee Corps auch den „Forst“ in der Flur von Bettenhausen ausgewählt. In einem Schreiben vom 14. März 1872 teilt der Geheime Kriegsrat Ritter dem OB mit, dass die Flächen im städtischen Bezirk dort sowohl unter dem Aspekt Baugrund als auch durch seine Lage militärischen Interessen in keiner Weise entsprechen.520 Das im Westen Kassels präferierte Terrain befindet sich im Besitz von Aschrott. Dem Consor- tium jedoch, dessen Sprecher Sigmund Aschrott ist, und das sich für die Stadterweiterung Kas- sels sowie die Armeelieferungen im Krieg 1870/71 verantwortlich zeigt, werden von der Gene- 516 Stationierung erfolgt im September 1867. 517 Casseler Allgemeine Zeitung vom 16. August 1913 (Stadta KS). 518 Die Intendantur des 11. Armee Corps bittet im September 1878 den OB, von der neuen Straße aus [gemeint ist die Jägerstr. – Anm. d. Verf.] eine Einfahrt in den Magazinhof des Proviantamtes anzulegen, um im Mobilmachungsfall eine Beschleunigung der An- und Abfahrt zu erreichen (StAM, Best. 165, Nr. 1455). 519 Der „Hohenzollern-Stadt-Theil“ Plan von 1878 weist zu Beginn der Nordseite des Geländes eine „Central (Bahnhof) Strasse“ auf, die in Richtung des neuen Central-Bahnhofs führt. Es handelt sich um die spätere Auguste-Victoria Straße. Der Name deutet an, eine mögliche Verbindung zum Central- Bahnhof schaffen zu wollen. Dieser führt zur Überquerung der Main-Weser-Bahn in Kirchditmold, der Straße Kr. 22 folgend (Stadtplan 1913) bis Zentgrafen- und Wolfhager Str., um über den Frasen Weg den Central-Bahnhof zu erreichen. Dieser Weg bietet sich besonders für schweres Gerät an. Truppentransporte sind jedoch über die kürzere Strecke - die Kölnische- und Victoria-Str. und den Oberstadt-Bhf. (Hauptbahnhof) möglich. 520 St AM, Best. 175, Nr. 131. 160 ralintendantur am 18. Dezember 1870, während des Krieges, alle Armeelieferungen entzogen. Auf Grund verschiedener Umstände, die nochmals Gegenstand des Kapitels über Militärliefe- rungen sind, bricht das Consortium auseinander und Aschrott scheint die weiteren Aufgaben allein zu übernehmen. Die Armeeintendantur pfändet aus Gründen finanzieller Absicherung das Gelände Aschrotts östlich der Querallee. Auch die später über Aschrott ausgesprochenen Beur- teilungen seitens der Militärbehörde unterstreichen, dass unter diesen Vorbedingungen eine Bauabwicklung unter Federführung Aschrotts auszuschließen ist. Das Terrain für den Kasernenbau befindet sich in Aschrottschem Besitz; und vermutlich wird er aktiv, damit der Militärkomplex auf dem Gelände entsteht. Durch die Stationierung der Soldaten wäre in dem noch nicht bestehenden Viertel eine Basis für eine Bevölkerungsschicht gelegt, die wesentlich das Leben in dem neuen Kaiserreich bestimmt. In dem oben zitierten Schreiben der Intendantur an den OB wird mitgeteilt, der Maurermeister und Bau-Unternehmer Louis Hochapfel521 habe sich bereit erklärt, gegen Abtretung des Kasernengeländes in der unteren Königsstraße nebst Exerzierplatz, Turnplatz, Oekonomie- Gebäuden, Exerzier-Haus und dem alten Militär-Totenhof, eine neue Kaserne kostenlos zu bauen. Der zu errichtende Komplex umfasst Kasernen für 3 Bataillone und ein Exerzier-Haus. Die Ausführung soll im einfachen Baustil ohne ornamentale Ausschmückung erfolgen und die Leitung einem Garnisonsbeamten obliegen. Das für den Bau erforderliche Gelände wird der Militärverwaltung unentgeltlich überlassen.522 Folgender Ablauf wird festgelegt. Wenn die beiden ersten Bataillons-Kasernen bis Sockelober- kante fertig sind, wird der Unternehmer die Rechte des Fiskus bezüglich des alten Militär-To- tenhofes übernehmen. Somit wird für die Vertragspartner eine gegenseitige Sicherheit herge- stellt. Der Übergabetermin ist für Ende 1873 geplant. Sämtliche alten Kasernen mit Zubehör und dem gesamten Areal werden dem Unternehmer zur Verfügung gestellt. Er hat die Auflage, bis Dezember 1874 nach Abnahme „des dritten Kasernengebäudes de[n] neue[n] Flügel der Garde-Kaserne und die anstoßenden vier Blocks der alten Kaserne mit den dazugehörigen Wirt- schafts-Gebäuden, somit solche zur Unterbringung eines Infanterie-Bataillons erforderlich sind, der Militär-Verwaltung als Sicherung der übernommenen Verpflichtung“523 zur freien Verfü- gung zu überlassen. Der OB wird wegen eventueller Bedenken, dass Hochapfel oben genannte Flächen zu uneingeschränktem Eigentum erhält, aufgefordert sich zu äußern. Am 6.2.1873 unterrichtet der PD den Landrat Weyrauch, das Consortium unter Verantwortung von Louis Hochapfel und „Hch. Rutt“524 habe am 4.2. d. J. einen Situationsplan für die neue Infanterie-Kaserne und die zu projektierenden neuen Straßen zur Genehmigung eingereicht. Hauptverbindung bildet die Verlängerung der Hohenzollernstr. An diese wird das Hauptge- bäude gestellt. Den Anschluss an die Kölnische Allee bilden zwei Querstraßen östlich und westlich der Kaserne, die mit der Hohenzollernstr. verbunden sind. Von der Kaserne wird der Ausbau der Parkstr. beeinträchtigt, die im Bogen um die Kaserne herumgeführt werden muss. Der Situationsplan liegt leider nicht vor. Schließlich projektiert man die Parkstr. in gerader Li- nie weiter, sodass sie vor der Kaserne endet. Die Verlängerung der städtischen Straßen liegt auf Wehlheider Gemarkung. Die Genehmigung erteilt der Landrat. Man könnte vermuten, zwischen Hochapfel, Rutt und Aschrott finden Absprachen statt. Die Abgabe der Hälfte des von Hochapfel 1870 erworbenen Grundstücks an der geplanten Hohen- zollernstr. an Aschrott bestärken das. 521 Hochapfel, Ludwig Maurer- und Steinhauermeister, Hohenzollernstr. 26, zu Ostern 73 Hohenzollernstr. 56. Oben mit Louis bezeichnet (Kasseler Adressbuch 1873). 522 Best. s.o. 523 Best. s.o. 524 Wahrscheinlich handelt es sich um Heinrich Rutt. In Kassel ist der Maurer Konrad Ruth, Oberste Gasse 10 gemeldet; einem Zusammenhang mit ersterem wird nicht nachgegangen (Kasseler Adressbuch 1873). 161 In der vorgegebenen Zeit kann der Bauunternehmer das Projekt wahrscheinlich nicht verwirkli- chen und es übersteigt auch seine finanziellen Möglichkeiten. Das kann den Einsatz der Frank- furter Baubank erklären, die über einen anderen Finanzrahmen verfügt. Schmidtmann berichtet in seinen Aufzeichnungen von seinem Vetter Hochapfel, der für die Frankfurter Baubank die Arbeiten leitet (Schmidtmann, 1993, S. 174). Wie aber verhält sich die Aussage der Intendantur, dass Hochapfel das für die Kasernen erfor- derliche Gelände kostenfrei vom Militär-Fiskus erhalte?525 Zwar behaupten Berliner Kaufleute,526 Aschrott sei nur Kommerzienrat geworden, weil er das Gelände dem Fiskus kostenlos zum Kasernenbau überlassen habe. Dann müsste diese Schen- kung Anfang 1870 vor der Vertragsunterzeichnung mit der Intendantur über Militärlieferungen stattgefunden haben, vielleicht um den Zuschlag für Armeelieferungen zu erhalten. Ab 1871 wird Aschrott das Gelände nicht verschenkt haben, denn die General-Intendantur enthält ihm noch über 2 Millionen Mark als Zahlung geleisteter Bereitstellungen vor. Wegner führt an (Wegner, 1995, S. 92), Aschrott hätte die Kaserne auf eigene Kosten errichtet, um im Gegenzug die nach dem Kasernenabriss in der Unteren Königs Str. freigewordenen Flächen zu erhalten. Nachweise für diese Interpretationen lassen sich bis jetzt nicht finden. Welche wirtschaftlichen Abmachungen zwischen der Frankfurter Baubank527 und Aschrott bestanden haben, ist ebenso nicht nachzuweisen. Ein Engagement Aschrotts auf dem Frankfur- ter Grundstücksmarkt findet allerdings erst ein Vierteljahrhundert später statt. Anfang der 70er Jahre führt die Baubank mehrere Straßendurchbrüche in der Frankfurter Alt- stadt528 durch. Sie selbst gibt an, eine Gesellschaft zu sein, die ihre Absichten vorzugsweise in der Förderung öffentlicher Interessen verfolgt.529 Da Aschrott auch über die Frankfurter Wirt- schaft sehr gut informiert und zu dem gleichen Zeitpunkt dort mit Geschäften tätig ist, werden sich vor Ort gemeinsame Geschäftsinteressen ergeben haben. 525 Best. s.o. 526 A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 8795. 527 Die Frankfurter Baubank wird am 27.3.1872 gegründet; für den 15. Juni 1872 werden T. Jenz als Aufsichtsrat, J. F. Andreae als Direktor angeführt. (ISG, Magistratsa. T1129.) Im ev. Regierungsamtsblatt Nr. 39 vom 26. September 1872 oder –Amtsblatt für den Stadtkreis Frankfurt/M., veröffentlicht am 11. Oktober 1872 wird die „Actien-Gesellschaft“ „Frankfurter Baubank“ als Änderung im Handelsregister Art. 55 aufgelistet. Polizei-Präsident Hergenhahn wird am 18.12.1872 zum Staats-Commissar der Frankfurter Baubank. Die Ausgabe von auf Reichswährung lautenden Noten befindet sich in den Akten: betreffend die Umwandlung der Noten der Frankfurter und Hamburger Bank in Reichswährung. Im Bericht an die Aktionäre-Generalversammlung am 3. Februar 1891 zeichnen Bankier Hermann Andreae und Verwaltungsrat: A. Grunelius und v. Guaita. Im gleichen Bestand wird die Frankfurter Hypothekenbank genannt. (HHSt AW, Abt. 405, Nr. 298.) 1874 zeichnen die Herren Amtmann Dr. Diehl, Christian Enders, E. Gogel, Gustav Metzler, Carl Hoff und Georg Rottenstein verantwortlich (ISG, Magistratsa. I, 1206, Bd. 1). Gesellschaftszweck sind Grundstücksan- und –verkäufe, Parzellierungen, Anlage von Straßen und Plätzen, Ausführung von Bauten, Hypothekenerwerb und Darlehensgewährung. Für 1885 und 1894 werden als Direktor Julius Angelheim und als Aufsichtsratsvorsitzender der Bankier Hermann Kahn erwähnt. Die Bank existiert lt. Beständen des IGS bis 1897. (JGS, Schreiben vom 22.2.1991 an Frau Melk-Haen.) In welcher Bank diese aufgeht, ist auch im Register des Frankfurter Amtsgerichts nicht nachweisbar. Der Verfasser vermutet einen Zusammenhang mit der Deutschen Bank. 528 Straßendurchbruch im Ostende: Durchbruch der Breitengasse nach dem Sandweg durch die Liegenschaften von Ravenstein und Cahn, weiter eine Verlängerung der Breitengasse auf die Judengasse (IGS, Magistratsa. T 1129). 529 Best. s.o. (Frankfurter Baubank 1872.) 162 Abb.: 30 Infanteriekaserne an der Hohenzollernstraße530 Der 1873-75 als Dreiflügelanlage angelegte Kasernenkomplex wird nach Norden von einem Exerzierhaus abgeschlossen, so dass im Innern ein 150 m mal 100 m großer rechteckiger Kaser- nenhof entsteht (Simon, 1988, S. 94/95). Laut Lageplan des Kgl. Preußischen Kriegsministeri- ums befindet sich 1893 östlich des Kasernengebäudes an der Hohenzollernstr. das Gebäude531 des Corps-Bekleidungsamtes.532 Die viergeschossigen mit halbem Untergeschoss versehenen Kaserneneckgebäude sowie die um ein Geschoss niedrigeren Verbindungsbauten bilden anfangs eine weithin sichtbare massive Front und erscheinen als Bollwerk, wenn man sich aus östlicher Richtung auf der Hohenzol- lernstr. bewegt oder wenn man vom Westen her die Fahr- und Fußwege benutzt. Mit der Einweihung533 der neuen Infanterie-Kaserne534 ist ein wesentlicher Schritt geglückt, die Infrastruktur des neuen Stadtteils anzuschieben. Im neuen Umfeld, an der Querallee, entstehen bis 1880 sechs neue Häuser, von denen 3 von Gastwirten gebaut werden (Schulz, 1983, S. 59), deren wirtschaftliche Existenz sich hauptsächlich auf die Anwesenheit von Soldaten gründet. Der Fluchtlinienplan vom 21. August 1886535 weist östlich des Kasernengeländes ein Haus536 auf, das einzige westlich der Querallee. Eine Ausnahme bildet ein Gartenhaus westlich der Ka- serne am nördlichen Bogen des Druselgrabens. Weiter existieren die Häuser Nr. 37, 38, 39 an der Querallee vor Querung der Wilhelmshöher Allee sowie zwei Gebäude auf der östlichen Seite oberhalb der späteren Luisenstr. 530 Stadtmuseum: Archivk. 94/963.79. 531 Laut Stadtplan von 1913 wird das Gebäude als Hohenzollernstr. 104 geführt. 532 Nach: „Medicinal-Abteilung des Kgl. Preußischen Kriegsministeriums 1893“: Taf. 4. In: Simon, 1988, S. 95. 533 Einweihung findet am 18. Oktober 1875 statt. 534 In der Stadt sind 1890 folgende Militärführungen stationiert: Generalkommando des 11. Armeekorps, das Kommando der 22. Division, der 43. und 44. Infanterie-, der 22. Kavallerie- und der 11. Feldartilleriebrigade. (Ruhl, 1993, S. 168.) 535 Fluchtlinienplan Nr. 167 _3 (Vermessungsamt Kassel). 536 Ab 1895 ist dort das Reichshallentheater eingerichtet und profitiert u.a. von der benachbarten Kaserne (Info: C. Presche.) Vorher wird dort eine Gastwirtschaft betrieben. 163 Die Kgl. Regierung537 nimmt 1874 Stellung zu der Weiterentwicklung der Hohenzollernstraße westlich der Quer-Allee. Sie unterstützt den Abschluss der Straße südwestlich des Neuen In- fanterie Kasernements in einem Platz, weil eine gradlinige Fortführung auf dieser Strecke bei dem Gefälle538 nicht zulässig sei. Die Straße verliefe dann entlang der Flur „Höllchen“, das von seiner Bezeichnung her als Senkungszone zu verstehen und heute noch andeutungsweise zu erkennen ist. Abb.: 31 Ausschnitt aus dem Fluchtlinienplan539 Der neu entworfene Platz bekommt den Namen Hohenzollernplatz. Durch seine Anlage ist ein Verspringen der Straße möglich. Den weiteren Straßenverlauf in einen Markt münden zu lassen, wird bisher nicht geplant. Die Straßenbreite in Höhe der Kaserne scheint dem § 25 der Bauord- nung zu entsprechen, d.h. Straßenbreite entspricht der Gebäudehöhe.540 Die Hohenzollernstr. endet nach dem eben genannten Fluchtlinienplan an der westlichen Ecke des Kasernengeländes. Die bereits projektierte Parkstr. stößt auf die um das Kasernengelände verlaufende Straße, deren Bau die Kasernenverwaltung veranlasst. Im Fluchtlinienplan vom 26. September 1892 werden die Straßen als Gabelsberger-, Hessische- und Landgrafenstr. geführt. Auf dem Terrain der alten Infanterie-Kaserne an der Unteren Königsstr. sind die Arbeiten für die neu angelegten Straßen im Dezember 1876541 beendet, wie OB Weise dem PD mitteilt. Lediglich in der Namensgebung ist man sich noch nicht einig. Als Bezeichnung erfolgen Moltke- und Jägerstr.. Mit letzterem Namen möchte man auf die frühere Benutzung durch Hes- sische Jäger hinweisen. Die Hohen-Thor-Str. verläuft von alters her dort. 537 Best. 165, Nr. 1452, Bd. 1, Bl. 1-78. 538 Durch die veränderte Straßenführung ändert sich das Gefälle in diesem Bereich von 1:12,4 (Grenzwert für Verkehrsstraßen) auf 1:16. 539 Fluchtlinienplan Nr. 167_3 (Vermessungsamt Kassel). 540 Best. s.o. 541 St AM, Best. 175, Nr. 529 (H), F 1925. 164 Abb.: 32 Von der Frankfurter Baubank parzellierte Flächen an der Unteren Königsstraße (St AM, Best. 175, Nr. 529 (H), F 1926)542 7.5.2 Kaiserstraße – Kasseler Spekulanten verzögern die Umsetzung Den in vorigen Kapiteln erwähnten Ausführungen der Kgl. Regierung543 sind auch Einzelheiten, wie Umbau des Kirchweges wegen zu starker Steigung, Übernahme der Bauflucht von „Cölni- scher Querallee“ (Querallee) und Wilhelmshöher Allee, zu Bebauungsplänen von 1874 für das Terrain zwischen Cassel und Kirchditmold zu entnehmen. Dabei wird darauf hingewiesen, dass der Erweiterungsplan für Wehlheiden von dem Gemeinderat unterzeichnet sei. Dieser stelle heraus, ein Unternehmen solle die neue Straße ausbauen, wenn es bereit ist, die Kosten für den Erwerb oder den Expropriationsbetrag zu übernehmen. Man möchte aber vorher klarstellen, welche Baugestaltung an den projektierten Straßen (neben der Hohenzollern- wird von einer Straße N berichtet) von der Regierung zugelassen sei, da bei Fortführung dieser bis zur nächsten Querstraße schon Vorstellungen seitens der Gemeinde zur Bebauung vorlägen. Man schlägt vor, die Baulinien der Wilhelmshöher Allee und der Quer-Allee als Vorbild zu übernehmen. Der Baugestaltung an dieser Straße solle jedoch nicht zugestimmt werden, wenn sie im Widerspruch zur Straßenprojektion stehe, d.h. Gebäudehöhe und Straßenbreite sollen einander entsprechen. Man erwartet von dem Unternehmer, hier ist Aschrott gemeint, dass er die Kosten zum Erwerb und der Expropriation des entsprechenden Terrains übernimmt. Weiter wird vorgeschlagen, die Verbindungsstraße zwischen Kaiserstraße und Wilhelmshöher Allee mittig in diese zwischen Quer-Allee und Kirchweg münden zu lassen. Dagegen sei die unzulässige Steigung des Kirch- 542 Hier handelt es sich offenbar nur um einen Entwurf; die tatsächlichen Straßenverläufe weichen davon ab (Info: C. Presche). 543 Best. 165, Bd. 1, Bl. 1-78, F 12747. 165 weges nördlich der Wilhelmshöher Allee von 1:12,4 zu vermindern, welche im Nivellierungs- plan schon mit Gefälllinien angedeutet544 sei. OB Nebelthau geht auf das Gesuch Aschrotts an die Stadt Cassel vom 18. Juni 1874 ein, die Kaiserstraße,545 soweit sie auf Stadtgebiet liegt, auszubauen. Die Kosten zur Terrainbeschaffung sowie die durch Expropriation entstehenden Belastungen trage allein Aschrott. Nach erfolgter Enteignung sei die Straße binnen Jahresfrist auf seine Kosten herzustellen. Dabei bilden die eingereichten Skizzen die Grundlage zur Verwirklichung. Die Ausführungen unterliegen den Anordnungen des Stadtbauamtes. Die Straße sei mit Ausnahme des Reitweges zu pflastern und dem öffentlichen Verkehr zu übergeben. D.h. der PD gibt nach Erfüllung aller Auflagen die Straße für den Verkehr frei. Die Straßenbreite macht deutlich, welche Absichten Aschrott mit dem Bau der Kaiserstr. verfolgt. Nicht nur durch ihre Lage als zentrale Achse des Quartiers sondern auch in Bezug auf die Ausgestaltung unterscheidet sie sich wesentlich von der Hohenzollernstr. Zudem möchte der Unternehmer mit der Wahl des Namens deren Bedeutung unterstreichen. Bei seinen öffentlichen Äußerungen546 zu den Zielen, die er mit dem Bau verfolgt, weist er bereits auf Ehrerbietung gegenüber Seiner Majestät hin; er buhlt um die Anerkennung des Kaisers. Die Kaiserstraße547 führt von der Hohenzollernstraße bis zur Quer-Allee auch über Flächen, die Aschrott nicht gehören. Es handelt sich um vier Parzellen des Fabrikanten Wolf Lieberg, der bereits in Zusammenhang mit der Hohenzollernstraße als Grundbesitzer genannt wird. Lieberg erwirbt sein Areal von Juni 1867 bis März 1868. Der Kaufmann Herrmann Meyerhof, der zweite fremde Parzelleneigner, schließt die Kaufverträge für zwei Flächen im April und Mai 1868 ab. Die restlichen 11 Parzellen sind in Aschrotts Besitz. Bei der Eröffnung des Grund- buchs stellt sich heraus, dass die Parzelle Nr. 55 des Kaufmanns Meyerhof wegen noch ausste- henden Kaufgelds verpfändet ist.548 Der Vorgang der Planung und Umsetzung läuft mit den gleichen Schwierigkeiten ab, wie bei der Hohenzollernstraße ausführlich beschrieben. Im Juli 1874 kommt es zur Ladung der Betei- ligten, um in Verhandlungen die Expropriationen zu forcieren. Fragen treten besonders bei mit Hypotheken belasteten Grundstücken auf. Hier soll die Vermittlung Aschrotts gesucht werden, 544 Best. s.o. 545 Nach Ansicht Wiegands unterscheidet Aschrott bei der Stadterweiterung zwischen dem Teil östlich und westlich der Querallee. Für den älteren östlichen nimmt er eine Beteiligung der Abteilung des Innern der Kgl. Regierung an den Entwürfen an, während der Unternehmer beim westlichen Teil eigenes Perso- nal zur Gestaltung von Bebauungsplänen nutzt, um einmal eine Verbesserung der Konzeption zu erzielen und andermal mit einem Diagonalstraßensystem dem gegenwärtigen Planungsstand zu entsprechen sowie gleichzeitig eine möglichst günstige Grundstücksverwertung zu erzielen (Wiegand, 2005, S. 123). 546 Wiegand führt eine Äußerung Aschrotts zur Kaiserstr. an: „Diese Straße, wie sie bereits von der Kgl. Regierung genehmigt vorliegt – die große Pulsader nach Wilhelmshöhe, fast ganz ohne Steigung, - völlig gradlinig bis Wahlershausen in einer Länge von ca. 8000 Fuß, durch Vorgärten, Breite, Schönheit und Lage wohl die wichtigste im Westviertel und gewiß die imposanteste der Stadt – dürfte wohl vor allen anderen den Namen „Kaiserstr.“ verdienen. Da ich meine Verehrung für unseren kaiserlichen Herrn durch den Bau derselben Ausdruck zu geben beabsichtige, so würde ich, wenn die Genehmigung zu deren Benennung erfolgt, alsbald mit dem Bau bis zum Abzweig bis zum Hotel Germania vorangehen – und solchergestalt, und als Schlußstein meines hiesigen Wirkens für die Stadterweiterung, die Verbindung mit der Wilhelmshöher Allee herstellen, - während gleichzeitig durch den von mir subventionirten Bau des Victoria-Boulevards die abkürzende Verbindung des Bahnhofs mit der Wilhelmshöhe geschaffen sein würde. Ich gestatte mir daher die Bitte, die Genehmigung des erbotenen Namens ´Kaiserstrasse` hoch- geneigtes ertheilen zu wollen und bin mit bekannter Hochachtung S. Aschrott“ (St AM 175, 531, in: Wiegand, 2005, S. 244). 547 Die Kaiserstr. habe Aschrott, merkt Wiegand an, spätestens 1873 geplant und zusammen mit der Murhardstr. in den Bebauungsplan von 1873 aufgenommen und beide seien später fortwährend in den Stadtplänen enthalten (Wiegand, 2005, S. 244). 548 Das Grundbuchamt stellt am 20. Dezember 1882 fest, dass das Eigentum Cassel, Bd. 18 Art. 488 Sigmund Aschrott zugeschrieben ist. 166 sicherlich damit dieser mit eigenen Mitteln die Belastung freikauft. Weiter will man sich von städtischer Seite aus auf die versierten Vorschläge des Rechtsanwalts Riehs verlassen. Ein Vor- schlag Meyerhoffs zur Lösung wird verworfen und der gerichtliche Weg eingeschlagen. Die Seite Lieberg549 erhebe ausdrücklich Einwände und sei zu einem Übereinkommen mit Aschrott nicht bereit. Bezüglich des Entwicklungsprozesses treten also auch hier Kleinspekulanten auf, die eine Ver- zögerung der Umsetzung bewirken. Die genannten Personen haben bei den großflächigen Grundstücksankäufen von Aschrott intervenieren können, aber auf Grund ihres geringen Budgets im Vergleich zu dem Verleger lediglich die Straßenanlage verzögert. Sie versuchen aber bezüglich der Grundstücksflächen, die Bodenrente mit Aschrotts Investitionen zu erhöhen. Aschrott verfolgt konsequent seine Bauabsicht in der Gewissheit, dass für die Gemeinde Wehl- heiden, die Stadt Cassel und alle Behörden ein gesteigertes Interesse an Planumsetzung existiert. Private Kleinanleger dagegen behindern lediglich die Absichten der Kommunen. Der Bürgerausschuss erteilt dem Bürgermeister Weise Vollmacht, die Angelegenheiten der Stadt Kassel gegenüber Lieberg und Genossen zu vertreten, um die Ausführung der s.g. Kaiser- straße durch Expropriation von Grundeigentum zu verwirklichen. Im September 1874 erklärt Weise die Verhandlungen Lieberg – Aschrott für gescheitert. In seiner Verhandlung mit der Kgl. Regierung versucht der PD die Genehmigung einer neuen Straße „zwischen Hohenzollernstr. und Alter Wilhelmshöher Chaussee,“ als „Kaiserstr.“ beti- telt, aus seiner Sicht zu analysieren. Im Oktober 1874 führt er eine Erklärung des „hiesigen Stadtvorstandes“ an, der drei Bedingungen erfüllt sehen will, damit die Straße gebaut wird: 1. Beglaubigung und weitere Ergänzungen des Planes. 2. Information über Grundbesitzer. So sollen neben Aschrott nur zwei weitere Grundeigentümer, er nennt die Namen Lieberg und Meyerhoff, „die aber ebenfalls nur in Speculation auf die Straße kauften.“ 3. Die Zusicherung, auf städtischem wie Wehlheider Grund die geplante Straße mit Vorgärten zu versehen und diese mit Hilfe der Bauflucht zu verbreitern. Ferner, wenn möglich, auf drei Baumreihen und den Reitweg zu verzichten. Karte 8: Eigentumsverhältnisse der Grundstücke im Bereich Kaiserstraße Die Karte zeigt Flächen der beiden Kleinanleger im zukünftigen Straßenraum. Auffällig sind erneut die Brüder Lieberg. Dagegen scheint Meyerhof die Parzelle nicht bezahlt zu haben. Die einzelnen Parzellengrößen und deren Besitzer sind einem Protokoll zur Expropriation550 für den Straßenraum entnommen. Dabei werden lediglich die Flächen angeführt, die in Frage kommen. Die der Liebergbrüder sind zusammengefasst. Karte 9: Eigentumsverhältnisse der Grundstücke im Bereich Kaiserstraße In Ebene 2 liegt der Neumannplan, der im Bereich Kaiserplatz noch die Breite der Kaiserstr. aufweist. Bei nachträglicher Verbreiterung des Platzes hätten, wie der Polizei-Direktor ausdrückt, Flächen von Aschrott, aber auch von Lieberg und Meyerhof, nachträglich angekauft werden müssen. Das hätte sich die Stadt nicht leisten können. Aschrott scheint auf den Vor- schlag eingegangen zu sein. 549 Bei Korrektur zum Umbau der Jordanstr. heißt es in einem Schreiben des PD vom 23. Juni 1874, dass es zur „zwangsweisen Abtretung gegen die Besitzer: Moritz Lieberg; Wolf Lieberg; Rothstein u. Frau; Nagel u. Meyerhoff“, kommt (Best. 165, Nr. 1452, Bd. 4, F11784). In einem weiteren Verfahren im Gebiet zwischen Hohenzollern- u. Parkstr. geht es um „zwangsweise Abtretung gegen die Besitzer Wolf Lieberg u. Moritz Lieberg hierselbst.“ (Best. s.o., F 11786.) 550 Best. 175, Nr. 531 (Buchst. K), F 1923. 167 LUISENSTRASSE KAI SER STR ASS E HOHENZOLLERNSTRASSE KAISERPLATZ QU ER AL LE E NEBELTHAUSTRASSE M UR HA RD ST RA SS E LU IS EN PL AT Z M UR HA RD ST RA SS E 1 1 1 1 2 2 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 2 1 23 2 3 1:2.500 Inhaber 1 Aschrott 2 Lieberg 3 Meyerhof ohne Angabe Karte 8: Eigentumsverh ltnisse der Grundst cke im Bereich Kaiserstra e Hintergrund Stadtplan 1913 Geb ude (Kataster modern) 0 100 20050 Meter Roland Demme Klaus Horn (Kartographie) Universit t Kassel September 2005 S.Aschrott: Das Hohenzollern-Stadtteil-Unternehmen Datenquellen: Geoinformation der Stadt Kassel Katasteramt Kassel 168 1 1 1 1 2 2 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 2 1 23 2 3 1:2.500 Inhaber 1 Aschrott 2 Lieberg 3 Meyerhof ohne Angabe Karte 9: Eigentumsverh ltnisse der Grundst cke im Bereich Kaiserstra e 0 100 20050 Meter Roland Demme Klaus Horn (Kartographie) Universit t Kassel September 2005 S.Aschrott: Das Hohenzollern-Stadtteil-Unternehmen Datenquellen: Geoinformation der Stadt Kassel Katasteramt Kassel Hintergrund: Neumann-Plan (1878) 169 Albrecht ergänzt Schwachstellen der Planung, die hauptsächlich in der Entwässerung lägen. Ein ordentliches Kanalprojekt ließe hier noch lange auf sich warten. Denn Verhandlungen unter dem Gesichtspunkt Kanal bezögen sich bisher nur auf die Hohenzollernstr. Da die Kaiserstr. tiefer läge, könne sie daran nicht angeschlossen werden. Als Lösung böte sich lediglich die An- lage von Senkgruben für Wirtschaftsabwasser und Klosetts an. Im übrigen stelle Wasser bei dortigen Bodenverhältnissen ein Problem dar. Die Pflasterung erweist sich als weiterer Baumangel, denn wird der Vertrag umgesetzt, erhält die Kaiserstr. das gleiche mittelmäßige Pflaster der Hohenzollernstr. Dort habe man „üble und kostspielige Erfahrungen“ gesammelt, was auch für die übrigen von Aschrott gepflasterten Stra- ßen gelte. Der Reitweg stelle wegen seines Belages in finanzieller Hinsicht für den Unternehmer lediglich eine Erleichterung dar. Für die Platzgestaltung551, der PD spricht offensichtlich den Kaiserplatz an, weisen die „kurzen Vorgartenstreifen“ zu wenig Fläche auf. Aus polizeilicher Sicht könne die Stadt dem Unter- nehmer Entwässerungs- und Pflasterarbeiten erlassen, da dies ihr bald selbst zufallen werde. Nicht ausreichend festgelegte Platzmaße seien dagegen irreparabel. Es ließe sich nicht widerle- gen, dass die „angebotenen“ Maße weder „räumlich den beschränkten künftigen Anforderun- gen“ genügten, noch Raumästhetik, durch Straßenkombinationen zusätzlich beeinflusst, ver- mittele. Der Unternehmer werde eventuelle Abänderungen des Vertrages, hier wird die Platzbreite ange- sprochen, nicht missbrauchen, um vielleicht Nachforderungen zu stellen. Er sei klug genug, für ein so großes Straßenprojekt auch ausreichend Platz „für öffentliche Zwecke“ zu schaffen. Es solle später der Stadt nicht obliegen, die Platzfläche zu vergrößern, um dann gezwungen zu sein, Flächen zu Baustellenpreisen hinzukaufen zu müssen. In Bezug auf die Murhardstr. ständen die Stadt und Aschrott in Verhandlung, äußert der PD, eine Akzeptanz des Planes zwischen Stadt und Unternehmer sei nicht erzielt und auch nicht weiter angesprochen. In Privatplänen zeichne sich jedoch eine Entwicklung ab, die wahrschein- lich nicht befürwortet werde.552 Bei obigem Plan553 kann es sich um einen Bebauungsplanent- wurf der Stadt oder der preußischen Regierung handeln. Die Äußerung Privatpläne könnten zur Lösung führen, erlaubt einen Rückschluss auf Aktivitäten Neumanns bei Aschrott. Ersterer be- findet sich seit Mai 1873 in Kassel und arbeitet ab dann für den Unternehmer. Für den PD nimmt der Kaiserplatz von seiner Anlage her eher eine Straßenfunktion wahr, die von den Passanten lediglich durchlaufen oder durchfahren wird. Auf Grund seiner schmalen länglichen Form lade er nicht zum Verweilen ein. Wegen fehlender Tiefe der Vorgärten seien Tische und Stühle für Gartenrestaurants dort nicht zu platzieren, dazu fordere mehr die Platz- mitte auf, wo Verweilende sähen und ständig gesehen würden. Die hier geäußerte Kritik ist offensichtlich später umgesetzt worden. Man legt einen Musikpavillon auf dem Mittelstreifen des Platzes an. Der PD denkt, man könne nach Planfassung und Ausbau feststellen, dass die Planmaße den Vorstellungen nicht entsprächen und somit die Bauflucht Richtung Grundstück zurückzuneh- men sei. Die neue Erkenntnis der Platzgestaltung fixiert der PD in schriftlicher Form an die Kgl. Regierung und bringt einen neuen Vorschlag ein. Die direkte Absprache mit Aschrott sucht Albrecht zu diesem Zeitpunkt noch nicht, das Projekt hätte sich so wahrscheinlich schnell geän- dert. Ein vertraglich gesicherter Entwurf bedürfe der Überlegung im Vorfeld und werde nicht aus plötzlichem Meinungswandel verändert, was einer Vertragsverletzung entspräche. Die Äußerung, die Stadt müsse bei späterer Planänderung Flächen zu Baustellenpreisen zurück- kaufen, entspricht einer bestimmten gesellschaftlichen Haltung gegenüber dem wirtschaftlichen Akteur Aschrott. Hier scheint der PD sich in der Formulierung einer tendenziellen öffentlichen 551 Schreiben des PD an die Kgl. Regierung vom 6. Juli 1874 (Best. 165, Nr. 1452, Bd. 4, F 11785). 552 Best. 165, Nr.1452, Bd. 4, F 11786. 553 Wiegand weist auf einen Bebauungsplanentwurf von 1873 hin (Wiegand, 2005, S. 244). 170 Meinung anzuschließen, die sich auf die Person Aschrott und sein Stadterweiterungsprojekt richtet. Dem Planer wird indirekt unterstellt, vorsätzlich den Platz zu eng zu entwerfen, um nach dessen Korrektur auf Grund von Fehlbeurteilungen zusätzlich Boden zu überhöhten Grund- stückspreisen an die Stadt verkaufen zu können. Mit dieser Äußerung stellt der PD Aschrott in die Reihe der „Wucherjuden“. Auf Grund der vorliegenden Quellen tritt dagegen bei Arbeiten, die den öffentlichen Raum betreffen, meist Aschrott in Vorlage, was schließlich von ihm auch verlangt wird, da die Stadt- kasse nicht in der Lage scheint, Ablösungen bei Straßenraumerwerb zu bezahlen. Demgegen- über lässt sich Aschrott Flächenabtretungen von der Stadt stets mit Flächenaustausch abgelten, um damit Schwachstellen seiner Flächennutzung zu beseitigen. Wie der Ausbau der Victoriastr. zeigen wird, leistet er neben Flächenabgaben auch noch Zusatzzahlungen. Im Februar 1875 bittet der Unternehmer den Stadtrat, die Genehmigung für den Bau der Kai- serstr. durch die Kgl. Regierung herbeizuführen, denn er wolle diese nach wie vor bauen, wenn von der Regierung keine „schwerwiegenden Abänderungen“ erfolgen. Die Verzögerung ist sicher durch das Schreiben des PD verstärkt worden.554 Die vom PD angesprochene unzureichende Breite des Kaiserplatzes muss einem zu der Zeit vorliegenden Neumannentwurf entnommen sein. Hier weisen Platz und Straße gleiche Breite auf. Da die Kaiserstr. ab Hohenzollerstr. lediglich zwischen Germania- und v. Eulenburgstr. einseitig bebaut ist, erscheint eine nachträgliche Planänderung auch bautechnisch ohne Auf- wand möglich. Der PD berichtet im Dezember 1882 zu den Parzellen Meyerhoffs, sie seien im Grundbuch Sigmund Aschrott555 überschrieben worden. Daran zeigt sich erneut, wie der Unternehmer be- müht ist, unmittelbar an seine Flächen angrenzende Parzellen zu erwerben. Von 1880 ändert sich die Einstellung des jetzigen OB Weise gegenüber Aschrott, als er in dem schon angeführten Statut über Beitragspflicht der Anwohner schreibt, es seien vielfache Ver- handlungen zwischen den Beteiligten zur Kaiserstraßenproblematik geführt, „welche den Ein- trag in den Stadtbebauungsplan bezwecken,“ ... „jedoch ohne Erfolg.“ So sei die Straße auf Aschrotts „eigene Verantwortung bereits hergestellt,“ aber noch nicht wegen Straßenbeleuch- tungsmängeln von der Baupolizei abgenommen worden.556 In der technischen Ausstattung entspricht die Kaiserstraße fast exakt dem Victoria-Boulevard. Ihre Gesamtbreite beträgt 21,96 m, davon entfallen 2 mal 4,4,0 m für 2 Trottoirs, 9, 16 m für die Fahrbahn und 4 m für den Reitweg an.557 Abb.: 33 Aufteilung der Straßenbreite auf die Verkehrsflächen.558 554 Brief vom 4. Februar 1875, Best. 175, Nr. 531, Buchst. (K), F 1290. 555 In Bezug auf den Grundbesitzer Meyerhoff teilt der Landvermesser Schwalm im Juni 1874 mit, diesen irrtümlich bei der Ortsbesichtigung zur Teilung von Grundstücken im Auftrage Aschrotts nicht eingeladen zu haben (Best. s.o., F 1929). 556 Best. 165, Nr. 1457, Bl. 65. 557 Best. 175, Nr. 539, F 2047. 558 Stübben, 1924, S. 83. 171 In den Ausführungen Stübbens legt dieser eine Formel zur Berechnung der Straßenbreite vor. Als Regel gibt Stübben für den Straßenquerschnitt folgende Zuordnungen an, bei denen b = Bürgersteigbreite, f = Fahrdammbreite (Fahrbahn + Reitweg), s = Straßenbreite bedeutet, d.h. b = s/5 ; f =3/5 mal s; auf die Kaiserstr. übertragen: s = 21,96 m; f = 13,16 m daraus folgt: b = 21,96 : 5 = 4,392 m; f = 3 : 5 mal 21,96 = 13,176; die Trottoirbreite wird mit 4,40 m festgelegt. Folgender Schluss wäre möglich, die Maße für die Kaiserstr. stammen von dem Stadtplaner Stübben. Somit würde die These von Baetz, für den Plan des Viertels sei Stübben verantwortlich (Baetz, 1951, S. 5), erhärtet. Bei der Frage nach dem Stadtplaner ist die Behauptung erneut zu diskutieren. Über die Weiterführung der Straße bis zur Main-Weser-Bahn im Westen informiert die Provinz- regierung das Handelsministerium in Berlin von den augenblicklichen Planungen auf dem Terrain „zwischen Cassel und Kirchditmold.“559 Das Problem der Kreuzung von Straße und Bahn ist zu lösen. Berlin nimmt in Bezug auf die im Bebauungsplan mit A bezeichnete Straße Stellung. Damit kann eigentlich nur die Kaiserstraße560 gemeint sein, die ursprünglich unter dem Abzweig der Cassel-Waldkappeler Bahn geführt werden soll, jetzt aber von der Bahn ge- tunnelt wird. Die eingereichten Skizzen werden dem westlichen Teil des Plans entsprechen, der mit der Karte „Das Hohenzollern-Stadt-Theil-Unternehmen von R.S. Aschrott“ bezeichnet wird und der Feder von Wilhelm Neumann entstammt. Jedoch scheinen die Skizzen bezüglich der Bahnkreuzung umgearbeitet zu sein, da die Bahn jetzt die Straße tunnelt. In der Auseinander- setzung über den Planer des neuen Viertels wird nochmals auf den Planentwurf eingegangen. Abb.: 34 Ausschnitt der Kaiserstraße 559 Best. 165, Bd. 1, Bl. 25. 560 Die Bezeichnung wird benutzt, weil die Straße den neuen Stadtteil mit dem projektierten Central- Bahnhof verbinden soll. 172 7.5.3 Straßen- und Kanalarbeiten in Kaiserstr. und anliegenden Straßen Abb.: 35 Stadtplan (Ausschnitt) von Blumenauer 1891 – 97 zeigt den damaligen Bebauungszustand Der Fortgang der Stadterweiterung bekommt ab 1887 eine andere Richtung, denn nun nimmt die Kommune nicht mehr nur Einfluss auf planerische und ausführende Gestaltung, sondern sie greift in den Bauprozess ein. Die vom PD bemängelte Straßenpflasterung und das nicht geklärte Abwasserproblem in der Kaiserstr. werden in einem Vertrag561 zwischen der Stadt (durch Stadtbaurat v. Noel) und dem Rechtsvertreter Aschrotts, Dr. Oetker, geklärt. Wahrscheinlich hat dieser die Rechtsangelegenheiten des Unternehmers in Kassel übernommen. Die Niederschrift beantwortet Fragen zur Fertigstellung der Kaiserstr. bis zur Querallee sowie der nördlichen Murhardstr. bis zur Hohenzollernstr. und zur Fertigstellung weiterer Verbin- dungsstraßen. Außerdem legt man den Ausbau der späteren Nebelthaustr. und des östlich des Luisenplatzes verlaufenden Teils der Luisenstr. fest. Probleme bezüglich Kanalerstellung, Gas- und Wasserversorgung erfahren eine Lösung. Abb.: 36 Ausschnitt – Stadtplan 1913 561 Vertrag: “Zum Zwecke der Herstellung der im westlichen Theile der Stadt Cassel zwischen der Kölni- schen Allee und der Alten- bzw. Neuen Wilhelmshöher Allee gelegenen stadtplanmäßigen Straßen, bevor deren baldiger Bebauung, sowie des Übergangs derselben in das Eigenthum und der Verwaltung der Stadt Cassel,...“ (Knobling, 1986, Anhang – keine Angabe zur Fundstelle, wahrscheinlich Stadtarchiv). 173 Grundzüge des Vertrages562 stellen grundbuchmäßige Überschreibungen des Straßengeländes auf den Namen der Stadt dar. Das obliegt Aschrott, der über den größten Teil der in Frage kommenden Fläche verfügt und fehlende Stücke, soweit nicht im Besitz der Stadt, ankaufen muss. Die Stadt übernimmt den Kanalbau in der Kaiserstr. von Hohenzollern- bis Murhardstr. (Weiterführung über südlichen Teil Murhardstr). Sie führt ebenso die Fortsetzung bis zur Quer- allee aus. Aschrott beendet die Verbindung der Abstichkanäle zu den Grundstücken der Quer- allee. Die von ihm herzustellenden Anschlusskanäle gehen kostenfrei in den Besitz der Stadt über. Alle Arbeiten von Aschrott auf Wehlheider Gemarkung sind nach den von der Stadt Cas- sel vorgegebenen Normen zu erledigen. Der obere Teil der Kaiserstr. wird mit Wasser und Gas versorgt, während man den unteren bis zur Querallee erst nach Hinterlegung der Anlagekosten anschließt. Die Stadt übernimmt die Fertigstellung aller anfangs genannten Straßen mit Trottoirs und Abb.: 37 Kaiserstraße, rechts Eulenburgstraße um 1910563 Fahrdamm, damit diese in ganzer Länge bis Ende 1889 dem Verkehr übergeben werden können. Alle Straßen auf Wehlheider Gebiet sind in den nächsten drei Jahren, d.h. ab dem Zeitpunkt der Fertigstellung des Hauptkanals, so herzurichten, dass Bauen gemäß dem Ortsstatut vom 18. Januar 1884 möglich ist. Die Grundbesitzer sollen von den zuständigen Behörden die Bauerlaubnis erhalten. Ferner wird Aschrott gestattet, an Straßen, die bis zum 1. Januar 1887 in seinem Besitz sind und unter die bereits genannten Straßen fallen, sowie an der Querallee, Gebäude zu errichten. Das gilt auch für den Fall, dass die Straßen nicht den baupolizeilichen Bestimmungen entsprechend fertigge- stellt sind. Dies wird dem Kgl. PD mitgeteilt und der Vorgang nach Möglichkeit von der Stadt gefördert. Als Vorbedingung wird wiederum die Vorauszahlung der Anliegergebühr verlangt. Aschrott zahlt 5200 M. zur Herstellung des Hauptkanals und 18850 M. nach Fertigstellung und Ausstattung der Straßen. Nach erster Darlegung von Planungsmängeln durch den PD564 1874 gegenüber der Kgl. Regie- rung vergehen 13 Jahre bis Aschrott und die Stadt Probleme des Abwassers, der Gas- und Was- 562 Wiegand führt den Vertragstermin mit 9.2.1889 an. Ab 1890/91 sollen die von Aschrott hergestellten Straßen einschließlich „Linden-Bepflanzung“ zwischen Hohenzollernstr. und Querallee in das Eigentum der Stadt übergehen (Wiegand, 2005, S. 246). 563 Stadtmuseum: Repr. 96/1008.7 (F.) 174 serversorgung sowie den Ausbau verkehrstechnisch einwandfreier Straßen lösen. Sie geben einen neuen Zeitraum von drei Jahren bis zum Abschluss der Arbeiten an. Um ein für beide Seiten akzeptables Ergebnis zu erzielen, werden Zugeständnisse gemacht. Auf Aschrotts Seite handelt es sich um Baumaßnahmen, die Geld kosten und die die Stadt nicht tragen kann. Diese wiederum gesteht dem Unternehmer zu, Bauten an Straßenabschnitten auszuführen, die den Bedingungen des Ortsstatuts nicht entsprechen. Damit setzt sich die Verwaltung über die Zu- ständigkeit des PD hinweg, der nach bestehendem Recht Bauen an unfertigen Straßen oder Straßenabschnitten565 zu unterbinden hat. In früheren Schriftwechseln mit der Kgl. Regierung bekundet der PD566 mehrfach seinen Unmut über städtische Entscheidungen, die das Ortsstatut missachten. Seine Äußerungen beziehen sich auf bereits getroffene schriftliche Vereinbarungen mit der Stadt, die diese nicht berücksichtigt. Hier werden fehlende Absprachen der Behörden untereinander deutlich. Der skizzierte Vertrag zwischen Aschrott und der Stadt kann als Allein- gang der städtischen Verwaltung gedeutet werden, der in Kompetenzstreitigkeiten der Behörden mündet und einen Baustopp zur Folge haben müsste. Mit dem Vertrag beabsichtigen die Partner den für die Erweiterung wichtigen Abschnitt mit erforderlichen Infrastrukturmaßnahmen zu versehen, um mit straßenbaulichen Verbesserungen weitere Bauherren anzulocken. Ein neuer Schwerpunkt für das Viertel ist bereits mit der Grundsteinlegung der englischen Kirche 1886 erfolgt, und der Einweihungsgottesdienst steht unmittelbar bevor. Man beabsichtigt mit dieser Einrichtung eine vermögende englische Bevölkerungsgruppe anzuziehen. Fertige Straßen und Abwasserkanäle sind Grundvoraussetzungen dafür. 7.5.4 Kaiserplatz eine Utopie? Die erstmals vom PD geäußerte Vorstellung, die Kaiserstr. zum Teil als Kaiserplatz auszu- bauen, erfährt gleichfalls durch die städtische Verwaltung Unterstützung. Zwar zeigt der Stadt- plan vom Blumenauer (1891-97) die Kaiserstr. im Abschnitt Murhardstr.-Querallee noch in geringer Breite, allerdings nimmt diese im Abschnitt westlich der Querallee bereits die spätere Breite an. Nach Meinung Aschrotts wächst das Verkehrsaufkommen im ersten Abschnitt der Kaiserstr. ständig, deshalb schlägt er 1889 vor, die Straße zum Platz zu erweitern. Damit schwenkt er auf den Vorschlag des PD Albrecht und der Stadt ein. Der Unternehmer beabsichtigt die Vorgärten von 5 und 10 m zurückzunehmen, um die gewonnene Fläche dem Platzraum zuzuschlagen. Da lediglich drei Häuser vorhanden seien, gelänge eine Umsetzung problemlos. Das erforderliche Areal im Wert von 124000 M. wolle er zur Verfügung stellen. Weiter ist er der Ansicht, dass die Grundstückspreise durch die beabsichtigten Maßnahmen nicht weiter ansteigen würden. Für die Stadt stelle die Anlage eine Verschönerung dar. Der endgültige Vertrag zum Ausbau erfolgt 1897. Neben den von Aschrott getragenen Kosten zum Grunderwerb will die Stadt, die Bau- maßnahmen über Anliegergebühren finanzieren. Die Gestaltungsphase erreicht mit der Ausschreibung eines städtebaulichen Wettbewerbs 1898 ihren Höhepunkt. Wiegand führt in seinen Aufzeichnungen an, nur neun Entwürfe seien einge- reicht, von denen 5 einen Preis erhalten. Den Wettbewerbsausschuss vertreten „Sigmund Aschrott (Berlin), die Bauräte Ludwig Hoffmann (Berlin), Otto March (Charlottenburg), Emil Seligmann (Kassel) und Hermann Rüppel (Kassel).“ (Wiegend, 2005, S. 246.) Der erste Preis geht an eine Ausgestaltung mit „Reithaus, Badeanstalt, Theater und Konzertsaal“ sowie zwei Hotels, Cafés, Restaurants, Läden und Kaufhaus. Weiter verlegt man Einkaufsflächen in die Erdgeschosse der Wohnrandbebauung, die vorerst aber als Wohnungen zu nutzen sind. Neben breiten Trottoirs hebt der Entwurf den freien Blick zu Herkules und Habichtswald hervor. Die Platzmitte bestimmen Grünflächen und ein Musikpavillon. 564 Schreiben vom 6. Juli 1874 des PD an Kgl. Regierung (Best. s.o.). 565 Ortsstatut: § 1. 566 Schreiben des PD an die Kgl. Regierung vom 30. Juni 1880 (Best. 165, Nr. 1457, Bl. 78/79). 175 Aus den Planänderungen lässt sich eine Bewertung unter städtebaulichem Aspekt ableiten. An- fangs verfolgt man mit dem Bau der Straße das Ziel, eine Korrespondenz zur Wilhelmshöher Allee sowie Hohenzollernstraße herzustellen. Hier wird die Absicht verfolgt, das städtische Areal rational aufzuteilen, ohne jedoch vorher ein Qualitätsprofil für die Straße zu erstellen, welches über dem quantitativen Ziel, der Schaffung von Wohnfläche, steht. Die Umgestaltung durch Verbreiterung des Verkehrsraums zu einem Platz in Langform weist diesem noch keiner- lei Funktion zu. Es wird lediglich angemerkt, die Platzmitte zum Aufenthalt der Stadtbewohner nutzen zu können, was auch mit Errichtung eines Musikpavillons geschieht und den Platz kurz- zeitig durch Konzertveranstaltungen mit Leben füllt. Zu einem wirklichen Platz mit klaren Funktionsunterscheidungen taugt der offene Raum nicht. So legen die Preisträger ihre Kultur- und Sporteinrichtungen nicht an den Platzrand, sondern in die von den Straßen (Murhard-, Querallee, Germaniastr.) geschaffenen Seitenvierecke. Damit schiebt man die Aktivitäten in diese Flächen und überlässt den Platz dem Verkehr. Den an den Rändern geplanten Gebäuden weist man vorerst das beabsichtigte quantitative Ziel, Wohnfunktion, zu. So übernimmt die Neugestaltung die Aufgabe als Verkehrsverteiler, lässt aber Sensibilität für kontrollierte Raumbeziehungen vermissen. Als Impression spiegelt der Platz so eine scheinbare Achsialsymmetrie wieder. Umriss, Form, bestehende Baulücken und fehlende Konzeption ver- raten keine Komplexität, geben wenig Perspektiven, erlauben keine Entdeckungen und keinen Blickrahmen. Ausschließlich die Einbeziehung der Vegetation schafft Bezug zu natürlichen Räumen. Abb.: 38 Kaiserplatz/ Ecke Querallee um 1900567 (rechts Kaiserplatz 31) 567 Foto Ebert, Stadtmuseum: CD 03-014/ KD einzeln. 176 7.5.5 Grundstücksfragen beim Diakonissenhaus Abb.: 39 Cassel – Wehlheiden Ergänzungskarte Nr. 154, Etat Jahr 1893/94 (Amt für Bodenmanagement Korbach) Der Verlegung des Hessischen Diakonissenhauses im Jahr 1880 von Treysa in die Kaiserstr. kommt die gleiche Bedeutung wie der Infanteriekaserne zu: Sie dient als wichtiger Impuls zum Aufbau der Infrastruktur. Der Neubau liegt weit entfernt von der Bebauungsgrenze. Von ihm hat man freie Sicht zum Habichtswald. Als Hauptziel verfolgt die diakonische Einrichtung die Ausbildung von Schwestern für Kranken- und Gemeindedienst und als Erzieherinnen. Nach Eröffnung der Anstalt 1883 erwirbt diese ein Jahr später die Nachbarvilla als Seminar- und Wohnraum für angehende Hausgeistliche (Sardemann; in: Simon, 1988, S. 127/128). Über den Zustand der Straße und ihre Einbindung in die Flur berichtet ein Augenzeuge 1891. (Geschichte des Diakonissenhauses, S. 85/86, in: Hülbusch, 1977/78, S. 8). Auf einem Land- weg, dem Kirchweg, sei es möglich, von der Wilhelmshöher Allee zu dem Hospital zu gelan- gen. Mit dem Wagen müsse ein kleines „offenes Gewässer“, die Drusel, durchfahren werden, Fußgänger überqueren dies über eine Planke. Die Kaiserstr. sei nicht vollständig fertig und ende am Kirchweg. Zum Ausbau von Kirchweg und Kaiserstr. sind Teile des Diakonissenhausgrundstückes erfor- derlich. Die Gemeinde Wehlheiden, die für den Flächentausch des Kirchwegs verantwortlich zeichnet, bietet in gleicher Flächengröße Land an der Südseite des Grundstücks als Austausch. Bei Ausgleichsmaßnahmen für die Kaiserstr. hat das Diakonissenhaus mit Aschrott zu verhan- deln. Am 11. September d. J. besichtigt die Kaiserin die Anstalt und zeigt sich davon beeindruckt. Beim Blick von einem Balkon des Hauses auf das Grundstück Richtung Habichtswald, in der Ferne ist nur die Main-Weser-Bahn zu sehen, drückt Majestät ihr Erstaunen über die geringe Größe des Grundstücks aus und will aus ihrem Etat ein Stück zukaufen, um es dem Haus zu stiften. Das Diakonissenhaus verhandelt bereits vorher mit der Gemeinde Wehlheiden, um an der Süd- seite Land zu erstehen. Diese zieht dann einen Handel mit Aschrott dem Verkauf an das Hospi- tal vor. Während eines kaiserlichen Empfangs am Abend informiert die Kaiserin den Oberpräsidenten v. Eulenburg über ihre Absichten und beauftragt ihn, für den Erwerb des Grundstücks zu sor- 177 gen. Die Aufgabe wird an den Regierungspräsidenten Rothe568 übertragen, der mit Aschrott den Grundstückskauf erörtert. Aschrott soll, als er von der Absicht der Kaiserin informiert wird, geantwortet haben: „Verkaufen möchte ich ihrer Majestät nichts“, wenn aber, berichtet der Zeuge, Majestät „geruhen wollen, einen Acker als Geschenk für das Diakonissenhaus anzuneh- men, dann sei er mit Freuden bereit, der Kaiserin denselben zu Füßen zu legen.“ Das angenom- mene Geschenk entspricht dem damaligen Grundwert von 36000 M.569. Das Grundstück vergrößert sich damit nach Westen um 22 Ar, dazu kommen 14 Ar als Ausgleich für die Kai- serstr. Die an den Gesprächen mit der Kaiserin beteiligten Personen (wenn der geschilderte Vorfall sich so zutragen hat) wissen, von wessen Land gesprochen wird und haben das folglich auch der Kaiserin gegenüber erwähnt. Für Aschrott scheinen Gefälligkeiten oder großzügige Spenden, wie vielen seiner Mitbürger, eine Ehre zu bedeuten. Im Weiteren wird noch auf seine Spenden eingegangen. Bei dem Zitieren solcher persönlicher Anmerkungen lässt sich nicht ausschließen, dass persönliche Empfindungen bei dem Betrachter den Sachverhalt in den Hintergrund treten lassen. Im Zusammenhang mit Ausbaumaßnahmen der Kaiserstr. führt das Diakonissenhaus einen Briefwechsel mit Aschrott, in dem dieser aus Berlin der Schwester Tasche des Hospitals mit- teilt, er habe längst sein Büro in Cassel angewiesen, die von der Oberin gewünschten Steine zu liefern und die Zustellung der noch gewünschten Steine in die Wege geleitet. Im Mai 1893 schreibt Aschrott, der Bitte des Vorstands entsprochen zu haben und bereits vor zwei Wochen seine Bauverwaltung in Cassel angewiesen zu haben, die Fahrbahn vor dem Grundstück des Hauses in der Kaiserstr. so schnell als möglich herzustellen. Weiter wird bemerkt, die Anfuhr von Baumaterialen auf der halbfertigen Straße sei noch nicht möglich. Es könne jedoch das Bauunternehmen bereits Sand anfahren. Die von seiner Firma längs des Grundstücks gestapel- ten Steine würden bei den Baumaßnahmen ebenfalls beseitigt. Durch diese Informationen kann man sich ein Bild über den Straßenzustand machen. Es wird deutlich, dass im Mai 1893 keine gepflasterte Straßenoberfläche existiert und der Ausbau noch von Aschrott finanziert wird. Dagegen sind 1900 in der Kaiserstr.570 bereits 18 Gebäude errichtet. Das Diakonissenhaus (Nr. 83 und 85) bildet die westliche Bebauungsgrenze. Die investierenden Bauherren wollen mit den Bauten eine Kapitalanlage schaffen. So besitzt im selben Jahr der Oberlehrer Meissner aus Barmen 5 Häuser in der Straße. 7.6 Vertrag zwischen der Residenzstadt und dem Fabrikanten Aschrott Im Dezember 1874 kommt es zu einem Vertrag zwischen der Stadt Kassel und Sigmund Aschrott zur Durchführung von „Victoria-Boulevard und Weißenburgstraße.“571 Schwerpunkte bilden der Erwerb und die Expropriation von Grundstücken für den Straßenraum. Diese Areale sind anzukaufen oder unmittelbar von der Stadt mit eingeleiteter Versteigerung zu erwerben, soweit sie sich noch nicht in ihrem Besitz befinden. Die Anschaffung erfolgt gemeinschaftlich durch die Vertragspartner, wobei die Stadt ein Viertel und Aschrott ein weiteres Viertel liefern. 568 Rothe, Anton, geb. 1837, gest. 1905 in Kassel, Ministerium für Handel, 1887 R.P., 1892 beurl. (Klein, 1988, S. 112ff.) 569 Umrechnungsfaktor: 1Taler = 3 Mark. Daraus ergibt sich ein Quadratmeterpreis von 16,36 M. – Rechnung: 36000 : 2200 = 16,3636. 570 Kaiserst. Nr. 30: Zürn u. Schnell/ Nr. 32: Zahn, Architekt/ Nr. 47, 49, 51: Zulehner, Bauunternehmer/ Nr. 48: v. Lindquist, Oberst z.D./ Nr. 53, 55, 57, 59, 61: Meissner, Oberlehrer in Barmen/ Nr. 56: Sayn zu Wittgenstein, Durchlaucht, Fürst/ Nr. 64: Eckhardt u. Schmidt/ Nr. 66, 68: Lingelbach, Maler- u. Weissbindermeister/ Nr. 79: Spohr, Landwirt/ Nr. 83, 85: Hess. Diakonissenhaus (Kasseler Adressbuch – 1900). 571 St A M Best. 165, Nr. 1452, Bd. 3, Bl. 214-287, F 11787. 178 Ersatz kann er nicht von der Stadt verlangen. Die den Statuten entsprechenden Verbindlichkei- ten der Anlieger bleiben auch für das von Aschrott geleistete Viertel bestehen. Alle finanziellen Ansprüche daraus überweist Aschrott der Stadt ohne Gegenleistung. Der Anliegerbeitrag für den Erwerb eines Grundstücks572 in der Weißenburgstraße soll ihm nicht in Rechnung gestellt werden. Das dritte und vierte Viertel liefert Aschrott im Austausch mit städtischen Flächen, die er zur Arrondierung seines Geländes benötigt. Ein von der Stadt abgegebener Geländestreifen verläuft an der südlichen Seite der Kirchditmolder Straße573 bis zum Kirchweg. Den in diesem Tausch auf Aschrott entfallenden Geldbetrag hat er auf Anforderung des Stadtrats bar zu zahlen. Der Kauf, die Abräumung von Grundstücken und der Abbruch574 der in den Straßenraum fallen- den Gebäude werden zu ¾ von Aschrott und zu ¼ von der Stadt getragen. Wird bei der Expro- priation keine Einigung mit den Besitzern erreicht, gilt die vereinbarte Bezahlung auch für die Regelung der Taxation durch einen gerichtlichen Schätzer. Kleinere Parzellen575, die durch Enteignung entstehen, tritt die Stadt an Aschrott ab. Dieser übergibt ihr hypothekenfrei Teile des vormaligen Hospitalsgartens und des vormaligen Eisengarthenschen Gartens. Der Spil- ling`sche Garten ist lastenfrei und mit durchgeführter Oberbesserung der Stadt zu übereignen. Sämtliche Kosten für Erwerb oder bei Geschäftsstörung obliegen Aschrott. Neben dem Spilling- schen Areal hat er weitere Flächen, gleichgültig auf welchen der beiden Straßenräume sie ent- fallen, zur Verfügung zu stellen. Das Areal, das nicht innerhalb von acht Wochen bereit steht, wird von der Stadt über Enteignungen erworben. Bei der Enteignung in Bezug auf das Spilling- sche Grundstück trägt Aschrott alle Kosten, sonst erfolgt die Verteilung der anderen Vorgänge nach oben genanntem Schlüssel. Weiter wird der Parzellenausgleich entlang der neuen Straße576, die westlich längs der städtischen Kaserne verläuft, geklärt. Neben den von ihm über- nommenen Leistungen tritt Aschrott zur Vergrößerung des städtischen Forstes seine sämtlichen Forstflächen577 in Größe von 31 ½ Acker 9 Rt. ohne Gegenleistung an die Stadt ab. Die Vereinbarung erfolgt aus Sicht der Stadt nur unter Vorbehalt und tritt erst mit Anzeige ihrer Erteilung in Kraft. Ist die Erteilung nicht bis spätestens Ende Januar an Aschrott erfolgt, so ist er nicht mehr an den Vertrag gebunden. Die Unterzeichnung des Vertrags wird am 28. Dezember 1874 vollzogen. In einem Nachtrag geht es noch um eine Dreiecksfläche für das an der Westendstraße liegende Wasserreservoir, die Aschrott der Stadt für 60 Taler pro Rt. hypothekenfrei abgibt. Ferner sichert die Stadt bei Be- bauung der südlich und westlich des Wasserreservoirs liegenden Grundstücke Fensterrecht zu. Im März 1875 wird auf einer Bürgersitzung dem Antrag des Stadtrats vom 5. Juni 1874 und der damit verbundenen Vereinbarung mit dem Fabrikanten Aschrott Zustimmung erteilt. Im April 1875 wird ein Vertragsnachtrag erforderlich, da die Stadt die zeitlich gesetzten Bedingungen nicht eingehalten hat. Aschrott erklärt sich weiter an den Vertrag gebunden. Er äußert sich wie folgt: „Ich will auch meinerseits an der vorgedachten Vereinbarung nebst Nachtrag dazu578 trotz des Fristablaufs mich gebunden erachten und betrachte dieselbe hiermit definitiv abgeschlossen.“579 In einem Brief vom Juni 1875 äußert sich der PD gegenüber dem OB zu dem vereinbarten Ver- trag mit Aschrott dahingehend: Die Ausführung der beiden Straßenanlagen würde durch den 572 Das Grundstück befindet sich auf der Karte unter: Karte J 36a über 17,3 Rt.. 573 Es handelt sich hierbei um 10 6/8 Acker und 47/100 Rt.. 574 Das Abräumen und Beseitigen von Gebäuden bezieht sich auf das Cramer`sche und das Henkel`sche Grundstück. 575 In diesem Fall werden für den Erwerb von Straßenraum beim Raabe`schen und Blum`schen Areal kleinere Parzellen, von dem Grundstück J 20a = 12.6 Rt. und J 38a = 2 Rt., nicht gebraucht, die erhält Aschrott zum Expropriationspreis. 576 Dieses Straßenprojekt erfährt keine Umsetzung in der geplanten Führung. 577 Die Forstflächen verteilen sich auf: Kasseler Gemarkung (Karte R 103, 104, 105); Bettenhausen (Karte M 199, 202, 227, 215); Ochshausen (Karte U 1, H 2, AZ 3). 578 Im Nachtrag handelt es sich um Flächen, die noch zum unteren Wasserreservoir gebraucht werden, diese stellt Aschrott zur Verfügung. 579 Best. s.o. 179 Abschluss wesentlich erleichtert und sei „für die Stadt ohne Zweifel sehr vorteilhaft.“580 Erst wenn nach Vollendung des Straßennetzes der Vorteil dieser Verbindung richtig wahrgenommen würde, erkenne man, dass die Stadt nicht leicht wieder eine so günstige Position einnehmen könnte, wie es augenblicklich der Fall wäre und ursächlich ihren Grund im Zusammentreffen der Vertragspartner habe. Seine Äußerungen unterstreichen deutlich die Antriebsfunktion Aschrotts im Sinne der Erweiterung sowohl bei der Übernahme von Aufgaben wie bei der Hauptlast der Finanzierung. Der Verfasser erkennt hier kaufmännische Schwächen des exzellenten Geschäftsmannes und er fragt nach den Gründen. Aschrott erscheint in diesem Zusammenhang als ein nicht gleichbe- rechtigter Vertragspartner. Sein Vorgehen mag an die Rolle seiner Vorfahren als Hoffaktor (siehe Kap. 4.1) erinnern. Er verhält sich jedoch äußerst defensiv. Längst hat er erkannt, dass sich sein Viertel nicht wie angenommen erweitert. Aus dieser Entwicklung läßt sich eine wei- tere Steigerung seines Engagements ableiten. Zu einem langwierigen kaufmännischen Konzept gehört ebenso, bei einem Projekt Verluste und Vorarbeiten einzukalkulieren, um das gesamte Geschäft nicht zu gefährden. Dabei sind gleichfalls gesamtwirtschaftliche Schwankungen zu berücksichtigen, bei denen die Umsetzung unter finanziellen Druck gerät. Doch auch eine an- dere Interpretation scheint möglich. Sie ist im menschlichen Bereich zu finden. Aschrott hat schwere Rückschläge einstecken müssen. Das sind der Ausschluss von Militärlieferungen und das damit verbundene gerichtliche Nachspiel, außerdem die Ablehnung bei der Neuwahl zur Handelskammer.581 Mit seinem Plan ist viel Idealismus verbunden, in seiner „Mutterstadt“ ein positives Image zu erlangen und auch bei der kommunalen Verwaltung Entgegenkommen für sein Bauvorhaben zu erhalten. Der Ausbau der Victoriastr. zwischen Kölnischer Str. und Akazien Allee582 sowie der Weißenburgstraße kann durch Aschrott auch nicht vollzogen werden, da die seitens der Stadt angebotenen Ausgleichszahlungen für Grundstücke und Häuser bzw. Häuserteile von den An- wohnern nicht akzeptiert werden. Im öffentlichen Anzeiger vom 9. Oktober 1875 führt der Poli- zeidirektor (PD) Albrecht die dreizehn verschiedenen Parteien an, deren Gründstücksflächen für den Straßenbau relevant sind. Die größte Fläche, die von den Betroffenen dabei abzugeben ist, betrifft Aschrott, denn die Victoriastr. führt mitten durch sein Grundstück. Ebenso besitzt er von dem Grundstück I583 Nr. 6 den Anteil584 von 5/6 und der Schankwirt Spilling 1/6. Die Provinzregierung steht in Bezug auf die Stadterweiterung in Kontakt mit dem Kaiser, der bei seinen Besuchen in Kassel sich auch für die städtische Weiterentwicklung interessiert. Er antwortet585 auf den städtischen Situationsbericht an den Minister für Handel der Provinzregie- rung und verleiht der Stadtgemeinde Cassel das Enteignungsrecht,586 um die Victoriastr. bis zur Hohenzollernstr. sowie die Weißenburgstr. ausbauen zu können. 580 Best. s.o. 581 Brief des Regierungspräsidenten v. Brauchitsch vom 21. Juli 1879 (G St A, Hpt. I Rep. 120, Cb V Fach A, Nr.16). 582 Bezeichnungen nach Handskizze aus St AM, Best. 175, Nr. 539, F 2041. 583 I steht für Karte I der Gemarkung Cassel mit den entsprechenden Grundparzellen. St AM Best. 175, Nr 539, F 2047. 584 Laut Kaufvertrag vom 28.1.1873 (St A M Best.165, Nr. 1452, Bd. 4, Bl. 290-363, F 11787). 585 Brief vom 18. August 1875 vom Schloss Babelsberg, St AM Best. 175, Nr. 539, F 2041. 586 Enteignet werden kann eine Fläche an der öffentliches Interesse besteht. Hier betrifft das die Grund- stücksfläche, die in den Straßenraum fällt. 180 Abb.: 40 Nivellierungsplan587 als Planungsvorlage zum Ausbau der Victoriastraße Der Partikulier August Luyken, Besitzer der Grundstücke I Nr. 9 und Nr. 10 (siehe auch nächste Abb.), scheint sich nicht abfinden zu lassen, wahrscheinlich weil er glaubt, mehr Geld für sein Anwesen zu bekommen. Er schildert dem PD, dass die Zeichnung des abzutretenden Hauses (es steht mitten in der neuen Fahrbahn) nicht richtig sei, er merkt an, dass dies der Privat-Bau- meister588 des Herrn Aschrott, der es mitverglichen habe, bestätigen könne. Das Haus sei in Wirklichkeit viel größer als eingezeichnet. Albrecht antwortet aus Carlsbad am 23. Juni 1875 (dort scheint er sich einem Kuraufenthalt zu unterziehen), er könne sich dazu nicht erklären. Am 15. Dezember werden die Verfügungen zum Enteignungsverfahren an die Beteiligten wei- tergeleitet, wobei für die Entschädigung der § 24 des Gesetzes von 1875 die Grundlage bildet. Die Einsprüche des Banquiers Rudolph Arnthal und Luykens werden als nicht gerechtfertigt zurückgewiesen. Am 30. März 1876 teilt der Minister für Handel aus Berlin wegen der Expropriation von Luykens mit, dass er das gedachte Resolut im Widerspruch der Bestimmung im § 21 des Ge- setzes sehe. Die Enteignung von Grundeigentum im Sinne vom 11. Juni 1874 lasse eine Fest- setzung für Anlagen vermissen, „zu deren Errichtung und Unterhaltung die Stadtgemeinde Cas- sel als Unternehmerin der Straßenanlagen“ gegenüber Anliegern verpflichtet ist. Es bestehe kein Zweifel, dass die Stadt der Einfriedung angeschnittener Grundstücke589 nachkommen müsse. Weiter sei es eine Verpflichtung der Stadt, in Form von Bestimmungen festzuhalten, dass durch Lage und Grenzen des Grundstückes die Notwendigkeit der Enteignung gegeben sei. Über die laufende Entwicklung der Sache möchte der Minister unterrichtet werden. Die Provinzregierung 587 Best. 175, Nr. 539, F 2047. 588 Bei dem Privat-Baumeister muss es sich um Wilhelm Neumann handeln, auf den später eingegangen wird. 589 Durch veränderte Grenzen sind neue Zäune zu setzen. 181 wiederholt den Berliner Brief sinngemäß und ergänzt die Rechtslage durch § 21 Nr.2 und § 14.590 Im Oktober 1876 fordert der PD, die Enteignungssache wegen der Grundstückserwerbung zu beschleunigen und die Verhandlung über Entschädigung wahrzunehmen. Es wird beschlossen, Arnthal 4653 Mark und Luyken 20817 Mark 75 Pf. auszuzahlen; man beruft sich dabei auf §32 des Enteignungsgesetzes.591 Im Juli 1877, nachdem die zu Entschädigenden nochmals Eingaben bei der Königlichen Regierung in Kassel und bei dem Handelsministerium in Berlin getätigt haben, kommt von dort die Aufforderung, den Betroffenen anliegende Bescheide auszuhändi- gen. Am 3. August des Jahres fordert das Amtsgericht in Cassel die Königliche Regierung auf, „zu Gunsten des Bankiers Rudolf Arnthal, des Partikuliers August Luyken und des Bierbraumeisters J. G. Eisengarten dahier hinterlegte Entschädigungsgelder“ auszuzahlen und „die Enteignung bezüglich der abzugebenden Parzellen auszuführen.“592 Abb.: 41 Skizze zu Expropriationen von Luyken und Arnthal593 Die Angelegenheit wird weiter vor dem Königlichen Kreisgericht behandelt. Die Entscheidung ist nicht vermerkt. Am 10. Dezember 1878 werden die Akten im Fall Arnthal an den PD zu- rückgeschickt. In einem Schreiben594 an Knetsch, Plaut und Henkel, die sich gleichfalls einer Enteignung widersetzen, antwortet die Stadtverwaltung und beruft sich auf einen Vertrag der Stadt595 mit 590 Best. s.o. 591 Best. s.o. 592 Best. 165, Nr. 1452, Bd. 5, Bl. 218-292, F 11794. 593 St AM Best. 175, Nr. 539, Buchstabe V, F 2041. 594 Auf Beschluss der Stadtratssitzung vom 10. Juni 1879 erfolgt. Best. s.o. 595 Wiegand schreibt über einen Vertrag von 1875 zwischen der Stadt Kassel und Aschrott und bezieht sich auf obige Bestände. (Wiegand, 2002, S. 227). Degenhardt führt einen ersten „diesbezüglichen 182 dem Fabrikanten Aschrott über die Herstellung der Victoria- und Weißenburgstraße sowie die Übereignung des in Frage kommenden Terrains an sie. Die von Aschrott eingegangenen Ver- pflichtungen seien erst zu erfüllen, „wenn die Parzellen freigelegt“ und das Gelände überarbeitet sei. Die Stadt sorge nicht für den Abbruch der Gebäude, sondern regele nur die „Verteilung der Kosten des Abbruchs“. Jedoch habe die Stadt in der angesprochenen Sache für Aschrott auf dessen Wunsch den Abbruch besorgt, vorher sei die Abschätzung des Gebäudes erfolgt, deren Ergebnis die Stadt anerkenne und auch die Aufwendungen, die dem Besitzer durch die Verände- rungen entstünden, um das Gebäude in einen brauchbaren Zustand zu versetzen. Weitergehende Verpflichtungen existierten für sie nicht. Das obige Schreiben wird durch ein anderes ergänzt. Hier werden die Bedingungen zu dem mit Aschrott abgeschlossenen Vertrag angeführt. Darin rechtfertigt sich die Stadt gegenüber den Beschwerdeführern. Ein Schätzungsbetrag über 7766 Mark für das Henkelsche Gebäude (Besitz der Antragsteller) sei deshalb nicht ausgewiesen, weil in dem Betrag von 46052 Mark 66 Pf., den Aschrott der Stadt schuldet, ersterer bereits angerechnet und so ausschließlich für Aschrott nur noch 38286 Mark 66 Pf. zu begleichen seien, was auch erwartet werde. Es sei Sache Aschrotts, die Forderungsberechtigten mit dem Betrag zu befriedigen. Eventuellen Abmachungen des Fabrikanten Aschrott mit den früheren Besitzern des fraglichen Gebäudes seien der Stadt nicht bekannt. So sei von ihr nicht zu entscheiden, wer Anspruch auf Auszahlung des Schätzbetrages habe, dies sei in Verhandlung mit Aschrott zu klären. Für OB Weise ist damit die Angelegenheit geklärt. Abb.: 42 Eigentümer596 Victoria- und Weißenburgstraße betreffend Für den oben zusammengefassten Vorgang kann folgende Deutung gelten. Aschrott bezahlt der Stadt einen ausgehandelten Betrag für die Enteignung und das Freiräumen des Terrains. Die Stadt wiederum findet die Betroffenen mit Entschädigungsleistung ab. Eine Ausnahme scheint der Fall Knetsch u.a. darzustellen, mit diesem soll Aschrott in Punkto Entschädigung dann selbst vergleichen. Folglich hat Aschrott gegenüber der Stadt eine um 7766 Mark verringerte Summe zu zahlen. Den oben genannten Betrag begleicht er wiederum mit dem enteignungsbe- Vertrag“ 1869 zwischen der Stadt Kassel und Aschrott an, ohne jedoch eine Quelle zu nennen. Unter diesbezüglich versteht Degenhardt: „Aschrott habe in den 70er Jahren folgende Straßenzüge zu Bebauungszwecken... hergestellt“ (Degenhardt, 1935, S. 96). 596 St A M Best. 165, Nr. 1452, Bd. 4, Bl. 290-363, F 11790. 183 reiten Knetsch u.a.. In dem angesprochenen Fall lässt Aschrott dann, wie aus dem Schreiben zu entnehmen ist, auf eigene Rechnung abbrechen. Für Abbrucharbeiten und Freiräumen der Straßenfläche kann Aschrott mit dem von ihm beauf- tragtem Unternehmen über die Abrechnung verhandeln und damit seine Gesamtkosten verrin- gern. Gleichfalls scheinen ihm die Verhandlungen mit den Eigentümern zu obliegen, damit entzieht sich die Stadt den mühsamen Unterredungen. Der Vertrag erweist sich als gutes Geschäft für die Stadt, denn ihr bleiben lediglich die Straßen- baukosten, die als Rückforderung durch Anliegergebühren wieder ausgeglichen werden. Aschrott als Subunternehmer der Stadt kann die Kosten minimieren, und sein neuer Stadtteil erhält durch den boulevardähnlichen Ausbau der Victoriastraße eine direkte Verbindung597 zu dem Verkehrsknotenpunkt der Stadt, dem Bahnhof. Das bedeutet eine Verbesserung der Infra- struktur und eine Konstanz der zu erwartenden Bodenrente. Allerdings ziehen sich diese Aktio- nen lang hin mit Verhandlungen, Vorfinanzierungen, Baumaßnahmen, gerichtlichen Verfahren, Handlungsaufschüben durch Blockaden seitens der Behörden. Die Stadt ist immer an einem durchgehenden Straßenraum interessiert, der nach Fertigstellung an sie fällt. Man kann vermuten, dass die Stadt Aschrott, der so oft finanziell als auch mit Bodenabtretun- gen seiner „Mutterstadt“ entgegen gekommen ist, bzw. unentgeltliche Schenkungen gemacht hat, ebenfalls etwas ´hilfreich´ zur Seite steht bei seinem Anliegen, eine Ausfahrt598 von seinem Grundstück von der Verwaltung genehmigt zu bekommen, der der Antrag dazu vorgelegt wird. Aber dies wird kategorisch abgelehnt. Bei dem Straßenterrain handele es sich grundsätzlich um städtisches „Privat-Eigentum“599 und „Niemand“ sei berechtigt, in diesem Terrain einen Aus- gang von seinem Grundstück anzulegen oder diesen nur zu benutzen. Auf seine Frage bezüglich der Anlage von Trottoir-Randsteinen antwortet die Stadt, diese seien nicht irrtümlich gelegt. Zugänge zur Victoriastr. gäbe es bisher noch nicht, und wenn sie in nächster Zeit angelegt wer- den sollten, erfordere dies eine polizeiliche Genehmigung. Die Arbeiten dazu würden von der Stadt auf Kosten der Anlieger veranlasst. Aschrott versucht in diesem Fall doppelte Kosten zu vermeiden (erst wird die Straße im städtischen Auftrag fertiggestellt, dann erfolgen Umbauten für die Grundstückseinfahrten). Doppelte Kosten bedeuten für ihn, Anliegergebühren für eine fertige Straße zu entrichten und anschließend für den Bau von Ausfahrten sowie Trottoirverän- derungen aufkommen zu müssen. In einem Brief600 an den PD fragt Aschrott, nachdem er den Sachverhalt geschildert hat, ob die Stadt eine solche Ausfahrt versagen könne. Gleichzeitig bittet er um polizeiliche Zustimmung für sein Vorhaben, um so bei der Verwaltung erneut intervenieren zu können. Der PD scheint noch am gleichen Tag geantwortet zu haben. Seine persönlichen Anmerkungen601 in dem Brief lassen, soweit leserlich, eine solche Deutung zu. Aschrott, als Hauptverantwortlicher für den Straßenbau, wird bei der Durchführung einer Ausfahrt zu seinem Grundstück wie jeder Anwoh- ner behandelt. Er versucht sich bei dem Polizei-Direktor zu vergewissern, ob nicht eine unbüro- kratischere Lösung möglich wäre. Vermutlich ist er gescheitert. 597 In einem Schreiben der „Königlichen Direction“ der Main-Weser-Bahn vom 23. Mai 1878 an den PD, in dem es um die Kosten der Freitreppe zum Bahnhof geht, welche die Eisenbahn unter der Voraus- setzung unterstützt, dass für sie keine Kosten entstehen, wird über die neue Verbindung ausgesagt: Die Victoriastr würde besonders stark an Sonn- und Festtagen frequentiert, wenn das Publikum die Vergnü- gungsorte an der Cölnischen Allee und in Kirchditmold usw. besucht. Die Frequenz würde weiter steigen, wenn die Victoriastr. durchgebaut und dadurch eine direkte Verbindung vom Bahnhof zu der Wilhelms- höher Allee hergestellt. (St AM Best. 175, Nr. 539, F 2047.) 598 Bei der Ausfahrt handelt es sich um das frühere Spillingsche Grundstück an der Cölnischen Straße Nr. 41, welches nun auch an der Victoriastr. liegt und zu dieser eine Ausfahrt benötige. Brief vom 28. Juli 1878; Best. s.o. 599 Schreiben vom 29. Juni 1878; Best. s.o. 600 Brief vom 28. Juni 1878; Best. s.o. 601 Leider ist die Schrift nicht zu entziffern und der Inhalt nicht zu bewerten. 184 Ein weiterer Fall stoppt den Ausbau der Victoriastraße. Schon im Juni 1878 fordert die Stadt- Bau-Deputation durch Herrn Bolte von dem PD, bei den Eigentümern im Sinne der Vorschrift die Grundstückseinfahrt in der Victoriastr./ Ecke Akazienweg in die Straßenflucht zu veranlas- sen und nicht auf die Ecke des Grundstücks. Die Grundstücksparzelle des Großhändlers Wert- heim602 verspringt in den Straßenraum. Wertheim verlangt dafür eine Entschädigung von 3000 Mark und Zurücksetzung der Einfriedungsmauer auf Kosten der Stadt. Seinen Anspruch be- gründet er damit, der Nachbar würde für ein gleiches Stück von ihm diesen Preis in Rechnung stellen. Ein Enteignungsverfahren wäre für die Stadt mit erheblichen Kosten verbunden, die in keinem Verhältnis zu dem Vorteil für den öffentlichen Verkehr nach Beseitigung des Grund- stücksüberstandes stehen würden. Im Bürgerausschuss wird per Beschluss festgelegt, nicht mehr als 1000 Mark insgesamt für die Parzelle aufzuwenden und die Forderung Wertheims abzuleh- nen. 1881 vermerkt603 der OB, die Entschädigung (über die Höhe der Abfindung wird nichts ausgesagt) an Wertheim angewiesen zu haben. Sobald dieser das Geld angenommen habe, sei er zum Abräumen der Parzelle verpflichtet. Im gleichen Jahr wird die Straße dem Verkehr übergeben. 7.6.1 Verwaltungsabsprachen zum Ausbau der Victoriastraße Im Jahr 1875 liegt bereits ein „Nivellements- und Situationsplan“604 für den projektierten „Victoria-Boulevard“ zwischen der Cölnischen und Hohenzollern-Straße vor. Dieser wird wahrscheinlich, wie vorher angesprochen, Kaiser Wilhelm I.605 unterbreitet. Das Querprofil nach a-b entspricht dem zuerst fertiggestellten Bauabschnitt der Victoriastr. von Cölnischer Str. bis zum Bahnhofsvorplatz. Der zweite Entwurf bezieht sich auf den Abschnitt Cölnische Str. und Hohenzollern Str. In einer weiteren Mitteilung606 der Stadt-Bau-Deputation wird das anfängliche Profil erneut verändert. Man möchte das Profil nach a-b nicht auf den üb- rigen Teil übertragen und schlägt andere Maße für Trottoir, Fahrbahn und Reitweg vor. Einen weiteren Punkt stellt der Abstand der Baumpflanzungen von der Straßenflucht dar. Hier wird auch auf Verhandlungen über den Ausbau der „s.g. Kaiserstraße“ hingewiesen, bei der eine vergrößerte Trottoirbreite den Abstand der Baumreihen von der Straßenflucht bewirkt. Dies sei auch auf die Victoriastr. übertragbar, zumal sie insgesamt um 1 m breiter als die Kai- serstr. sei. In einem anderen Schreiben607 überdenkt man erneut das Profil des Abschnitts Cölni- sche Str. - Hohenzollern-Str. Dabei geht es wiederum um den Abstand der Baumpflanzung. Man hat festgestellt, dass zwischen Trottoirfläche und Randstein nur ein 0,20m breiter Streifen für die Baumpflanzung verbleibt. So wird vorgeschlagen, den Abstand der Baumachse zur Stra- ßenflucht auf 3,90 m festzusetzen, was jedoch geringeren Bewegungsraum für Fußgänger schafft. Man hat sich dabei auf die Kaiserstr. bezogen. Mit diesem Maß erhofft sich die Ver- waltung ein besseres Baumwachstum. Der PD hat wohl in einem vorausgegangenen Schreiben, als es um erneute Veränderung der Straßenbreite ging, berichtet, dass das Versetzen von Bäumen deren Wachstum fördere. Auf diesen Aspekt wird von städtischer Seite besonders eingegangen, und man äußert seine Ver- wunderung über eine derartige Erklärung, denn eine Auskunft bei Experten hätte Gegenteiliges zutage gefördert. 602 Schreiben OB an PD vom 9. Mai 1879; Best. s.o. 603 Schreiben OB vom 7. April 1881; Best. s.o. 604 Schreiben vom 4. Mai 1875; Best. s.o. 605 Brief vom 18. August 1875, St. AM Best. 175, Nr. 539, F 2041. 606 Brief vom 7. Mai 1878, Best. 175, Nr. 539, F 2047. 607 Brief vom 7. Mai 1876, Best. s.o. 185 In einer letzten Mitteilung608 zu dem dargestelltem Problem geht die Verwaltung auf ein Schrei- ben des PD ein und begrüßt dessen Vorschlag zu einer veränderten Trottoirbreite, und damit sei der befürchtete Nachteil der Baumpflanzungen beseitigt. Abb.: 43 Querprofil der Victoriastraße Die Straßenbreite für den letzten Abschnitt der Victoriastr. wird mit 22,44 m angenommen und verteilt sich wie folgt: a) je 4,5 m breite Trottoirs, b) 9,34 m breite Fahrbahn, c) 4,10 m breiter Reitweg. Unter diesen Vorbedingungen scheint die Straße dann gebaut worden zu sein. Auch der Fußweg zur Freitreppe wird angesprochen. Doch diene dieser lediglich dem Gras- wuchs, denn die Passanten würden ihn nicht benutzen und sich weiter westlich an Erdhügeln vorbeibewegen; wahrscheinlich ist der freigewählte Fußweg kürzer. Möglicherweise beantragt das Königliche Eisenbahnbetriebsamt609, den unteren Teil der Victoriastraße von der Kölnischen Str. bis zum Bahnhofsplatz als eine Promenade610 zu bezeichnen. Dahinter steckt die Absicht, den Bahnhof als Haupteingang zur Stadt aufzuwerten, um damit die Bedeutung der Station im städtischen Kontext zu erhöhen. Zwar teilt der OB dem inzwischen zum Polizei-Präsidenten (PP) ernannten Albrecht mit, auch der Stadtrat habe den Plan gutgeheißen und er habe der Eisenbahn gegenüber geäußert, erst die Zustimmung des PP einzuholen. Der OB schränkt ein, dass die Kosten für die anschließende Asphaltierung des Trottoirs bis zur Kölnischen Str. von der Stadt nicht zu finanzieren seien. Dazu genössen die 608 Brief vom 20. Mai 1875. Das Datum kann nicht zutreffen, denn auf dem Aktenvermerk Lt. Zt. 8885/78 und in dem Schreiben selbst wird auf einen Brief vom 2. d. Mts. Nr. 6795/78 Bezug genommen. Best. s.o. 609 Brief des OB an den PP vom 21. November 1883, Best. s.o. 610 Bereits am 7. Juli 1868 an die Königliche Regierung stellt die „Königliche Eisenbahn Direction [Main- Weser]“ fest, man habe bei dem „neu festgestellten Stadtplan“ die Verbindung zwischen der Südseite des Bahnhofsvorplatzes und der „Köllnischen Allee“ als Boulevardstraße zur Kenntnis genommen (St A M, Best. 165, Nr. 1452, Bd. 1, Bl. 127). 186 Anwohner neben einer Aufwertung der Straße zu einem Boulevard den finanziellen Vorteil, keine Straßenbaukosten zahlen zu müssen. Bei den angesprochenen Begriffen wird unter Boulevard eine übergeordnete Straße verstanden, im Sinne einer Ring- oder Durchgangsstraße. Sie wird vom kommunalen Etat bezahlt, während eine städtische Straße in Umlageform von Anliegern zu finanzieren ist. Dagegen kann es sich bei einer Promenade nur um einen Spazierweg, von Bäumen und Grün flankiert, handeln. Damit scheint das westliche Trottoir der unteren Victoriastr. gemeint, das auf die Treppe zum Bahn- hofsvorplatz stößt. Die von dem Eisenbahnbetriebsamt in Umlauf gebrachten Bezeichnungen sind ausschließlich unter dem Aspekt Aufwertung des Bahnhofsvorplatzes zu interpretieren, dagegen wird von Bahnseite über Finanzierung, als städtische Angelegenheit, nicht nachge- dacht. In einer weiteren Mitteilung611 bedauert der OB, die Sachlage nicht richtig dargestellt zu haben. Es handele sich nur um einen Teil der Victoriastr., nämlich um die westliche Seite der Straße, die nun nach dem Ortsstatut nicht mehr Straße, sondern eine von „jeglichem Fuhrwerksverkehr verschlossenen Promenade (:Boulevard )“ sei. Für die Stadt heiße das, keine Anliegerbeiträge zu erhalten. Man könne die Sachlage dahingehend ändern, von der Victoriastr. im Sinne des Ortsstatuts von einem Ganzen auszugehen. Deshalb wäre es falsch, von einem Teil als Boule- vard zu sprechen und den Rest als Straße zu belassen. In diesem Fall würden der Stadt Anlie- gergebühren zustehen. Zwar haben der Minister des Innern und öffentliche Gremien im Januar 1881 entschieden, dass die in der Victoriastr. nördlich der Kölnischen Str. angelegte „doppelte Promenade kein Straßentheil sei, sondern für sich einen Boulevard bilde“. Dieser sei von jegli- chem Anliegerbeitrag frei. Die Liberalität der Stadt gehe so weit, klagt der OB, dass die Anlie- ger neben dem Vorzug an einem Boulevard zu wohnen, zusätzlich den Nutzen einer Fahrstraße genießen und außerdem den Vorteil eines asphaltierten Trottoirs besäßen. Wahrscheinlich kommt es vor dem Hintergrund verwaltungspolitischer Veränderungen gut zwei Jahrzehnte später zu einem Schreiben der Stadtverwaltung an die Eisenbahn-Direktion, worin diese gebeten wird, nicht für die Aufstufung der Victoriastraße zu einer Boulevard-Allee zu stimmen, denn durch die Statusveränderung würde die Stadt keine Anliegergebühren mehr ver- langen können. Als Fazit ist festzuhalten: Der Entstehungsprozess der Victoriastraße zeigt einerseits den auf- wendigen und zeitraubenden Prozess, um zu einer ausbaubaren Straßenfläche zu gelangen, die quer durch die Grundstücksflächen verläuft und nur mit Hilfe von Enteignungsverfahren und Entschädigungszahlungen durchzusetzen ist. Andererseits wird hier exemplarisch deutlich, wie kommunale Verwaltungen versuchen, ihre Entscheidungsbefugnis unter allen Umständen aus- zuschöpfen, um ihre primäre Zuständigkeit zu unterstreichen. Gleichzeitig ist die kommunale Führung bemüht, auf verschiedenen Wegen Kosten, die nicht zu bestreiten sind, von ihrem städtischen Etat abzuwenden. Dabei dienen ihre Absichten meist nicht einem schnellen Entste- hungsvorgang. Die Behörde geht von der Vorstellung aus, dass sich viele Probleme durch Ver- zögerung und Verschleppung von allein lösen. Ihr Handeln steht im Widerspruch zu Unterneh- merabsichten, deren Ziel nur bedeuten kann, Investitionen in der Form zu tätigen, möglichst schnell Gewinne zu erzielen. Organisatoren wie Aschrott, die den Umsetzungsprozess be- schleunigen und die Kosten, sicher nie ohne Eigeninteresse, gering halten wollen, werden gleichfalls in den hierarchischen Behördenaufbau einbezogen und stets in ihre Schranken ver- wiesen. Der Aufschub administrativer Entscheidungen führt zur Erhöhung der Ausgaben des Unternehmers. Es kann festgestellt werden, dass die Verwaltung, oft mit Vorsatz, Entwick- lungsvorgänge allgemein als auch besonders im Baugwerbe hemmt und weiter dazu beiträgt, einen notwendigen Bauprozess um Jahre, in einzelnen Fällen um Jahrzehnte, zu verzögern.. 611 Brief des OB an den PP vom 21. Dezember 1883, Best. s.o. 187 7.6.2 Aschrotts Hausbau Kölnische Straße/ Ecke Victoriastraße Personelle Veränderungen in der politischen Verwaltung scheinen sich auch auf den Umgang mit dem Grundstücksspekulanten Sigmund Aschrott auszuwirken. Dieser beantragt im Juni 1892, einen Neubau Kölnische Str./ Ecke Victoriastr. zu errichten. In einer Kenntnisnahme an die Exekutive, den Königlichen Polizei-Präsidenten, teilt die Bauverwaltung mit, dass es sich bei dem Bauplatz um einen mit „besonderen Verhältnissen“ handelt, bei dem es unbedingt ver- tretbar erscheine, die Bauflucht auf 4.60 m der Straßenflucht612 zu nähern, obwohl die „beste- hende Fluchtlinie eine Vorgartentiefe von 8,60 m“ vorschreibt. Die von Aschrott gewünschte „Ausführung würde der Ecke ein sehr günstiges Aussehen verleihen und die Abweichung von der alten Fluchtlinie wegen der schrägen Lage der Hauptwände wenig sichtbar machen“. Unter diesen Umständen habe der Stadtbaurat eine Veränderung der Bauflucht für dieses Grundstück beschlossen. Einen Widerspruch des Nachbarn613 gibt es nicht, da dieser mit der Planung einverstanden ist. Der Stadtbaurat v. Noel fordert den PP, Graf Königsdorff, auf, seine ortspolizeiliche Zustim- mung für den eingereichten Entwurf zu erteilen, „damit er [gemeint ist Aschrott] das Grund- stück mit einem zur dortigen Umgebung passenden Gebäude bebauen kann“614. Die Behörden haben längst zugestimmt und in den neuen Fluchtlinienplan ist die Veränderung für die Victo- riastr. bereits eingetragen. Das Gebäude wird offensichtlich 1895 fertiggestellt, denn für das nächste Jahr615 wird ein W. Meyer sowie eine Generalagentur als Bewohner des Hauses Kölni- scher Str. 41 angeführt; das gilt ebenso für die Folgezeit. Im Dezember 1903 nimmt der Regierungs-Präsident v. Trott zu Solz zu einem Vorgang Stel- lung616, bei dem es sich ebenfalls um einen Bauantrag durch Aschrott für ein Grundstück Victo- ria- /Ecke Kölnische Str. handelt. Die Akteninterpretation könnte leicht zu falscher Einstufung führen, denn das Aschrottsche Grundstück ist bereits bebaut. Hier wird das Anwesen der 1901 verstorbenen Verwandten des Unternehmers, Pauline Goldschmidt, angesprochen, das auf der anderen Straßenseite liegt. Der Regierungs-Präsident beurteilt den Entwurf des Hauses als „un- schönen Anblick“. Weiter stellt er klar, bei Veränderung der Bauflucht wolle er deshalb direkt mit dem Magistrat in Verbindung treten.617 Unter dem Schreiben ist handschriftlich vermerkt: „Am 12.12.03 Kreisinspection zur Aeußerung.“ Am 15.12.03 trifft die Antwort618 ein, wobei es sich wahrscheinlich um ein Gutachten seitens des Kreises handelt. Darin wird ausgeführt, dass „zur Verunstaltung der Stadt“ „nach § 66 des Allgemeinen Landrechts kein Bau vorgenommen“ werden kann. Weiter wird dargelegt, die Verunstaltung als solche, die hierbei in Frage komme, müsse lt. Gesetz eine „grobe“ und „posi- tiv hässliche“ sein und jeden, der offenen Auges ist, in einen „verletzten Zustand“ versetzen. „Durch die beabsichtigte Einrichtung eines 5-geschossigen Hauses mit 2 kahlen Brandgiebeln würde das Stadtbild geradezu entstellt“.619 Ferner wird unterstrichen, dass die hässliche Anlage wegen ihrer Nähe zum Bahnhof in unangenehmer Weise auffalle und sich im Zusammenhang 612 Für den Straßenraum ging die Hälfte des Grundstücks verloren und weist als Folge einen dreiseitigen Zuschnitt auf, der den Planer vor Entwurfsschwierigkeiten stellt. 613 Obiges Schreiben enthält keine Aussagen des Nachbarn. In anderem Zusammenhang wird seine Zustimmung deutlich. 614 Brief des Stadtbaurats vom 5. Dezember 1892; Best: 175, Nr. 539, F 2048. 615 Engelhardt &Ebeling/ Meyer, W. Generalag. 1/Rocholl, Stockfabrikant 2/ Eubell Ww. 3/ Frey, Canzlist 3 (Kasseler Adressbuch 1897). 616 Brief des Regierungs-Präsidenten vom 9. Dezember 1903, Best. s.o. 617 Handschriftlich ist unter dem Text vermerkt, „Am 12.12.03 Beweis Bauinspektion zur Aeußerung“. Wobei ab Bauinspektion der Vermerk durchgestrichen ist. Es lässt sich vermuten, hier wird auf eine Standortbesichtigung hingewiesen. 618 Schreiben (Best. s.o.) enthält handschriftliche Notiz, die nicht eindeutig lesbar ist, es scheint sich um ein Gutachten zu handeln, dessen Unterzeichner eine p. Trimborn ist. 619 Zitat entstammt aus dem vorigen Schreiben. 188 mit den Villen der dortigen Straßen um so mehr als Verunstaltung erweise. Am Schluss heißt es, die Stadt habe im vorliegenden Fall für Abänderung des Fluchtlinienplans620 Sorge zu tragen. Der Polizei-Präsident Graf von Berg teilt dem Magistrat der Stadt die Vorstellung des Regie- rungs-Präsidenten mit, legt das Gutachten bei und bittet um den Magistratsbeschluss. Er fügt an, dass bei Anwendung des § 25 der Baupolizeiordnung Beanstandungen zu dem geplanten Bau auch bei anderweitig erfolgten Festsetzungen von Fluchtlinien rückwirkend Veränderungen vorzunehmen sind. Zu dem Gutachten vom 15.12.03 bemerkt er, dass der § 66 I 8 A.L.R.621 hier nicht zutreffe, sondern nur für die Gebiete, in denen das A.L.R. gegolten habe. Bedingungen ähnlicher Art, die auf den vorliegenden Antrag zuträfen, seien ihm nicht bekannt. Zusätzlich fügt er als Entscheidungshilfe eine Erklärung des früheren Polizei-Präsidenten Albrecht vom 26. März 1895 zu dem Hunrathschen Nachbargrundstück an, die jedoch heute ohne rechtliche Be- deutung sei. In einem späteren Schreiben622 vom Magistrat der Stadt vom 30. Juli 1904 wird auf die Übermittlung des geänderten Fluchtlinienplans Nr. 538 III an den „Polizei-Director“ hinge- wiesen. Der nebenstehende Kartenausschnitt Victoria- /Ecke Kölnische Str. zeigt einmal das Eckgrund- stück Aschrott sowie das gegenüberliegende der Pauline Goldschmidt, von der im Kap. 9.3.3 die Rede ist. Abb.: 44 Ausschnitt aus dem Fluchtlinienplan623 für die nordwestliche Seite der Victoriastraße Wie ist im vorliegenden Fall die gutachterliche Aussage einzuordnen? Handelt es sich bei dem Entwurf um eine „Verunstaltung der Stadt? 620 In einer Anmerkung heißt es in der Fußnote: Fluchtlinienplan – Abänderung vom 19. August 1903. 621 A.L.R. wird als Abkürzung für Allgemeines Landrecht benutzt. 622 St AM Best. 175, Nr. 539, F 2047. 623 Fluchtlinienplan NR 169_3 Vermessungsamt Kassel –„ Angefertigt: Cassel, den 12. April 1887“ – Auf dem Plan befinden sich folgende Bemerkungen, eingetragen von links nach rechts. „Festgestellt, bezüg- lich der auf der Südseite der Kölnischenstraße eingetragenen Fluchtlinie, in Gemäßheit des § 8 des Ge- setzes vom 2. Juli 1875. Cassel, den 6. Februar 1893 – Der Oberbürgermeister der Residenz – Die Strei- chung des Vorgartens an der Victoriastraße innerhalb des Grundstücks der Reichspostverwaltung ist ge- mäß der §§ 8 und 10 des Gesetzes vom 2. Juli 1875 erfolgt. Cassel, den 19. August 1903 - Zu der Abän- derung der Fluchtlinie des der Reichspostverwaltung gehörenden Grundstücks wird die ortspolizeiliche Zustimmung erteilt. Cassel, den 27. April 1903 – Bezüglich der für die Kölnischestraße neu vorge- tragenen Fluchtlinie wird die ortspolizeiliche Zustimmung hiermit erteilt. Cassel, den 14. März 1885“. 189 Die Brandwände des geplanten fünfgeschossigen Baukörpers wären sowohl aus der Richtung Bahnhof, als auch der Kölnischen Straße stadteinwärts als kahle Wandflächen sichtbar, da das Haus weit vor der bisherigen Bebauungslinie stünde. Das Hunrathsche Gebäude erschiene als Anhängsel an den neuen Baukörper und würde von diesem nahezu erdrückt. Als Lösung scheint die Bauflucht624 wieder zurückgenommen worden zu sein, denn der Aschrottplan wird nicht umgesetzt. Der Polizei-Präsident kann eine derart indifferente Ablehnung durch die Kreisinspektion, der jeglicher sachlicher Hintergrund fehlt, nur verwerfen. Als Lösung verweist er auf fehlende Vergleichsentscheidungen sowie nicht zutreffende Rechtslage. Dieses Beispiel verdeutlicht die Konfrontation zwischen den Interessen des Baukapitals und der auf ihre administrativen Rechte pochenden Bauverwaltung. Die Vorgänge werden im Kap. 8.4 angesprochen. Zur Lebenssituation des Aktors ist anzumerken. 1903 lebt Aschrott schon 17 Jahre in Berlin, ist 77 Jahre alt und nur noch geschäftlich in Kassel anwesend. Eine Bauplatzvisite wird der Unter- nehmer nicht vorgenommen haben. Seine Kasseler Stadterweiterungsgeschäfte bzw. Bautätig- keiten werden von der Aschrottschen Grundstücksverwaltung wahrgenommen. 7.6.3 Bauobjekte: Ein- und Mehrfamilienhaus in geschlossener und offener Be- bauung Nach Anlage der Straßen und Bestimmung der Straßenflucht stellt sich die Frage zur Bauflucht. Soll sie mit der seitlichen Grenze des Trottoirs zusammenfallen oder wird sie weiterzurückge- nommen, dass der Straßenraum sich durch halböffentliche Vorgärten erweitert und somit den Wohncharakter der Straße erhöht? Der Planer kann die Bauflucht jedoch nicht isoliert in Bezug zur Straße sehen, sondern er muss versuchen, sie unter Erzeugung einer Baublockbildung in seine Planungen miteinzubeziehen, um eine möglichst dichte Bebauung zu erzielen. Ein orthogonales Erschließungssystem für Straßenanlagen bietet optimale Möglichkeiten zur Bildung von Baublöcken bei einem Quartierkonstrukt. Das bezieht sich sowohl auf Gestaltung von Parzellen als auch auf Verdichtung des Bebauens sowie ihre ökonomische Ausnutzung. Die Baublockgestaltung in Quadratform scheint unter wirtschaftlichen Überlegungen am vorteil- haftesten, da für den Block bei geringstem Umfang eine maximale Fläche erzielt wird. Für Stra- ßen erreicht man kürzeste Länge und damit geringste Kosten. Hat dagegen die zu bebauende Fläche die Größe eines Rechtecks, weist dieses einen größeren Umfang auf. 624 Später wird an der Stelle eine Villa gebaut (Info: Ch. Presche). 190 Abb.: 45 Links Baublock in unterschiedliche Parzellen unterteilt, Ecken werden betont. Abb.: 46 Rechts Hufebebauung als ländliche Siedlungsform Aus: Harenburg; in: Volz, 1999, S. 39 Abb.: 47 Hufe entlang einer Straße mit kleinen Flurstücken in Gemengelage. Aus Buck, 1974, S.49 Die Grundstücksformen des Hohenzollernviertels, vom Ständeplatz bis zur Querallee, weisen weder Quadrat- noch reine Rechtecksraster auf. Nach unternehmerischen Gesichtspunkten kann man nur schwerlich die Kostenminimierungen umsetzen. Die Stadtbaugestalt der Erweiterung mit Einzelgebäuden und Gebäudegruppen lässt sich in Einfamilienhaus als Villa, Doppelhaus, Hausgruppen (meistens 3 Häuser) in offener Bebauung oder als Reihenhaus625 in offener und geschlossener Bauweise unterteilen. Mietshäuser findet man freistehend, als Doppelhäuser, Hausgruppen, Reihenhäuser oder kurze Häuserzeilen in offener Bebauung. Dagegen bilden in geschlossener Bauweise Mietshäuser die Blockrandbebauung. Das Geschosshaus als Haustyp ermöglicht mehrfache Verwendung. Darunter sollen Typen als Einspänner, d.h. eine Wohnung pro Etage, im gründerzeitlichen, parzellierten Blockrand ver- standen werden. Sein Einsatz zeigt sich als Singulärbauwerk oder in aufwendiger Architektur als Villengebäude und kann zusätzlich im Verband als Blockrandgebäude auftreten. Unter diese Gebäude können auch im gründerzeitlich parzellierten Blockrand Gebäude als Zwei- und Drei- spänner, mit zwei oder drei Wohnungen pro Etage, fallen (Volz, 1999, S. 8). Bei offener Be- bauung gilt es, in festgelegten oder Mindestabständen innerhalb der Zeile einen Bauwich626 zu Nachbargrundstücken einzuhalten, dabei liegen Hauseingang und Treppenhaus häufig an der Seite. Die Hausbreite der dreigeschossigen Gebäude, mit einer Wohnung pro Etage, beläuft sich um 10 m, dabei ist die bauliche Ausnutzung des Grundstücks gering.627 In anderem Organisationsverband setzt man das Geschosshaus als Reihenhaus ein, meist mit zwei Vollgeschossen und Dachgeschoss (Volz, 1996, S. 15). Hier liegen die Treppenhäuser innen. Der Garten ist nur aus dem Erdgeschoss oder Souterrain zu erreichen. Die Hausbreite bewegt sich zwischen 8 und 9 m, da aber die Hausgrundfläche, um die Bebauung des Grund- stücks zu verdichten, zwischen 140 und 170 m² festgelegt wird, liegt eine große Haustiefe von 625 Beispiele: z. B. Ulmen-, Nahl- und Sophienstraße. 626 Vorgeschriebener Abstand zum Nachbargebäude. 627 Der Ausnutzungsgrad der Parzelle wird mit der Grundflächenzahl (GRZ) beschrieben, sie bildet den Quotienten von Gebäudegrundfläche und Grundstücksgröße. (Volz, 1996, S. 14) Er nimmt Zahlenwerte größer null und kleiner 1 an. Formel: GRZ = Gebäudegrundfläche : Grundstücksgröße. Beispiel: GRZ = 0,5 bedeutet, 50% der Fläche sind bebaut. 191 15 – 19 m vor. Die Reihenhäuser werden in der Mitte von Hausgruppen eines Baublocks er- richtet. Hier ergeben sich bei der Aufteilung in Parzellen besonders tiefe Grundstücke, die durch die größeren Haustiefen besser ausgenutzt werden. Eckhäuser auf asymmetrischen Grundstücken, als Folge des Diagonalstraßensystems, treten meist mit repräsentativem Charakter, durch Balkone, Ecktürmchen oder Erker unterstrichen, hervor. Als Dachform bietet sich das Mansarddach, auch in dem Quartier häufig verwendet, an, das einen gut begehbaren Dachboden aufweist und einen späteren Ausbau ermöglicht (Wiegand, 2005, S. 90). Abb.: 48 Geschossreihenhaus in der Eulen- burgstraße 28 in der Mitte einer Hausgruppe innerhalb eines Baublocks mit offener Be- bauung. Aus: Volz, 1999, S. 15 Abb.: 49 Baublock in geschlossener Bebauung. Aus: Volz, 1999, S. 17 192 Abb.: 50 Geschosshaus in offener Bauweise mit Bauwich, Haus- eingang und Treppenhaus seitlich im Baublock – Germaniastraße 1a Aus: Volz, 1999, Anhang Das Gebäude war ursprünglich als Doppelhaus gebaut. Größtes Bauvolumen wird mit Blockrandgebäuden im Verband erzielt, dabei ist der Übergang in eine Zeile möglich. Jedoch kommt das Mietshaus auch in offener Bauweise628 vor. Das hier als Blockrandgebäude bezeichnete Haus ist ähnlich einem Geschosshaus gegliedert und existiert nur in geschlossener Bauweise. Die Breite dieser Gebäude bewegt sich zwischen 15 – 22 m, also um die doppelte Breite des Geschosshauses, und sie überdecken 180 – 500 m Grundfläche. Die Eingänge sowie Treppenhäuser sind häufig mittig angeordnet und erlauben den Durchgang oder die Durchfahrt zum Hof oder eventuellen Hintergebäuden. Die Geschossanzahl629 beträgt vier oder fünf. (Volz, 1996, S. 17.) In einem Stockwerk befinden sich meist 2 Wohnungen, aber es können auch drei auftreten. Insgesamt sind 8 – 15 Wohnungen möglich. Bei diesem Bautyp bietet sich bei entsprechend tiefem Grundstück von mehr als 40 m eine Hof- bebauung an, die einmal parallel zu den Vordergebäuden angelegt oder als ein- oder beidseitiger Seitenflügel gestaltet wird. Gleichzeitig ist das Geschosshaus als Blockrandgebäude in geschlossener Bebauung anzuwen- den, d.h. es steht im Verband mit anderen Geschosshäusern. In dieser Anordnung befindet sich der Eingang seitlich an der Front, das Treppenhaus hinten, eine ebenerdige Verbindung zu Hof und Garten ist gewährleistet. Seine Breite entspricht der offener Bebauung um 10 m. Im Ver- band erfolgt meist ein viergeschossiger Ausbau. Grundrisse der bürgerlichen Mietshäuser in der Zeit 1890/1900 ähneln sich weitgehend, lediglich mit Fassadendekor versucht man sich vom Nachbarn abzuheben (Wiegand, 2005, S. 90). 628 Beispiele befinden sich in Park-, Kölnischer Str. und Querallee. 629 Die Häufung von Geschossen bedingt die Geschossflächenzahl (GFZ). Hier wird ein Zusammenhang zwischen der erzielten Wohnfläche bezogen auf die Parzellengröße hergestellt. Die Geschossflächenzahl gibt Auskunft über die Dichte des Wohnens. GFZ = Summe der Geschossflächen : Grundstücksgröße. Der Wert pendelt zwischen 1,7 und 3,3 (Volz, 1996, S. 17) 193 Abb.: 51 Blockrandbebauung mit unterschiedlichen Grundrissen für Geschosshäuser (Volz, 1996, S. 13) Abb.: 52 Blockrandgebäude in der Kaiserstraße Nr. 74 und Grundrissskizze mit überbauter Fläche Aus: Volz, 1999, S. 17 194 Abb.: 53 Neumannplan 1878: Ausschnitt An zwei Stadtplänen sollen Aussagen zur Veränderung von Baudichte, beginnend am Bahn- hofsvorplatz nach Westen, verdeutlicht werden. Auf dem Plan der Stadt Cassel von 1878, dem Neumannplan, ist eine geschlossene Blockrand- bebauung lediglich in der Museums Str. zwischen Bahnhofsplatz und Friedrich-Wilhelms-Platz, der Südostseite des Ständeplatzes sowie Jordanstr. und unterer Weissenburg Str. zu erkennen. Die andere Bebauung kann als lückenhaft beschrieben werden, offene Bauweise trifft auf die urbane Entwicklung nicht zu. Eine geschlossene Randbebauung, die in ihrer Länge einer Zeile gleicht, erfolgt erst in späteren Jahrzehnten. Der Stadtplan630 von 1891 – 96 weist für die Hohenzollernstr. vom Ständeplatz bis zum Hohen- zollernplatz mit wenigen Ausnahmen eine geschlossene Bebauung auf. Eine Ausnahme bildet die südliche Seite der Hohenzollernstr. im Abschnitt zwischen Kaiser- bis Murhardstr. Bei ge- schlossener vier- oder fünfgeschossiger Blockrandbebauung gliedern lediglich die verschiede- nen Fassadenstrukturen diese massigen Blöcke. Die Reihung lässt sich von ihrer Größe mit der „Frankfurter Zeile“631 vergleichen und ist mit ihrer geschlossenen Blockrandbebauung632 eine „am stärksten annähernde Variante der Mietskasernenproduktion.“ (Weiland, 1985, S. 363). 630 Plan der Residenzstadt Cassel und des Dorfes Wehlheiden. Angefertigt im Stadtbauamte der Residenz in den Jahren 1891 bis 96 durch Blumenauer. Stadtvermessungsinspector. (Vermessungsamt Kassel) 631 Als „Frankfurter Zeilen“ werden Baublöcke bezeichnet, die denen in der Bornheimer Landstr. entsprechen und geschlossene Blockrandbebauung aufweisen. Sie sind „zeilenartig“ angelegt und nur selten mit einem Bauwich versehen. In obigem Straßenbereich besteht 1890 eine Wohndichte von 2,60 m² Hausfläche pro Bewohner (Weiland, 1985, S. 347). 632 Blockrandbebauung weist Ähnlichkeiten der Hufenbebauung auf. Planmäßige Siedlungsgründungen werden nach dem Maß der „Hufe“, einer streifenförmigen Fläche, unterteilt. Die Häuser stehen eng nebeneinander an einer Straße, dahinter befinden sich die zu bewirtschaftenden Ackerflächen. Die bei 6- 30 m breite Schmalstreifenflur ohne Gemengelage findet in „kolonialen“ Flurformen bei der deutschen Ostkolonisation Anwendung (Niemeier, 1967, S. 45). Beispiele sind Waldhufen-, Moorhufendörfer. Bei 195 Abb.: 54 Ausschnitt des Stadtplans von Blumenauer 1891 – 97 zeigt den Stand der Bebauung in der Hohenzollernstraße. Vor der Jahrhundertwende baut man die Blöcke zwischen Park- und Hohenzollernstr. von Bis- marckstr. bis zur Infanterie-Kaserne fast vollständig aus, an der Hohenzollernstr. mit Hinterhäu- sern versehen, die nur über einen Hofraum zu erreichen sind. Die hier beschriebene abgeschlos- sene Bautätigkeit, mit unterschiedlichen Fassaden gestaltet, gibt dem Viertel durch die vielfach eingesetzten vier- oder fünfgeschossigen Gebäude ein großstädtisches Gepräge. Abb.: 55 Hohenzollenstr. mit Postamt633 7.7 Wechselseitige Einflussnahme auf den Bauprozess: Privates Kapital gegen öffentliche Verwaltung Der Stadterweiterungsprozess lässt sich letztendlich auf Initiativen des Kapitals zurückführen. Unternehmerische Aktivitäten stoßen auf gesetzliche Regeln, die für einen solchen Vorgang nicht konzipiert wurden. Mit ihnen könnte die Behörde den Fortgang weder steuern noch beein- flussen. Mit Verträgen zwischen städtischer Verwaltung und privatem Unternehmertum gelingt es der Behörde, die Steuerung des Wachstums mitzugestalten. Dabei bezieht sich das kom- der Haushufenbebauung sind Anfang und Ende nicht hervorgehoben. Bei einem Baublock wird von einer zu unterteilenden Fläche ausgegangen, das führt zu unterschiedlich großen Parzellen. Die Ecken eines Blocks sind besonders akzentuiert. Der Block als eigenständige zusammenhängende Bauform fällt bei der Reihung von Häusern heraus. Die einzelnen Gebäude treten dabei in den Hintergrund. 633 Stadtmuseum: Postkarte, Sig. Po 4.41. 196 munale Gewicht lediglich auf die Anlage neuer Straßen. Die für den Hochbau vorliegende Bau- ordnung634 aus dem 18. Jahrhundert sagt wenig zu Bauausführung oder vorgeschriebener Bau- flucht aus. Vorliegende Anordnungen635 orientieren sich in erster Linie an Feuersicherheit, Minderung von Nachbarschaftsstreit und äußerer Gestaltung von Gebäuden. Ferner bestimmt in der letzten Phase des Kurstaates die Haltung des Kurprinzen und Mitregenten636 die Bauausfüh- rung mit; über Bauanträge will dieser selbst entscheiden. So ordnet Friedrich Wilhelm 1839 an, die Genehmigung von Privatbauten, gleich ob Neu- oder Umbau, kann „nur von Uns“ und nicht von ministerieller Seite ausgesprochen werden (Wiegand, 2005, S. 31). Das führt zu jahrelangen Verzögerungen von Entscheidungen und teilweise zu Wildwuchs von Bauten durch Bauherren, die den Aufschub nicht hinnehmen wollen. Dem starken Ansteigen637 der Bautätigkeit, das gilt für die Residenzstadt Kassel gleichermaßen wie für die Gemeinde Wehlheiden, steht die örtliche Verwaltung untätig gegenüber. Sie verfügt weder über das Know-how für die Steuerung der Entwicklung noch über einen Beamtenapparat, der sich der Sache annehmen könnte. Erst mit dem preußischen Fluchtliniengesetz 1875 schafft der Gesetzgeber eine einheitliche Grundlage, an der sich Ortsstatuten ausrichten können. Mit der Abfassung von Ortsstatuten und Bauordnungen versuchen die Kommune und die Provinzre- gierung den Bauprozess zu beeinflussen und mitzugestalten. Dabei sollen einschränkende Be- dingungen den Vorgang lenken und Kontrolle ausüben, um eine scheinbar verlorene Unabhän- gigkeit gegenüber dem Kapital wieder herzustellen. Der Verlauf mündet in einer Konfrontation zwischen privatem Unternehmer und öffentlicher Verwaltung bei der anfangs die Kommune versucht, die Baurendite des Bauherrn zu beschnei- den. Da die Baukonjunktur auch allgemein wirtschaftlichen Schwankungen unterworfen ist, kann das Vorgehen nur zur zwangsläufigen Abnahme der Bauentwicklung führen. Zusätzliche Fehlkalkulationen der Bauherren durch überzogene Geldaufnahmen enden mit unfertigen Ge- bäuden oder leerstehenden Wohnungen. Einschränkungen der Bauvorschriften von öffentlicher Seite resultieren meist aus Initiativen einzelner Verwaltungsbeamten, die mit ihrer gesellschaftspolitischen Vorstellung versuchen, der urbanen Entwicklung eine andere Akzentuierung zu geben. Im Folgenden soll die Entwicklung an konkreten Vorgängen sowie erlassenen Statuten punktu- ell beleuchtet werden. 7.7.1 Bauordnung in der letzten Phase des Kurstaates In Kurhessen werden Anträge für Neubauvorhaben oder Fassadenänderungen eingereicht und damit wird um eine Baugenehmigung nachgesucht. Die geltenden Vorschriften für private Be- scheide sind recht weit gefasst und fungieren im Sinne des Nachbarschaftsrechts und als Siche- rung des Eigentums. Die örtliche Polizeibehörde, Vorläufer des Bauamts, kann mit genauer gefassten Bestimmungen die Bauausführung bemängeln, soweit durch diese der Straßenraum eingeschränkt wird oder beispielsweise bei Vorbauten oder Anbauten der Schatten den Nach- barn beeinträchtigt. Bauen nach städtebaulichen Gesichtspunkten fehlt in dieser Periode fast ganz (Buff, 1971, S. 42-45). Jedoch bleibt anzumerken, dass bei der meist üblichen Blockrand- 634 Für Gebäude liegt über die kurhessische Zeit hinaus eine unscharfe Bauordnung vor, die es den Fürsten gestattet, Veränderungen zu veranlassen (Wiegand, 2005, S. 31). 635 Die Bauordnung sichert Nachbarschaftsrechte und Vorkehrungen zu Brandschutz. Für die Stadt- planung ist der §2 von Bedeutung, da neue Vorschriften für die von der Hauptstraße einsehbaren Neu- und Umbauten erlassen werden. Dieser Paragraf wird 1872 um die Zulässigkeit von Fachwerkbauten erweitert (Wiegand, 2005, S. 36/37). 636 Der anfänglich als Kurprinz und Mitregent agierende Friedrich Wilhelm wird 1847 zum Kurfürsten ernannt. 637 Heidelbach führt für die Zeit 1858–66 jeweils 467 Wohnhäuser einschließlich Wirtschaftsgebäuden an, dagegen entstehen unter preußischer Verwaltung 1867-73 jeweils 1032 neue Häuser (Heidelbach, in: Wiegand, 20005, S. 34). 197 bebauung innerhalb der Stadt zu jener Zeit es selbstverständlich erscheint, die Grundstücks- grenze zugleich als Baulinie einzuhalten. Die Traufhöhe in den neuen Vierteln ist in den 1830er Jahren bei den meisten Häusern auffallend gleich (vgl. Ostseite des Ständeplatzes). Dies liegt zum einen daran, dass die Architekten und Baumeister noch in Ensembles denken, mag zum anderen aber auch an der Kontrollinstanz der Baubehörde (Oberbaudirektion) liegen, die eben- falls nach ästhetischen Gründen prüft.638 Das Gemeinwesen soll im Zusammenhang mit Bauvorhaben oder Veränderungen gestärkt werden und nicht Schaden erleiden. Jedoch kann davon abgelöst der Eigentümer von Grund und Boden diesen bebauen und Veränderungen vor- nehmen. Landesverwaltungen, Kreise oder Städte versuchen mit Vorschriften, sogenannten Bauordnungen,639 Veränderungen oder Neuanlagen von Bauten zu regulieren. Die Ober-Bau-Kommission, Abteilung für Verschönerung der Residenzstadt, reicht die „Gesu- che um Gestattung eines Wohnhauses“ an das kurfürstliche Ministerium des Inneren weiter. Im Schreiben sind Namen, Beruf und Grundstück des Antragstellers enthalten. Weiter sind Grund- und Aufriss sowie ein Standortplan (Situationsplan) beizufügen. Die behördliche Stellungnahme an die Ober-Bau-Kommission lautet, dass keine Beanstandung in baupolizeilicher Hinsicht und unter ästhetischem Aspekt vorliegen darf. Das Gesamt-Staats-Ministerium640 kann den Antrag annehmen oder ablehnen oder auch einen neuen Antrag verlangen. Die im Folgenden untersuchten Fallbeispiele in der letzten Periode Kurhessischer Bauge- schichte beziehen sich ausschließlich auf das Jahr 1862. Die Bauunterlagen befassen sich mit Baugenehmigungen von Privatleuten.641 Beim Kurhessischen Ministerium des Inneren werden neben der Errichtung von Wohnhäusern und Fabriken auch Fassadenveränderungen, Fenstervergrößerungen, Anlagen von Kellertreppen eingereicht und um Genehmigung nachgesucht. Meist handelt es bei den hier untersuchten Bei- spielen um Anträge des Bauherren selbst. Freiherr Waitz v. Eschen642 dagegen lässt sein Gesuch durch einen Maurermeister stellen. „Der Lederhändler Joost hierselbst beabsichtigt an seinem unter Nr. 788 Dionisienstr. gelegenen Wohnhause eine Fassadenveränderung vornehmen zu lassen und hat unter Vorlage des anlegen- den Risses um Erweiterung der hierzu erforderlichen Genehmigung gebeten. Zu ästhetischer Hinsicht finden wir gegen diese Veränderung nichts zu erinnern und tragen da- her auf Genehmigung dieses Risses gehorsamst an. Cassel, am 31ten Juli 1862“ gez. Unter- schriften. Der Metzgermeister Hartung beabsichtigt in seinem Laden in der Schloß- und Hohenthorstr. ein Fenster in eine Ladentür und zwei kleine Fenster zu einem großen Schaufenster zu ändern. Der Kaufmann Carl Scholl möchte auf seinem Grundstück in der Bahnhofsstraße ein Wohnhaus von 90 Fuß Länge errichten. Die Ausführungen der Anträge beziehen sich nur auf die Größe des Bauvorhabens, den Grund- riss und die Außenansicht nebst dem Aufriss. Erläuterungen zu möglichen statischen Fragen scheinen nicht im Allgemeininteresse zu liegen, sondern fallen in die Zuständigkeit des Bauher- ren. Im letztgenannten Antrag wird auch ein statisches Problem angesprochen, obwohl - und das wird extra betont - es nicht zum „Geschäftskreis“ (Aufgabenfeld) der Behörde gehört. Bei dem 638 Info.: Ch. Presche (mündlich). 639 Die für Kassel gültige Bauordnung stammt aus dem Jahr 1784. Inhaltlich werden Fragen zur Feuersicherheit und Eigentumsrechte geregelt. Vorschriften zur Bauflucht gab es nicht. Das wird an Neubauten in der Wilhelmshöher Allee deutlich (Berensmeyer, 1979, S. 131). 640 St AM Best. 16, Nr. 10960. 641 St AM Best. 16, Nr. 10960. 642 Bei dem Gebäude handelt es sich um die Garde du Corps Str. Nr. 242 –Antragsgrund ist eine Fassadenveränderung. 198 Objekt werden nach dem vorliegenden Risse zwei Keller übereinander auszuführen beabsich- tigt, und die im unteren Keller auf gekugelten eisernen Säulen oder steinernen Pfeilern angege- benen ruhenden Gurtbögen sollen das gesamte Mauerwerk des oberen Kellerraumes und die 4 Stockwerke des Gebäudes tragen. Da derartige Konstruktionen bei ihrer Ausführung besonderer Vorsicht bedürfen, wird der Regierung bei der Erteilung der Genehmigung empfohlen, die Kon- struktion besonders zu prüfen. In diesem Fall wird seitens der örtlichen Behörde643 auf die stati- schen Probleme hingewiesen und darum gebeten, das Bauvorhaben intensiv zu kontrollieren. Dagegen wird dem Bauantrag der Ehegattin des „Obergerichtsraths“ Bähr, Sophie, geb. Pfeiffer, auf das Gartenhaus Wilhelmshöher Allee 23 ein Stockwerk aufzusetzen, aus baupolizeilicher und ästhetischer Sicht bedenkenlos zugestimmt. Weiter reicht der Kaufmann Ruch ein, sein unansehnliches Haus in der Klosterstraße Nr. 591 abzubrechen und an der Stelle ein Wohnhaus zu errichten. Bei den eingereichten Vorhaben wird die Absicht der Bauherren, dass der Bauplan von der Po- lizeibehörde positiv bewertet und an das Ministerium des Inneren zur Genehmigung weiterge- leitet wird, deutlich. Es handelt sich um Neubauten, Anbauten, Tür- und Fensterumbauten im Außenbereich, Fassadenveränderungen oder die Anlage von Kellertreppen. Die Objekte befin- den sich in dem im Aufbau begriffenen Bahnhofsviertel (Bahnhofs- und Museumsstraße), der Altstadt und im Bereich der Oberneustadt, wie Königsstr., Wilhelmstr., Garde du Corps Str., Alte Wilhelmshöher Str. sowie der Wilhelmshöher Allee. In der deutschen Rechtsauffassung in Bezug auf Baurecht ist es stets Usus, dass für jedes Bau- vorhaben eine Erlaubnis seitens der Obrigkeit644 notwendig ist. Nur durch die Erlaubnis seitens der Obrigkeit wird die Errichtung und Veränderungen von Bauten möglich. Das Recht auf pri- vates Eigentum beinhaltet nicht das Recht, eigenmächtig Bauvorhaben umzusetzen. (Schulz- Kleeßen, 1985, S. 319.) Welche Denkansätze verdeutlicht diese Raumordnung? Es sind im Wesentlichen pragmatische Ziele, die verfolgt werden, d.h. es muss die Größe des Bauwerks den herkömmlichen Baukörper entsprechen, gleiches trifft auf die Fassade zu. Ein orientierender Ansatz führt das Pragmatische über in einen Gesamtzusammenhang. Unter bestimmter Zielsetzung wird das zu errichtende Bauwerk zu den Gebäuden der Umgebung in Beziehung gesetzt und so kann man auch den Aufriss in ein Gesamtbild der Stadt einordnen. In dieser Stadtbauphase lassen sich Bauanträge leicht beurteilen und lenken, denn es werden wenige private Wohnhäuser errichtet. Eine Reform der Bauordnung, gemessen an dem Bauaufkommen, scheint in dieser Stadtbauphase als nicht zwingend. 7.7.2 Preußisches Bau- und Fluchtliniengesetz von 1875 für Städte In Preußen ist es möglich Baupläne zu erstellen, um sie von der Regierung, das bedeutet in die- sem Fall von der Landespolizeibehörde, genehmigen zu lassen oder gleich bei dieser die Erar- beitung eines Planes zu erbitten. Dabei ist es möglich, die Vorstellungen des Bauherren zu be- 643 In dem untersuchten Bestand tritt ein Antrag eines Architekten Philipp Becker auf, der am 21. Jan. 1863 auf seinem Grundstück Bahnhofstr. 138 sechs Wohnhäuser beantragt, ein Antrag, der in seinem Umfang alle weit übersteigt. Am 11. März 1863, also nur 8 Wochen später, wird für das gleiche Grundstück ein neuer Antrag gestellt, hier ist nur noch von drei Wohnhäusern die Rede. Dieser Antrag wird bereits am 16.3.1863 genehmigt. Aus welchem Grund der Bau von sechs Wohnhäusern nicht weiterverfolgt wird, ist nicht ersichtlich. Vielleicht wird das Projekt auch aus finanziellen Gründen nicht zu realisieren sein. 644 In Rechts- und Baurechtsfragen in Preußen und in anderen Ländern gilt der Grundsatz „in dubio pro fisco“; auch das Beamtentum besitzt keine wissenschaftliche Vorbildung. Im Beamtenapparat werden leitende Stellen mit Offizieren besetzt. Ehemalige Unteroffiziere treten in untergeordnete Stellen ein, das bringt nicht nur einen militärischen Ton in die Verwaltung, sondern unterscheidet diese von allgemeinen wirtschaftlichen Abläufen. Ein Beamtentum unter dieser Zusammensetzung verfolgt die Pflichterfüllung seitens seines Landesherren bei nur geringer Bezahlung. Gleichzeitig erleichtert eine solche Verwaltung dem Fürsten das Regieren (Buff, 1971, S. 36/37.) 199 rücksichtigen, jedoch stellen diese keine Notwendigkeit zur Planerstellung seitens der Behörde dar. Die Anordnungen, die die Provinzregierung in Gang setzt, können in der gleichen Provinz bei gleicher Problemlage unterschiedlich ausfallen und auch bei von den Städten angestrengten Gerichtsverfahren zu unterschiedlichen Urteilen führen. Bei diesem Verfahren entsteht auch nach Meinung der preußischen Beamten eine „Verwaltungswillkür“. So wird bereits in den 60er Jahren an einem Entwurf zur Wegeordnung gearbeitet, in der auch die Aufstellung von Bebauungsplänen und die Regelung von Ersatzansprüchen bei Enteignung festgelegt werden. Das gesetzliche Vorhaben passiert jedoch nicht das Abgeordnetenhaus. Nach 10 Jahren Verhandlungen, bei denen es im wesentlichen um die Enteignung von Grundeigentum geht, wird 1875 im Landtag erneut von der Staatsregierung ein Entwurf vorgelegt, der von Wil- helm I. am 2. Juli 1875 unterschrieben wird. In dem Gesetzestext wird klargelegt, wie sich die behördliche Zuständigkeit bei der Anlage und Veränderung von Straßen verhält und wie die Grundeigentümer bei Enteignung zu entschädigen sind. Die Gemeinden selbst erhalten das Recht, Straßenbauunternehmen und Anlieger an Stra- ßenbau- und Erschließungskosten zu beteiligen. Dieses Gesetz soll sowohl in Städten als auch in kleinen Gemeinden gelten. Eine Abwandlung erfährt es im Kommissionsausschuss, in dem man die Zuständigkeit der Behörden verändert. Die Gewichtung der Verwaltungsbehörde wird durch das Gesetz bei Streitigkeiten geschwächt, denn ab jetzt sind unterschiedliche Planungs- vorstellungen zwischen Bauherren und Bauverwaltung von den Provinzial- und Bezirksräten oder den Kreisausschüssen, die in der Mehrheit von ehrenamtlichen Mitgliedern gebildet wer- den, zu schlichten. Im Weiteren ist die Landespolizeibehörde nur für Berlin, Potsdam und Charlottenburg zustän- dig. Durch das Gesetz erhalten in den übrigen Städten und Gemeinden der Gemeindevorstand, die Gemeindevertretung und die Ortspolizei die Befugnis, die Straßen- und Baufluchtlinien festzustellen (Croon, 1983, S. 72-74). Gibt es keine Einigung bei der Planfestsetzung, so ent- scheidet der Kreisausschuss bei den Gemeinden und Städten unter 10000 Einwohnern und dann der Bezirksrat in erster und zweiter Instanz. Bei Städten, größer als die angegebene Einwohner- zahl eines Kreises, sind Bezirksrat und Provinzialrat zuständig. In Stadtkreisen verfügen Pro- vinzialrat und der Minister für Handel und Gewerbe. Einige Regierungen plädieren dafür, Baupläne nicht offen zu legen, damit Spekulationen ver- ringert würden. Das findet keine Zustimmung im Ministerium, denn Eigenverantwortung ge- genüber Eigentum erfordert, Einwendungen auszusprechen, um eine Auseinandersetzung in den öffentlichen Gremien wie städtischer Baukommission, Gemeindevertretung und Polizeiverwal- tung anzustoßen (Croon, 1983, S. 62). Im Abgeordnetenhaus strengen die Liberalen eine Eingrenzung bei der Umsetzung durch die Ortspolizeibehörde an, da es staatliche Polizeibehörden nur vereinzelt in Städten gibt. Dies führt dazu, dass nur in den östlichen Provinzen Preußens obige Entscheidungsbefugnisse gelten, in den westlichen und neuen Provinzen, auch in Hessen-Nassau, werden die Aufgaben von den Regierungen und Oberpräsidenten wahrgenommen. Ab 1885-1888 wird das Bau- und Fluchtli- niengesetz in ganz Preußen eingeführt. In der Gestaltung der Bebauungspläne haben nun Städte und Gemeinden645 freie Hand. Initiativen für überörtliche Planung und Gestaltung liegen sowohl bei einer fachpolitisch enga- gierten kommunalen Verwaltung als auch bei der regionalen Staatsbürokratie. Auf der von den politischen Auseinandersetzungen der Parteien und Stadtverordneten abgehobenen Ebene betä- 645 Mit dem bisherigen Vorgehen bei Stadterweiterungen wird 1875 dahingehend gebrochen, dass „durch das Fluchtliniengesetz vom 2. Juli 1875 erst der städtischen Verwaltung das Recht auf Fluchtlinien- festsetzung, der Enteignung des Straßenlandes, der Einziehung der Straßenbaukosten und damit ein maßgebender Einfluss auf die Gestaltung des städtischen Bauplanes gegeben wurde“ (Montigny, in: Ruhnau, 1983, s. 238). 200 tigt sich ein reformerisches Beamtentum, das die bestehende Gesellschaftsordnung durch Repa- ratur der Schäden, die wirtschaftlich und sozialpolitisch abträglich sind, erhalten will. Gegenüber dieser Inangriffnahme regionaler Schwerpunkte tritt die landesweite Lösung der mit Urbanisation verbundenen Planungsfragen durch den Gesetzgeber deutlich zurück. Zwischen dem Fluchtliniengesetz von 1875 und dem preußischen Wohnungsbaugesetz von 1918 wird zumindest in Preußen keine allgemeine städtische Gesetzgebung wirksam. Die Durchsetzung einer gewissen Einheitlichkeit in der städtischen Planungspraxis erfolgt mehr durch die fachliche Diskussion und die individuelle Übernahme der sich dabei herausbildenden städtebaulichen Standards in den einzelnen Städten als durch allgemein verbindliche Vorschriften. Bestes Beispiel dafür sind die Frankfurter Staffelbauordnung von 1892 und das Lex Adickes von 1902, die nur als Ortsstatuten in den Städten Eingang finden (Homann, 1980, S. 230). 7.7.3 Kompetenzdifferenzen: Stadtverwaltung – Polizeidirektion Im Januar 1870 kommt es zu Äußerungen, die den Konflikt der Verwaltungen anschaulich schildern. Im Zusammenhang einer Verbindungsstraße zwischen Bahnhofsstraße und Grüner Weg schildert der Oberbürgermeister Nebelthau Äußerungen des Polizeidirektors. Diesbezüg- lich sagt er: „Der darin angeschlagene Ton der einen Behörde gegen die andere muss mich vielmehr davon abhalten; der im Schlusse vorkommende persönliche Ausfall legt mir, um nicht zu sehr naheliegender Retorsion646 zu schreiten, vollständiges Stillschweigen auf. Ich habe mich hierzu nach reiflicher Überlegung entschlossen, da ich zu der Überzeugung gelangte, daß das ganze animirte Plaidoyer gar nicht für die Entscheidung in sich schließt.“647 Friedrich Ne- belthau648 ist zu diesem Zeitpunkt 64 Jahre alt und noch 5 Jahre an der Spitze der Stadtverwal- tung. In der Provinzhauptstadt Kassel kommt es ab 1877 zu Stellungnahmen zwischen den Verwal- tungen649 bezüglich der Rechtsverhältnisse der bestehenden Bauordnung650 und mündet in einen Kampf um eine Vormachtstellung zwischen dem Oberbürgermeister (OB) der Residenz Weise651 und dem Polizei-Direktor (PD) Albrecht. Die Stadtverwaltung veröffentlicht schließ- lich eine Neufassung, die zur Auslage gelangt. Darauf folgen Reaktionen der betroffenen Bürger und vor allem Sigmund Aschrotts. Die Stadtverwaltung geht auf die Einwendungen ein und versucht diese durch Interpretation zu entschärfen. Schließlich liegt 1884 ein gedrucktes Ortsstatut vor652. Rodriguez-Lores beschreibt diesen Vorgang allgemein als Prozess zur Entstehung des „moder- nen Städtebaues“ mit dem Ziel, das sich entwickelnde städtische System zu rationalisieren. Die Stadt reagiert auf die „neuen Gesetzmäßigkeiten des Bodenmarktes“ und versucht mit Verord- nungen, sich auf die ausweitende Industrialisierung und die sich einstellenden Klassenverhält- nisse einzustellen und mitzugestalten. Nach seiner Meinung sei die „Stadtbaudisziplin“ zwi- 646 Retorsion bedeutet Erwiderung einer Beleidigung. 647St AM Best. 165, Nr. 1452, Bd. 2, F 11771. 648 Friedrich Nebelthau, geb. 22.01.1806, gest. 1.03.1875, OB von 1863 – 75 (Stadta KS). 649 St AM Best. 165, Nr. 1457, Bl. 1-84. 650 Am 10.1.1874 wird für Kassel und Teile von Wehlheiden, Wahlershausen und Kirchditmold eine neue Bauordnung erlassen, die als Vorbild das Preußische Fluchtliniengesetz vom 12.5.1855 hat. In § 1. Abs. 3 wird Straßenflucht gleich Bauflucht festgelegt. Einzelne Bauherren können auch hinter der Linie bauen. Dadurch wird der Straßenraum vor Überbauen gesichert. In Kassel wird dieses Zurückgehen beschränkt. Mit der Ordnung sind nun einheitliche Straßenzüge möglich. Für Gebäude gelten Vorschriften zu Höhe, Wohnraumhöhe, Dachgeschosswohnungen und Zulassung von Wohnungen in Fachwerkbauten (Berensmeyer, 1979, S. 132/133). 651 Weise, Emil, Dr., geb. 13.3.1832 Lauban (Schlesien) gest. 13.4.1899 Dresden-Neustadt, vom 6.11.1873 – 4.12.1875 Bürgermeister in Kassel, von 1875 – 1892 Oberbürgermeister in Kassel (Stadta KS, EMK). 652 St AM Best. 165, Nr. 1457, Bl. 165-172. 201 schen 1870 und 1914 in konzeptioneller Vorstellung schlüssig und ausgereift, jedoch erfordern die Stadterweiterungen und Großstadtbildungen Erneuerungen im „politischen, technischen, methodologischen, gestalterischen“ Vorgehen. Diese Epoche decke sich mit einem Abschnitt prosperierender kapitalistischer Entwicklung (Rodriguez-Lores, 1980, S. 17). In der Ergebnismitteilung des Stadtrats gegenüber dem PD lotet der OB seine Grenzen in Bezug auf ein anstehendes Anliegerstatut aus und fragt ihn nach Zustimmung zu § 3.653 In dem Paragrafen liege nach Meinung des OBs ein „vielfaches Missverständnis“ vor, was jedoch nicht zu bestehen brauche, denn man orientiere sich streng an dem Fluchtliniengesetz vom 2.7.75. Unpräzise Formulierungen versuchen die Anlieger mit Zahlungsverweigerungen auszunutzen, weil der Wortlaut ungerechte und ungleiche Verteilung von Anliegerkosten ermögliche.654 Der OB bittet um ein beschleunigtes Verfahren655, damit der Beschluss an den „Bürger-Auschuss“ weitergeleitet werden kann. In seiner Antwort656 gibt der PD zu bedenken, das Fluchtlinienge- setz schreibe vor und dies unterstreiche nach seiner Meinung die Königliche Regierung in ei- nem Schreiben vom 21.8.76, dass für ein Ortsstatut nur die Paragraphen in Frage kommen, die städtische Kompetenzen betreffen. Dagegen seien Bestimmungen (wie § 1 Abs. 1 u. 2), bei denen es lediglich um baupolizeiliche Anordnungen gehe, nicht Gegenstand eines Ortsstatuts. Dies sei durch bestehende Gesetzeslage bereits ausgewiesen. Er halte es für notwendig eine besondere Baupolizei-Verordnung festzusetzen, wie bereits in anderen Städten geschehen. Ihm sei weiter nicht klar, wie er mit den Straßen umgehen solle, die vor Erlass des Statuts bereits fertig und dem Verkehr übergeben seien. Der Text gehe auch „blos“ auf „erweiterte“ Straßen ein. Das Gesetz selbst führe nur die „bisher unbebauten“ sowie neuen oder verlängerten Stra- ßen- und Straßenteile an. Er fügt hinzu, im Sinne einer Entscheidung des Oberlandesgerichts sei eine Bestätigung der Statuten zweifelhaft. Die Antwort657 des OB begründet nochmals die Aufnahme von § 3, seiner Meinung nach sei nicht geklärt, nach welchen Voraussetzungen eine Straße für den öffentlichen Verkehr freigege- ben werde und der Anbau zu genehmigen sei. Ferner weist er auf die „üble Erfahrung“ einer Stadtgemeinde im Geltungsbereich der Provinzialordnung in dieser Sache hin und fährt fort, dass das Erlassen eines Bauverbots nur Angelegenheit der Polizeibehörde sei. Die Anlage von Straßen beziehe sich auf die Stadtgemarkung und unterliege somit zunächst der Verwaltung des Ortsvorstandes. Deshalb könnten solche Entscheidungen wegen der „concurrierenden Interessen der Verkehrs- und Gesundheitspolizei nur unter materieller Übereinstimmung mit der Polizei- behörde getroffen werden.“658 Weiter argumentiert der OB, es bestehe zwar für die Polizei keine „Notwendigkeit“ bestimmte Bedingungen anzuführen, es sei aber zu definieren, wann eine Straße als fertig zu bezeichnen sei. Im Weiteren wolle er es der zuständigen Behörde überlassen, welche Statuten unzulässig und überflüssig seien. Albrechts Antwort659 fällt deutlich aus, indem er sagt, er finde wenig Verständnis „unsere Verhältnisse derartigen Anordnungen der Stadtverwaltung [zu] unterwerfen.“660 Er unterstreicht 653 Der Entwurf zum Ortsstatut vom November 1883 fasst den § 3. folgendermaßen: „Zu den Kosten der Freilegung der Straße gehören insbesondere die Kosten der Erwerbung des Grund und Bodens einschließlich der auf demselben vorhandenen und zu beseitigenden baulichen Anlagen, Oberbesserung und sowie die Kosten des administrativen und gerichtlichen Enteignungsverfahrens.“ Weiter: „Ist zur Straßenanlage Terrain unentgeltlich abgetreten worden, so ist ein angemessener Werthbetrag des unent- geltlich abgetretenen Terrains in die Berechnung der Anliegerbeiträge einzustellen und von dem Anliegern nach Maßgabe ihrer Beitragspflicht zu erheben. Dem Schenker gegenüber bleibt jedoch der Werth des unentgeltlich abgetretenen Terrains außer Berechnung. Die Festsetzung des Werthes des unentgeltlich abgetretenen Terrains erfolgt endgültig durch drei nebst je einen Stellvertreter von dem Bürger-Ausschuß auf drei Jahre zu wählende Sachverständige“ (Best. s.o., Bl. 115). 654St AM Best. 165, Nr. 1457, Bl. 66/67. 655 Schreiben vom 29. Januar 1879. 656 Schreiben vom 15. Februar 1879. 657 Schreiben vom 27. Februar 1879. 658 St AM Best. 165, Nr. 1457, Bl. 81. 659 Schreiben vom 19. März 1880. 202 nochmals seine Aufgaben, für Sicherheit und Erleichterung des öffentlichen Verkehrs, der öf- fentlichen Gesundheit, der Feuersicherheit und gegen Verunstaltung von Straßen und Plätzen einzutreten. Letzteres sei ausnahmsweise auf die städtische Verwaltung übertragen. Was sich seines Wissens für die Stadt als problematisch erweist, „das lästige Eigenthum der Straßen im Interesse des Gemeinwesens herzustellen und zu unterhalten.“ Damit scheint er sich auf die Überführung der Straßenfläche in städtischen Besitz und die Unterhaltung der fertigen Straße zu beziehen. Deshalb fährt er fort, übertrage man „verschiedene öffentliche Zwecke der polizeili- chen Fürsorge.“ Dies hebt er mit der Gemeindeordnung von 1835/36 hevor, räumt jedoch ein, Polizei-Verordnungen seien nicht ohne Beachtung der städtischen Behörden zu erlassen. Als unkorrekt erweist sich nach seiner Ansicht die Behauptung, die Ortsstatuten anderer Städte ent- halten „baupolizeiliche Bestimmungen“. Als Beispiel fügt er an, in Gemeinden, wo Orts-Vor- stand zugleich Polizei-Verwalter sei, müssten die Bestimmungen außerhalb der Ortsstatuten erlassen werden, wie Entscheidungen des Ober-Verwaltungsgerichts beweisen. Die Auseinandersetzung zwischen Stadtverwaltung und Polizeibehörde verdeutlicht das neue städtische Bewusstsein gegenüber sich häufenden Problemen, deren Auslöser eine undifferen- zierte und nicht der Praxis entsprechende Bauordnung darstellt. Die Stadt akzeptiert die Kon- trolle der Durchführung von Veränderungen und den Neubau von Straßen seitens der Polizei. Die Kompetenz für Planung, Durchführung und Beurteilung ist nach ihrer Auffassung alleinige Entscheidungssache der städtischen Gremien. Demgegenüber bezieht sich die Polizeibehörde auf ihre vom Gesetzgeber aufgetragenen Verwaltungsrechte, und möchte bei der Genehmigung das entscheidende Urteil sprechen. Eine Unterminierung dieser Position scheint die Behörde nicht zu akzeptieren. Die Streitpunkte mit den Bürgern möchte sie nicht klären, so die persönli- che Stellungnahme des PD. Den streitenden Behörden geht es nicht um Agieren in vom Gesetz- geber vorgegebenen Bereichen. Jeder will sich bei Auseinandersetzungen um bauliche Aktivi- täten, die wichtigsten Entscheidungssektoren sichern und den anderen Verwaltungen deren Grenzen aufzeigen. Dabei wird übersehen, dass die eigentliche juristische Entscheidung durch die Abteilung des Innern der Königlichen Regierung getroffen wird. 7.7.4 Reglementierung der Bürger beim „Bauen an Straßen- und Straßentheilen“ In einem Briefwechsel der Regierung der Provinz Hessen-Nassau, Abt. des Inneren,661 und dem Oberbürgermeister der Residenzstadt sowie der Polizeidirektion geht es um das „Verbot des Bauens an Straßen und Strassentheilen:“662 Der Oberbürgermeister Weise bittet seine vorge- setzte Behörde um eine Entscheidung über Einwände, die seitens der Fabrikanten Aschrott und Wenderoth sowie des Maurermeisters Seyfart erhoben werden, um Bauabsichten zu verwirkli- chen. Die Kgl. Regierung, Abt. I, antwortet, dass das Bauen an Straßen und Straßentheilen, die nach baupolizeilichen Bestimmungen für den öffentlichen Verkehr noch nicht hergestellt sind, nicht zu genehmigen sei.663 Weiter heißt es, die „Reclementierung“664 der betreffenden obigen Personen sei vom Oberbürgermeister weiterzuleiten. 660 St AM Best. 165, Nr. 1457, Bl. 83. 661 Der Städtebau erwächst nicht aus einer Idee eines perfekten Planers, sondern die Entstehungs- geschichte ist beeinflusst von den Auswirkungen in der städtischen Verwaltungspraxis, die wiederum von ständigen Konfrontationen innerhalb der Verwaltung und dem Bauträger geprägt wird. Weiter existieren unzureichende Leitbilder, Gesetze und die überlieferten Kontrollmechanismen greifen nicht mehr (Rodriguez-Lores, 1980, S. 21). 662 St AM Best. 165, Nr. 1457, Bl. 11. 663 Begründung für das Verbot sei §12 des Gesetzes vom 2. Juli 1875 (Fluchtliniengesetz). Dieser Paragraph wird durch Verfügungen vom 27. Dez. 1876 und 30. Juni 1877 unterstrichen. 664Die “Reclementierung ist verfasst am 9. Juli 1877; abgegangen am 27.7. 1877; St AM Best. 165, Nr. 1457, Bl. 11/12. 203 Der Verwaltungsvorgang beleuchtet die Zuständigkeitsbereiche z.B. des Oberbürgermeisters, der sich erst der Rückendeckung von der vorgesetzten Behörde versichern muss, um dann de- ren Entscheidung, die seiner eigenen im Idealfall zu entsprechen hat, den Bürgern mitzuteilen. Ein anderer dokumentierter Vorgang unterstreicht das. Die Stadt Kassel - es handelt sich um ein Ortsstatut und dies fällt in ihren Zuständigkeitsbereich - legt 1880 einen Entwurf665 zur Beitragspflicht der Anlieger bei Straßenanlagen vor. Durch das Fluchtliniengesetz vom 2.7.1875 sind vorher erlassene Bestimmungen666 bezüglich Straßenbau mit den bestehenden Statuten nicht vereinbar. Die Stadtverwaltung möchte zukünftig unter für sie günstigeren Bedingungen als bisher die Kostenfrage für Anlieger regeln und damit die Stadtkasse entlasten. Bis zu diesem Zeitpunkt sind die Anliegerkosten gering, und für den Stadtetat stellt der Straßenbau bei einer ständig wachsenden Stadt eine nicht zu bewältigende Last dar. Aus privatwirtschaftlicher Sicht ist der Aspekt noch zu beleuchten, wenn es um Kapitalgesellschaften geht, die Straßen auf ei- gene Kosten erstellen und diese in den Grundstückspreis mit einberechnen. Für die öffentliche Auslage eines neuen Ortsstatuts667 ist der Behörde eine Frist von zwei Monaten vorgeschrieben. Die Stadt Kassel hält die Frist nicht ein und beendet die Auslage nach 6 Wochen. Das Intervenieren einzelner Bürger bewirkt eine Zeitverlängerung wie vorgeschrie- ben. Zu den neuen Statuten liegen neun Eingaben der Einwohner und eines Vereins vor, die vom Oberbürgermeister nach Absprache mit dem „Stadtrath“ für die vorgesetzte Behörde kommentiert werden. Sein Bericht ist mit 8. Mai 1880 datiert und bezieht sich auf eine Verfü- gung des Ministeriums vom 23. Dezember 1879.668 7.7.5 Geplantes Ortsstatut im Spiegel der Betroffenen In seinem Bericht vom Mai 1880 führt der OB zur „Beitragspflicht der Anlieger an Straßenla- gen“669 an die Kgl. Regierung Abteilung des Inneren drei Phasen zur Berechnung der Straßenanliegergebühren an: - Straßen, die vor dem Erlass von 1867/68 bereits für den öffentlichen Verkehr freigegeben sind, werden nicht herangezogen. - „Mildere und günstigere Bestimmungen“ sollen für Anlieger verpflichtend sein, deren Straßen während der Geltungsphase nach obigem Zeitpunkt fertiggestellt werden und bei denen die dafür festgelegten Statuten nicht vom Fluchtliniengesetz von 1875 aufgehoben werden. - Für Straßen, die nach Beschluss der Gremien nach dem vorliegenden Entwurf gebaut werden, treten „strengere“ Bestimmungen, als durch das Gesetz von 1875 vorgegeben, in Kraft. Die Argumente der Bürger gegen das geplante Ortsstatut beziehen sich auf formale Fehler, ju- ristisch zu allgemein gefasste Regeln oder konkrete bauliche Planungsvorgaben. Neben ´Nichteinhaltung der Auslagefrist´ werden ´Korrekturen seitens der Stadt nach Planabfassung´ vorgeworfen. Deshalb sei die nötige Klarheit im Plan nicht vorhanden. Antragsteller: Aschrott und Anlieger des Unteren Grünen Wegs. Der Entwurf entspreche „wegen sonstiger Beziehung“ nicht der Gemeindeordnung. Wahr- scheinlich ist auch hier der formale Aspekt gemeint. Antragsteller: Aschrott. Der OB hält die Einsprüche für gegenstandslos, da man Fristverlängerung eingeräumt habe. Die Einsprüche seien ohne Begründung abgefasst und man fordert die Regierung auf zu handeln. 665 St AM Best. 165, Nr. 1457, Bl. 61-74. 666 Es handelt sich um die Bestimmungen vom 22. Nov. 1867 und 2. Feb. 1868. 667Zuständig ist § 3 der Kurhessischen Gemeindeordnung. 668 Auf die Daten wird später Bezug genommen, wenn der Besuch Kaiser Wilhelms I. 1878 in Kassel anlässlich eines Kaisermanövers abgehandelt wird (Hülbusch, 1977/78, S. 4). 669 St AM Best. 165, Nr. 1457, Bl. 61. 204 Weiter beurteilt der OB die Einwände damit, „dass die Bestimmungen und Ziele des Entwurfs nicht überall richtig aufgefasst worden sind.“670 Die Aussage in dem Statut, die Entscheidung träfe nach „Ermessen der Stadtrath“, wird als zu weitgehend empfunden. Antragstellerin: Frau Justizrath Peters. Der OB äußert sich dazu, die Befugnis zur Beschwerde sei selbstverständlich möglich und er möchte „nach Ermessen des Stadtraths“ streichen. Die Einwendung zum Bebauungsplan Kölnische Straße habe sich durch vorher angeführte Streichung damit erledigt. Antragsteller: Justizrath Peters. Beanstandungen Aschrotts seien gleichfalls gegenstandslos, soweit sie sich auf Straßen bezö- gen, die vor dem Statut von 1867/68 vorhanden seien und „unzweifelhaft für den Verkehr und Anbau fertig waren“671 oder während der Existenz dieses Status unter Berücksichtigung des Stadtbebauungsplans fertiggestellt sowie baupolizeilich für den öffentlichen Verkehr freigege- ben seien. Diese Vorschrift bezieht sich namentlich auf die Kölnische Str. und Querallee sowie Hohenzollern–, Westend–, Bismarck–, Park–, Anna–, Victoria- und Obere Weißenburg Str. Alle Straßen seien fertiggestellt und könnten nach den genannten Kriterien abgerechnet werden. Abb.: 56 Ausschnitt einer Kataster-Ergänzungskarte zwischen Kaiserstr. und Wilh. Allee672 „Ein Weg unterhalb des Drusel“673, den Aschrott mit angibt, kann der OB scheinbar nicht einordnen und argumentiert, es müsse sich um eine Straße handeln, die nicht in dem Stadtbe- bauungsplan eingetragen, und mit dieser sei gleich zu verfahren, wie bei der Kaiserstraße, die Aschrott bereits auf eigene Verantwortung hat herstellen lassen. Verhandlungen darüber führen jedoch nach Meinung des OB zwischen Aschrott, der Baupolizeibehörde und der Stadtverwal- tung zu keiner Einigung, die es erlaube, die Straße in den Stadtbebauungsplan aufzunehmen. 670 St AM Best. 165, Nr. 1457, Bl. 63. 671 St AM Best. 165, Nr. 1457, Bl. 65. 672 Ergänzungskarte Nr. 0159950030017600_00.tif (Bodenmanagement Korbach). 673 Es könnte sich um den Ansatz zur Herkulesstraße handeln. Siehe Ausschnitt aus Ergänzungskarte (Amt für Bodenmanagement). 205 Die Stadt sei hier an einer Regelung der Baufluchten interessiert; es solle nur gebaut werden, wenn eine gesetzliche Regelung der Fluchten erzielt werde. Als Argument weist der OB offen- sichtlich auf ein Problem hin, das zwischen Aschrott und einem Straßenbauer zu bestehen scheint, wenn er ergänzt, Aschrott könne wegen eines unbequemen Straßenbauunternehmers allgemeine Regeln nicht übergehen. Hierbei bemängelt Aschrott gegenüber der Stadt, dass eine Straße [hier: Kaiserstr.] , die schon als Allee ausgebaut sei, von der Stadtverwaltung als unvollständig im Sinne des §1674 anzusehen sei, weil lediglich noch nicht mit Gasbeleuchtung versehen. Der OB unterstreicht, Unfertigkeit einer Straße unterliege ausschließlich baupolizeilicher Bestimmungen. Er schränkt weiter ein, dass die Baupolizeibehörde auch im Einzelfall abhängig von der jeweiligen Sachlage nach Be- ratung mit der Gemeindebehörde Entscheidungen für oder wider treffen könne. Das entspräche §2 des Entwurfs.675 Der OB führt den PD als Blockierer dieser Straßengenehmigung an. Fast vier Jahre später werden teilfertige Straßen dagegen als fertig angesehen und dafür schon Anlie- gergebühren verlangt. Hier scheint vorschnelles Handeln beim Bau der Kaiserstraße zumindest von städtischer Seite nicht toleriert worden zu sein. Die städtische Verwaltung ist auf dem Wege, ihr „Hoheitsrecht“ gegenüber dem Kapital auszuüben, indem sie Bauaktivitäten behin- dert. Weiter weist der OB daraufhin, §3 führe häufig zu Missverständnissen, da man den Abs. III nicht hinreichend gewürdigt habe.676 Das neue Ortsstatut würde die falsche Deutung beseitigen. Auch die Fragen zu Anbauten an schon vorhandenen, „bisher unbebauten, Straßen und Stra- ßentheilen“ seien dadurch beantwortet. Allerdings gehe es nach seiner Meinung „einem Theil der Protestierenden677 gegen die den Anliegern angesonnene Bezahlung.“678 Die Stadt versucht, eine gerechte und planmäßige Verteilung der Anliegerkosten zu erreichen. Dabei handelt es sich nicht um Durchschnittswerte von erworbenen oder unentgeltlich (weil von geringem Wert) abgetretenen Grundstücken. Für Anliegerkosten ist der Wert des Grundstückes nach Bewertung maßgeblich. D.h., für jedes Grundstück ist dieser festgelegte Tarif zu bezah- len, gleichgültig, ob der Boden leicht zu verkaufen oder die Flächen nur mit erheblichem Auf- wand zu nutzen sind. Einwendungen von Holzapfel und dem Baugewerkverein, „dass die Bestimmungen im §13 nicht mit bestehendem Recht vereinbar seien,“ beruhen sicherlich auf einem Irrtum und stellen sich nach des OBs Meinung bei „Umwandlung eines bisher unregulierten Weges in eine Straße nicht“679 und gleichen einer Neuanlage. Zwar kann der Besitzer von unbebauten Grundstücken nach älterem Statut bei Verbreiterung unregulierter Wege in eine neue Straßenanlage ebenso zur Bezahlung herangezogen werden, wie von bereits bebauten Grundstücken. Das führt in Einzel- 674 „I. Verbot des Bauens an unfertigen Straßen. § 1. Wohngebäude dürfen an Straßen oder Straßentheilen, nach welchen sie einen Ausgang haben, nur errichtet werden, wenn diese Straßen oder Straßentheile den baupolizeilichen Vorschriften gemäß befestigt, entwässert und mindestens mittels einer regulirten Straße zugänglich sind“ (Best. s.o. , Bl. 166). 675 „§ 2. Ausnahmen in Einzelfällen mit Rücksicht auf Umfang, Bestimmung, örtlicher Lage etc. der beabsichtigten Bauten können vorbehaltlich der Zustimmung der Baupolizeibehörde von dem Stadtrath bewilligt werden“ (St AM Best. 165, Nr. 1457, Bl. 166). 676 Im endgültigen Ortsstatut von 1884 heißt es: „II. Anlage neuer Straßen durch die Stadtverwaltung. §3. Bei der Anlegung einer neuen oder bei der Verlängerung einer schon bestehenden Straße sind die Eigenthümer der angrenzenden Grundstücke, sobald sie Gebäude an der neuen Straße errichten – gleichviel ob die Straßenfluchtlinie mit der Baufluchtlinie zusammenfällt oder nicht – verpflichtet, der Stadt diejenigen Kosten zu ersetzen, welche ihr für die Freilegung des Straßenterrains (Fahrbahn, Reitweg und Bürgersteige)“ erwachsen. Ferner sind die Beträge anteilig zu bezahlen, die für Befestigung, Entwässerungs- und Beleuchtungsanlagen entstanden sind. (St AM Best. 165, Nr. 1457, Bl. 167.) 677 Bei den Protestierenden handelt es sich um: Sennet und Genossen, Plaut und Genossen, Hahn`s Söhne und Genossen. 678 St AM Best. 165, Nr. 1457, Bl. 67. 679 St AM Best. 165, Nr. 1457, Bl. 70. 206 fällen sicherlich zu Härten; zukünftig ändert sich die Verordnung, dass dann nur Neubauten beitragspflichtig sind. Dagegen bezeichnet es der OB als widersinnig, Neubauten vom Beitrag zu befreien, denn diese Vorteile führen zur ungleichen Behandlung gegenüber Altanliegern. Obige Antragsteller verweisen auch auf §15, der ein Widerspruch zum Gesetz sei. Der OB ant- wortet, es existiere für Gemeinden das Gesetz zu einem Ortsstatut, „nähere Bestimmungen“ erlassen zu können. Der Stadtverwaltung geht es in den neuen Bestimmungen in erster Linie um die Kostenregulie- rung bei Straßenanlagen. Des weiteren soll eine bestehende Gesetzesunsicherheit bezüglich Hausanbauten einmal vor 1875 und weiter für die Zeit nach dem Erlass des Fluchtliniengesetzes bis zum Inkrafttreten des neuen Ortsstatuts beseitigt werden. Bei den Einsprüchen zu dem beabsichtigten Ortsstatut melden sich mehrere Einzelbesitzer zu Wort. Von dem Großgrundbesitzer Aschrott kommen gleichfalls mehrere Anmerkungen, aber bezogen auf die Besitzfläche fallen diese kaum ins Gewicht. Daraus könnte man ableiten, dass Eigentümer von Einzelparzellen sich durch die anstehenden Verordnungen wesentlich mehr beeinträchtigt fühlen, als das bei Aschrott der Fall ist, und gleichzeitig deutet das auf Akzeptanz städtischer Regelungen. Er hat wahrscheinlich längst erkannt, dass sich ohne klare Abfassung von Statuten ein einheitliches Stadtbild nicht erzielen lässt. §12680 regelt die Anlage von Straßen durch Unternehmer oder Anlieger. Sie sind jetzt beim Stadtrat genehmigungspflichtig, gleichgültig, ob sie im Straßenbebauungsplan vorgesehen sind oder nicht. Dem Antrag müssen Situationspläne, Längen- und Querprofile beigefügt werden, wie es die Fluchtlinien- und Bebauungspläne von 1876 erfordern. Bei Genehmigung einer Stra- ßenanlage werden in einem Vertrag zwischen Stadt und Unternehmer die Arbeitsausführungen festgelegt. Die Stadt versucht auf diese Weise, ungeregeltem Straßenbau seitens privater Unter- nehmer zu begegnen. Auch soll der Fall unterbunden werden, bei dem die Stadt anstatt des Un- ternehmers weiterbauen muss, was sie auch nur kann, wenn das Straßenterrain ihr als Eigentum übertragen wurde. Gleichfalls versucht man sich gegen Spekulationen von Unternehmern abzu- sichern, die bei der Verwaltung eine Genehmigung einer Straßenanlage erwirken wollen, weil sie dort Land besitzen. Die Einwände der Bürger beziehen sich auf Beanstandungen zu bestimmtem Grundeigentum mit seiner spezifischen Beschaffenheit. Diese sehen die Anwohner in ihrem Sinne im Ortstatut nicht berücksichtigt. Vorgebrachte Einsprüche sind deshalb nur unter dem Aspekt Eigeninte- resse einzuordnen. Eine Sonderstellung nimmt Aschrott ein. Sein Engagement als Stadtbauun- ternehmer und gleichzeitig als Immobilienhändler erfordert eine Bündelung von Interessen, denn neben vordergründigen privaten Absichten erkennt er auch die Probleme der Kommune. Aufgabe der Verwaltung im Beispiel sollte die Überprüfung des Entwurfs darstellen, ob dieser bürgerlichen Einwänden standhält oder ob juristisch nachzubessern sei. Als Endergebnis könnte ein Ortsstatut vorliegen, das kommunale Vorstellungen erfüllt und Rechtssicherheit gewährt. Diesen Weg scheint der OB nicht einzuschlagen, indem er beispielsweise allgemeine Aussagen anführt, wie Einsprüche seien gegenstandslos oder nicht überall richtig aufgefasst oder Ent- scheidungen fallen in das Ermessen des Stadtrats. Aus der Art und Weise wie die Behörde in Person des OB die Einwendungen der Bürger kommentiert, wird deutlich, dass sie nicht im Interesse der Bürger handelt, für die sie zuständig ist, noch die Probleme der Stadt im Auge behält, die u.a. durch einen ernormen Bevölkerungszuwachs und große Entwicklungsdynamik auf den unterschiedlichsten Ebenen gekennzeichnet sind. Man hat eher den Eindruck, dass sie 680 „§ 12. Wenn ein Unternehmer oder die Anlieger die Anlage einer neuen Straße oder eines neuen Straßentheils – gleichviel ob solche in dem Stadtbebauungsplan vorgesehen sind oder nicht – bewirken wollen, so haben sie die Genehmigung dazu bei dem Stadtrath nachzusuchen, unbeschadet der Genehmigung der Baupolizei.... Die Genehmigung zur Ausführung einer in den Stadtbebauungsplan aufgenommenen Straße kann nur versagt werden, wenn erhebliche Gründe des öffentlichen Interesses der Herstellung der Straße entgegenstehen; in diesem Falle hat gleichzeitig der Stadtrath die Streichung der Straße im Stadtbebauungsplan einzuleiten.“ (St AM Best. 165, Nr. 1457, Bl. 169.) 207 als Bremser auftritt, ihre Macht ausspielen will und so äußerst kurzsichtige Entscheidungen trifft. Als eine für das Gemeinwohl zwingende Ordnung ist der Entwurf nicht anzusehen und reicht in keiner Weise an die Frankfurter Regulierungen von Miquel und Adickes. Darauf wird im Kap. 8.7 eingegangen. 7.7.6 Ortsstatut von 1884 Nach jahrelangem Straßen- und Stadtumbau erfolgt nun Planung, Umsetzung und Kontrolle nur noch unter städtischer Führung und löst so den privaten Unternehmer ab. Damit dieser Verwal- tungsvorgang seine juristische Rechtfertigung erlangt, tritt am 18. Januar 1884 ein neues Ortsstatut681 in Kraft. Die Bestimmungen fixieren, wo gebaut wird, nämlich an Straßen, die den baupolizeilichen Vorschriften entsprechen und Befestigung und Entwässerung sicherstellen. Die Kosten der Anlieger beziehen sich auf Einrichtung, Befestigung, Entwässerungs- und Be- leuchtungsanlagen. Weiter gehören dazu die erforderlichen Flächen, die aus Privatbesitz für die Straßenflächen auszulösen sind, Abbruch von im Straßenraum stehenden Gebäuden, gerichtli- che und administrative Beträge, die im Zusammenhang mit Enteignungsverfahren entstehen. Ferner sind beim Gesamtpreis Flächen zu berücksichtigen, die aus städtischem Besitz in den Straßenraum einbezogen werden. Straßenflächen, die vorher bereits als Wegflächen dienen, sind gebührenfrei. Zusätzlich zu dem Preis zählen Befestigungen von Böschungen, Einfriedigungen, Zugänge zum Grundstück, Anschlusskosten an eine andere Straße. Die Anliegerkosten errech- nen sich aus der Länge der fertiggestellten Straße. Zahlungen beziehen sich auf die Frontlänge des Grundstücks. Übersteigt die Grundstücksbreite das Zehnfache der angerechneten Gebäude- breite, so ist der Beitrag für die Übergröße erst bei Neu- oder Anbau fällig. Straßenlängen, die öffentliche Gewässer, Plätze sowie Promenaden berühren, übernimmt die Stadt. Gleiches gilt für Baum- und andere Pflanzungen sowie unterirdische Entwässerungska- näle.682 Den Höchstbetrag erreichen Straßen mit 26 m Breite. Bei darüber hinausgehender Breite übernimmt die Stadt zusätzlich anfallende Kosten. Bebaut heißt mit Gebäude, Hof- und Lager- raum sowie Gartenhaus versehen. Die Bezahlung hat mit der Errichtung des Gebäudes zu erfolgen, den Betrag setzt der Stadtrat fest. Sind Straßen noch nicht in Details fertig, ist der Betrag dennoch fällig. Bei Anlage von im Bebauungsplan683 aufgenommenen Straßen seitens der Unternehmer oder Anlieger, erteilt der Stadtrat dazu die Genehmigung. Die baupolizeiliche Erlaubnis ist gleichfalls erforderlich. Das Gelände für die Straße wird der Stadt vorher pfandfrei übereignet. Die Kontrolle der Arbeiten wird durch die städtische Bauverwaltung ausgeführt, unabhängig davon nimmt die Baupolizei die Straße ab. Übergangsbestimmungen räumt der Vertrag für 33 Straßen oder -teile ein; sie umfassen Berei- che der Friedrich-Wilhelms-Stadt und die Erweiterung westlich des Ständeplatzes bis zur Quer- allee und zwischen Kölnischer Straße und Wilhelmshöher Allee. Hier bezieht sich die Beitrags- pflicht für Anlieger auf die Statuten von 1867/68, und so werden bestimmte Gewerke wie Erd- 681 St AM Best. 165, Nr. 1457, Bl. 165-172. 682 Beitragsleistungen zur Entwässerung beziehen sich auf das Ortsstatut vom 1. September 1882 und 3. März 1883. 683 Blumenauer stellt für 1884 fest, „dass Fluchtlinienpläne auf Grund des Fluchtliniengesetzes von 1875 noch nicht aufgestellt“ sind, die er bereits für die Stadt Eschwege 1877 fertiggestellt hat. Lediglich zwei Bebauungspläne von 1867 und 69 existieren für Kassel. Diese seien nicht mit örtlichen Aufnahmen oder verwendbaren Karten erfolgt, sondern der Stadtplan von Böckel 1866 bilde die Grundlage, ein genauer Maßstab fehle. Der vorliegende Schwarzdruck weise in der Mehrzahl zu planende Straßen auf , die bereits fertiggestellt seien. Die mit grünen Farbstreifen versehenen Abschnitte bedeuten Vorgärten, wobei nicht zu ersehen ist, ob diese vorgeschrieben oder nur erlaubt seien. Seit 15 Jahren habe die städtische Bauverwaltung keine planmäßige Regelung der Bautätigkeit vorgenommen (Blumenauer, 1965, S. 80/81). 208 arbeiten, Pflasterung u.a. nicht im vollen Umfang erhoben. Bei Neubauten innerhalb von 2 Jah- ren in diesem Gebiet gibt es 20 Prozent Nachlass, innerhalb von 4 Jahren sind es 10 Prozent. Mit den neuen Bestimmungen dehnt die Stadtverwaltung ihren Einfluss auf den Stadtbauprozess gegenüber der Polizeidirektion aus. Dieser obliegt lediglich die Zustimmung zu einer Neuanlage und deren Abnahme nach Fertigstellung unter dem Aspekt öffentlicher Sicherheit und Regelung des Straßenverkehrs. Das Ortsstatut enthält keine Angaben zu Bauvorschriften, Anteil der zu überbauenden Fläche bezogen auf die Grundstücksgröße, bautechnischen Erörterungen, der Geschosszahl oder dem Verhältnis der Gebäudehöhe zur Straßenbreite. Diese Vorschriften werden in der Bau-Polizei- Ordnung abgehandelt. Hier wird vom Antrag auf Bauerlaubnis, über Form der Gültigkeit der Bauerlaubnis, Wechsel der Bauleitung, Überwachung der Bauausführung bis zur Rohbauab- nahme, um nur einen Bruchteil der Vorschriften684 zu erwähnen, genau vorgeschrieben, welche Anforderungen zu erfüllen sind. Mit Blick auf das Ortsstatut versucht der Stadtrat mit Preis- nachlässen bei den Anliegerkosten bestehende Baulücken in der ersten Phase der Stadterweite- rung westlich des Ständeplatzes zu verkleinern oder ganz zu schließen. 7.7.7 Erlass von Bauordnungen als Antwort auf Stadtbauprozesse Als Regulativ für die Einrichtung von Straßen und Gebäuden kann die jeweils gültige Bau-Ord- nung angesehen werden. Entscheidungen zu Veränderungen erweisen sich nicht als Produkt voraussehbarer Entwicklungen, sondern diese stellen vielmehr eine Reaktion auf vollzogene Prozesse dar, die mit neuen Ordnungen abgeändert oder festgeschrieben werden sollen. Als Phase für die Entstehung von Bauordnungen gilt der Zeitraum kapitalistischer Stadterweiterun- gen, die in Folge veränderter Baugestaltung im Raum Anpassungs- oder Gestaltungsmechanis- men unterworfen sind. Die vorliegende Arbeit möchte diesen Verlauf nicht nachzeichnen und beschäftigt sich nur mit baurechtlichen Fragen, die in direktem Zusammenhang mit Sigmund Aschrott stehen oder einen Bauzustand beschreiben und aus Quellen ersichtlich sind. Für eine Komprimierung von Bauordnungen im Raum Kassel von der Kurhessischen Periode bis zum Beginn des 1. Weltkrieges wird eine Arbeit von Berensmeyer benutzt, die sich teilweise mit der Frage beschäftigt. Der Untersuchungsraum, bezogen auf die Kasseler Gemarkung und die Flächen der nach Westen anschließenden Gemeinden, wird im Wesentlichen von der städti- schen Bauordnung bestimmt. Die Bauvorschriften für die Gemeinde Wehlheiden unterscheiden sich kaum von denen der Kasseler. Bauen wird während der letzten Phase des Kurstaates in Kassel von der Ordnung vom 9.1.1784 bestimmt. Die Statuten beziehen sich, wie noch darge- legt wird, auf Neubauten bzw. auf Fassadenveränderungen, die durch Anordnungen zur Feuersi- cherheit und Regelung nachbarschaftlicher Belange ergänzt werden. Veränderungen nach 1866 scheinen anfangs in Kassel nicht so zwingend, da Bauaktivitäten verhältnismäßig gering sind. Man hat sich in Einzelfällen auf das preußische Fluchtliniengesetz vom 12.5.1855 bezogen. Hier wird ausdrücklich die Bauflucht als zusammenhängend mit der Straßenflucht685 betont. Der ersten Kasseler Bauordnung vom 10.1.1874 unter preußischer Ver- waltung dient angeführtes Gesetz als Grundlage. Zum Geltungsbereich dieser Vorschriften ge- hören neben der Stadt Kassel die Gemeinden Wehlheiden, Kirchditmold und Wahlershausen. Die Bauflucht686 wird als wesentlicher Bestand übernommen, was folglich die Planung einheitli- 684 Im § 22 wird die mögliche Überbauung des Grundstücks abgehandelt. „1. Grundstücke, welche bis zum Inkrafttreten dieser Polizei-Ordnung mit Wohngebäuden nicht bebaut waren, dürfen nur zu 2/3, Eckgrundstücke dieser Art nur zu 4/5 bebaut werden. 2. Die Summe der auf bereits bebauten Grundstücken unbebaut zu lassenden Flächen darf bei Fronthäusern nicht weniger als ¼ und bei Eckgrundstücksflächen nicht weniger als 1/6 der Grundstücksfläche betragen. Der unbebaute Theil heißt Hofraum“ (St AM Best. 165, Nr. 6895). 685 Fluchtliniengesetz vom 12.5.1855 siehe §1 Abs. 3 (Berensmeyer,1979, S. 132). 686 Unter § 5. heißt es: „In den Zeichnungen müssen die wesentlichen Maaße, namentlich des Grund- stücks, die Straßen- und Bürgersteigsbreiten, die Entfernung der Gebäude von der Straße, von einander 209 cher Straßenzüge ermöglicht. Weitere Regelungen über Gebäude-687 und Wohnraumhöhe, Dachgeschosswohnungen sowie Geschosszugehörigkeit von Wohnräumen in Fachwerkbauten werden getroffen (Berensmeyer, 1979, S. 132/133), und damit ist die Grundlage zu einheitlicher Bebauung gelegt. Das preußische Fluchtliniengesetz vom 2.7.1875 regelt zusätzlich die Frage der Enteignung, die für städtischen Straßenbau einen durchgängigen Straßenraum zulässt. Die Aktualisierung der Bauordnung688 vom 1.1.1886 führt zu keinen einschneidenden Veränderungen gegenüber vorliegender Fassung. Jedoch folgen ab 23. November 1900 nach der Baupolizeiordnung I689 zwei weitere Versionen, die hier Verifizierungen erfahren. Auf die drei aufeinander folgenden Ordnungen gehen die Ausführungen von Berensmeyer nicht ein. Die Vorschriften weisen wesentliche Baueinschränkungen gegenüber denen von 1886 auf, die sich vor allem auf die Gebäudegrundfläche beziehen. Ab jetzt dürfen nur 2/3 des Grundstücks, bei Eckgrundstücken 4/5 bebaut werden. Allerdings findet diese Regelung schon vorher bei Erwei- terungsbauten Anwendung; hier beträgt die unbebaute Restfläche ¼ bei Eckversionen 1/6 des Grundstücks. Eingeschossige Häuser erlauben die Gesamtbebauung des Grundstücks. Als wei- tere Einschränkung für den Bauherrn ist die Gebäudehöhe690 anzusehen, die jetzt exakt formuliert und von der Geschosszahl691 auf vier reduziert wird. Eine wesentliche Unterscheidung in dieser Fassung stellt die Differenzierung zwischen „beschränkte[r]“ und „offene[r]“ Bebauung dar (Berensmeyer, 1979, S. 134). „Beschränkte Bebauung“692 bedeutet hier, Flächen dienen ausschließlich oder vorwiegend Wohnzwecken, Fabriken sind untersagt, gewerbliche Anlagen ohne Emissionen von Rauch, Lärm und Geruch zulässig. Stallungen, Lagerhäuser u.a. sind nur im Abstand von 25 m von der Bauflucht möglich. Einschneidend erscheint die Reduzierung der zu bebauenden Grundfläche auf 50 %. Dabei fal- len Vorgärten nur dann unter nicht bebaute Flächen, wenn sie weiter als 3 m hinter der Straßen- flucht liegen. Bei Eckgrundstücken von weniger als 600 qm sind 75% der Grenzwert für die zu bebauende Fläche. An Straßen bis 17 m Breite wird die Geschosszahl einschließlich Erdge- und von der nachbarlichen Grenze...“ verdeutlicht sein (Seelig, 1876, S. 133). 687 „Höhe der Gebäude. § 24. Allgemeine Bestimmungen. Die Höhe der Gebäude, welche in den Fronten vom Erdreich bis zur Oberkante des Dachgesimses, bei Giebelwänden bis zum Fußpunkte der Giebel und bei abfallendem Terrain im Mittel gemessen wird, darf das Maaß von 20 m nicht überschreiten“ (Seelig, 1876, S. 140). 688 Wiegand sieht in der Änderung der Bauordnung 1885, 1900/01, 1906, 1913 eine Anpassung der Vor- schriften an veränderte Ansprüche, d.h., sie sind „immer differenzierter und umfangreicher in ihren Para- graphen formuliert“ (Wiegand, 2005, S. 37). 689 Der Baupolizeiordnung I folgen BPO II vom 1. Nov. 1902 und BPO III vom 3. Nov. !902 (Schirp, 1905, S. 561ff., S. 599ff). 690 In der Baupolizeiordnung I heißt: „§ 26. Allgemeine Bestimmungen. Als Fronthöhe an Straßen gilt das Maß von der Bürgersteigshinterkante, für Hintergebäude das Maß von der Oberfläche des Hofes, bis zur Oberkante des Hauptgesimses oder Attika, bei überhängenden Dächern bis zur Unterkante der Dachschalung an der Frontseite (Schirp, 1905, S. 515). BPO II heißt: § 26. Allgemeine Bestimmungen. 1. Als Gebäudehöhe gilt an Straßen das Maß von der Straßenkrone, an Höfen das Maß von der Oberfläche des Hofes bis zur Oberkante des Hauptgesimses.... an der Vorderseite (Schirp, 1905, S. 561). BPO III heißt: § 20. Allgemeine Bestimmungen. 1. Als Gebäudehöhe gilt an Straßen... [es folgt die gleiche Formulierung nur die Angabe zu Höfen wird fortgelassen.]“ 691 In BPO I heißt es: „§ 30. Anzahl der Geschosse. In einem Gebäude dürfen über dem Erdgeschoss nicht mehr als vier zum dauernden Aufenthalt von Menschen bestimmte Geschosse übereinander angelegt werden. Ein Geschoss, das sich ganz oder teilweise unter der Erdoberfläche befindet, wird bei der Berechnung der Geschosszahl als besonderes Geschoß nicht mitgezählt. § 31. beschäftigt sich mit Maßen zum Dachgeschossausbau“ (Schirp, 1905, S. 517). BPO II formuliert: „§ 30. Anzahl der Geschosse. In einem Gebäude...angelegt werden. Ausnahmsweise kann ein derartiges Geschoss, das sich bei steil abfallendem Gelände ganz oder teilweise unter der Erdoberfläche befindet, bei der Berechnung der Anzahl der Wohngeschosse außer Ansatz bleiben“ (Schirp, 1905, S. 563.) BPO III „§ 23. Anzahl der Geschosse“ [Gleiche Formulierung wie unter BPO III] (Schirp, 1905, S. 601). 692 Baupolizei-Ordnung vom 1.1.1901, „Beschränkte Bauordnung“ § 78 Abs. 1-5, „Offene Bauordnung“ § 80. 210 schoss und ausgebautem Dachgeschoss auf vier reduziert. Ein Untergeschoss, das ganz oder teilweise unter der Erdoberfläche oder Straßenkrone liegt, wird nicht mitgerechnet. An Straßen breiter als 17 m sind 5 Geschosse zulässig. Bei „offener Bebauung“693 gilt gleichfalls der oben angeführte § 78 und wird ergänzt durch: Geschäftsläden und Werkstätten sind ausnahmsweise zu erlauben. Die Länge der Gebäude oder Gebäudegruppen darf 30 m nicht überschreiten. Ausnahmen gibt es bei Einfamilienhäusern sowie öffentlichen Gebäuden. Bei Eckgebäuden bezieht sich die Frontlänge auf jede der beiden Straßen. Für Hinter- und Nebengebäude sind nur ein Obergeschoss und ein Erdgeschoss zuläs- sig, die Gebäude dürfen nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit Hauptgebäuden stehen. Neben der Straßenfront sind auch freiliegende Seiten der Gebäude architektonisch zu gestalten. Fachwerk kann bei mehr als 4 m Grenzabstand über dem Erdgeschoss erstellt werden. Ab 1906 wird die Höhe bei Vorderhäusern von 20 m auf 22 m heraufgesetzt, die von Hinterhäu- sern von 20 m auf 12,5 m reduziert. Zulässige Bauformen um „Landhausmäßige“ Bebauung erweitert. Bei offener Bebauung wird die zu bebauende Fläche auf 4/10 verringert, landhausmä- ßige Bebauung weiter eingeschränkt. Gebiete offener Bebauung694 des Hohenzollernviertels erfahren in der Ordnung von 1913 eine Abstufung, wobei die Geschosszahl sich auf fünf erhöht. Die bei Berensmeyer festgestellte Überbebauung von 50 % der Grundfläche zu Wohnzwecken lässt sich bei der herangezogenen Baupolizeiordnung I vom 5. März 1913 nicht bestätigen. Karte 10: Veränderungen der Bauvorschriften (nach Berensmeyer) Die Veränderungen der Bauvorschriften werden mit Hilfe der Karte verdeutlicht. Drei unterschiedliche Zonen des Stadtausbaus ab 1901 liegen vor (Berensmeyer, 1979, S. 133-135.) Die Stadterweiterung der 1. Phase ab Ständeplatz wird von Einschränkungen ausgenommen. Dieser Abschnitt ist 1901 weitgehend abgeschlossen.. Flächen westlich der Grenze: Bahnhofs- vorplatz, Victoria -, Park Str., Quer Allee und Wilhelmshöher Allee, unterliegen beschränkter Bebauung (Bauordnung § 78, Abs. 1-5.) Flächen nördlich der Kölnischen- sowie zwischen Kölnischer- und Auguste Victoria-, westlich der Tannenkuppen Str. sowie ausgewiesene Parzellen westlich der Germania Str. und nord- westlich des Flora Parks unterliegen der offenen Bebauung (Bauordnung § 80). Die Anwendung der Bauordnung scheint bei Wohnbauvorhaben Aschrotts in der Anfangsphase der Stadterweiterung nur indirekt zu erfolgen, das bedeutet, sie wird nicht stringent umgesetzt. Anfangs hat der Straßenbau, durch Vertrag von 1869 festgelegt, Vorrang. Umsetzungen des Straßenbaus führen aus unterschiedlichen Gründen (Eigentumsverhältnisse, Straßengefälle u.a.) zu Interventionen durch Stadt oder Polizei-Direktor. Reaktionen der Verwaltung erfolgen durch Einfluss von außen, bei Veränderung in der Verwaltungsspitze oder bei erfolgter Bau- ausführung seitens Aschrotts. Ab 1900 wird dagegen von Seiten der Bauverwaltung gegen Aschrott im Hohenzollernviertel vorgegangen. 693 Die Vorschriften für offene Bebauung passt man denen der beschränkten Bebauung an. D.h. Läden sind nur ausnahmsweise gestattet und Vorgärten sind nicht gewerblich zu nutzen (Wiegand, 2005, S. 38). 694 In der Baupolizeiordnung heißt es unter: „§ 64. Bauvorschriften. 1. Kein Grundstück darf bis zu 30 m Tiefe mehr als zu 4/10, darüber hinaus mehr als zu 3/10 der hinter der Bauflucht verbleibenden Grundfläche bebaut werden. 2. Vordergeschosse dürfen höchstens vier Wohngeschosse erhalten. 3. Die Entfernung eines Vordergebäudes von der Nachbargrenze muss wenigstens 3 m und von dem Nachbar- gebäude wenigstens 6 m betragen. Weiter wird auf den Abstand bei ausgebautem Dachgeschoss und mehr als drei Wohngeschossen eingegangen. In dem Fall beträgt der Grenzabstand 5 m und 10 m.“ (Baupolizeiordnung 1906.) 211 Karte 10: Ver nderung der Bauvorschriften (nach Behrensmeyer) Regulierung f r Wohnbebauung offene Bebauung ohne Einschr nkung bis 50% (1901) bis 40% (1906) bis 50% (1913) Stadtplan zum Stand 1913 Bl cke Roland Demme Klaus Horn (Kartographie) Universit t Kassel September 2005 0 200 400 600 800 1.000100 Meter 1:20.000 S.Aschrott : Das Hohenzollern-Stadtteil-Unternehmen offene Bebauung: zul ssige berbaute Grundfl che beschr nkte Bebauung : bis 50 % beschr nkte Bebauung 212 7.7.8 Bauvorhaben und Statutenänderungen – ein Wechselspiel In der Anfangsphase der Stadterweiterung unterstreicht das Consortium, den vorliegenden Be- bauungsplan mit Straßenanlagen verwirklichen zu wollen. Ob der Plan selbst einem Entwurf von Unternehmerseite entspricht oder ob er auf Vorstellungen der Verwaltung beruht, ist nicht nachzuweisen. Wiegand vertritt die Ansicht, Aschrott habe bei der Entscheidung für einen Fluchtlinienplan keinen Einfluss ausgeübt. Erst während der Diskussion um die Pläne innerhalb der Gremien habe er „entsprechend weitsichtige Schlüsse“ gezogen und sich in das Projekt ein- gebracht (Wiegand, 2005, S. 122/123). Eine solche Annahme wirft verschiedene Fragen auf. Welche Absichten verfolgt eine Kommune Pläne voranzubringen, ohne über eine Lösung zur Umsetzung zu verfügen? Wie will eine mittellose Stadt ein solches Projekt realisieren? Gibt es womöglich mehrere Investoren? Die Erkenntnis, dass Grund und Boden ein Kapital darstellen, entwickelt sich zum Antrieb von Stadtbauprozessen in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Gesellschaften, Banken und Einzelper- sonen nutzen die Chance, um sich auf einem neuen Markt zu etablieren. So beginnen sie mit umfangreichen Landkäufen, mit dem Ziel, eine hohe Rendite zu erwirtschaften. Solche Denkan- sätze sind für die Kasseler städtische Verwaltung in dieser Phase nicht anzunehmen. Hier wird lediglich argumentiert, möglicherweise die begonnene Stadterweiterung nach Westen fortzuset- zen, um vielleicht mehr Steuereinnahmen zu erzielen. Den Bauprozess mit städtischen Mitteln zu finanzieren, wird nicht angedacht, was auch für andere Kommunen gilt. Weiter erscheint die Verwaltung für eine Umsetzung sowohl in personeller als auch in konzeptioneller Hinsicht nicht in der Lage, einen solchen Prozess zu steuern. Erst das Angebot des Consortiums, dessen Spre- cher und Ausführender Aschrott ist, eröffnet für die kommunale Verwaltung die Chance, eine Stadterweiterung mitzubetreiben. Das vorschnelle Handeln des Großgrundbesitzers zum einen bei seiner Nachfrage in Berlin, um mit der Namensgebung für seine Absichten zu werben und um gleichzeitig Aufmerksamkeit zu erreichen, verdeutlichen Aschrotts Intentionen. Zum anderen gibt z.B. sein Vorgehen bei nicht genehmigten Gebäuden in der Annastr. einen Hinweis auf Handhabung existenter Vereinbarun- gen. Die Ortsstatuten stehen im engen Zusammenhang mit den Bauaktivitäten Aschrotts. Die Stadt versucht in den kapitalistischen Bodenmarkt einzusteigen und diesen zu reglementieren. Ist es anfangs bei neuen Stadterweiterungen ausschließlich der Kapitalgeber, der Form und Umfang der erforderlichen Wohnbauten bestimmt, wird der Ausbau von Stadterweiterungen mit Verträ- gen zwischen Unternehmer und der Stadt oder auf dem Hintergrund von Konzessionen, die die Königlichen Regierung erteilt, geregelt. In diesem Stadtbauabschnitt steht der Stadt bei Abfas- sung der Bebauungspläne nur geringer Einfluss zu, da die Baufluchtlinien die Königliche Regie- rung festlegt. Die Stadt kann die Bedingungen mitbestimmen, da es sich schließlich um die Übernahme der neuen Straßen in ihr Eigentum handelt und diese von ihr unterhalten werden (Ruhnau, 1983, S. 237). Im Weiteren gelingt es durch Administrationsveränderungen seitens der Regierung, bei der Aufstellung von Bebauungsplänen der Stadt mehr Einfluss zuzubilligen und diese regelnd mit- zugestalten. Neue Straßenanlagen unterliegen städtischer Kontrolle in Bezug auf Lage und Aus- führung sowie deren Preisgestaltung. Diese Art städtischer Einflussnahme auf die Kräfte des Marktes führt wahrscheinlich zu einer Erhöhung der Straßenkosten, die von den Anliegern voll zu tragen sind. Das bedeutet für Aschrott eine Verringerung von Grundstücksverkäufen, denn höhere Grundabgaben haben umfangreichere Geldaufnahmen zur Folge oder sind für den Ein- zelnen zu teuer. Für den Kaufmann stellt sich nicht die Frage, über einen niedrigeren Grund- stückspreis den Bodenverkauf anzukurbeln. Das ist nach seiner Vorstellung ungerecht gegen- über den Bauherren, die bereits gebaut und noch Grundstückshypotheken abzuzahlen haben, die bei geringerem Grundstückspreis getilgt seien. Das Festhalten am Quadratmeterpreis als Preis- bindung, wird sicherlich nicht alleinige Ursache für das Stagnieren von Grund- und Bodenver- käufen sein und den Ausbau zu einem geschlossenen Viertel westlich der Querallee im großen 213 Stil wie in anderen Großstädten, hemmen. Allgemeine wirtschaftliche Depression und Verord- nungen örtlicher Verwaltung tragen mit zu retardiertem Bauen bei. Schulze-Kleeßen nennt in seiner Untersuchung zur Frankfurter Zonenbauordnung (Schulze- Kleeßen, 1985, S. 324) ein Beispiel für die Kosten einer Alleeanlage und die damit verbundene Möglichkeit der Finanzierung durch Bauplatzabsatz. Die Zahlen beziehen sich auf die 60er Jahre in der Frankfurter Außenstadt, die als eine „gute Stadt“ zu bezeichnen ist, weil Industrie- anlagen ausgeschlossen sind. Dies Beispiel entspricht, wie erwähnt, den Aschrottschen Wohn- vorstellungen. Die Allee hat eine Breite von 80 Fuß.695 Dafür werden 272 Morgen Land kalkuliert; der Morgen zu 3000 Gulden. Daraus ergibt sich das Produkt von 816000 Gulden. Man nimmt an, dass die Stadt sich in 25 Jahren an dieser Allee ausdehnen wird. Kalkuliert man dann mit einem Qua- dratmeterpreis von einem Gulden, so ergeben die an der Allee liegenden Bauplätze einen Ge- samtwert von 4,08 Millionen Gulden. Der Gewinn beläuft sich dabei auf 3,264 Millionen Gul- den; die Allee ist bei solcher Kostenrechnung eine Gratiszugabe. Sie wird schließlich der Stadt mit Vertrag übereignet, denn diese ist für die Unterhaltung der Straßen zuständig, da es sich nicht um private, sondern öffentliche Straßen handelt. Bei dieser Aufstellung sind die Anlieger- kosten im Grundstückspreis eingeschlossen. Auch Aschrott wird über derartige Informationen verfügen, um sich für ein solches Bauprojekt zu entscheiden. Diese Bauabsichten werden zunehmend in der Bevölkerung bekannt, denn ab 1868 tätigen viele Kleinanleger Landankäufe. Ihre Aktionen zeigen, wie fortgeschritten die Planungen sind, so investieren sie in Parzellen unmittelbar an den Ständeplatz anschließend. Man kann davon ausgehen, dass das Kasseler Stadterweiterungsprojekt hier beginnt. Auch Aschrott wird dort ebenfalls aktiv (siehe sein Abkommen mit Credé Kap. 7.4.5), wobei die Ge- heimhaltung im Vertrag festgehalten ist. Aschrott möchte nicht, dass sein überaus großes Inte- resse in der Öffentlichkeit bekannt wird. Mit dem Consortium will Aschrott Berliner Verhältnisse auf Kassel übertragen, um einen qua- litativ hochwertigen Bodenmarkt zu schaffen. Die Absichten Aschrotts erklären z.T. die Fest- stellung Miquels für Frankfurt, indem er ausführt: „Die Bauspeculation wirft sich vor allem auf den Bau größerer Häuser mit größeren Wohnungen und vermeidet so lange als möglich die Herstellung von eigentlichen Arbeiterwohnungen, weil dabei das Risiko größer und der Eingang und die pünktliche Zahlung der Miethen unsicherer ist“ (Miquel, 1886, X, in: Weiland, 1985, S. 349). Es scheint im Übrigen gewollt, keinen Wohnraum für das Industrieproletariat bereitzu- stellen und die Ansiedlung jeglichen Gewerbes in diesem Viertel auszuschließen. 695 Folgende Maße sind angegeben: ¾ Feldruten entsprechen 2,67 m; 80 Fuß entsprechen 22,77 m; 1 Feldmorgen ist gleich 160 Quadratfeldruten; 272 Feldmorgen entsprechen also 550,819qm; 1 Gulden (fl) ist 1,71 3/7 Mark(Mk); bei Umrechnung mit dem in der Grundstückswirtschaft üblichen Bau- kostenindex ergibt sich für August 1984 ein Wert von 38,05 DM/qm (Schulze-Kleeßen, 1985, S. 341). 214 8 Berliner innerstädtischer Verkehr – Ringbahnproblematik – als Vorbild Aschrotts Die Betrachtung der Bodenrente unter dem Gesichtspunkt der Grundstückslage veranlasst Bo- denschatz anzunehmen, dass die Lagerente durch stadtpolitische Entscheidungen künstlich er- zeugt oder wenigstens beeinflusst werden kann. Die Folgen von innerstädtischen Investitionen verändern den Wert des Bodens. Dabei ist nicht von entscheidender Bedeutung, mit welchem Kapitalvolumen das Grundstück bebaut wird, sondern die überörtliche Einbindung der Großflä- che in die Verkehrsvorhaben bewirkt, was im engen Umfeld durch die Anlage von Straßen, Kanalisation, Wasser und Straßenbeleuchtung geschieht. Zu den Initiatoren verbesserter La- gerente zählen die Stadt, die Kommune und das private Kapital. Die Lage wiederum kann mit historischen, ästhetischen oder ideologischen Bezügen Infra- struktureinrichtungen erleichtern und dadurch ebenfalls die Bodenrente erhöhen (Bodenschatz, 1983, S. 82/84). Die Eisenbahn, wie schon mehrfach betont, erweist sich als äußerst wichtiger Verursacher beim Anstieg von Bodenpreisen. Das Verkehrsmittel beeinflusst in Deutschland Mitte des 19. Jahr- hunderts entscheidend die Verhältnisse in Raum und Zeit. Zuerst erfährt ein Teil der Gesell- schaft eine gesteigerte Mobilität, ehe sich ein leichterer und schnellerer Güteraustausch einstellt. Das Wachsen der Städte wird wiederum durch das Fehlen innerstädtischer Verkehrsmittel ge- bremst. So findet in der Altstadt Berlins, wie auch für Kassel ausgeführt, eine Wohnungsver- dichtung statt, wobei der Ausbau der Stadt in die Fläche bei Trennung von Wohnen und Arbei- ten eine bestimmte Entfernung nicht übersteigen kann. Gustav Müller verbindet 1912 die An- lage einer Straße für den öffentlichen Verkehr mit einer Verbesserung der Wohnraumlage, was eine gesteigerte Wohnungsnachfrage bewirkt. Ähnliche Entwicklungen wie beim Straßenbau wiederholen sich bei der Anlage von Straßenbahnen, die einen raschen Massenverkehr erlauben. (Müller; in: Bodenschatz, 1983, S. 93.) Im dritten Viertel der 19. Jahrhunderts besteht in Berlin noch kein direkter Zusammenhang von Interessenten der Bodenvermarktung und dem sich entwickelnden Nahverkehr. Ähnliches ist auch in Kassel zu beobachten. Ein gemeinsames Vorgehen wird aber bei der Entwicklung von Siedlungskonzepten gefordert; was durch den Druck der Bodenspekulation des Kapitals in der Gründerzeitphase ausschließlich auf den Erwerb günstiger Lagen ausgerichtet ist, kann vorerst nicht verwirklicht werden. Die Spekulanten warten nicht erst auf die Steigerung der Bodenrente, sondern versuchen aktiv zu werden. Es kommt zu vorörtlichen Verkehrsanlagen. Diese Unter- nehmen probieren auch, sich auf dem Bodenmarkt zu beteiligen. Aber erst mit dem Eintritt der Banken beim Terraingeschäft werden die unterschiedlichen Interessen des Großkapitals zu- sammengebracht. Eine schnelle Erweiterung des Stadtraums findet statt. Die Errichtung von Industriestandorten in Randgebieten Berlins, wo bei einer verstärkten Citybildung eine räumli- che Trennung von Wohnen und Arbeiten unumgänglich ist, manifestiert gleichzeitig eine Ab- grenzung von Bürgerlichen und Proletariern innerhalb der Gesellschaft und weist für Berlin gehobenes Wohnen im Westen und Südwesten und Arbeiterviertel im Norden und Osten auf. (Radicke, 1983, S. 345/346.) Bereits 1846 richten private Berliner Verkehrsunternehmen Pferdeomnibuslinien696 ein. 1865 nimmt die Berlin-Charlottenburger-Pferde-Eisenbahn697 ihren Betrieb auf. Schließlich drängen kapitalkräftige Verkehrsgesellschaften wie die „Allgemeine Berliner Omnibus Gesellschaft“ 1868 und die „Große Berliner Pferde-Eisenbahngesellschaft“ 1871 als Aktiengesellschaft auf den Berliner „Bodenmarkt“. (Radicke, 1983, S. 343.) 696 1847 findet die Eröffnung der „Concessionierten Berliner Omnibus Compagnie“ statt. Sie betreibt 5 Linien mit 20 Wagen und 120 Wagen (Peters, 1995, S. 107). 697 Erste deutsche Pferdeeisenbahn verkehrt zwischen Kupfergraben und Charlottenburg mit doppel- stöckigen Wagen und maximal 50 Passagieren (Peters, 1995, S. 107). 215 Vermögende Kaufleute errichten Villenkolonien (Lichterfelde und Westend) mit Landhausbe- bauung für gehobenes Wohnen. Dagegen entstehen in der Nähe von Industriestandorten Arbei- terviertel und der Typ des Berliner Mietshauses698, während die Kolonien einen günstigen Standort zu Fernreisezügen ausweisen, sind Eisenbahngesellschaften wenig an stadtnahen Bahnhöfen interessiert. Hier wird aus ihrer Sicht nicht viel verdient. Dagegen lässt der Ver- markter von Lichterfelde Carstenn aus eigenen Mitteln Bahnhöfe anlegen und übernimmt für die Bahn eine Einnahmegarantie. Der Gründer der Villenkolonie Alsen, 15 km südlich von Berlin, der Bankier Conrad, ist gleich- zeitig im Vorstand der Berlin-Potsdamer-Eisenbahngesellschaft. Sie baut zur Erschließung des Terrains eine Zweigbahn, die Potsdamer Bahn. Die vom Preußischen Staat bereits 1864 geplante und 1869-71 umgesetzte Verbindungsbahn699 der Berliner Bahnhöfe700 wird kreisförmig mit einem Radius von 6-8 km um die Stadt geführt. Ursprünglich militärischen Zielen dienend, sollen Militärtransporte schneller von den in Kopf- bahnhöfen endenden Fernzügen auf andere verlegt werden. Das findet auch im Güterverkehr und schließlich 1871 für den Personentransport Anwendung. Auf diesem Sektor hält sich die Bahn anfangs völlig zurück. Nach Einführung des Ringbahnprojektes steigt die 1871 von dem Berliner Rittergutbesitzer Dr. Martin Elbers gegründete Bahn als „Große Berliner-Pferde Eisenbahn Actien-Gesellschaft“, zum bedeutendsten Verkehrsunternehmen Berlins auf und richtet 1873 die erste Linie vom Ro- senthaler Tor zum Gesundbrunnen ein. Diese verkehrstechnischen Neuerungen geschehen noch vor der Zeit des Börsen- und Bankenkrachs von 1873 (Radicke, 1983, S. 348-354) , unter des- sen Folgen viele Terraingesellschaften durch fehlende Liquidität von der Bodenmarktszene verschwinden. Die hier skizzenhaft angeführten Verkehrsentwicklungstendenzen Berlins finden in Aschrott einen Anhänger, der diese Fragen rechtzeitig in Kassel angehen will. Darauf verweist schon der Vertrag von 1869 zur westlichen Stadterweiterung, in dem bei § 6. die Stadt die Genehmigung einer Eisenbahn von Ständeplatz bis Querallee erteilt.701 Auch der Buchhändler Georg Heinrich Wigand hat die Problematik erkannt. Beide versuchen Berliner Vorbilder in Kassel umzusetzen. 8.1 Plan für einen neuen Durchgangsbahnhof Die unterschiedlichen Niveaus der Kassel erreichenden Bahnlinien wie: Kassel- Lippstadt und Kassel-Frankfurt hätten bei der Anlage von zwei nicht miteinander verbundenen Bahnhöfen 698 Die explodierende Industrie führt zu einer städtischen Bevölkerungsentwicklung, die in Berlin privat- wirtschaftlich mit den Berliner Mietskasernen gelöst werden soll, deren 20 m Straßenfront eine 56 m lange fensterlose Brandmauer begrenzt und auf sieben Geschossen 650 Menschen beherbergt. Diese Unterbringungsart ist ein lukratives Geschäft zur Beherbergung von Unterschichten (Peters, 1995, S. 115). 699 Der Berliner Planer Orth sieht in der Verbindung der neuen Verkehrsadern, den in Kopfbahnhöfen endenden Schienensträngen, die „Hauptaufgabe der modernen Städtebildung“ (Orth; in: Bodenschatz, 1985, S. 489). Die Eisenbahn hat nicht nur mit Fernreisen die Mobilität explodieren lassen, sondern Gleiches wird von dem innerstädtischen Verkehr gefordert. Nach Orths Ansicht kann nur eine Dampfeisenbahn dieses lokale Massenverkehrsproblem lösen. Er konstruiert die „Berliner Centralbahn“, die er als Erschließungsbahn für neues Bauland definiert, und die als Paralleleffekt die Grundstückspreise und Mieten fallen lässt. Er spricht sich für die Hinwendung zur Stadtmitte aus, dies würde durch die Centralbahn die Lagerente in Richtung zum Zentrum erhöhen und durch den innerstädtischen Verkehr Änderungen in den Nutzungsstrukturen ergeben. 700 1868 sind 2460 Pferdedroschken im Einsatz, um die Kopfbahnhöfe zu verbinden. Dagegen arbeiten 1916 noch 1904 Pferdedroschken und 64 Torwagen (Wagen für Kurzfahrten ins Umland) (Peters, 1995, S. 107). 701 St A M, Best. 165, Nr. 1452, Bd. 3; Bl. 214-287, F 11781. 216 eine wesentliche Bauerleichterung702 gebracht. Es setzt sich schließlich der von dem belgischen Ingenieur Splingard beeinflusste Entwurf durch, die Streckenführung von Guntershausen aus auf die westlichen Höhen des Fuldatals zu verlegen und an dem Nordabhang des Kratzenbergs vorüber in einem Kopfbahnhof enden zu lassen (Schmidt, 1927, S. 72/73). Dieser wird, wie erwähnt, 1857 eröffnet. Der Zugverkehr nimmt jedoch ständig zu und zwangsläufig führt das vor allem beim Durch- gangsverkehr zu Schwierigkeiten, die nicht nur am Wechsel der Lokomotive liegen. Häufig ist es erforderlich, zwei oder drei Züge auf einem Gleis zu positionieren, d.h. ankommende Züge werden auf bereits besetzten Gleisen abgefertigt, was die Laufwege der Passagiere erhöht. Zu- sätzlich ist bei Durchgangszügen wie Frankfurt-Hamburg oder Frankfurt-Berlin eine Strecken- führung von 4500 und 7100 m Umweg erforderlich. Dazu zwingt die Einfahrt in einen solchen Bahnhof zu Tempominderung, so dass sich unter diesen Voraussetzungen die Fahrzeit um 10 bis 15 Minuten verlängert. Diese Bedingungen zwingen zu Umbaumaßnahmen. Abb.: 57 Projektion für einen neuen Durchgangsbahnhof Die Bahnhofsproblematik ist bekannt, und deshalb schlägt der Fabrikant Aschrott Mitte der 70er Jahre einen Durchgangsbahnhof Berlin-Wetzlar703 (Waldkappel)704 vor. Hier handelt es sich um 702 Dieser Vorschlag wird von der „Kommission für Eisenbahnbau“ und auch von Berlin 1840 abgelehnt. Man befürwortet wegen schnellerer und einfacherer Fahrplangestaltung sowie einer erforderlichen Vernetzung von Stationen einen Durchgangsbahnhof anstelle eines Kopfbahnhofs. Für ersteren bieten sich aus damaliger Sicht folgende Standorte an: Rechtes Fuldaufer in der Nähe des Siechenhofes in Bettenhausen, auf der linken Fuldaseite im unbebauten Gartengelände vor dem Wesertor. Diese Fläche wird vermessen und planmäßig erfasst. Die dritte Version liegt am oberen Ende, dem „Zwehrener Triesch“ der Carls-Aue (Schmidt, 1927, S. 72). 703 Karte: „Das Hohenzollern-Stadttheil-Unternehmen von R.S. Aschrott.“ 704 Im Juni 1875 schreibt der Minister für Handel und Gewerbe in Berlin an die zuständigen Stellen, den Kgl. Präsidenten der Provinz v. Bodelschwingh und die Kgl. Eisenbahn Direktion, die Untersuchungen 217 die projektierte Strecke über Bettenhausen, Helsa, Lichtenau nach Waldkappel,705 um dort auf die, wie im Kap. 3.1.2 angesprochen, „Berlin-Coblenzer-Eisenbahn“ zu stoßen, die als kürzeste Verbindung zwischen der Reichshauptstadt und dem Rhein gilt. Für einen weiteren Ausbau erscheint sie, abseits größerer Zentren verlaufend, als chancenlos. Sie kann lediglich als Militärverbindung zu möglichen Konfliktherden in Frankreich fungieren. Die Absichten Aschrotts werden wegen „seines spekulativen Charakters für zu gewagt gehalten“ und somit verworfen (Schmidt, 1927, S. 73). Bei Realisierung eines Durchgangsbahnhofs verändern sich die Strukturen der Stadt selbst und initiieren neue großräumige städtische Entwicklungschancen. Die Entstehung eines Bahnhofs- viertels an der Kohlenstraße hat den Ausbau eines Vorplatzes und einer Bahnhofsstraße zur Folge. Gleichzeitig bildet sich hier eine Bündelung des modernen innerstädtischen Massenver- kehrs (Bodenschatz, 1983, S. 87/88) heraus, der zu einer veränderten städtischen Entwicklung mit differenzierten Quartieren führt. Der im Westen angelegte Durchgangsbahnhof stellt an- fangs keinen mit der Stadt integrierten Verkehrsplatz dar, würde aber infolge seiner verkehrs- technischen Voraussetzungen in absehbarer Zeit nicht nur auf die Strecke Berlin-Wetzlar be- schränkt bleiben, sondern die Main-Weser-Bahn, die Linie Bebra-Halle, Warburg-Hamm sowie Hann.Münden-Hannover an sich binden. Oberhalb des Dorfes Wehlheiden in unmittelbarer Nähe zu dem Hohenzollernviertel entstände ein neues Quartier, das dem Frankfurter Bahnhofsviertel nicht nur im baulichen Ausdruck, son- dern auch unter finanzpolitischen Aspekten ähneln würde. Aschrotts finanztechnischen und bauplanerischen Kontakte zur Frankfurter Baubank weisen bereits darauf hin. Unter Federfüh- rung der Bank entsteht der Neubau der Infanteriekaserne und durch sie wird der Abbruch der alten Anlage an der Unteren Königsstraße abgewickelt. Die Gestaltung des Durchgangsbahn- hofs sowie die Projektierung eines neuen Bahnhofsquartiers erscheint im gegenseitigen Ge- schäftsinteresse vorstellbar. Aschrott verfolgt mit der Streckenführung östlich der Tannenkuppe mehrere Ziele. Die Bahn wird über sein Terrain geführt; damit erhöht sich die Chance, die schleppende Bauentwicklung in den am weitesten westlich gelegenen Arealen anzuschieben. Gleichzeitig nehmen seine Flä- chen südlich der Wilhelmshöher Allee in der Nähe der Dorfes Wehlheiden und die Grundstücke im Auefeld an Bodenrente zu. Der neue Bahnhof706 wäre in den Gesichtskreis der Kaiserstraße gerückt und leichter und schneller von ihr aus zu erreichen als der Hauptbahnhof Kassel-Ober- stadt. Mit dieser gesamtstädtischen Verschiebung würde Aschrott eine Erhöhung der Lagerente im Bereich Kaiserstraße erreichen und die Wegstrecke zum Tor nach außen und nach innen verkürzen. Der Hauptbahnhof hätte nach Eröffnung des Durchgangsbahnhofs viel von seiner Funktionalität verloren, existiere als regionaler Haupthaltepunkt jedoch weiter. Die Bahnhofsverwaltung hat bereits die Zugkulminierung zu entschärfen versucht, indem sie Güterzüge aus dem Kopfbahn- für eine Eisenbahn „von der Controllstation bei Cassel über Helsa und Lichtnau nach Waldkappel zum Anschluss an die Linie Berlin-Wetzlar auszudehnen.“ Die bereits vorhandenen Pläne bis Helsa sollen eventuell von dem „Directorium der Magdeburg-Cöthen-Halle-Leipziger Eisenbahngesellschaft“ benutzt und berichtigt werden. Der Ober-Präsident sei angewiesen, polizeilichen Schutz zur Terrainaufnahme zu leisten und die Kgl. Eisenbahn Direktion, die in Frage kommenden Techniker zu benennen (St A M Best. 175, Nr. 545). 705 Diese Strecke wird 1880 von Kassel-Wilhelmshöhe in Betrieb genommen (Münzer, 2002, S. 138). 706 Für den 26.-28. März 1877 ordnet die Kgl. Regierung eine landespolizeiliche Prüfung des Projekts Eisenbahnlinie Cassel-Waldkappel an. Die Tagesetappen werden mit Bettenhausen, Helsa oder Eschenstruth und Waldkappel festgelegt. Als Leiter der Kommission fungieren Regierungsrat Schwarzen- berg und Regierungs- und Baurat Lange. Der OB Weise wird aufgefordert selbst oder durch einen Kommissar die Strecke auf der Gemarkung der Stadt Kassel mit zu prüfen. - Obige Stelle fordert schließ- lich 1880 den PD und die Kgl. Eisenbahn Direktion zu Frankfurt auf, einen Revisionszug zur Verfügung zu stellen, um vom Bahnhof Wilhelmshöhe am 3. März nachmittags um 3 Uhr die Strecke bis Betten- hausen baupolizeilich abzunehmen (Best. s.o.). 218 hof herausnimmt und 1871/72 den Bahnhof Kassel-Unterstadt707 ausbaut, der als Güterbahnhof fungiert. Mit der Entwicklung des Güterverkehrs für die unteren Stadtteile Kassels wird ein Rangier- bahnhof notwendig, der auf der Karte als Central-Bahnhof bezeichnet wird. Dabei handelt es sich um den Kasseler Verschiebebahnhof, der 1881 in Betrieb genommen wird, drei der Kassel anfahrenden Linien aufnimmt, gleichzeitig den Unterstadtbahnhof bedient und den Güterdurch- gangsverkehr umleitet. Kasseler Wirtschaftsunternehmen werden in Form einer Industriebahn mit verschiedenen Privatanschlüssen versorgt (Schmidt, 1927, S. 76/77). Die Infanteriekaserne erhält über die Central (Bahnhof) Straße Anbindung an das Schienennetz. Aschrotts Vorschlag trifft auf Ablehnung bei den Behörden, weil der Hauptbahnhof Kassel- Oberstadt 708 bereits als Verkehrknotenpunkt von Stadt und Bevölkerung angenommen und in die Friedrich-Wilhelmsstadt integriert ist. Man hat noch das Ziel der Verbindung Bahnhof und Innenstadt über die durchgebaute Museumsstraße vor Augen. Die Kasseler Geschäftsleute ha- ben kein Interesse, ihre potentiellen Kunden durch die Verlegung des Bahnhofs an die unbe- baute Peripherie709 der Stadt zu verlieren. Mit dem Durchgangsbahnhof will Aschrott Probleme angehen, die die Kasseler Verwaltung trotz zunehmender Verkehrskonflikte ignoriert; wegen fehlender Finanzmittel plant sie nicht bedarfsgerecht, gibt dem Druck der Geschäftswelt nach und aus Mangel an Weitsicht und ent- wicklungspolitischer Überzeugung verwirft sie sinnvolle Konzepte. Über hundert Jahre bleibt der Kopfbahnhof bestehen, bis der Bau einer Hochgeschwindigkeits- strecke eine neue Trasse verlangt, die nur einen Durchgangsbahnhof als Haltepunkt erlaubt. Der Zustand, wie im Kap. 3.1.2 beschrieben, von einer wichtigen Bahnlinie abgeschnitten zu sein, sollte sich nicht wiederholen. 8.2 Innerstädtische Verkehrsprobleme Vierundzwanzig Jahre nach Inbetriebnahme der „Concessionierte[n] Berliner Omnibus Compa- nie“710 in Berlin richtet der Buchhändler Georg H. Wigand711 für den Zeitraum der Industrie- 707 Der Unterstadtbahnhof wird als Güterbahnhof der Halle-Kasseler Bahn (über Nordhausen) gebaut. Als Betreiber arbeitet die Magdeburg-Cöthen-Halle-Leipziger Eisenbahngesellschaft (Schmidt, 1927, S. 76). 708 Für Kassel-Oberstadt (Ks-O) und Kassel-Unterstadt (Ks-U) ergeben sich folgende Fahrgastzahlen einschließlich Militär und Gütertransporte in Tonnen (t) ohne Vieh: Ks-O Ks-U angekommen abgefahren Empfang (t) Versand (t) 1866 64159 61803 38462 36961 1872 78929 75170 71758 75988 1877/78 132237 129695 43299 25145 Die Personenzahl steigt in dem Zeitraum um mehr als das Doppelte an, das Transportvolumen um 12,5%, der Versand geht um 4,9% zurück. Die Zahlen für 1872 erklären sich aus dem Wirtschaftsboom in diesem Zeitabschnitt (Schmidt, 1927, S. 66.) 709 Am 1.10. 1905 wird ein neuer Haltepunkt an der Strecke Kassel-Waldkappel zwischen Hauptbahnhof und Wilhelmshöhe Kassel-Kirchditmold eingerichtet. (Schmidt, 1927, S. 78) Dieser Haltepunkt kann nicht als Stelle für einen Durchgangsbahnhof unter dem Blickwinkel des Planers Aschrott angesehen werden, da nicht nur die Zusammenlegung der Strecken an diesem Punkt ein Problem darstellt, sondern eine Erschließung des Hohenzollernstadtteils mit der Absicht ein Bahnhofsviertel zu gründen, unter obiger Planung nicht repräsentativ genug ist. Heinemann schreibt in diesem Zusammenhang vom Streit der Kirchditmolder Gastwirte und Kasseler Geschäftsleute, die sich gegen eine neue Umgehungsstraße und Einrichtung eines Zentralbahnhofs Rothenditmold richten (Heinemann, 1985, S. 4). Dieser wird nur als Verschiebebahnhof geplant, auf dem u.a. Züge auf die verschiedenen Strecken verteilt werden. 710 Bereits unter 8. erwähnt (Peters, 1995, S. 107). 711 St AM Best. 175, Nr. 28, F 119. 219 Ausstellung 1870 in Cassel einen „Pferde-Omnibus-Verkehr“ nach Wilhelmshöhe ein. Seine Zielsetzung ist, den Ausstellungsbesuchern und hiesigen Einwohnern eine Möglichkeit zu bie- ten, preiswert den Bergpark und das Schloss in Wilhelmshöhe zu erreichen. Sein Betriebser- gebnis muss sehr positiv gewesen sein, denn er verfolgt eine Dauereinrichtung auf dieser Strecke. 8.2.1 Ausbau einer Pferdeeisenbahn Der Protokollauszug der Kgl. Regierung zu Cassel vom 23. Juli 1867 berichtet bereits von ei- nem Gesuch Wigands, eine „Conzession zur Anlage einer Pferdeeisenbahn zwischen Cassel und Wilhelmshöhe“712 zu erhalten. Den Antrag weist der Oberpräsident zurück, da ein solches Pro- jekt ausschließlich von juristischen Personen einzureichen ist. Weiter entstehen nach Ansicht der Regierung Störungen des normalen Verkehrs bei Bahneinführung auf der Wilhelmshöher Allee. Auch die bestehenden Gefälle des Straßennivellements seien nicht unbedenklich, heißt es in der Begründung. Im Februar 72 bittet der Fabrikant Aschrott um Genehmigung zu Vorarbeiten für eine Bahn auf obiger Strecke mit der eventuellen Erweiterung bis nach Cassel-Wilhelmshöhe /Habichtswald.713 Bereits in dem Vertrag 1869 zwischen dem Consortium und der Stadt Cassel ist, wie berichtet, der Bau einer Schienenbahn auf der sogenannten Hohenzollernstraße mitauf- genommen. Da sich der Ausbau der Straße wegen hinziehender Expropriationsverfahren verzö- gert, möchte Aschrott nicht den Anschluss zu seinem Projekt verlieren. Seine Zielsetzung unter- scheidet sich wesentlich von der Wigandschen. Er möchte einen innerstädtischen Verkehr ins Leben rufen, wie er ihn aus Paris, London und vor allem aus Berlin kennt. Seine Verkehrsver- bindung714 hat zum Ziel, den Oberstadt-Bahnhof durch die Hohenzollernstraße zur Wilhelmshö- her Allee mit Wilhelmshöhe und Habichtswald zu verknüpfen. Vor allem Bürger gehobenen Wohnens sollen diese Verbindung vom Bahnhof zu dem neuen Weststadtteil nutzen. Die Fort- setzung in Richtung Wilhelmshöhe erfolgt dann nach der Bebauungsgrenze weitgehend durch unbebautes Gebiet. Gleichzeitig stellt die Linie für den Ausflugsverkehr vom Bahnhof aus ein Angebot dar, Lokale außerhalb Kassels zu erreichen. Die Fahrstrecke kann sich gleichzeitig für Bauinteressierte als Motivation erweisen, in dem neuen Stadtteil zu investieren, um allgemein hier die Bodenrente zu stabilisieren.715 712 Best. s.o. 713 Mit der Bezeichnung Habichtswald wird ein Haltepunkt in der Nähe des Bergparks verbunden. 714 Im Bestand existiert eine Kopie von Erläuterungen zum Projekt für Anlage einer Pferdebahn von Cassel nach Wilhelmshöhe vom 12. Januar 1872, dabei kann es sich nur um das Aschrottprojekt handeln. In beiden Situationsplänen sind Stationen von je 100 Metern Abstand eingetragen. Die Strecke beginnt am nördlichen Flügel des Oberstadt-Bahnhofs, folgt der Museumsstraße, am Ständeplatz mündet sie westlich in die Hohenzollernstraße. Entlang dieser verläuft sie bis Station 18 plus 50m, biegt in die Quer Allee, verlässt diese durch Äcker und Wiesen bis Station 27, wo sie die Wilhelmshöher Allee erreicht. Die Querung der Main-Weser-Bahn erfolgt am südlichen Ausgang des Bahnhofs Wilhelmshöhe mit einer Überführung; die Strecke folgt weiter der W. Allee, überschreitet dortigen Bach und hat den Endhalte- punkt am sogenannten „Roten Kopf“. Ursprünglich will man die Benutzung der W. Allee auf ein Mini- mum beschränken. Ebenso wird versucht, die Main-Weser-Bahn auf gleichem Niveau zu kreuzen. Die Gesamtlänge der Linie erstreckt sich auf „6 Kilometer plus 270 m = 6270 Meter oder 0,836 Reichsmeile“. Die kleinen Radien der Kurven betragen 30 m. Ungünstige Steigungen weisen lediglich das Verhältnis 1:25,5 und 1:26 auf. Es wird hervorgehoben, dass die Linie besonders günstig in Vermeidung über- mäßiger Steigungen (auf die Steigung in der Quer Allee wird nicht hingewiesen – Anm. d. Verf.) sei. Ferner kompensiert die neue Bahn den Personenverkehr von Kirchditmold und auch den für eine neu ent- stehende Kaserne (Best. s.o.). 715 Anfangs der 70er Jahre kommt es im Zusammenhang mit der Verbreiterung der Wolfhager Straße als Straße des Fiskus zum Conzessionsantrag, um auf der Straße Geleise zu verlegen und damit eine Pferde- eisenbahn einzurichten, die die „Etablissements“ der Industriellen mit dem Bahnhof verbindet (St A M, Best. 165, Nr. 1452, Bd. 2, F 11776). 220 Wigand und Aschrott verhandeln miteinander. Im April 72 schreibt Aschrott an den PD, er habe den Versuch zur Verständigung gemacht, wisse aber nicht, ob Wigands Berliner Gesellschaft auf diese eingehe und unterstreicht, an seinem Gesuch festhalten zu wollen. Näheres wolle er jedoch dem PD mündlich mitteilen. Zu dem mündlichen Austausch kommt es nicht, Aschrott trifft den PD nicht an und muss dann selbst verreisen. Deshalb informiert Aschrott ihn schrift- lich, wobei er bemerkt, Wigand716 habe in allen Punkten der Streckenführung im Beisein seines Geschäftsführers Übereinkunft gezeigt. Bei Zustellung der Urkunde weigere sich Wigand je- doch diese zu unterschreiben, weil der PD angeblich damit nicht einverstanden sei. Aschrott bittet diesen, eventuelle Bedenken mitzuteilen und weist ferner auf den mit dieser Sache ver- trauten Justizrat Peters hin, der die Angelegenheit gleichfalls regeln könne. Im Juni d. J. verständigt Aschrott den PD, dass der zwischen Wigand und ihm geschlossene Vertrag von Seiten der Berliner Gesellschaft717 in wesentlichen Punkten geändert sei. Er interpretiert das dahingehend, die andere Seite (Berliner Gesellschaft und Wigand) beabsichtige der Sache Schwierigkeiten718 in den Weg zu legen, um der Bahn eine andere Richtung zu geben als diejenige, die der PD eventuell genehmigen wolle und für die Aschrott sich interessiere. Er wolle erneut ein Gesuch an die Kgl. Regierung richten. Eine Abschrift legt er für ihn bei und bringt weiter zum Ausdruck, die Sache nur nach Wünschen des PD auszurichten. Wenn der P.D. bis zum nächsten Tag Aschrott nichts „Gegentheiliges“ mitteile, lasse er das Gesuch ab- schicken. Offensichtlich hat der PD Aschrott nichts Gegenteiliges berichtet, dagegen liegt Aschrotts Erin- nerungsschreiben719 an die Kgl. Regierung mit einem Gesuch vom Februar des Jahres wegen der Bahnangelegenheit in den Akten vor. Er weist hierbei nochmals auf die Strecke durch die Hohenzollernstraße hin und unterstreicht sein außerordentliches Interesse für die Sache, weil sie zur Entwicklung des Westviertels beitrage. Dies sei wiederum die sicherste Garantie, dass das Bahn-Unternehmen in Anlage und Durchführung auch von ihm gefördert werde. Aber auch andere Betreiber des Vorhabens werde er stützen. Wigand lässt schließlich sein Interesse und die Gewogenheit der Pferdebahngesellschaft zu dem Projekt von dem Rechtsanwalt Spohr ausdrücken. Dieser verweist nochmals auf den Verhand- lungsabbruch mit Aschrott, der nicht einmal einen ausgearbeiteten Plan für die Strecke Hohen- zollern- Murhardstr. vorgelegt habe und immer unmäßigere Forderungen stelle. Das Berliner Unternehmen sei auch bereit, bei der Ausführung „die geforderte Caution“ zu stellen. In einer Mitteilung an Wigand stellt die Kgl. Regierung720 die von ihr gewünschte Linie vor. Diese beginne am Königsplatz, führe durch die Königs- und Fünffensterstraße, durch die alte 716 In einem Schreiben vom April 1872 weist Wigand gegenüber dem PD auf Schwierigkeiten bezüglich Verhandlungen mit Aschrott hin. Dieser habe nicht das Bauen der Straße durch das Murhardsche Grund- stück in den Vertrag aufnehmen wollen, weiter halte er „in anmaßender Weise“ an seinen Forderungen fest. Seiner Meinung nach beabsichtigt Aschrott keine ernste Absicht, sondern verzögere nur. Dieser Eindruck sei ihm gleich anfangs gekommen. Er habe in der Angelegenheit eine „unermüdliche Geduld“ gegenüber Aschrott gezeigt. 717 Der Aufsichtsrat der „großen Internationalen Pferde-Eisenbahn-Actien-Gesellschaft“ Hermann Elber erklärt Wigand im März 1872 die Bereitschaft, eine Pferdeeisenbahn zwischen Cassel und Wilhelmshöhe bauen zu wollen und ergänzt, die Gesellschaft sei voll geschäftsfähig und verfüge über die „nöthigen Fonds“ (Best. s.o.). Wigand solle ihr die Konzession zur Ausführung, d.h. Verhandlungsprotokolle, Zeichnungen und sonstige Pläne, überlassen. Bei den Vorverhandlungen muss Wigand ein zusätzliches Ziel für den Bahneinsatz angesprochen haben, um das Interesse der Gesellschaft zu steigern, denn aus Berlin teilt man mit, die Bahn bis zu den Kohlewerken weiterführen zu wollen. (Gemeint sind damit die Braunkohlegruben im Habichtswald.) Ihre technische Ausstattung entspreche dem Mollerthon-System, das in Hamburg und zwischen Berlin und Charlottenburg bereits existiert. 718 Das Verhalten der Gegenseite führe wahrscheinlich zum Abbruch, nimmt Aschrott an und versucht den P.D. zu beeinflussen, dieser möge seine Sache fördern und die Linie durch die Königsstraße bean- tragen, damit der Bau und die Inbetriebnahme der Pferdebahn noch in diesem Jahr geschehe (Best. s.o.). 719 Gesuch an die Kgl. Regierung vom 1. Juni 1872 (Best. s.o.). 720 Brief von 23. Juli 1872 (Best. s.o.). 221 Wilhelmshöher Allee bis Rondell und dann weiter in die neue Wilhelmshöher Allee. Für die Genehmigung seien noch Pläne über den Eintritt in die herrschaftlichen Anlagen (Park Wil- helmshöhe) bis zur Station Wilhelmshöhe, die Stationsgebäude, Wagenhalle und Pferdestall, die Überführung über die Main-Weser-Bahn nachzureichen. Erneut wird auf die Linienführung an der südlichen Seite der Wilhelmshöher Allee hingewiesen. Die Kgl. Regierung unterstreicht nochmals gegenüber dem PD ihre Bedenken zur ungünstigen Hohenzollernlinie. Dagegen nehme die projektierte Bahn den Verkehr der Vorstadt und des Dorfes Wehlheiden auf. Diese sei am zweckmäßigsten, weil bei ihr die höchste Benutzerfre- quenz zu erwarten ist. Auch in größeren Städten lägen derartige Bahnen in verkehrsreichen Straßen und es entstünden dort keine erheblichen Verkehrsstörungen. Der Kaiser genehmigt die Mitbenutzung der herrschaftlichen Anlagen, gleiches gilt für eine Wartebude am Königstor durch die Kgl. Regierung. Der PD - offensichtlich scheint sich dieser gegen die favorisierte Linie zu sperren - solle seine Bedenken detailliert äußern. Von Einzelplä- nen zur Strecke will die Regierung die Genehmigung der Konzession abhängig machen. Diese Problematik wird Januar 1873 von ihr erneut wiederholt. Aschrott erklärt im gleichen Monat der Regierung nochmals die Situation aus seiner Sicht und verdeutlicht den Bruch mit Wigand so, dass er zwar seine Grundstücke in der Hohenzollernstr. zur Verfügung gestellt habe, die Gesellschaft diejenigen in der Murhardstr. aber nicht erwerben wolle. Er verweist darauf, 11 ½ Monate nichts von seinem Antrag gehört zu haben. Wenn ihm seine Linie nicht genehmigt werde, so sei dafür die Mitbenutzung der Wigandschen Linie von einem Anschlusspunkt in der Wilhelmshöher Allee gestattet. Aschrott ist der Auffassung, dass die Kgl. Regierung eine Geleisemitbenutzung ab Germaniastr. nach Wilhelmshöhe für seine Bahngesellschaft billige. Dabei scheinen rechtliche Bedenken von seiner Seite nicht miteinbezogen zu sein. Er fährt fort, neuerdings weiteren Boden auf Wehlheider Gemarkung erworben zu haben. Des- halb verschiebe sich die städtische Gemarkungsgrenze bis zur Querallee. (Aschrott will damit sagen, dass durch seinen neu erworbenen Landbesitz sich die Gemarkungsgrenze Kassels ideell weiter nach Westen verschiebt.) Er ergänzt, dass durch einen neuen Ministerialerlass Pferde- bahnen innerhalb des Stadtgebietes lediglich polizeilicher Genehmigung bedürfen. Daher sei die Beschränkung der Linie auf die Hohenzollern-Murhard-Strecke als Gesuch bei der Kgl. Regie- rung unangebracht und lediglich Sache des PD. Da aber die Angelegenheit wichtig und seine Interessen sehr gefährdet seien, wolle er erneut eine Eingabe bei der Regierung vornehmen. Würde jedoch sein Gesamtprojekt von dieser gestoppt, so könne der PD den Pferdebahnbau: Bahnhof, Friedrich-Wilhelms-Platz, Hohenzollern-, Murhardstr. genehmigen und die erforderli- che Einmündung bzw. Mitbenutzung der Strecke bis Wilhelmshöhe bei der Konzessionsvergabe für Herrn Wigand rechtzeitig miteinbringen. Erneut verweist Aschrott auf das Ziel des von ihm vertretenen Consortiums721, die Errichtung eines Weststadtteils nur in Verbindung mit dem Aufbau einer Pferdeeisenbahn vorantreiben zu wollen. Bei einer endgültigen Bahnstrecke durch die Hohenzollernstr. anstelle der Wilhelmshö- her Allee sei er auf Wunsch der Behörden auch bereit, Herrn Wigand das Projekt allein zu überlassen. Dazu wolle er das dem Consortium gehörende Terrain zur Verfügung stellen, je- doch unter der Vorraussetzung, dass die Betreibergesellschaft sofort zur Ausführung kommt. Die Kgl. Regierung722 nimmt eine klare Position gegenüber dem Antrag ein und führt an, eine Konzession in Form der Mitbenutzung der Geleise in der Wilhelmshöher Allee nicht zu geneh- migen, weil diese einem anderen Bewerber bereits erteilt und zwei Geleise in der Allee unzuläs- sig erscheinen. Eine Mitbenutzung durch dritte Personen in Form von Nebenlinienbetrieb sei zu 721 Dies ist im Vertrag des Consortiums mit der Stadt Cassel als Vereinbarung enthalten (siehe Punkt 7.4.6). 722 Schreiben vom 29 Januar 1873 (Best. s.o.). 222 verwerfen, da nach Art des Unternehmens „ein eindringlicher Betrieb geboten erscheint“.723 Bei der von Aschrott herangezogenen Zweigbahn zur Henschel-Fabrik lägen die Verhältnisse anders, dort gehe es ausschließlich um Güterverkehr. Das Argument, eine Streckenführung auf Casseler Gemarkung könne lediglich für die durchfüh- rende Baugesellschaft gelten, beantwortet die Verwaltung nicht. Aschrott führt aber an, sobald die Regierung ein Bedürfnis zur Herstellung weiterer Linien erkenne und der Gesellschaft das Terrain zum Einlass der Schienen unentgeltlich überlassen werde, sei zu verhandeln. „Ob die Baugesellschaft die Einmündung der von Dritten gebauten Anschlusslinien zulassen will“ und bei Wei- gerung zuzulassen hat, bedürfe der Klärung zwischen den „Concessionaren“, während nach Stand der Dinge eine Entscheidung noch ausstehe. Zu dem Unterschied beider Linien wird von Regierungsseite betont, dass die vom Königsplatz geplante Linie dem Verkehrsinteresse bei weitem mehr entspreche als die Linie durch die Hohenzollernstr. Die Hessische Morgenzeitung berichtet am 25.3. 1874 über Schwierigkeiten bei der Umsetzung und führt dies auf die Weige- rung der Direktion der Main-Weser-Bahn zurück, den Übergang bei der Station Wilhelmshöhe zu gestatten. Sie argumentiert, die oberste Behörde solle die Angelegenheit unter allgemeinen Gesichtspunkten betrachten sowie das öffentliche Interesse im weitesten Sinn verfolgen und die Bahn nicht von der Tagesordnung verschwinden lassen. Die Einrichtung sei von wesentlicher Bedeutung für den Reisenden, den Fremdenverkehr sowie die Schulen und außerdem für viele Bürger, die sich diese Erleichterung wünschen. Die Sachlage verändert sich, und ein Vermerk724 vom 25.9.77 ohne Empfänger und Absender sagt aus, ein hauptsächlich im Eisenbahnbau tätiges Unternehmen aus England habe sich für den Bau beworben. Anlass dazu gehe von Stroußberg725 aus, für den diese Firma arbeite. Außerdem baue das Unternehmen eine Eisenbahn in Bayern, was zu mehr Verpflichtungen führe, als für das Vorhaben günstig sei. Nachteiliges über das Unternehmen sei nicht bekannt und es solle „eher versteckt“ über erforderliche Mittel verfügen. 1876 teilt die Kgl. Regierung bereits mit, dass Bewerbungen von zwei Unternehmen für den Bau der Pferdeeisenbahn vorlägen und diese anhand von Spezialplänen von Wigand verglichen würden. Der PD, an den dieses Schreiben gerichtet ist, solle bei Verhandlungen zugegen sein. Im Oktober spricht die Regierung der Jay u. Comp. aus London den Auftrag zum Bau der Pferde-Eisenbahn zu. Die Quellen geben keinen Aufschluss, warum die Jay und Comp. den Zuschlag für den Bau erhält, zumal es sich nicht um eine Pferde-Eisenbahn, sondern um eine Dampfeisenbahn han- delt. Als zweiter oben angeführter Bewerber kann die Berliner Gesellschaft angenommen wer- den. Dass Wigand das englische Unternehmen ins Spiel bringt, ist auszuschließen. Er muss sich bei Vertragsabschluß mit der „Internationalen-Pferde-Eisenbahn-Actien-Gesellschaft“ ver- pflichten, mit keiner weiteren in Kontakt zu treten. Diese Gesellschaft selbst wird wiederum einen möglichen Auftrag nicht an eine englische Firma abgeben, ohne dabei selbst zu partizipie- ren. Daher könnte man vermuten, dass Aschrott, da er mit seinen Vorschlägen erfolglos bleibt, seine Verbindungen nutzt und mit v. Stroußberg in Kontakt tritt, um im innerstädtischen Ver- 723 Best. s.o. 724 Best. s.o. 725 Ob die Anmerkung, auf Vermittlung v. Stroußbergs sei die Bewerbung der englischen Firma erfolgt, begründet ist, kann nicht beantwortet werden. Bei dem angeblichen Vermittler handelt es sich um Henry Stroußberg, dem „Eisenbahnkönig“, bereits unter 7.2 erwähnt, eine Symbolfigur für das neureiche gründerzeitliche Bürgertum. Um den Luxus für Wohninszenierung dieser Bevölkerungsschicht, wie bei v. Bleichröder schon angesprochen, zu veranschaulichen, muss angemerkt werden, dass der genannte Berliner Architekt auch als Privatmann für v. Stroußberg arbeitet. Er gestaltet ein Palais in der noblen Wilhelmsstraße mit schlichter aber monumental wirkender Fassade, hinter der sich aufwendig ausgestaltete Räume befinden, die in Berlin die gehobene Gesellschaft beeindrucken. Die Baugesamtkosten belaufen sich auf 900000 M., das bedeutet den 1 1/2 fachen Preis in Relation zu Orths größtem Berliner Kirchenbau, die Emmauskirche in Kreuzberg (Bodenschatz, 1983, S. 504). 223 kehr einen Träger zu lancieren, über den er leichter Einfluss ausüben kann, um in Folge seine gewünschte Strecke zu positionieren. Wahrscheinlich hat man sich von behördlicher Seite für die Variante der Dampfeisenbahn ent- schieden, weil mit dieser, vom technischen Standpunkt aus gesehen, größere Steigungen zu überwinden sind und die Betriebsart zukunftsträchtiger erscheint. Auffallend ist nach derzeitiger Interpretation der Quellenlage ein Einverständnis zwischen dem PD und Aschrott, da letzterem von polizeilicher Seite aus nicht widersprochen wird. Aus diesem Grund versucht Aschrott im Laufe der Verhandlungen die Entscheidungsbefugnis des PD her- auszustellen, um eine Linie ganz oder nur zum Teil nach seinem Willen durchzusetzen. Seine Strategie der Interessensverfolgung zeigt sich als zu vordergründig, leicht durchschaubar und als taktisch unklug. Die Varianten zur Planumsetzung gegenüber der Kgl. Regierung reichen von Offerten und Zu- geständnissen, z.B. kostenloser Terrainabgabe für Schienenführung, bis zu Druckmitteln, bei denen er sich auf Erlasse stützt. Hier beschwört er eine Entscheidungssituation herauf, die in ihrem Abwägen und Anwenden von den Behörden selbst zu diskutieren ist. Die Polizeibehörde bedarf zur Durchsetzung ihrer Rechte gegenüber der Kgl. Regierung nicht der öffentlichen An- regung von Ministerialerlassen seitens Aschrotts. Das Ergebnis einer solchen Taktik müsste ihm als ständigem Verhandlungspartner von Behörden bekannt sein. Sein verdecktes Intervenieren in Verbindung mit Informationen zu dem PD münden in eine Konfrontation des PD gegenüber seiner vorgesetzten Verwaltung. Auf diesem Weg ist eine Unterstützung seitens der Polizeibe- hörde für Aschrott nicht zu erwarten, demzufolge wird die Regierung zwangsläufig an ihrem Vorhaben festhalten. Ein verstecktes Intervenieren, das Aschrott gleichfalls vor dem Hinter- grund einer möglichen Rechtslage bezogen auf die Stellung des PD anzuschieben versucht, kann nicht zur Lösung des Problems beitragen. Eine Strategie, die einmal verdeckt, ein ander- mal offen sich bemüht, Abhängigkeiten zu erreichen, um damit ein unumgängliches Ziel zu erwirken, erweist sich als dilettantische Strategie Aschrotts, bei der er äußerst unglaubwürdig wirkt. Die Verwaltung scheint in der Auseinandersetzung mit dem Großgrundbesitzer, ein Vorgang unter vielen gleichgelagerten, die Zeitkomponente anzuwenden, bei der sich Probleme durch Aufschub von allein lösen. Die Kgl. Regierung erkennt zu diesem Zeitpunkt, einer Periode des Wirtschaftsbooms, nicht, dass der Ausgangspunkt für innerstädtischen sowie auf das Umland bezogenen Verkehr seinen Start vom Oberstadt-Bahnhof und nicht vom Königsplatz nehmen muss. Auf diese Weise wird die Mobilität von Reisenden erhöht und das Problem größerer Ausdehnung der Stadt durch Überbrückung von Distanz verringert. Weiter lehnt die Behörde die Verzweigung eines städti- schen Verkehrsnetzes ab, was zur Erweiterung und Stärkung des städtischen Wachstums beitra- gen würde. Stattdessen wird die Entscheidung für eine Strecke ins Umland damit begründet: Was in anderen Städten funktioniert, hat auch bei uns Erfolg. Die auf seinen Reisen durch Eu- ropa gesammelten Erfahrungen sowie die damit verbundenen Informationen über aktuellen Städtebau und sein kaufmännisches Geschick, kurz gesagt seinen Wissensvorsprung gegenüber der (den) Behörde(n) lässt keine einvernehmliche Lösung zu. Man sieht in ihm den Grund- stücksspekulanten, der ausschließlich versucht, seine gewinnorientierten Absichten umzusetzen. Aus dieser Auseinandersetzung zieht Aschrott die für ihn nötigen Schlüsse, die er dann gut zwei Jahrzehnte später bei seinem Frankfurter Projekt nutzen kann. In dem Verhandlungspoker mit der Berliner Gesellschaft und mit Wigand bedient sich Aschrott ungleicher Voraussetzungen bei der Linienführung. Während er über den Großteil der Grund- stücksflächen verfügt, die er nach Straßenerstellung anderweitig vermarkten will, müsste die Gesellschaft bei Linienführung durch die Murhardstr. dort beim Erwerb von Flächen von dem derzeitigen Grundstückspreis ausgehen. Dagegen wissen die Grundbesitzer von den Absichten der Bahngesellschaft und spekulieren somit auf mögliche Wertsteigerung des Bodens, was wieder, wie bei der Hohenzollernstraße beschrieben, zu endlosen Auseinansetzungen geführt 224 hätte. Eine solche Lösung entspricht nicht den Absichten des in Berlin ansässigen Unterneh- mens. 8.2.2 Aspekte zum neuen „Massenverkehrsmittel“ Wigand fungiert für die Jay und Cop. als Repräsentant und bleibt Vertragspartner wie bei der Berliner Gesellschaft. Im Juni 1877 kann er noch keinen genauen Fahrplan für die Strecke vor- legen, er erklärt jedoch, dass Züge stündlich von den Endpunkten starten. Bei Bedarf sei der Einsatz von drei bis sechs Wagen stündlich möglich. Die Kreuzung mit der Main-Weser-Bahn habe man mit Signalstangen gelöst, die das Zeichen für die Querung darstellen. Die Bahnanlage sei in drei Teilstrecken726 gegliedert, auf die sich die Preise bezögen. Nach Zulassung der beiden Lokomotiven Nr. 54 und 55727 stellt die Regierung fest, dass die Inbetriebnahme, deren Genehmigung bereits für den 1. Juli 1877 erteilt ist, vollzogen werden kann. Jedoch behält man sich vor, dem technischen Leiter des Unternehmens Instruktionen er- teilen zu können. Am 5. August d.J. wird der Fahrplan von Regierungsseite genehmigt. Das Unternehmen merkt an, dass sich alle Züge an der Station Wilhelmshöhe kreuzen. Neben dem Sommerplan erfolgt im Oktober eine Fahrplanänderung.728 Hier gibt der Betriebs-Ingenieur Bode die Gesamtfahrzeit für Cassel bis Wilhelmshöhe mit 35 Minuten an. Der Stadtanzeiger von 28.6.1877 führt Regeln die Trambahn betreffend an, diese sind: Reisende müssen bei Stand auf- und absteigen können. Sie dürfen nicht in Berührung mit der Maschine kommen. Von dieser soll bei der Bewegung das Auslassen von Dampf und Rauch eingeschränkt werden. Maximalgeschwindigkeit beträgt innerorts 13 km/h und sonst 19 km/h. Die Bahn und ihre Einrichtungen unterliegen amtlichen Inspektionen. Schon während der Bauphase gerät die englische Firma in finanzielle Schwierigkeiten, die sich durch mangelhaften Schienenunterbau vergrößern. Die Regierung setzt einen Betriebsleiter ein, der später auch als Sequester vor Gericht auftritt. Im Juli 1881 geht die Bahn und deren Aus- rüstung in die Casseler Strassenbahn-Gesellschaft729 mit Sitz in Berlin über. Das Kapital der Aktiengesellschaft beläuft sich auf 850000 Mark. 8.2.3 Inbetriebnahme des innerstädtischen Verkehrs Nach mehr als zwei Jahren wird erneut die Idee einer innerstädtischen Pferdebahn aufgegriffen. Lediglich eine Information der Kgl. Regierung, eine Konzession730 für eine solche Bahn vom Königsplatz zum Totenhof (Hauptfriedhof) zu erteilen, geben die Quellen an.731 Die Erlaubnis geht an den Bauunternehmer H. Schmidtmann und „Genossen“. In den Aufzeichnungen von 726 Teilstrecken: Preis: Königsplatz - Sophienstr. 10 Pf. Sophienstr. - Kirchweg/Wehlheiden 10 Pf. Kirchweg – Wilhelmsh. 10 Pf. Königsplatz – Kirchweg/Wehlheiden 20 Pf. Sophienstr. – Wilhelmsh. 20 Pf. Königsplatz – Wilhelmshöhe 30 Pf. Preise: 10; 20; 30 Pf. je nach Entfernung. An Tagen der Wasserspiele werden nur Karten für 30 Pf. bis Wilhelmshöhe ausgegeben. Teilstreckenkarten sind nicht möglich (St A M, Best. 175, nr. 28, F 121). 727 Schreiben der Kgl. Regierung an den Vertreter der Firma Jay u. Comp. Herrn Wigand vom 6. Juli 1877 (Best. s.o.). 728 Fahrplan vom 12. Oktober 1877 (Best. s.o.) 729 Am 21. Februar 1883 teilt die „Eisenbahn-Direction-Bezirk Elberfeld“ durch das Kgl. Betriebsamt mit, dass seit Juli 1881 die Bahn und deren Betrieb in den Besitz ihrer Gesellschaft übergegangen ist (Best. 175, Nr. 425, F 1444). Stör terminiert die Übernahme auf den 1. November 1881 (Stör, 1877, S. 9). 730 Der Vermerk der Gestattungsurkunde ist auf den 30. November 1883 datiert. 731 Best. 175, Nr. 735, F 3139. 225 Heinrich Schmidtmann, in dieser Arbeit als Zeitzeuge erwähnt, findet man nichts zu diesem Vorgang. Zu den „Genossen“ zählen der Cousin Louis Hochapfel, der Fabrikant Carl Wüsten- feld, Carl Beck, Philipp Schnell, Chr. Kerl und der Kaufmann H. Preußner. Der Konzessions- zeitraum beträgt 50 Jahre vom Tage der Betriebseröffnung an. Diese wird im Januar 1884 an die Stadtbahn-Gesellschaft zu Cassel732 übertragen. Zwei Monate später übernimmt die Firma Marck und Balke aus Berlin die Konzession zum Bau und Betrieb einer Pferdeeisenbahn auf obiger Strecke. Die Firma bestellt im Mai d. J. Carl Oswald Walther, Museumsstraße 5, zum Straßenbahndirektor. Das Grundkapital der Gesellschaft beträgt 1700 Aktien a`500 Mark zusammen. Als Dividende verspricht man einen Zinssatz von 6 1/3% pro Aktie. Den Aufsichtsrat leiten: „Landesrath Dr. Knorz in Cassel (Vorsitzender), Banquir Max Baer in Frankfurt a. M.; Rechtsanwalt Dr. jur. Winterwerb in Frankfurt a. M.“. Den Vorstand besetzen: „Ingenieur Dr. phil. I. Kollmann in Frankfurt a. M.; Kaufmann Fritz Pühler in Frankfurt a. M.“. Die Angaben sind dem Geschäftsbericht 1895/96 der ordentlichen Generalversammlung vom 12. August 1896 entnommen (Best. 175, Nr. 425, F 1446.) Die Betriebskonzession733 wird jedoch auf nachfolgende Linien erweitert:734 1. Städt. Totenhof, Holländische Straße, Untere Königsstraße bis zum Königsplatz. 2. Hedwigstraße, alter Todtenhof, Bahnhofsstraße, Museumsstraße, Ständeplatz, Hohenzol- lern-, Kaiser-, und Germaniastraße bis zum Anschluss an die Casseler Straßenbahn, „im Café Germania“.735 3. Hedwigstraße, Martinsplatz, Marktgasse, Graben, Regierungsgebäude, Altmarkt, Fulda- brücke, Holzmarkt bis zum Bettenhäuser Bahnhof. 732 Während die Konzession vom 6. März 1884 die Bezeichnung „Stadtbahngesellschaft zu Cassel“ führt, enthält der Fahrplan für den 1. Juni 1884, der am 20. Mai d. J. genehmigt wird, den Stempel: “Actien- Gesellschaft; Kasseler Stadteisenbahn“ (Best. s.o.). 733 § 3 legt das Einlassen von Schienen in die „Straßendämme“ fest. Der Betreiber hat vor Schieneneinbau nachzuweisen, dass mit dem Straßeneigentümer diesbezüglich Verträge geschlossen sind. 734 Die Fahrpreise staffeln sich von 5 Pf. für z. B. Totenhof – Holländische Thor über 10 Pf., 15 Pf. bis 20 Pf. für die Entfernung Bettenhausen - Café Germania. 735 Best. s.o. 226 Abb.: 58 nach Jüngst, 2003, unveröffentlicht Im April 1884 liegt ein weiterer Antrag der Gesellschaft vor, das Projekt „zu vier weiteren Ausweichen (Ausweichstellen) zwischen Hedwigstr. und Café Germania“ zu genehmigen. „Diese Weichen sollen zu Zeiten mit besonders starkem Verkehr ermöglichen, auf dieser Strecke einen fünf Minutenverkehr einzurichten.“ Sie endet mit einem Schienenstrang in der unteren Germaniastraße (Haltestelle: Café Germania). Neben dem Endpunkt in der Germaniastr. wird die Schiene auf dem Plan mit der Linie nach Wilhelmshöhe verbunden. Abb.: 59 Casseler Strassenbahn-Gesellschaft in Cassel – Linie: Bettenhausen-Bahnhof Kassel - Café Germania736 736 St AM, Best. 175, Nr. 425, F 1446. 227 Nach einer zwölfmonatigen Betriebszeit stellt die Gesellschaft die aufgetretenen Probleme737 dar. Auf Grund bestehender Straßenverhältnisse scheint die Fortführung des Betriebs als Pferde- Eisenbahn vor existenziellen Schwierigkeiten zu stehen, die für die „Fortexistenz“ des Unter- nehmens zur Lebensfrage werden. Die Probleme treten so augenfällig in Erscheinung, teilt man mit, dass sie keine längere Darlegung erfordern. In den beschriebenen Abschnitten sind die Steigungen für einen Pferdewagen so stark, dass nur mit Pferdführen, mehrmaligem Ansetzen, Aussteigen der Fahrgäste oder durch Vorspann das Teilstück zu bewältigen ist, was jedoch nicht einem ruhigen Fahren für Passagiere entspricht. Auf bestimmten Strecken ist so die Fortführung nur über die Einführung eines Dampfbetriebes möglich. Dieser soll vom Martinsplatz bis zum Cafe` Germania abgewickelt werden. Der Direktor Scholten bittet die Kgl. Regierung, das Projekt nicht mit straßenpolizeilichen Be- denken zu gefährden. Weiter verweist er, dass es sich meist um breite Straßen oder solche mit einseitiger Bebauung handelt. Lediglich das „kurze Stückchen Hedwigstraße“ sei bei dem Dampfbetrieb betroffen, zugleich würde bei diesem Plan die Ecke Untere Königstraße – Hed- wigstraße entlastet. Mit der Einrichtung dieser Strecken hat sich Aschrotts Idee des innerstädtischen Verkehrs reali- siert. Inwieweit er das Projekt forciert hat, ist aus den benutzten Quellen nicht zu ersehen. Da jedoch Schmidtmann und Hochapfel an der Konzessionsvergabe beteiligt sind, ist eine Ein- flussnahme seitens Aschrotts anzunehmen. Baetz stellt fest, Aschrott betreibe unter dem Namen „Kasseler Stadteisenbahn“ eine Pferde- Eisenbahn vom Hauptfriedhof aus, (hier soll sich auch das Depot der Einrichtung befunden haben) über Holländische Straße, Untere Königs Straße, Hedwig-, Mauer-, Luther-, Bahnhofs-, Museumsstraße und weiter, wie oben unter 2. beschrieben. Die Aussage wird unterstützt durch einen Brief des Freiherrn Ernst von Gilsa an den Staatsminister des Handels-Ministeriums. Darin heißt es, „namentlich wird allgemein anerkannt, dass die von Aschrott neuestens mit einem Kos- tenaufwand von etwa 400000 Mark ins Leben gerufene Straßenbahn für die Stadt sehr nützlich ist, ihm aber große finanzielle Lasten auferlegt.“738 Diese Bahn wird bis 1900 weiterbetrieben, um von der Firma Siemens & Halske als elektrische Bahn fortgeführt zu werden (Baetz, 1951, S. 7.) In den öffentlichen Akten wird über interne Verträge und Absprachen nichts ausgesagt, und dort lässt sich nur die obige Version nachvollziehen. Allerdings hat Baetz, darauf wird in anderem Zu- sammenhang eingegangen, Einblick in die Akten von Aschrott, wenn sie zu der Zeit seiner Tä- tigkeit als Leiter der Verwaltung noch existieren. Jedoch kann angenommen werden, dass die Firma Marck und Balke in Verbindung mit Aschrott gestanden hat. Verlässliche Aussagen zu dieser Problematik sind nicht zu machen. Recherchen aus öffentlichen Archiven sind in privaten fortzusetzen, da man meist schon nicht nachweisen kann, in welchem Rechtsnachfolger Unter- nehmen aufgehen (siehe das Beispiel der Frankfurter Baubank). Deshalb lassen sich nur Ver- mutungen anstellen, die nicht gesichert sind. 737 Die Kasseler Stadteisenbahn führt Beschwerde gegen die Fuhrwerke, da diese die schneefreien Schienen nutzen, welche von der Gesellschaft ständig durch Kehren und Salzstreuen freigehalten werden. Die Firmen machen von dem erleichterten Fahren auf den Schienen in der Art Gebrauch, dass sie bei Handwerkern Wagen mit gleicher Spurbreite bestellen. Bei Schnee sind die Schienen gleich wieder zugefahren und die Arbeitskräfte nur damit beschäftigt diese freizuhalten. Man bittet um Verbot des Befahrens und bei Missbrauch um entsprechende Bestrafung. 738 Brief vom 5.Juni 1885 in Berlin datiert, am 6. Juni im Handels-Ministerium präsent. In dem Schreiben setzt sich der Feiherr von Gilsa für die Ernennung Aschrotts zum Kommerzienrat ein und würdigt dessen Verdienste (G St A, Hpt. I Rep. 120, CB V, Fach A, Nr. 16). 228 8.2.4 Anglikanische Kirche: Anziehungspunkt für begüterte Neubürger „Am 21. Juni wurde hier in Kassel zwischen Kaiser- und Hohenzollernstraße der Grundstein zu ei- ner englischen Kirche, der ersten in Hessen, gelegt. Bei der hiesigen, ziemlich starken englischen Kolonie machte sich schon seit Jahren das Bedürfnis für ein eigenes Gotteshaus geltend. Durch Unterstützung hiesiger Bürger ist die Realisation dieses Planes gelungen.“ (Zeitschrift Hessenland vom 21. Juni 1887, in: Knobling, 1986, S. 60.) Abb.: 60 Fluchtlinienplan – vormals geplanter Standort der englischen Kirche739 Die Grundsteinlegung erfolgt im nördlichen Teil der Murhardstr. Ihr zugewiesener Standort liegt zwar in der Nähe des für das neue Viertel als Kulturzentrum geplanten Kaiserplatzes, er- scheint jedoch durch seinen jetzigen Standort einem Filtering-down-Prozess zu unterliegen. Ursprünglich wäre die Anglikanische Kirche beim Blick von Osten in die Magistrale „Hohen- zollernstraße“, wo von dieser die Kaiserstraße abzweigt, gleich vom Betrachter wahrgenommen worden. An einer präferierten Stelle, als Straßenecklösung, meint der Besucher beim Weg in die Kaiserstraße ein Tor zum neuen Viertel zu passieren und eine veränderte Urbanität zu erreichen, die durch dieses Gebäude symbolisiert und von dem östlichen Stadtteil segregiert wird. Die Kirche steht für den Eintretenden als Grenze zu einem Quartier, in dem sich großstädtisches Fluidum, Weltoffenheit und eine Synthese verschiedener Glaubensgemeinschaften offenbaren. Unter solchen Vorzeichen gelingt ein wesentlicher Ausdruck urbaner Komposition, der sich im Zusammenwirken verschiedener Objekte zeigt. Das Kirchenprojekt in exponierter Lage erfor- dert ein Bauwerk, das sich deutlich von der anderen Bebauung abhebt und mit Turm oder Tür- men eine inhärente Botschaft bekundet. Eine solche Lösung hätte erhebliche finanzielle Mittel erfordert, die bei der geringen Zahl englischer Bewohner nicht gerechtfertigt erscheinen. Die in 739 Fluchtlinienplan, Nr._171_3 (Vermessungsamt Kassel). 229 der Murhardstr. verwirklichte Kirchenarchitektur hätte an obigem Standort zu widersprüchlicher städtebaulicher Entwicklung beigetragen. Nicht die Gestaltung der Objekte allein reicht aus, ihren urbanen Wert zu unterstreichen. „Die Objekte haben ihre Bedeutung einzig durch die ge- schaffene Beziehung und durch die Eigenschaften, die sie der Stadt hinzufügen“ (Delfante, 1999, S. 254). Andererseits wird zwischen gestalteten Objekten mit Architektur eine Spannung innerhalb des Gesamtgefüges und den anderen Bestandteilen, wie Straßenführung, Einsatz von Grünflächen, Möblierung,740 Verteilung von Infrastruktureinrichtungen des urbanen Projektes erzeugt. Die eigentliche Entwicklung scheint dagegen die erwarteten Vorstellungen einer englischen Gesellschaft im Hohenzollernviertel nicht zu bestätigen. Das führt zur Dislokation der Anglika- nischen Kirche an eine Position dritter Ordnung in einer unbedeutenden Seitenstraße in der eine geschlossene Randbebauung erst spät einsetzt. Abb.: 61 Englische Kirche – Murhardstraße 740 Möblierung bedeutet die Ausstattung der Straße mit Bänken, Hinweistafeln u.a. 230 Abb.: 62Hohenzollernstr./ Ecke Kaiserstr. Das Eckgrundstück am Anfang der Kaiserstr. ist wegen des erhöhten Anspruchs an die bauliche Umsetzung schlecht zu vermarkten. Schließlich übernimmt die Herkules-Brauerei die finan- zielle Verantwortung und richtet einen gastronomischen Betrieb ein. Dieser Funktionsträger ist für alle erreichbarer und soll die ursprüngliche Signifikanz verwirklichen. Das Gebäude könnte man aus der Entfernung als Torgebäude ansehen, was zwei Ecktürmchen, ein hohes steiles Dach sowie ein Dachreiter noch unterstreichen. Folgt das Auge vom Bauwerk der Verlängerung der Sichtachse, erscheint als Blickfang in der Hohenzollernstr. die Friedenskirche und wird zum „perspektivischen Erlebnis“. Ohne dieses Bild verlöre sich der Blick ins Leere (Schulz, 1983, S. 41). Im Volksmund wird das Gebäude als „Hypothekenfriedhof“741 bezeichnet. Dahinter verbergen sich Vorfälle wie Spekulationen von Bauherren, die ihre finanzielle Situation falsch einschätzen und bei allgemeiner wirtschaftlicher Depression ihren Kapitaleinsatz verlieren. Gleichzeitig richtet sich eine Bezeichnung „Hypothekenfriedhof“ indirekt gegen die Vermarktungsstrategie des Stadtteilgründers, der angeblich durch stabile Grundstückspreise die Bauherren in den Ruin treibt, da, wie schon angesprochen, zwischen großen und teueren Wohnungen und zahlungsfä- higen Mietern keine Äquivalenz besteht. Baetz bemerkt dazu, dass Aschrott in zahlreichen Fäl- len als Hauptgläubiger bei Zahlungsunfähigkeit der Bauträger keine öffentliche Versteigerung angestrengt und Bauunternehmern sowie Zulieferern Ausgleich angeboten habe (Baetz, 1951, S. 9). Jedoch manifestiert sich bei einem Teil der Kasseler Bevölkerung eine andere Einstellung gegenüber dem Juden Aschrott, nämlich die, er habe wegen überhöhter Forderungen den Haus- herrn vernichtet und sich durch Übernahme des Hauses bereichert. Hermsdorff742 vertritt bei seinem Erklärungsversuch zum Entstehen einer englischen Kolonie in Kassel den Standpunkt, dass sich der Fremdenverkehrsverein, die Kasseler Geschäftsinteressen vertretend, um den Zuzug vermögender Engländer bemüht. Eine andere Deutung wäre gleichfalls denkbar: Aschrott informiert sich über die Aufenthalte wohlhabender Engländer in Bad Homburg, als er dort als Gast verweilt oder er erfährt darüber bei Inspektionen seines Weinguts in Hochheim, dass sich in Bad Homburg als Erholungs- und Gesellschaftszentrum nicht nur der deutsche Hochadel, sondern auch die neue Wirtschaftselite 741 Hermsdorff, „Ein Blick zurück“, 1988, Nr. 1217. 742 Hermsdorff, „Ein Blick zurück“, Nr. 260 v. 17.6.1967 (Stadta KS, S 5, Q 80.) 231 präsentiert. Daneben ziehen das Modebad und die Spielbank überproportional zu anderen aus- ländischen Gästen viele Engländer an. Sie rekrutieren sich wie bei den deutschen Besuchern aus dem englischen Hochadel und der vermögenden Londoner Gesellschaft (Grosche, 1986, S. 204). Die Beliebtheit des Bades und die Vielzahl englischer Gäste führte 1862743 zu einem Antrag des Ehrensenators der Colonial-Kirche- und Societät in London, Colonel Walker, an die landgräfli- che Landesregierung im Kurort, Pläne für den Bau einer englischen Kirche zu genehmigen. Die Umsetzung dieser Absicht ist mit vielen organisatorischen Unstimmigkeiten744 verbunden. Problematisch erweist sich zusätzlich das Einverständnis, einen Gottesdienst745 im anglikani- schen Ritus zu billigen. In der „Christ Church“, Name des englischen Gotteshauses in Bad Homburg, findet 1868 der erste Gottesdienst statt. Im gleichen Jahr wird die Kirche dann fertiggestellt. Die Auflistung der Kurgäste746 (Grosche, 1986, S. 204) von 1875 bis 82 zeigt, dass fast jeder dritte Gast Engländer ist. Die Homburger Vorgänge könnten den Stadtteilerbauer beeinflussen, diese auf das Kasseler Projekt zu übertragen, um für Bewohner des Viertels ein internationales Fluidum zu erzeugen und gleichzeitig den Bauprozess damit anzuschieben. Auch im Casseler Tageblatt wirbt am 8. März 1881 ein Geistlicher einer amerikanisch-engli- schen Gemeinde für die Attraktivität der Stadt in Bezug auf eine anglo-amerikanische Bevölke- rung.747 743 Bereits 1860, berichtet das „Comité, sei der englischen Colonial- und Comntinental-Kirchen-Gesell- schaft, unter dem Patronat der Königin von England stehend, die Genehmigung zu einem Kirchenbau er- teilt worden. Dies sei jedoch an die Bedingung geknüpft, nur einen Geistlichen zu beschäftigen, der mit der Lizenz des Bischofs von London ausgezeichnet ist. (Das Comité dahier, vom 21. Sept. 1864 – Stadta BH.) 744 Der Besitznachweis für den Kirchengrund erweist sich als juristisch nicht haltbar und bedarf der Veränderung, die Bauzeichnung wird missbilligt, die englische Vermaßung sowie die Bauausführung durch englische Handwerker moniert. Die zuständige Bauverwaltung beurteilt den Entwurf des bekannten Londoner Architekten Ewan Christian (1813-1895), der Kirchen in Kendal, Hildenborough u.a. entwirft, als geschmacklos ungestaltig, spricht von dem Dach weniger schön als ein Scheunendach und vom Dachreiter, der einer Nadelbüchse ähnele. Der „Missions- Kirchenstyl“ passe nach Indien und anderen wilden Völkern (Datzkow, 1995, o.S. – StadtaBH). 745 Dem Bischof von London obliegt die Pfarrstellenbesetzung, Parrochialrechte (Rechte zum Kirchenspiel gehörend) vertritt die örtliche lutherische Kirche (Datzkow, 1995, o.S.). 746 Kurgäste in Bad Homburg (Auszug): Jahr Deutsche Engländer insgesamt 1875 4942 3379 10597 1877 4549 3776 9558 1879 4896 3546 10087 (Grosche, 1986, S. 204) 747 In dem Casseler Tageblatt heißt es: „Allen, die es interessiert, wünscht Caplain Lewis mitzuteilen, dass er sich durch Briefe und Zeitungsannoncen eifrig bemüht, Amerikaner und Engländer zu veranlassen, die schöne Stadt Kassel zu ihrem Reiseziel zu erwählen und hier zu verweilen. In der Tat haben ihm schon zwei bedeutende Landsleute versprochen, ihren Aufenthalt hier zu nehmen, da er ihnen sagen konnte, er habe hier mehr Amerikaner und Engländer gefunden als an manchem anderen Ort“ (Hermsdorff, 1967, Nr. 260). 232 Abb.: 63 Anglikanische Kirche in der Murhardstraße748 Schließlich beginnt man am 21. Juni 1887, dem 50jährigen Thronjubiläum von Queen Victoria, mit der Grundsteinlegung.749 Bereits nach nur 10monatiger Bauzeit weiht der Bischof für Nord- und Centraleuropa Reverend T. E. Wilkensen das Gotteshaus. Der Architekt Werner Narten750 ist gleichfalls anwesend. Die im gotischen Stil jedoch mit einem steileren Dach als der Homburger Sakralbau konzipierte Kirche erhält nach dem früh verstorbenen Sohn von Queen Victoria den Namen St. Alban Church. Den englischen Pfarrer soll Aschrott monatlich unterstützt haben, bis mit dem Aus- bruch des 1. Weltkrieges nicht nur die Kirchengemeinde in Bad Homburg zusammenbricht, sondern auch alle Engländer Kassel verlassen müssen. Im Vergleich zu den Gastzahlen des Modebades wird die Anzahl englischer Bewohner751 im Hohenzollernviertel eine viel geringere sein, denn die ehemalige Residenz kann keinen Kurbetrieb und keine Spielbank vorweisen. Die Festlichkeiten zum 50jährigen Thronjubiläum werden in der Bad Homburger „Christ Church“752 erst im August 1900 in Anwesenheit des Enkels der Queen, Kaiser Wilhelm II. und der Kaiserin begangen. Für die neue evangelische Kirche in Wehlheiden legt man 1886753 den Grundstein auf dem von Aschrott gestifteten Areal, jedoch kann erst 1889 hier Gottesdienst gehalten werden. 748 Hermsdorff, s.o. 749 Hermsdorff, „Ein Blick zurück“, s.o. 750 Bei seinen Tätigkeiten in Kassel ist er als Vertreter der Hannoverschen Bauschule zu erkennen (Wiegand, 2005, S. 82). 751 In Cassel wird für 1894 ein 1. Cassel Lawn-Tennis-Club vermerkt, dem als Sekretär und Schatzmeister h.c. W. H. Kirwan Ward, Hohenzollernstr. 100, vorsteht. ( Kasseler Adressbuch 1894) Ward, Williams, Sprachlehrer, Hohenzollernstr. 100/3 (Fichard, o.J., S. 78; Quelle: Stadta KS, S 5, Q 80.) Beide Personen sind offensichtlich identisch. 752 Neben zwei sonntäglichen Gottesdiensten für die Kurgäste sind Trauungen, Taufen und Beerdigungen Anlässe der Gemeindearbeit. Die Beerdigungen nehmen zwischen 1866 und 1897 einen beträchtlichen Umfang ein, für 109 Engländer und Amerikaner finden Aussegnungen statt, 83 werden in Bad Homburg beerdigt (Walsh, 1984, S. 107). 233 In der Casseler Allgemeinen Zeitung wird am 15.12.1889 die Einweihung der neuen evangeli- schen Kirche in Wehlheiden angeführt.754 In einem Artikel vom 23.12.1889 erfolgt ein Bericht über den Einweihungsgottesdienst am 4. Adventssonntag.755 Eine Mitteilung vom 24.12.1889 berichtet vom Festessen im Anschluss an die Kircheneinweihung im Gasthaus „Germania“.756 Lediglich in der Gründungsurkunde der evangelischen Kirche wird auf den Stifter des Grund- stücks Bezug genommen.757 Abb.: 64 Neue Wehlheider Kirche (Adventskirche)758 In einem Rückblick auf 75 Jahre katholische Rosenkranzkirche am Neumarkt weist Hermsdorff auf die Anwesenheit von S. Aschrott bei der Kirchenweihe 1901 hin, der 75jährig aus Berlin angereist ist, und führt an, dass Grund und Boden für diese Kirche wie auch für die evangelische Adventskirche ein Geschenk Aschrotts sind. Aus dem weiter oben Dargestellten ergeben sich verschiedene Fragen. Wie ist die Anwesenheit Aschrotts bei der Rosenkranzkirche und das Fernbleiben zur Einweihung der Adventskirche zu bewerten? Wird die Schenkung des Grundstücks bei den Festreden absichtlich verschwiegen oder ist es eine Rezension seitens des Redakteurs? Eine Antwort fiele rein spekulativ aus. Je- 753 Wiegand führt das Jahr 1884 als Baubeginn an (Wiegand, 2005, S. 82). 754 Der Bericht weist auf die noch fehlende Orgel, die Finanzierung seitens der Gemeindekasse und den zusätzlichen Ertrag durch eine Kollekte hin. Weiter werden Geber für fehlende gemalte Fenster im Chor gesucht. 755 Darin sind die Vertreter der staatlichen Behörde, der Kirche u.a. sowie die Schlüsselübergabe seitens des Baumeisters angeführt. Pfarrer Armbröster, der den Gottesdienst abhält, dankt in seiner Predigt den Staats- und Kirchenbehörden für ihr Engagement, würdigt den Einsatz der Bauleute bis zum „geringsten Handlanger“ und auch der während des Baus verstorbene Baumeister bleibt nicht unerwähnt. 756 Der Artikel zählt die einzelnen Festredner auf und wem ihre Danksagung gilt. Dazu gehören Kaiser Wilhelm II., die Kirchengemeinde Wehlheiden, die Bemühungen seitens der Behörden, der Baumeister, das Verhältnis zur alten Kirchengemeinde Kirchditmold, die Erziehung der Jugend als Faktor der Volkswohlfahrt, sowie der Gesang der Schuljugend und die gute Nachbarschaft zu Kassel. 757 Es heißt dort...“An Hand verschiedener Grundskizzen wurden nun die schenkweise angebotenen oder etwa zu erwerbenden Bauplätze geprüft und in einer öffentlichen Versammlung der Gemeindebürger am 30ten Juli 1884 der jetzt gewählte Bauplatz als der geeignetste bezeichnet. Diesen Bauplatz hatte der Fabrikant S. Aschrott der Gemeinde zum Geschenk angeboten und ist die Schenkung im Juni 1886 zur Wahrheit geworden.“ 758 Stadtmuseum, Inv.- Nr. 01/0760.02. 234 doch gilt anzumerken, dass die protestantische Kirche als preußische Staatskirche anzusehen ist und als Stütze monarchistischer Macht in die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts mit einbezogen wird. Die katholische Kirche dagegen ist im kaiserlichen Deutschland nur als Randgruppe anzu- sehen, besonders in protestantischen Gebieten wie Hessen. 8.3 Aspekte der Gartenstadt bestimmen die Bauordnung von 1893 Veränderungen der Stadtbaugestaltung in Frankfurt durch die Zonenbauordnung scheinen sich auch bei Abfassung einer neuen Bauordnung vom 3. Oktober 1893 in Kassel auszuwirken. Es stellt sich die Frage nach den gedanklichen Vorreitern für eine solche Ordnung. So beschreibt v. Roessler759 in einer Veröffentlichung, 1874, neben dem modern-funktionalen Stadtaufriss eine Form aufgelockerter Bebauung mit freistehenden Häusern, meist Einzelhäusern, die in ihrem urbanen Ausdruck ein geschlossenes Ganzes ergeben. Gärten und unbebaute Zwischenräume zeichnen dieses weiter aus. V. Roessler stellt sich damit in Widerspruch zu der Lagerente, bei der ein Grundstück den optimalen Preis erzielen soll. Für Terraingesellschaften ist die Umset- zung unter derartigen Prämissen entscheidend. Die Vorstellung v. Roesslers stützt sich dagegen auf die Bodenverwertung durch den kleinen Grundbesitzer, der in der Lage ist, im Sinne von „Naturgemäßheit“ Einzelbauten zu errichten (Rodriguez-Lores, 1983, S. 128); jedoch ist der von den Gesellschaften geforderte Grundstückspreis nicht zu finanzieren. Neben dieser Einstellung zum Stadtbau werden auch Gedanken zur Stadthygiene laut, der sich die Reformer immer mehr annehmen. Ihre Einwände richten sich gegen den technischen Fort- schritt des modernen Wohnungsbauprodukts im Zusammenhang mit der Bodenspekulation, der sogenannten Mietskaserne, in Neubaugebieten. Die Bodenspekulanten seien die „Hauptfeinde der Gesundheit“,760 Ursache ist in der Ausnutzung der Hausblöcke mit dunklen und feuchten Kellerwohnungen, überfüllten Etagen u.a. zu suchen. Reformen zielen vor diesem Hintergrund jetzt auf Weiträumigkeit in der Bauanordnung, die Licht und Luft für das Wohnen zulassen, und bei der nach Straßen oder Bezirken zu differenzieren und abzustufen ist. Das letzte Drittel des Jahrhunderts wird von einer ideologischen Auseinandersetzung der Stadtbau-Reformer gegen den Mietskasernenbau bestimmt (Rodriguez-Lores, 1985, S. 40/41). In einem Schreiben761 geht Aschrott auf die oben genannte veränderte Bauordnung ein und be- tont, dass der Ausbau des neuen Stadtteils nicht ausschließlich von finanzieller Seite getragen werde, sondern auch sanitäre und ästhetische Vorstellungen starke Berücksichtigung fänden. Er sehe in der Verordnung eine massive Schädigung seiner materiellen Interessen und stellt fest, die Ordnung sei nicht geeignet, die präferierten Ziele zu erreichen. Seine Argumentation stellt die veränderte Verordnung762 von 1885 der gegenüber, in der die Gebäudehöhe im Verhältnis zur Straßenbreite und zum Abstand zwischen Nachbargebäuden bereits geregelt ist. 759 Mit einem Programm zur Reform der deutschen Städte berichtet der Frankfurter Architekt G. v. Roessler 1874 dem „Architekten- und Ingenieur-Verein in Cassel“ seine Vorstellungen zu „Natürlichkeit“ und „Künstlichkeit“ im Städtebau und weist in dem Schreiben auf Veränderungen des kapitalistischen Bauens mit dem Verzicht auf traditionelle vernunftmäßige Stadtbauformen hin. Städtisches Bauen stehe jetzt unter dem Blickwinkel politisch-ökonomischer Absichten und sei mit Bezeichnungen wie „Regelmäßigkeit“ und „Unregelmäßigkeit“ zu charakterisieren. Die Vorgänge werden ausschließlich der Bodenfrage, d. h. der „Bodenrente“, unterworfen (Rodriguez-Lores, 1983, S. 101/102). 760 Auf einer Versammlung in Danzig 1874 befasst sich der Verein für öffentliche Gesundheitspflege mit Referaten: „Einfluss der verschiedenen Wohnungen auf die Gesundheit ihrer Bewohner, soweit er sich statistisch nachweisen lässt“ und „Anforderungen der öffentlichen Gesundheitspflege auf die Baupolizei in Bezug auf neue Stadttheile, Strassen und Häuser“ (Rodriguez-Lores, 1985, S. 41). 761 Brief Aschrotts an den P.P. Graf v. Königsdorff vom 29. Dezember 1894 (St A M, Best. 175, Nr. 529, Buchst. K, F 1932.) – Felix Graf v. Königsdorff, geb. 24.9. 1835 Lohe, Krs. Breslau, gest. 24.2.1924 Kassel (Stadt A KS, Meldekartei). 762 Gemeint ist die Bau-Polizei-Ordnung vom 1. Juli 1885. Best. s.o. 235 In der neuen Verordnung sei die Gesamthöhe der Häuser auf 12 m heruntergenommen, weiter wolle man die „Zwillingsvillen“763 verbieten und den Gebäudeabstand auf 10 m verdoppeln. Er geht ferner auf die Gestaltung von Häuserabständen ein, die in der neuen Fassung ausschließlich von gärtnerischen Anlagen zu nutzen sind. Bäume dürften jetzt in ihrem Wuchs nicht über die Firsthöhe hinausreichen. Abb.: 65 Weg nach Kirchditmold764 - Grundstück Sigmund Aschrott mit „Baubeschränkung“ belegt Bei seinen Ausführungen bezieht sich Aschrott auf den Ausbau der Südseite des Weges nach Kirchditmold765 und bietet für diesen Straßenzug eine Interpretation der Verordnung unter dem Gesichtspunkt obiger Bebauung an. Er legt dar, mit der Gesamthöhenreduzierung wolle man lediglich das Ziel verfolgen, „über die künftigen Gebäude“ hinweg zu sehen. Der zukünftige Bewohner könne sowohl über ein 12 m als auch über ein 20 m hohes Gebäude nicht hinweg- schauen. Er ergänzt, lediglich wie bei der Bebauung der Terrasse, wo die Häuser „nicht über 1 ½ m über die Straßenkrone hinausragen dürfen“, sei ein freier Blick möglich. Aschrott geht auch auf Stilelemente der Baugestaltung ein, die bei Beschränkung für „äußere Ausstattung“ Möglichkeiten in Form von „thurmartige[n] Ausbauten und Erkern etc., wie sie gerade für eine derartige Gegend vernünftig“ sind, ausschließen. Dagegen würden von vornher- ein reine „Nützlichkeitsbauten“ erzwungen. Als weiteres Manko nennt Aschrott das Ausschlie- ßen von Souterrainbauten, die sich speziell bei Hanglagen anbieten. Ebenso erscheint die Be- schränkung auf zwei Geschosse eher störend und unzweckmäßig. Mit Verdopplung der Zwischenräume könne keine bessere Luftzirkulation erzeugt werden, denn an dem Berghang sei man grundsätzlich häufig Windbewegungen ausgesetzt. Das Argument für Durchsicht würde gerade Baum- und Strauchgruppen trotz erweiterten Abstandes verhindern. Aschrott ergänzt, dass mit Rücksicht auf die Schönheit der Gegend, er meint den Blick bis zur Söhre, auf das Auefeld mit dahinterliegenden Baunsbergen und Habichtswald, „Zwischengärten besonders wünschenswert“ anzusehen seien und dass eine Minimalbreite von 7 m, nach seiner Einschätzung reichlich genügten. Jedoch seien zusätzliche Einfahrten, Eingänge und Freitrep- pen zu gestatten. Kritisch setzt er sich mit dem Ausbau mehrerer Parzellen an dem Hang auseinander, die mit unschöner Bebauung besonders ihn als alleinigen Eigentümer treffen. Bei dem verbleibenden 763 Unter „Zwillingsvillen sind Doppelhäuser mit repräsentativem Charakter zu verstehen. 764 Ausschnitt Fluchtlinienplan Nr. 234 vom 31.12.1900 (Vermessungsamt). 765 Auf der Katasterkarte Cassel FF als Fortsetzung der Cölnischen Allee, als Weg nach Kirchditmold bezeichnet (Katasteramt Kassel.) Heute ist der Abschnitt Teil der Kölnischen Straße. 236 Restgrundstück käme eine solche Bebauung nicht in Betracht.766 Der beschriebene Vorgang könnte nach seiner Auffassung als Ursache für die Veränderung der Bestimmung gesorgt haben. Allgemein interpretiert Aschrott die neue Verordnung als eine Beschränkung seiner Eigentums- rechte, gegen die er bei der Kgl. Regierung protestieren wolle. Eine Verwirklichung obigen Vorhabens sei nur umzusetzen, indem man die Verordnung im Sinne des Enteignungsgesetzes von 1874 anwende. Der OB,767 vertreten durch Herrn Klöfflen, nimmt gegenüber dem PP zu den Argumenten Aschrotts Stellung und legt zur Erhaltung der Aussicht vom Kratzenberg dar, dass bei Einfüh- rung der Beschränkung auf Grund von Messungen des Stadtbauamtes von Osten nach Westen der Blick frei für die Landschaft sei. Bei einer Gesamthöhe von 12 m träfe das nicht mehr zu. Auch Zwillingsvillen seien nicht verboten, wenn die Frontbreite 20 m nicht übersteige und er fügt an, Villen von 10 m Breite erfreuten sich in Kassel steigender Beliebtheit. Weiter nennt er Straßen768, in denen der Bautyp umgesetzt wird. Diese Bebauung sei besonders zu den Bauflä- chen passend. Aschrott aber würde auch bei solcher Umsetzung noch sein Geschäft beim Ver- kauf von Grundstücken machen. Das Argument für größere Zwischenräume unterstreicht er damit, um so einen Blick in tieferliegende Grundstücke zu öffnen. Das Problem mit Pflanzun- gen in Hausnähe stelle sich nicht, denn diese würden stets niedrig gehalten. Auch Anbauten mit Türmchen und Giebeln würden nicht ausgeschlossen, bedürften aber der Genehmigung durch den PP und die Stadt. Ein drittes Geschoss an der Rückseite des Hauses sei ebenfalls möglich. Somit erlaube die Verordnung ein „hohes Erdgeschoss und zwei volle Etagen nach Norden“, was „drei Stockwerke nach Süden“ bedeute und dennoch sei die Aussicht gewahrt. Ferner er- mögliche die neue Ordnung den Bau von Freitreppen, Portale jedoch nach Prüfung im Einzel- fall. In Bezug auf die Gebäudehöhe nach dem Fluchtliniengesetz käme nicht die Straßenbreite und die Vorgartentiefe von 15 m und 5 m in Betracht, denn nach gültiger Bauordnung seien Häuser von 15 m Höhe bis Dachgesims zugelassen. Erneut führt er die Vorschrift der Straßen- breite ohne Vorgartentiefe im Verhältnis zur Gebäudehöhe an, kommt jedoch zu dem Schluss, dass eine geltende Bauordnung durch neue redaktionelle Veränderungen aufgehoben werden könne. So sind in einem speziellen Fall Gebäude bis 20 m ohne Dachhöhe möglich. Im Weiteren zählt er die Möglichkeiten für negative Bauausführungen auf, die Aschrott rück- sichtslos ausnutzen könne, doch solche beendeten die „Schönheit des Kratzenberges“, die auf der Weite des Blickes beruhe. Er beruft sich bei seinen Erläuterungen auf existierende Bestim- mungen für Landhäuser anderer Orte und unterstreicht: Mit der Erhaltung der Aussicht auf die „bewunderte Umgebung“ bleibe ein „Hauptmoment für den Zuzug nach Kassel“ erhalten. Der OB verdeutlicht jedoch dem PP, das „Interesse am Zuzug Fremder“ sei bei Aschrott „das gleiche wie bei der Stadt“. Man könne nur mit Aufklärung dessen zweckorientierter Auffassung entgegnen und auf seine Einwendungen mit Abstandhalten reagieren. Fast drei Jahre später nimmt Aschrott erneut zu der Verordnung Stellung und teilt dem PP als zuständiger Behörde mit, weiter an dem Protest festzuhalten. Er bittet um Aufhebung der Ver- ordnung, weil sich die Sachlage dahingehend geändert habe, dass die vom Bauamt angedachte „Aussicht über die Gebäude“ nicht einzuhalten sei und nach deren Meinung sich deshalb zu verändern habe, weil es bald zu einer „Incommunalisirung769 der Nachbargebiete“ komme und danach die gesamte Bebauungsweise für die Stadterweiterung zu regeln sei. Unter dieser Inten- tion würde die Aufrechterhaltung einer besonderen Bauordnung für einen kleinen Geländestrei- fen770 nicht mehr haltbar sein. 766 Gemeint sind die Gemarkungsflächen Cassel FF 68/35 und 70/35. Das Restgrundstück bezieht sich auf 71/35 (Best. s.o.). 767 Brief des OB vom 22. Januar 1895 (Best. s.o.). 768 Nach seinen Angaben handelt es sich um Villen in der Nahl-, Amalien- und Sophienstraße. 769 Aschrott spricht hier die Eingemeindung Wehlheidens an, die 1899 erfolgt. 770 Das Gelände der Kirchditmolder Straße liegt in einem Flursporn der Gemarkung Cassel, die der 237 Mit seiner Initiative zu einer neuen Verordnung scheint der zu diesem Zeitpunkt 58jährige PP v. Königsdorff die Baubestimmungen der vorherrschenden Fachmeinung übernehmen zu wollen. Die städtische Verwaltung trägt seine Vorstellungen mit und unterstreicht die gemeinsame Auf- fassung mit Bestimmungen anderer Orte. Der OB771 zählt die Polizeiverordnung Altonas für Landhäuser vom November 1892 auf, die im gleichen Sinn konzipierte Verordnung für Köln sowie die gesetzlich existente Baupolizei-Ordnung für die Berliner Vororte vom Dezember 1892. Durch Veränderung der Bauordnung lanciert die Verwaltung mit „gedruckten“ Vorschriften Ordnung in das ihrer Meinung nach herrschende Bau-Chaos. Kommunale Ordnungsvorhaben dienen der Aufhebung der bestehenden Diskordanz zwischen der Macht des freien Boden- Marktes und der gefesselt erscheinenden Behörde, um damit eine „wundersame Verwandlung nämlich der Unordnung in Ordnung dank der Straßentrassierung – eine der vielen sagenhaften Utopien des modernen Städtebaus“ zu bewirken (Rodriguez-Lores, 1983, S. 129). Sie möchte in eine vorherrschende Praxis eingreifen, bei der sie weitgehend die Planungskontrolle verloren hat. V. Roessler umschreibt die Aufgabe der Verwaltung als eine sehr einfache, bei der lediglich auf den Bauwich zu achten, „Nothwege am rechten Ort und zur rechten Zeit“ einzurichten und die Einhaltung der Fluchten zu überprüfen sei (v. Roessler, in: Rodriguez-Lores, 1983, S. 129). Aschrott zieht sich bei Divergenzen mit der Verwaltung auf seine Position als Bauträger zurück, der stets, seiner Meinung nach, bei städtischen Veränderungen Abstriche von seinem ursprüng- lichen Vorhaben in Kauf nehmen muss. Er trägt die Vorstellungen der Verwaltung in den Punkten mit, wo sie ihm sinnvoll erscheinen und seine Bauabsichten nicht zu stark tangieren. Der OB schiebt fadenscheinige Erklärungen vor, wie Blick in die Tiefe gestatten oder Anbauten zulassen, was wieder im Einzelfall zu entscheiden ist, um Aschrotts Argumentation zur Grund- stücksausnutzung zu entkräften. Mit der Bemerkung, „sie (Bauordnung) kann aber jederzeit bei einer neuen Redaktion der Bauordnung aufgehoben werden“772, setzt der OB die Verordnung einer Planungswillkür gleich, die je nach vorherrschender Meinung zu ändern ist und über- nimmt die aristokratische Vorstellung von absoluter Macht. In seinen Bemerkungen gegenüber dem PP gibt er jedoch zu erkennen, dass der „Bourgeois“ immer auf sein Recht als Stadtteilpla- ner und Gestalter poche, und man solle ihn gewähren lassen, denn gegenüber dem Kapital sei ohne Zugeständnisse eine neue Stadtentwicklung nicht zu verwirklichen. Aschrott lebt seit sieben Jahren in Berlin, seine Berufsbezeichnung lautet jetzt Bankier. In sei- nen Schreiben verrät er ein differenziertes Wissen über die Kasseler Bauentwicklung. Er ver- gleicht partielle stadtbauliche Äquivalente und ordnet diese in einen Gesamtzusammenhang. Gleichzeitig differenziert er zwischen baulichen Eigenheiten und verschiedenen Stilelementen und zeigt damit seine Kompetenz als Stadtteilentwickler. Auf diese Eigenschaften ist noch ein- zugehen, wenn sich die Frage nach dem Stadtplaner des Viertels stellt. 8.4 Erneute Interventionen gegen Bauausführungen im Aschrottviertel Von administrativer Seite gehen ab 1904 erneut Impulse aus, um den Stadtbauprozess zu verän- dern. In der fortwährenden Auseinandersetzung zwischen der Kgl. Regierung, der städtischen Verwaltung und dem Großgrundbesitzer Aschrott werden Änderungen in der Bauordnung vor- genommen, damit sich der westliche Stadtteil, (Wehlheiden773 ist bereits eingemeindet) im urba- nen Charakter ändert. Auslöser für diese Neuorientierung sind nach Aschrotts Ansicht der Ar- chitekten-Verein774 in Kassel und die städtische Baukommission.775 Katasterkarte FF entspricht, welche die Gemarkung Wehlheiden nach Norden begrenzt und am westlichen Rand auf die Kirchditmolder Flur trifft. 771 Best. s.o. 772 Best. s.o. 773 Die Eingemeindung Wehlheidens findet am 1. April 1899 statt. 774 Brief Aschrotts vom 10. November 1905 an den Regierungspräsidenten Herrn Graf von Bernstorff. (A 238 Der Verein hat einen Ideenaustausch mit dem Frankfurter Architekten G. v. Roessler geführt. Darin propagierte man die Vorstellungen von „Natürlichkeit“ und „Künstlichkeit“ im Stadtbau (Rodriguez-Lores, 1985, S. 101). Dieser Austausch liegt zwar schon 30 Jahre zurück, die thematische Brisanz scheint aber aktuell zu bestehen. Die Bodenfrage, d. h. die Verteilung des Bodens in Form von Grundstücken und die Verwertung beim Wohnungsbau, beschäftigt erneut die Behörden. Roesslers Vorstellungen legen das Prinzip der Unregelmäßigkeit beim Stadtteilentwurf zugrunde, realisiert in einer „weiträumige[n]“ Anlage, die wie ein großer Garten aussieht“.776 Sie beeinflussen wahrscheinlich Kreise des Kasseler Vereins und finden Widerhall in admi- nistrativen Regeln der Behörden,777 da leitende Beamte mit dem Verein sympathisieren. Aschrott meint, dass die diskutierten und vor der Verabschiedung stehenden Bauordnungsände- rungen auch von Theorien des Bodenreformers Eberstadt778 beeinflusst würden und sein Stadtbauprojekt gefährdeten. Eberstadt schreibt in seiner tendenziösen Darstellung der Berliner Wohnverhältnisse: „Als bestimmende Basis der heutigen Gestaltung [stellt sich] eine eigenthümliche Erwerbsthätigkeit [dar]; es ist die Bodenspeculation. Bevor der Häuserbau beginnt, hat der Grund und Boden eine Preishöhe erreicht, die jede weiträumige Bebauung ausschließt und nur eine einzige Form der Wohnungsproduktion zulässt: den Bau von Mietskasernen“ (Eberstadt, 1894, S. 41). Als Sprachrohr dieser Vorstellungen agiert nach Ansicht Aschrotts Fabarius779 in Kassel, der mit seinem Vortrag: „Bauordnung und Wohnungswesen“780 Ausführungen Eberstadts781 Pr. Br. Rep. 30, Berlin C. Tif. 94) Bereits am 2. November 1905 einen inhaltsgleichen Brief wie vom 10. November an den „Magistrat der Residenzstadt Cassel“ (Stadta KS, S. 5, A 442.) 775 Nachdem v. Noel seine Tätigkeit als Stadtbaurat beendet hat, bekleidet der Stadtbauinspektor Fabarius dieses Amt bis zur Ernennung eines Nachfolgers. Blumenauer als Mitglied der Stadtverwaltung be- schreibt diesen folgendermaßen: „Fabarius war kein ausdauernder Arbeiter, er war immer unterwegs, selten traf man ihn im Büro. Hatte man eine wichtige Angelegenheit mit ihm zu besprechen, so eilte er mit den Worten: `Weiss schon, weiss schon,`davon, bevor man ausgesprochen hatte. Unter den Beamten des Stadtbauamtes war nicht ein einziger, der ihn, unter Berücksichtigung seiner Eigenarten, unterstützt hätte. Jeder tat nur, was ihm befohlen war und kümmerte sich nur um das, was ihn anging“ (Blumenauer, 1965, S. 103.) 776 Best. s.o. 777 Aschrotts Vermögen beträgt 1877 5-6 Millionen Mark. 1905 verfügt er über ein Jahreseinkommen von 1 1/2 Millionen Mark. 778 Den Sprachrohren dieser Richtung, Rudolf Eberstadt und Theodor Goecke, ist klar, mit ihrer Wohnungsbaustrategie die anstehenden Probleme der Stadtplanung und das Problem des Bodenwertes nicht lösen zu können. Sie schlagen lediglich eine andere Denkrichtung zu einem „pragmatischen und realistischen, sozialpolitisch motivierten Reformweg in kleinen Schritten“ ein (Breuer, 1983, S. 526). 779 Waldemar Fabarius, Stadtbauinspektor in Kassel, wird am 23.11.1851 in Saarlouis geboren und zieht mit 34 Jahren von Pleß, O/Schlesien, in die Residenz. Er wohnt vom 10.12.84 – 20.4.85 Friedrichsstr. 10, bis 1.2.86 Wilhelmshöher Allee 26, bis 1.5.87 Carls Str. 14, bis 20.9.90 Karlsaue 18, bis 4.4.91 Königsthor 5, bis 25.3.93 Am Weinberg 1, bis 24.4.00 Kronprinzenstr. 24, bis 1.10.01 Schlangenweg 17, um dann nach Wahlershausen zu ziehen, wo er 1911 als Magistratsbaurat, Rammelsbergstr. 20 geführt wird. Gleiches sagt das Adressbuch für 1920/21 aus. Seine Ehefrau Martha geb. Goebers wird am 29.2.72 geboren und verlässt Kassel am 21.4.00 nach Odenkirchen (EMK und Kasseler Adressbuch 1911 und 1920/21, Stadta KS). Fabarius (1851-1924) ist seit 1885 für die Stadt tätig, seit 1897 Stellvertreter des Stadtbaurats und scheidet 1911 wegen Krankheit aus dem Magistratsbaurat aus. Sein Aufgabengebiet, „Verhandlungen über den Ausbau von Straßen durch Private“, übernimmt die Vermessungsabteilung (Wiegand, 2005, S. 135/136). Warum Fabarius häufig die Wohnung wechselt, ist nicht bekannt, vielleicht ist er als unruhiger Mensch zu bezeichnen, dessen Äußerungen sich gegen eine bestimmte Bevölkerungsgruppe richten, indem er provokante Reden gegenüber Kapitalbildung hält, aber als Wohngegend Straßen sucht, die einem gehobenen Lebensraum entsprechen. Darauf deuten seine Adressen hin. Aschrott sind die Reden Fabarius bekannt und seine Andeutungen weisen daraufhin, dass dieser das Sprachrohr einer tendenziellen Bürgermeinung darstellt. Seine zwanzig Jahre jüngere Frau verlässt Kassel bereits mit 28 Jahren. Tag der Eheschließung ist nicht bekannt. 780 Fabarius vertritt in seiner Veröffentlichung, „Geschosszahl und Baukosten städtischer Wohnhäuser“, dass die Baukosten pro Geschoss ab einer gewissen Geschosszahl nicht geringer werden, sondern 239 übernimmt und bestehende Tendenzen der öffentlichen Meinung verstärkt. In seinen Berichten782 vor Mitgliedern des Architekten- und Ingenieurs-Vereins zu Kassel äußert sich der Stadtinspektor Fabarius1904 besonders zu Veränderungen für beschränkte und offene Bebau- ung. Die Stadt „identifiziert sich mit dem gedachten Vortrage“ und gibt die angesprochenen Argumente „in ihrem Motivenbericht zu § 78“783 wieder, stellt Aschrott fest. - Die Ausführungen beziehen sich auf: - Bau von Ein- und Dreifamilienhäusern im Hohenzollernviertel, - Minderung des Bodenpreises durch polizeiliche Baubeschränkung, - Verringerung der Baufläche im Verhältnis zur Grundstücksgröße, - Trennung von Vorder- und Hinterbebauung mit Flächen-, Höhen- und Abstandsbeschränkungen, - Geschosshöchstzahl an Straßen mit entsprechender Breite auf vier und bei geringerer Breite auf drei, - Verbot von Untergeschossen, - Einschränkung bei Errichtung von Zinshäusern, besonders der fünfgeschossigen. Weiter argumentiert Fabarius, speziell auf seinen Zuhörerkreis zugeschnitten, nicht die Woh- nungsbedürfnisse der Minderbemittelten seien das Problem in Kassel und anderen Städten, son- dern den „natürlichen Wohnungsbedürfnissen des gebildeten Mittelstandes“ würde nicht ent- sprochen. Vielmehr hinderten „Boden- und Bauspekulation, Mietskasernen, Zinshausbesitzer“ besonders den Mittelstand daran, entsprechenden Wohnraum für sich zu finden. Seine Erklärungen richten sich bewusst und ausschließlich gegen Aschrott, der bekanntlich in Kassel keine Wohnungen für Unterschichten bauen will und besonders Raum für gehobene Schicht bereithält. Fabarius schiebt in seinen Begründungen Eberstadt784 nur vor, um unter diesem wachsen. Mehrkosten ab dem vierten Geschoss entstehen nach seiner Meinung durch die Arbeit des Hinaufschaffens und Verstärkung der Konstruktion besonders der Mauern der unteren Geschosse. Geschosszahl 1 2 3 4 5 Baukosten 81,7 73,7 70,3 70,7 72,3 Verhältnis (pro Geschoss in %) 100 90 86 86,5 88 (Gretzschel, 1912, S. 718/719) 781 Eberstadts Grundsätze zur Berliner Wohnungsfrage beziehen sich auf existierende Bebauungspläne, die bestimmte Parzellierungen vorschreiben. An wenigen breiten Straßen entstehen tiefe Grundstücke. Ihre Ausnutzung führt zwangsläufig zu hinterer Bebauung und einer Erhöhung der Wohnungszahl, was eine Steigerung der Bodenpreise nach sich zieht. Umgekehrt, so seine Vorstellung, bewirkt der erzielte Bodenpreis zwangsläufig neue Mietskasernen. Deshalb fordert er eine städtische Preisbildung des Bodens, deren Ursprung auf Ausdehnung der Städte, gestörtes Verhältnis von Angebot und Nachfrage, Verschiebung der Massen in die Stadt u. a. zurückzuführen ist. Die Preisbildung, so der Standpunkt der Bodenreformer, resultiert aus dem Besitz an Grund und Boden in privater Hand (Eberstadt, 1894, S. 42/43.) Eine Form der Regulierung stellt für ihn eine Grundbesitzerwechselsteuer dar, da der Besitzerwechsel bedeutend auf die „Preistreiberei“ einwirkt. Dieser Vorgang sei nicht von lokalem sondern von Staatsinteresse (Eberstadt, 1894, S. 80/81). 782 Niedergeschrieben in: „Die Bedeutung der Baupolizeiordnung für das städtische Wohnungswesen – Vortrag: gehalten im Architekten- und Ingenieurs-Verein zu Cassel vom Stadtbauinspektor Fabarius Kassel 1904“ (StadtaKS, S. 5, A 442.) 783 A Pr. Br. Rep. 30, Berlin C. Tif. 94 (Weiter mit: “Brief Aschrott 1905”, bezeichnet.) 784 Eberstadt propagiert statt der Mietskasernen Kleinsthäuser, die eine Barmer Bau-Gesellschaft vertreibt. Ende 1891 plant sie den Typ 1 im Erdgeschoss mit Stube und Küche und im 1. Stock zwei Stuben für 3000 M. sowie für Typ 2 dieselben Räume mit einem Vorhaus für 3400 M. Weiter nimmt Eberstadt die hohen Grundstückspreise an, streicht aber den Garten, der in einer Großstadt nicht erforderlich sei, und errechnet für ein Kleinhaus 3700 M., welches für einen Arbeiter für 225 M. Miete eine richtige Wohnung liefere, anstatt einer im vierten Stock mit Stube und Küche sowie Blick in den Hof (Eberstadt, 1894, S. 18/19). 240 Vorwand seine Angriffe zu nivellieren und seine Zuhörer gegen Aschrott einzustimmen, was wahrscheinlich bei einem großen Teil seiner Zuhörer nicht erforderlich erscheint, denn diese sind möglicherweise bereits voreingenommen. In seiner Antwort auf eine veränderte Bauordnung unterstreicht Aschrott die Notwendigkeit von Ein- und Dreifamilienhäusern als eine „längst bekannte Bauform“. Für Menschen in entspre- chenden „Verhältnissen“ ist das Alleinwohnen in solch kleinen Häusern möglich. Damit weist er auf die Verteuerung des Wohnens bei derartigen Bauten hin und führt Beispiele solchen Wohnens in seinem Viertel an und zählt Villen und Kleinhäuser in Olga-, Obere Prinzen- und Germaniastrasse auf. In seinen Ausführungen zu einem veränderten Bebauungsplan denkt Fabarius nicht an die von Eberstadt, dessen Ideen beispielsweise in der Margarethen-Höhe in Essen 1913 umgesetzt wer- den. Er wird sein eigenes Wohnproblem sowie das seiner Gesellschaftsschicht vor Augen haben. Einen Diskurs scheint es im Zusammenspiel Fabarius – Aschrott nicht geben zu können, denn Fabarius glaubt möglicherweise in Aschrott den Kapitalisten zu entdecken, dessen wirtschaftli- che Handlungsstrategien es zu bekämpfen gilt. Der Verwaltungsbeamte versucht mit entlehnten bauwissenschaftlichen Erkenntnissen unter Einbeziehung bestehender sozialgesellschaftlicher Schieflage eine neue Perspektive für Kassel zu finden. Prangert sicher auch zurecht Planungen und Bauausführungen an. Seine Kritik bezieht sich auf ein kleines, jedoch im Wachsen begrif- fenes, Spektrum der Bevölkerung. Das eigentliche Problem, die unteren Sozialschichten, be- rücksichtigt der Vertreter der städtischen Bauverwaltung nicht. Er bezeichnet dagegen deren Unterbringung in Kassel als unproblematisch, obwohl die Wohnverhältnisse, besonders in der Altstadt, den zuständigen Gremien bekannt sein müssten. In einem bei Wiegand angeführten Aufsatz bedient sich Fabarius möglicherweise anonymer Personen, wobei A. nur für Aschrott stehen kann. Seine Informationen entnimmt er Bauakten, die als Extrembeispiele besonders auffallen. Darin angeführte Kosten von 62,50 M pro Qua- dratmeter als „´billigen Preis` “ zu bezeichnen, stellt das Ziel zur Veröffentlichung heraus. Hier sollen Grundstücksgeschäfte gebrandmarkt werden und man versucht, gegen Aschrotts Stadt- bauvorstellungen zu opponieren. Weiter wird mit „Vertretern der Bodenspekulation, also des ´Fortschritts` in unserer Stadt, “, ausschließlich der Unternehmer ´A´ angegriffen. Fabarius er- gänzt, es sei nur gerecht und billig, dass seine Bemühungen (Aschrott) um das Gedeihen der Stadt angemessen ´honoriert` werden. Da Immobiliengeschäfte gleichfalls von vielen anderen in kleinerem Maßstab getätigt werden, kann sich die Polemik nicht nur gegen den Juden Aschrott richten; verdachtsfrei ist sie nicht. Fabarius erscheint als ein Ignorant des bestehenden Bau- markts, als zynischer Kritiker und Mann des Widerspruchs. Dort, wo sich Unternehmer und öffentliche Verwaltung längst arrangiert haben, versucht er dem Prozess eine veränderte Rich- tung zu geben. Auf Fabarius785 trifft die Aussage des ehemaligen Landrats v. Weyrauch zu: 785 „Herr A. hat vor Jahren das Gelände gekauft. Anfangs wollte er da ein Landhausviertel schaffen, er sah aber später ein, dass es für die Entwicklung der Stadt besser war, hier ein Verkehrs- und Geschäfts- viertel ersten Ranges nach Berliner Muster vorzubereiten. Mit bedeutenden Kosten hat er gerade und breite Straßen angelegt, wie sie der moderne ´Verkehr` verlangt, und die Baublocks fein genau in einzelne Plätze eingeteilt, geeignet für große Geschäfts- und Mietshäuser, wie sie die Bauordnung vorschreibt – nein gestattet. ...A. verkauft an B. ein Grundstück von etwa 800 qm für den außerordentlichen ´billigen` Preis von 50000 Mark. Darauf lässt sich ein prächtiges Haus bauen... und dazu gehört Geld, wenn auch kein eigenes... B. hat keins, also borgt er sich eins. A. pumpt ihm baare 60000 Mark, natürlich mit Vorsicht... A. lässt auf das Grundstück bei der Auflassung an B. seine Forderungen von 112000 Mark als erste Hypothek eintragen und der Bau kann losgehen. B. versteht das Bauen wozu ist er Bauunternehmer, auch ´Maurermeister` genannt? Es gehört ja nicht viel dazu, denn ganz gleiche Häuser stehen überall in der Nachbarschaft; man braucht sie sich nur anzusehen. Wie und wo man aufzupassen hat sagt die Bau- ordnung. Tüchtige zünftige Meister des Baugewerbes werden vermieden, die bauen zu solide und sind unverschämt genug, gleich baare Bezahlung zu verlangen. Es findet sich schon ein Polier, ebenso wie sich früher ein ´Architekt` gefunden hat.“ (Fabarius, in: Wiegand, 2005, S. 136/137.) 241 „Aschrott hat keine Anstrengung und kein Opfer gescheut, um die ihm vielfach hemmend entgegentretenden engherzigen Anschauungen der städtischen Behörden zu überwinden; er hat dabei nicht selten auch mit Neid und persönlicher Eifersucht zu kämpfen gehabt.“786 Nach dem Exkurs ´Vorstellungen von Fabarius´ führt Aschrott weiter in seinem Schreiben in Bezug auf die fünfgeschossigen „sogenannte Mietskasernen mit großen Hinterhäusern“ an, dass diese vor dem Holländischen-, Leipziger-, Weser-, und Frankfurter Tor existieren, und dass die dort vorhandenen Ein- und Zweizimmerwohnungen von vielen Familien gemietet werden. Ein solcher Haustyp wird nach seinen Vorstellungen in einem Viertel für gehobenes Wohnen787 nicht entstehen. Bei den genannten Beispielen werden 75% der Fläche bebaut, während westlich der Quer-Allee der Prozentsatz 50 % beträgt. Die Breite der Straßen und ihre Ausrichtung zum Habichtswald erhöhen die Qualität des Wohnens in erheblichem Maße. Er weist die Kritik an der Gestaltung des Hohenzollernviertels sowie eine weitere Beschränkung der Bodenausnutzung zurück und merkt an, dass man sich zu seinem Viertel, jedoch nicht zu den Bauten in der Holländischen Str. etc. äußert. Er weist nachdrücklich auf „das 5-stöckige Zinshaus788 (Parterre und 4 Etagen)“ hin und betont, in anderen deutschen Großstädten werde ein solcher Haustyp in Straßen mit großer Breite und viergeschossigen Nebenstraßen nicht in Frage gestellt. Neudings versehe man die 5-geschossi- gen Wohnhäuser mit Lift, Warmwasser und Zentralheizung. Derartige Einbauten rechneten sich bei 10 Wohnungen pro Haus, wogegen ein Stockwerk weniger die Anteilkosten ungünstig ver- ändere. Zudem erwiesen sich die Mietkosten im Zinshaus bezüglich des III. und IV. Stocks für Minderbemittelte als erheblich vorteilhaft. Zusätzlich würden sie jetzt durch die oben genannten Neuerungen „gleiche Bequemlichkeit“ genießen wie in den unteren Geschossen. In einem Beispiel versucht er die Veränderung der Rentabilität an einem um ein Stockwerk reduzierten Zinshaus darzulegen. Der um 1/5 verminderte Bodenpreis, also noch 4/5 vorhanden, verteile sich gleich wie vorher und ergebe für den einzelnen keine Ersparnis. Die Baukosten würden sich jedoch für jeden erhöhen, denn die Preise für Fundament, Keller und Dach für ein 4-geschossiges Haus seien dem eines 5-geschossigen gleichzusetzen. Daraus erwachse für den Mieter kein Gewinn. Die Befürworter einer derartig veränderten Regelung erreichen mit ihrem Vorhaben nur eine „Vermögensschädigung des Grundbesitzers“. Bliebe der Grundbesitzer da- gegen bei seinen Preisvorstellungen, bedeute „die Herabsetzung der Geschosszahl eine erhebliche Verteuerung der Miete.“ In seinen Ausführungen verweist er auch auf billige Arbeiterwohnungen789 zu einem Mietpreis von 300 – 320 Mark jährlich mit komplett ausgestatteten 3 Zimmerwohnungen in fünfgeschos- sigen Häusern der Landgrafenstr., die in Westvierteln anderer Großstädte schwer zu finden 786 Schreiben vom 28. Januar 1900 (GStA, Hpt. I, Rep. 120 CB V Fach A, Nr. 16). 787 Stübben äußert sich über Vorschriften durch eine Bauordnung. Dadurch sei die Bebauung innerhalb bestimmter Fluchtlinien, d.h. innerhalb eines Baublocks, zu regeln. Von Interesse seien dabei Gesundheit, Standfestigkeit, der Verkehr, Feuerschutz und nachbarliche Beziehungen. (Stübben, 1912, S. 513) 788 Das Zinshaus gilt für den Bauherrn als eine Art der finanziellen Alterssicherung. So schreibt Schmidtmann: „...so entstand das Palais-Restaurant[...]. Hinzu kamen die fünf Läden und herrschaftliche Wohnungen, so dass mir das neue Besitztum eine gute Rente sicherte.“ (Schmidtmann, 1993, S. 178.) Schmidtmann bezeichnet damit seine Alterssicherung und nicht die erzeugte Bodenrente. 789 Nach einem Berliner Verwaltungsbericht von 1891 entfallen für 75% der Steuerzahler ein Jahreseinkommen von 660-1200 M. (Eberstadt, 1894, S. 2). Wohnungspreise zwischen Berlin und Kassel lassen sich wie folgt vergleichen. Für Berlin in Häusern in der Reichenbergerstr. nach „Berliner Bauweise“ wird für Hof-Wohnungen mit Stube und Küchen im gleichen Zeitraum im 4. und 5. Stock 216-225 M., im 1. Stock 240-250 M. gezahlt. In Wedding und Gesundbrunnen an bevorzugten Straßen und Neuanlagen beträgt der Preis für die gleiche Wohnungsgröße 240-250 M. (Eberstadt, 1894, S. 3-5.) In Kassel bietet der Arbeiter-Bauverein im „Casseler Tageblatt“ 1896 für seine Mitglieder Wohnungen mit 2 oder 3 Zimmern, Küche, Bodenkammer, Keller und Mitbenutzung der Waschküche, Bleichplatz und Trockenboden zwischen 130 und 200 M. an. Allerdings kommt ein Eintrittsgeld von 50 und ein Mitgliedsbeitrag von 40 Pfennig pro Woche hinzu. Folglich belaufen sich die Endmieten im ersten Jahr auf 151,30-221,30 M. (Schlier, 1989, S. 31). 242 seien und ergänzt, in Zukunft für diese „Bewohnerklasse“790 weitere gleich hohe Gebäude vorantreiben zu wollen. Zu dem Vorhaben, die Errichtung von Untergeschossen791 verbieten zu wollen, führt Aschrott Bauten in verschiedenen Bereichen der Berlepsch- und Zedlitz-Str. an. Bei diesen Beispielen betrage infolge von Grundstücksgefälle und hoch aufgefüllter Straßen die Differenz zwischen Straßenkrone und Baugrund häufig zwischen 3 bis 8 m. Hier seien „festungsartige Mauerwerke“ zur Straßenseite hin erforderlich, wogegen Unterbauten „vollkommen frei und trocken“ lägen. Ferner seien bei veränderten Bauvorschriften die am Kurfürstendamm in Berlin praktizierten tiefen Dielen und hufeisenförmigen Bauten nicht mehr möglich. In einer Aufstellung weist er auf bereits entstandene Privat- und behördliche Bauten hin, die unter derartigen Vorschriften nicht mehr entstehen können. Weiter breitet er seine Vorstellungen von der Großstadt Kassel und deren „großstädtischer Phy- siognomie“ aus, die sich bis zum Bahnhof Wilhelmshöhe fortsetzen und nicht durch niedrige Bauten wie in Weimar, Darmstadt und Karlsruhe gestört werden solle. Dagegen vergleicht Aschrott das Hohenzollernviertel mit dem Bahnhofsviertel in Frankfurt, das von der Terraingesellschaft des „Eisenbahnfiscus“ aufgebaut wird. Aschrott beschreibt die Kai- ser-, Parallel- und Querstraßen als Häuserblöcke, die durchgängig mit fünfgeschossigen Bauten besetzt sind und formuliert: „Das ist ein einheitlicher Gedanke, den diese weitsichtigen Behörden im Widerspruch mit den da- maligen Tendenzen der Bürgerschaft durchgesetzt haben. Sie hat gegen Idealisten und Intriganten mit fester Hand ihren Plan zu schützen gewusst und Gelüste nach landhausartiger Bebauung in die- sem Gebiet entschieden abgelehnt.“792 Diese Argumentation Aschrotts widerlegt eine Untersuchung zur Frankfurter Zonenbauordnung von 1891. Darin stellt Schulz-Kleeßen in der Beschreibung des Bahnhofviertels heraus, dass das Gelände in seiner Eigenschaft als Fiskaleigentum der Baupolizeiordnung793 von 1891 nicht unterworfen sei. Vermutlich möchte der Bauträger, ergänzt der Verfasser als Erklärung, durch vorgelagerte Verträge Interventionen durch Ministerien in Bezug auf Bauordnungen vorbeu- gend umgehen. So ist es möglich, im Zentrum der Stadt durchgängig eine Form von „Mietska- sernen“ als Blockrandbebauung zu errichten. Dies ist nach der Bauordnung von 1884 auch möglich. (Schulz-Kleeßen, 1985, S. 332.) Zu dem ihm vorgehaltenen monopolisierten Bodenpreis sagt Aschrott, dass in keiner preußi- schen Großstadt794, abgesehen einiger Ausnahmen, die Grundstückspreise an fertigen Straßen und bester Lage „gleich billig“ dem diesjährigen Durchschnittswert des Hohenzollernviertels von 52 M. pro qm seien. Er weist auf einen 200 % bis 300 % billigeren Preis in seinem Quartier gegenüber dem Frankfurter Bahnhofsviertel795 hin. In minderwertigen Lagen wie Jahn- und 790 In fabrikeigenen Wohnungen der Firma Henschel am Wesertor zahlen Arbeiter für Stube, zwei Kam- mern, Küche, Keller und kleinen Bodenraum 1888 eine Jahresmiete von 114 M. Im Vergleich dazu wer- den im gleichen Jahr für eine Arbeiterwohnung in Kassel durchschnittlich 150 bis 160 M. bezahlt. Eine kleine Wohnung mit Stube und Küche in der Unterneustadt für den gleichen Zeitraum erfordert 60 M. Für eine Wohnung mit Küche, ein bis zwei Stuben und zwei bis drei Kammern werden 270-300 M. verlangt. Der Jahresdurchschnittsverdienst eines Arbeiters beläuft sich in Kassel laut polizeilichen Angaben auf 750 bis 850 M. so hat ein Kasseler Arbeiter rund 20% seines Verdienstes für die Miete einer Wohnung in den Vierteln mit überproportionaler Arbeiterschicht aufzuwenden (Summa, 1978, S. 155/156). 791 Weitere Beispiele sind: Bei Einmündung der Zedlitz- in die Kaiserstraße und linksseitige Bauten in der Hohenzollernstr. zwischen Hohenzollern- und Marktplatz. 792 Brief Aschrott 1905. 793 Vertrag zwischen preußischer Eisenbahn und der Stadt Frankfurt 1889 (Schomann, 1988, S. 77-79.) 794 Als Ausnahme nennt Aschrott Königsberg, Danzig und Posen (Best. s.o.). 795 Für das Bahnhofsviertel in Frankfurt führt Schomann an: Kaiserstr. 255,83 M./qm; Bahnhofsplatz 422,27 M./qm. An der Stadtperipherie werden 1886 pro qm 9,- bis 18,50 M. und 1900 39,- bis 57,- M./qm gezahlt. 1846 liegt der Quadratmeterpreis beim Bau der Main-Neckar-Bahn bei 21,- M. Das 243 Frankfurter Str. in Kassel würden Preise von 40 M. verlangt und in der Wilhelmshöher Allee und Schillerstr. 80 M.796 Aschrott benutzt das Frankfurter Beispiel, weil ihm die dortigen Eigenarten durch sein eigenes Engagement bekannt sind, was an anderer Stelle ausgeführt wird. In Abwägung der Rechtslage stellt Aschrott fest, vor Erlass der Bauordnung von 1900 in Bezug auf „die Straßen-Anlage und Bebauung“ des Hohenzollernviertels mit den Vorortgemeinden Verträge geschlossen zu haben, die wiederum durch die Aufsichtsbehörde abgesichert seien. Durch diese Rechtslage sei ein Teil der Straßen bereits gebaut. Bei Einsprüchen durch die Kgl. Regierung habe man in der Vergangenheit in Verhandlungen, um eine gerichtliche Klärung durch die Instanzen zu vermeiden, festgelegt, von ursprünglich geschlossenem Gebiet ein Drit- tel der offenen Bebauung zuzuführen und zusätzlich die Bebaubarkeit der Flächen von 75% auf 50 % reduziert. Dies sei ein Auslöser für „die beschränkende Bau-Ordnung von 1900“ in die- sem Stadtteil. Dieser Kompromiss wird nach 5 jähriger Laufzeit negiert und „eine fast völlige Aenderung der Bauordnung beantragt.“ Die Absichten der Verwaltung, mit Aschrott ausgehandelte Vorschriften in der „offenen“ Be- bauung weiter einzuschränken, bemängelt er, da der Bauprozess ab Querallee, der seither als „Außenstadt“ mit besonderen Beschränkungen belegt sei, jetzt auch als abgeschlossen gelten könne, denn die Bebauung habe den Kirchweg bereits überschritten und nähere sich weiter westlich rasch dem Eisenbahndamm. Für Aschrott befindet sich die bauliche Entwicklung stän- dig im Fluss, deshalb erwartet er für ein bereits ausgehandeltes Abkommen keine zusätzlichen Einschränkungen, die die Umsetzung, sprich Verkauf von Bauplätzen, erschweren. Die Bemer- kung, die Bebauung nähere sich dem Eisenbahndamm, scheint weit hergeholt. Bis zu seinem Tod 1915 ist diese nicht wesentlich über den Neumarkt fortgeschritten. Eine Ausnahme bildet die von ihm vorangetriebene und finanziell unterstützte Stadthalle. Ein Bild zur städtebaulichen Situation des Neumarkts am Anfang des 20. Jahrhunderts gibt ein Zeugnis über den Stand dortiger Urbanität. Von einer Zentrumslage des Platzes, den er einmal einnehmen soll, kann hier nicht gesprochen werden. Eher ist zu vermuten, dass der Kirchenbau sich in einem ländlichen Bereich befindet. Die Baustelle am linken Bildrand ließe eine Deutung auf eine Einkehrmöglichkeit für Kirchenbesucher zu. Dabei handelt es sich um die Eckbebau- ung Hohenzollernstr./ Neumarkt. An dieser Stelle wird der Kirchweg als Randstraße des Neu- marktes genutzt und verläuft in Höhe der Stromleitungsmasten rechts der Kirche weiter nach Kirchditmold. Die vor der Kirche stehende Straßenbahn markiert die Endstation der Straßen- bahnlinie. durchschnittliche Jahreseinkommen eines Arbeiters der preußischen Staatsbahnen in Frankfurt beläuft sich, um damit eine fünfköpfige Familie zu ernähren, auf 1024,- M. (FZ vom 11.5.1890, S. 149, in: Schomann s.u.) Oberbürgermeister Adickes erhält ein Jahresgehalt von 26000 M. (Kp 7.4.1894, in: Schomann, 1988, S. 86.) 796 Die beiden Viertel lassen sich in ihrer Bedeutung für die jeweilige Stadt nicht vergleichen. In Frankfurt handelt es sich um ein hochrangiges Geschäftsviertel von europäischem Format. In Kassel wiederum entwickelt sich ein vorwiegend zum Wohnen genutztes Viertel. 244 Abb.: 66 Rosenkranzkirche am Neumarkt vor Errichtung der Stadthalle797 Bei „sanitären Mißständen“ oder die öffentliche Ordnung störenden Maßnahmen ergänzt Aschrott in seinem Schreiben zu veränderter Bauordnung, dass die neuen Bestimmungen zu unterstützen seien. Auch widerspreche die Bauordnungsänderung nach kaum 5jähriger Laufzeit allen Gepflogenheiten und stelle in Preußen einen einmaligen Fall dar. Solche Verordnungen richteten sich nach seiner Meinung gegen die Grundbestimmung des Eigentums798 und schaffe Rechtsunsicherheit, die nicht den „Prinzipien preußischer Verwaltung entspreche.“ Bei einer Entwertung des Bodens, resultierend aus behördlichen Maßregeln, können Grundbesitzer, deren Flächen mit Hypotheken799 belastet seien, mangels Sicherheit durch plötzliche Bodenentwer- tung in finanzielle Bedrängnis kommen. Aschrott fragt, ob ein solches Vorgehen nicht Entschä- digungsforderungen nach sich zöge. Dies überträgt er auf seinen Altbesitz und auf seine „Neu Investitionen“, die er vor dem Hintergrund der Bauordnung von 1900 vollzogen hat, und er schließt: „Sollte ich gegenüber den Millionen betragenden tendenziösen Erwartungen recht- und schutzlos sein?“ Weiter unterstreicht er, auf den Schutz der Kgl. Regierung mit vollem Ver- trauen zu rechnen. Die beabsichtigte neue Bauordnung richtet sich eindeutig gegen die Eigentumsverhältnisse des Aschrottschen Bodenbesitzes und die mit der Stadt und den Gemeinden geschlossenen Verträge. Es ist schon mehrfach darauf hingewiesen worden, dass durch Fachtagungen und Veröffentli- chungen Änderungen in der Bauordnung nicht nur theoretisiert, sondern auch konkret in Ver- ordnungen umgesetzt werden. In Bezug auf den Bodenpreis weist Aschrott darauf hin, bei der Baulanderschließung mit Straßen im Langen Feld und im Auefeld neue Flächen zu schaffen. Er betont, dass durch konkurrierende Bauplätze insgesamt Auswirkungen auf den Bodenpreis ein- treten können und ergänzt, durch Angebot und Nachfrage seien Preise zu regulieren. - Bis zu 797 Stadtmuseum, In. KB-Neg. 4/34/12. 798 Im Herrenhaus kann man sich wegen der Enteignungsfrage 10 Jahre nicht zu einem Fluchtliniengesetz durchringen. 799 Eberstadt plädiert für eine „staatliche Umsatzabgabe“. Mit dieser Steuer soll die „Beseitigung des heutigen Speculantenmonopols“ erreicht, die Bautätigkeit jedoch nicht erschwert und die landwirtschaftlichen Betriebe, die auch von der Steuer betroffen sind, nicht belastet werden (Eberstadt, 1894, S. 82/83). 245 diesem Zeitpunkt der Aschrottschen Äußerungen ist eine geschlossene Bebauung erst bis zur Querallee vollzogen. – In den Außenflächen der Stadt ist nach Aschrotts Meinung genügend Baufläche vorhanden, um durch andere Stadtteilgründungen im Wettbewerb mit dem Hohenzollernstadtteil billigeres Bauland anzubieten. Dieser Vorgang könnte ihn, Aschrott, dahingehend beeinflussen, den Bau- landpreis dem Kasseler Markt anzupassen. Bei seiner Aufzählung von Privathäusern führt Aschrott die Bauten wohlhabender und bedeu- tender Personen wie Henschel, Credé, Gotthelft u.a. an und versucht exponierte Singulärbauten mit der baulichen Ausgestaltung eines Großteils seines Quartiers mit Blockrandbebauung zu vergleichen. Die diesbezüglichen Argumente von Aschrott erscheinen in den angeführten Bei- spielen als Ablenkungsmanöver und sind nicht schlüssig. Auch in der Beschreibung des Frankfurter Bahnhofsviertels800 erwähnt Aschrott die bestehen- den Einschränkungen nicht, obwohl er bei seinen Auseinandersetzungen um den bestehenden Fluchtlinienplan Nr. 256801 auch über Details informiert gewesen sein muss. In der Darlegung der Problematik über bestehende Fluchtlinienpläne bezüglich verschiedener Viertel in Frankfurt wird auch die Bebauung des Bahnhofsviertels mit angesprochen, da es neben der Altstadt die einzige Ausnahme in der Zonenbauordnung darstellt. Aschrott gibt in seiner Kasseler Rechtfer- tigung seinen persönlichen Eindruck von dem Frankfurter Viertel wieder, der nicht den eigentli- chen Rechtsverhältnissen entspricht. Mit seinem Vergleich zum Frankfurter Bahnhofsviertel möchte Aschrott für den Ausbau seines Quartiers in Kassel gleiches Recht in Anspruch nehmen wie in Frankfurt staatliche Institutio- nen. Das heißt, an zentralen Achsen wie Hohenzollern-, Kaiserstr. und wenn erforderlich in anschließenden Seitenstraßen möchte er eine durchgängige 5-geschossige Blockrandbebauung umsetzen und weiter an dem zwischen der Stadt, der Gemeinde Wehlheiden und ihm geschlos- senen Vertrag festhalten. Lediglich die eingeräumten Veränderungen wie der reduzierte Pro- zentsatz für überbaute Grundstücksfläche u.a. werden weiter von ihm aufrechterhalten. Die behördlichen radikalen Veränderungen einer bestehenden Ordnung richten sich eindeutig und ausschließlich gegen das Aschrottsche Projekt und gegen die Person Sigmund Aschrott als Träger dieses Bauvorhabens. Ferner weist das Vorgehen auf das Planungsmanko der Behörden hin, die bei Festsetzung von Bebauungsplänen und Bauordnungen, das eigentliche Wohnbe- dürfnis nicht mit einkalkuliert haben und damit den größten Teil der Bevölkerung (75 – 85%) unberücksichtigt lassen, für die ausschließlich kleine Wohnungen in Frage kommen (Gretzschel, 1912, S. 588). Aschrott dagegen plant für gehobenes Wohnen und das in einem Umfang, der weit über den erforderlichen Rahmen hinausgeht. Sein Vorhaben gerät wegen fehlender Nachfrage immer wieder ins Stocken. Unter kaufmänni- schem Aspekt ist er gezwungen, eine für ihn wirtschaftliche Lösung zu verfolgen, die nur in Erhaltung des Grundstückspreises und dem Bau von Zinshäusern zu suchen ist. Die Bedürfnisse breiter Bevölkerungsschichten passen nicht zu den Planungszielen. Die Kasseler Behörde ver- sucht mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln, einen Privatunternehmer zu zwingen, seine wirtschaftliche Strategie aufzugeben, d. h. eine durch ihn kalkulierte Finanzierung zu durchbre- chen und damit Verlust bei Grundstücksverkäufen zu tolerieren und sein Stadtbauwagnis über ein bestehendes Risiko hinaus zu gefährden, um Sozialleistungen für untere Gesellschafts- schichten zu erbringen, die er aus seinem Kasseler Viertel segregieren will. Die städtische Be- hörde bemüht sich, einen Grundstücksmarkt mit dem Grundsatz von Angebot und Nachfrage 800 In einem Vertrag zwischen der preußischen Eisenbahn und der Stadt Frankfurt (1889) wird genau festgelegt, wie der Straßen- und Kanalbau abgewickelt werden, welche Baukosten wie auf beide Seiten zu verteilen sind. Der Bauplatzentwurf sieht für alle Straßenzüge eine einheitliche Blockrandbebauung vor. (Schomann, 1988, S. 77-79.) 801 ISG, Stadtvermessungsamt, Sig. 100. 246 dahingehend zu verändern, dass gewinnorientiertes Bauen zugunsten von Wohnbauten für so- zial schwache Gesellschaftsschichten einzurichten ist. Mit der Verringerung des Grundstückspreises, fügt Aschrott hinzu, würde der Bauherr genötigt, der zur Finanzierung des Grundstücks Hypotheken aufgenommen hat, in Zukunft Boden zu finanzieren, der längst seinen Preis verloren habe. Er habe Zinsen für etwas bezahlt, für das ein Gegenwert nicht mehr existiere. Ein Verkauf von Grundstücken unter dem von Aschrott kalkulierten Preis, versucht Baumeister mit Blick auf Veräußerungen von Gemeindebesitz zu erklären (Baumeister, 1918, S. 30-32), würde einen Zwischenhandel eröffnen, auf dem die Abnehmer selbst den Grund weiter zu Aschrottpreisen veräußern oder das Grundstück bebauen würden, um dann den Gewinn abzu- schöpfen. Der Weg, Flächen billiger an Genossenschaften abzugeben, führe zu dem Beispiel in der Dörnbergstraße, bei dem dichteste Bebauung den Wohnungspreis verringere, aber der bauli- che Charakter und der Aspekt notwendiger Hygiene unbeachtet bliebe. Baetz zitiert in dem Fall ein Schreiben Aschrotts an den Arbeiter-Bauverein, er sei davon ausgegangen, „der Verein wolle allenfalls dreigeschossige Vorderhäuser sonnige gesunde Wohnungen für Minderbemit- telte schaffen, stattdessen müsse er feststellen, dass der Verein fünfgeschossige Vorder- und in nur geringen Abstand davon ebensolche Hinterhäuser auf dem erworbenen Grundstück bauen wolle.“ Die Bitte Aschrotts, die Pläne zu überarbeiten oder ihm das hintere Grundstück für den Preis des vorderen802 zurückzuverkaufen, verwirft der Verein und antwortet, die Pläne gäben „in hygienischer und sonstiger Richtung“ keinen Anlass zur Änderung (Baetz, 1951, S. 10). In seiner Argumentation gegenüber dem Bauverein verfällt Aschrott in eine von ihm nicht beab- sichtigte Idealisierung, indem er von dreigeschossigen Vorderhäusern spricht, die auch trotz geringer Grundstückskosten niedrige Gebäude auf städtischen Flächen rechtfertigen. Es handelt sich um Dörnbergstr. Nr. 13 –17a, wo der Arbeiter-Bauverein803 für sozial Schwache Mietskasernen mit fünfgeschossigen Vorderhäusern sowie dahinterliegenden gleich hohen Hinterhäusern, nur mit geringem Abstand versehen, errichtet ganz nach dem Vorbild von Ber- lin-Louisenstadt, wo von Einzelbauherren Gebäude erstellt werden, die in Fassade, Grundriss und Nutzung erstaunliche Übereinstimmungen zeigen. Vorderhäuser entsprechen dem Groß- stadtcharakter; die Hinterbauten beherbergen ein aus der City verdrängtes armes Bürgertum und in die Stadt zuziehende Landbevölkerung (Borgelt, 1988, S. 6). Der Bauverein beseitigt von vornherein jeden Zweifel an baurechtlichen Bestimmungen, z. B. unerlaubt überbauter Grund- stücksfläche und versucht, den Gewinn für den Verein zu optimieren. Äußerungen der Bauver- waltung804 zu diesem Vorgang sind nicht bekannt. Diese sechs Häuser des Arbeiter-Bauvereins mit 72 Zwei- und Dreizimmerwohnungen sowie einem Laden werden bereits 1896 bezugsfertig (Schlier, 1989, S. 29). Zum Entstehen kleinerer Wohnungen in dem Viertel nimmt Aschrott ausweichend Stellung. Er weiß von diesem Notstand auf dem städtischen Wohnungsmarkt, dessen Angebotsverbesserung nicht seiner Kasseler Strategie entspricht. In diesem Zusammenhang erwähnt er jedoch aus ver- ständlichem Grund seine eigentlichen Wohnbauziele nicht. Denn wenn er seine Bauabsichten unterstreichen würde, gäbe er sein Projekt der Kritik leichter preis. Die Behörden entwickeln 802 Der Grundstückspreis beträgt 9 M./qm (Baetz, 1951, S. 10.) 803 Am 19. August 1889 gründen Beamte im Cafe Verzett in der Hedwigstraße den „Beamten- Wohnungs-Verein zu Cassel eGmbH“. Am 16. Oktober 1892 formiert sich der „Arbeiter-Bauverein in Cassel eGmbH“. Ziel ist es, die Wohnverhältnisse der kleinen Leute zu verbessern. (Schlier, 1989, S. 23/29.) 804 Baumeister äußert sich näher über den Preis beim Verkauf von Gemeindeeigentum an Privatpersonen und Gesellschaften. Zu hoher Grundstückspreis verteuere den Boden der Umgebung. Bei niedrigem Preis der Käufer bei Wiederverkauf erziele man einen Preis, den der Markt hergebe. So schlägt er einen angemessenen niedrigen Preis vor, der mit baulichen Auflagen verbunden sei, die „den baulichen Charakter der herzustellenden Baulichkeit festsetzen“, um Spekulationen einzuschränken. (Baumeister, 1918, S. 31/32.) 247 keine Initiativen, sie sind auch nicht in der Lage dazu, um für die Masse der Bevölkerung Quar- tierprogramme anzuschieben oder Quartiere zu errichten. Bei der Auseinandersetzung mit der städtischen Behörde spricht Aschrott die Königliche Regie- rung als übergeordnete Instanz zur Regelung von Rechtsfragen an und versucht in sachbezoge- ner Argumentation, aber auch mit persönlicher Betroffenheit, sein bisheriges Vorgehen zu be- gründen und das vorliegende Ergebnis mit kaufmännischen und stadtplanerischen Gründen zu erklären. Dabei wählt er eine Strategie, die mit seiner persönlichen Verbundenheit zu diesem Stadtprojekt zusammenhängt. Seine Verfahrensweise entspricht nicht dem Frankfurter Vorge- hen. Dort tritt er mit seinem Rechtsbeistand auf und behandelt auf rein sachliche Art unter Zu- hilfenahme juristischer Autorität das Bauprojekt. 8.5 Die Frage nach dem Stadtplaner Nach Erläuterungen zu Verträgen zwischen Aschrott und der Residenzstadt sowie der Darstel- lung des Bauprozesses, steht die Frage nach dem eigentlichen Planer des Hohenzollernstadtteils im Raum. Schon am 22. August 1869 bittet Aschrott mit einem Immediat-Gesuch den Namen „Hohenzollernstraße“805 zu genehmigen. An diesem, nicht den formalen Weg beschreitenden, ungeduldigen Handeln ist zu erkennen, dass es in ihm brennt, mit dem Bau von Straßen zu be- ginnen. Die Namensgebung erfährt von Regierungsseite nicht die Unterstützung, die er sich erhofft. Es bleibt nur die Möglichkeit, die preußische Regierung anzurufen. In diesem Schriftwechsel oder schon bei der Vertragsunterzeichnung hätte Aschrott den Namen eines Planers offenbaren können. Das wäre ebenso kurze Zeit später möglich, als der Gemein- devorstand von Wehlheiden und Aschrott sich mit einem Abkommen über den Bau der soge- nannten „Kaiserstraße“ absichern. Auch hier ist die Preisgabe eines Planers am Platz. Aschrott als Grundbesitzer führt anfangs durchweg die Verhandlungen mit den Kommunen. Inhalt der Besprechungen bilden Ankauf von Flächen für die Anlage von Straßen, Oberbesserung, sowie deren Ausbau, Baumpflanzungen, Kanalbauten und Straßenbeleuchtungen. Die Bauarbeiten werden von ihm geplant, in Abstimmung mit den Behörden verändert und von ihm vorfinan- ziert. Unter diesen Voraussetzungen ist anzunehmen, dass er der Motor für Planung ist. Er leis- tet Überzeugungsarbeit bei der Verwaltung, stellt die Finanzen bereit, ist mit allen Entwick- lungsphasen vertraut und verfügt nicht nur über Detailkenntnisse, sondern besitzt exakte Vor- stellungen zu einer Stadtteilerweiterung. Aschrott hat den Überblick über das Stadtteilprojekt. Deshalb weiß er um die Preislage und kann die hoch angesetzten Grundstückspreise rechtferti- gen. Der Unternehmer und Kaufmann wägt zwischen den finanziellen Aufwendungen bis zur Bauabnahme, dem Grundstückspreis und den reinen Baukosten ab. Dem Bauherrn erscheint eine Optimierung des eingesetzten Kapitals in Bezug auf die zu bebauenden Flächen, auszufüh- renden Geschosszahlen und zu vermietenden Wohnungen möglich. Daran orientieren sich auch die von ihm verlangten Grundstückspreise. Das fünfgeschossige „Zinshaus“ mit je zwei Woh- nungen auf einer Etage verkörpert den Typus, bei dem durch die erzielten Mieten die entstehen- den Zinsen kostenneutral gedeckt werden. Einzeleinsichten zu diesen Bauprojekten wird er in Berlin gewinnen, denn hier betreibt er nicht nur das Bankgeschäft seines Vaters weiter, sondern auch viele andere Kapitalgeschäfte wickelt er von hier aus ab. Bei der Verfolgung seiner Geschäftsinteressen nimmt Aschrott frühzeitig und sicherlich lückenlos den Aufbruch einer Stadt in ein verändertes Zeitalter und die damit verbundenen Probleme wahr. Die hier gewonnenen Eindrücke und die begutachteten Bauprozesse, das sich ständig ändernde Stadtbild, die Straßenanlagen und Plätze motivieren ihn und erzeugen in ihm die Vorstellung für einen Stadtteilplan. Wenn Aschrott nach seinen Besuchen und Geschäftstätigkeiten aus Kassel mit der Bahnlinie Magdeburg – Potsdam in Berlin ankommt, steigt er wahrscheinlich im Kopfbahnhof Potsdamer 805 Nach Antwortschreiben des Ministers für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten in Berlin vom 23. Oktober 1869 ( St AM, Best. 165, Nr. 1452, Bd. 2, F 11769). 248 Bhf.806 aus. In der Matthäikirchstraße 7 liegt das beschriebene Geschäft seines Vaters, das später auch Sitz seiner Baugesellschaften wird. Das Haus steht unweit westlich des Potsdamer Bahn- hofs.807 Im Norden schließt sich fast in Verbindung mit ersterer Straße die Bellevuestraße an. In Bellevuestraße 12a ist die spätere Aschrottsche Wohnung. Die Straße, bevorzugte Wohngegend von Künstlern, Gelehrten, Bankiers, Politikern und Industriellen (Engel, 1989, S. XIII), nimmt ihren Ausgang am Potsdamer Platz. Direkt östlich neben dem Potsdamer Bahnhof verläuft die Köthener Straße, wo seit dem 19.4.1880 Aschrotts Sohn Felix in Nr. 6 wohnt (Knobling, 1986, S. 88). Abb.: 67 Stadtplan von Berlin 1874 - Ausschnitt808 Der Potsdamer und Leipziger Platz unweit seines Geschäfts und des Ankunftsbahnhofs scheinen Aschrott derart beeinflusst zu haben, dass er die gewonnenen Erkenntnisse möglicherweise auf Kassel zu übertragen versucht. So lässt sich der ursprüngliche Leipziger Platz, der mit der Leip- ziger Straße von Osten her durchschnitten wird, auf den länglich gestalteten Neumarkt in Wehl- heiden und die Leipziger- auf die Hohenzollernstraße übertragen. Der Platz in Wehlheiden kann die Form nicht im Originalzuschnitt übernehmen, weil die morphologische Beschaffenheit des 806 Nach: Neuer Plan von Berlin und Umgebung (Jacob, Berlin 1874). 807 Vom Potsdamer Bahnhof startet 1838 die erste preußische Eisenbahn, ab 1846 verbinden den Bahnhof zwei Omnibuslinien mit der Innenstadt (Engel, 1989, S. XIII). 808 Nach: Neuer Plan von Berlin und Umgebung (Jakob, Berlin 1874). 249 Geländes dies nicht erlaubt. Eine ähnliche Analogie lässt sich zwischen dem Belle Allianz Platz809 und dem Aschrott-Platz 810 herstellen. Die Fokussierung auf die Mitte, mit der gekrönten Victoria als Schmuckplatz ausgestaltet, könnte Aschrott zu der Anlage „seines Platzes“ in Wehlheiden veranlasst haben. Dieser nimmt bei der Planung eine zentrale Stellung innerhalb des neuen Quartiers ein. Mit seinem Durchmesser von 100 m verkörpert er eine Fläche, die einmal den Verkehr der Verbindungsstraße, der Aschrott-Str., aufnimmt und an die abzweigenden Wohnstraßen wie Baumbach-, Weyrauch- und Gilsa-Str. weiterleitet. Mit seiner umlaufenden Fahrbahn von 10 m Breite lassen sich Verkehrsbewegungen in beiden Richtungen gut bewältigen. Das 7 m breite Trottoir lädt den Fußgänger zum Flanieren ein. Die verkehrsfreie Platzmitte mit 66 m Durchmesser scheint dem umlaufenden Verkehr untergeordnet, jedoch der 11 m breite Innkreis im Zentrum811 auf eine mit einem Denkmal zu besetzende Fläche hinzuweisen. Der Zuschnitt der an den Platz grenzenden Grundstücke von 17-20 m und die geringe Vorgartentiefe von 5 m lassen eine beabsichtigte Blockrandbebauung ähnlich dem Neumarkt vermuten;, das kann auch für die Aschrott-Str. angenommen werden. Abb.: 68 Stadtplan 1913812 – Ausschnitt mit Zentrum Aschrott Platz 809 Über die Geschichte des Platzes ist nur insoweit zu referieren, wie die Ausgestaltung Aschrott beeindruckt haben könnte. Das nach dem Sieg über Napoleon in „Belle Allianz Platz“ umbenannte Rondell wird 1839 in einen ruhenden Schmuckplatz verändert. Bewusst wird versucht, diesen vom Durchgangsverkehr freizuhalten, eine Ausnahme bildet die Friedrichstraße. Die Anlage des Platzes ist auf sein Zentrum gerichtet, indem die Friedenssäule mit einer von Christian Gottlieb Rauch gekrönten Siegesgöttin Victoria die Blicke auf sich zieht. Die Anlage ist ein Ort des Flanierens, der Unterhaltung und Erholung. Durch die Bepflanzung erhält er den Charakter eines Platzes (Hesse, Petsch, 1985, S. 83/84.) 810 Fluchtlinienplan, NR_668_3 (Vermessungsamt Kassel). 811 Bauplatzplan für den Hohenzollern-Stadttheil in Cassel, um 1908 (Vermessungsamt Kassel). 812 Stadtplan Cassel 1913 (Vermessungsamt Kassel). 250 Abb.: 69 Abmessungen813 der Aschrott Strasse mit beidseitigen Vorgärten von je 6m Die Äußerung des Planers Aschrott: „Breite Straßen mit niedrigen Häusern wirken abscheulich; es kann unmöglich dem Ziel der Stadt entsprechen, aus dem Hohenzollernviertel ein Weimar“814 zu machen, bestätigt die Vermutung. Auch die Aschrott Str. ist als Boulevard geplant, von ihrer Gesamtbreite von 23 m übertrifft sie Victoria-, Kaiser- und Hohenzollernstr. Die beidseitigen Trottoire gleichen den beiden erstgenannten, jedoch werden Fahrbahn und Reitweg größer dimensioniert. Mit Vorgärten von 6 m auf beiden Seiten ergibt sich eine Straßenflucht von 35 m, die nur mit einer geschlossenen mindestens vier Geschosse hohen Bebauung versehen werden kann, um damit das Ziel einer Großstadtbebauung nach Aschrotts Vorstellungen zu erfüllen. Von dem Platz ist aber eingeschränkt anzunehmen, dass er nicht der Rolle des „Belle Allianz Platzes“ zum Flanieren und Verweilen entsprechen kann, da seine Hauptaufgabe in der Aufnahme des innerstädtischen Verkehrs bestehen soll, um damit ein wesentliches Ziel der Stadtplanung815 Stübbens816 zu übernehmen, nämlich eine Verkehrsverteilung im Quartier zu erfüllen. In einer maßgerechten Übertragung würde der „Belle Allianz Platz“ mit seiner Größe die Pro- portionen des Viertels sprengen. Als Verkehrsplatz erweist sich der Aschrott Platz als funk- tionslos, da eine Blockrandbebauung auf der westlich der Stadthalle liegenden Fläche nach Vor- stellung der städtischen Gremien nicht erfolgen soll. Aus diesem Grund wird er auch nach Aschrotts Tod aus dem Plan gestrichen. Die Friedrichstraße in Berlin wiederum, an „Unter den Linden“ beginnend und in den Belle Allianz Platz laufend, könnte durchaus, wenn auch nicht 813 Grundstücksplan westlich der Querallee (Vermessungsamt Kassel). 814 A Pr. Br. Rep. 30, Berlin C. Tit. 94. 815 Als einer der bekanntesten deutschen Stadtplaner des letzten Drittels im 19. Jahrhundert wird Josef Stübben, geb. 10.2.1845, gest. 8.12.1936, bezeichnet. 816 Stübben, 1928, S. 141 ff. 251 als Achse, ihre Übertragung in der Aschrottstraße erfahren haben. Letztere wird den veränderten Vorstellungen der Plansituation entsprechend in die nach Westen führenden Achsen eingefügt. Abb.: 70 Aschrott Platz817 Bei seinem Übertragungsverhältnis Berlin Kassel in Relation von 1 zu 1 hat der Planer sicherlich mehrfach den Blick für die Unterschiede zwischen der kleinen Residenzstadt und der sich entwickelnden Millionen- und Reichshauptstadt verloren. Jedoch verfolgt er für Kassel sein Idealbild der Urbanität, was er in dem Hohenzollernviertel verwirklicht sehen will. Die Planungen für das Kasseler Viertel werden nicht allein von Aschrott ausgehen, da aber Wil- helm Neumann818 sich erst ab 1873 in Kassel aufhält, muss in der Zeit davor ein anderer Planer 817 Grundstücksplan westlich der Querallee (Vermessungsamt Kassel). 818 Wilhelm Ludwig Magnus Neumann wird am 16.6. 1841 in Greifswald geboren; er ist 15 Jahre jünger als Aschrott und lässt sich im Mai 1873 aus Breslau kommend als fast 32jähriger in Kassel nieder. Neumann stirbt am 1.2.1920 in Kassel. Er wohnt mit seiner Frau Albertina Friederike Berben (geb. von Ostheim, geb. am 19.9.1848 in Schönbrunn, gest. 6.9.1914, Sohn Wilhelm geb. 15.5.1871 in Breslau, Tochter Elfriede geb. 19.9.1872 in Breslau), Sohn Carl Richard Ferdinand Albert (geb. 23.2.1874 in Kassel, gest. 24.5.1885) am Ständeplatz 20 bei Wachenfeld bis zum 26.4.74 als Mieter. Dann Unt. Sophienstraße 5 bei Schreinermeister Ihle bis 24.12.1875; hier wird Sohn Wilhelm Heinrich am 14.8.1875 geboren. Neue Wohnung Kölnische Str. 87 bei Maurermeister Eisenberg bis 10.4.1883. Hier werden die Tochter Rose Anna Fauz am 1.7.1877, gest. 4.11.1877, Sohn Friedrich Ludwig Arthur am 28.3.1879 (später Schiffsjunge auf dem Schiff Nercus, gest. 12.6.1896) geboren. Umzug in Hohenzollernstr. 39 a bei Rentier Habich bis 5.1.1887. Hier werden Sohn Carl Erich am 28.1.1884, Erich Albert am 3.2.1885 und Tochter Wilhelmine Clara am 6.12.1886 geboren. Die Familie wohnt bis zum 22.9.1890 in der Hohenzollernstr. 64, dann in der Hohenzollerstr. 78 II. Im Branchenverzeichnis wird Neumann ab 1886 geführt. Er ist 1872[?] bis 1912 Mitglied des Architekten- und Ingenieurvereins (AIV) und seit 1895 Mitglied im Kunstverein (Stadta Ks, EMK). Neumann besitzt 1901 die Häuser 252 existieren, der Aschrott bei seinem Vorhaben unterstützt. Neumann, der sich als Privatbaumeis- ter bezeichnet, arbeitet bereits anfangs der 70er Jahre für den Fabrikanten. Er ist Architekt und ein exzellenter Planzeichner. So ist anzunehmen, dass er direkt nach seinem Eintreffen in Kassel sich der Stadterweiterung annimmt. Neumann fertigt viele Entwürfe, Einzelskizzen und Kor- rekturen zu der Stadtteilentwicklung an. Wenn die Verwaltung neue oder veränderte Pläne ver- langt, werden diese aus seiner Feder stammen. Aschrott lässt ihn jedoch nur als Planzeichner öffentlich in Erscheinung treten. Der eigentliche und entscheidende Planer ist Aschrott selbst, seine Meinung wird schließlich umgesetzt. Das Viertel soll seine Vorstellungen ausdrücken. Jemand, der solch eine Tortur des Ringens mit Verwaltungen selbst erledigt, muss von seiner Idee besessen sein. Darüber hinaus ist Aschrott allein der Finanzier des Stadtbauprojekts. Auf Grund dieser Tatsachen lässt sich annehmen, dass planerische, bauliche und finanzielle Veränderungen ohne seine Person nicht denkbar sind. Mit der Herausgabe des bereits 1877 und 1878 veröffentlichten „Neumannplans“, der den aktu- ellen baulichen Stand vom Ständeplatz bis zur Infanterie Kaserne westlich der Querallee zeigt, beweist dieser sein kartografisches Können. Ein weiterer Plan zum „Hohenzollern-Stadt-Theil Unternehmen“ unterstreicht das, wie in Anm. 766 angeführt. Vermutlich ist bei dem Entgegen- kommen Aschrotts für die Brüsseler Ausstellung obiger Plan gemeint.819 Zu den beiden Stadtteilabschnitten, sowohl für die Fläche Ständeplatz bis Querallee als auch für den Abschnitt westlich der Querallee bis Main-Weser- Bahn, haben anfangs, das heißt bei Ver- tragsunterzeichnung, detaillierte Pläne über den späteren Endzustand vorgelegen. Man versucht die Erweiterung mit der Hauptachse „Hohenzollernstraße“ und einigen Querstraßen vorzuneh- men. Bei fortgeschrittenem Bauzustand, wenn noch genügend Flächen für weitere Bauplätze vorhanden sind, werden Straßen hinzugefügt, wie das Beispiel Kronprinzenstraße beweist. Oder man führt Abweichungen vom ursprünglichen Plan aus, wie an der Hohenzollernstraße vom Hohenzollernplatz aus in Richtung Neumarkt wegen der Steigung beschrieben. Bei der Kaiser- straße und einigen Nebenstraßen wird eine komplette Planung, wie sie 1908 vorliegt, nicht vor- genommen. Das unterstreicht eine Ergänzungskarte820. Dieser in Abschnitten sich langsam vollziehende Viertelaufbau lässt vermuten, dass hier ein Planer am Werk ist, der zwar hand- werklich versiert scheint, aber einen Entwurf für dies topografisch schwierige Gelände nicht in einen Gesamtplan fassen kann, es auch nicht einmal anstrebt. Daher liegt erst in den 90er Jahren ein vollständiger, auf die gesamte Fläche bezogener Fluchtlinienplan vor. Es gibt also Schwierigkeiten bei der Umsetzung, wie Blumenauer anführt, und sie lassen darauf schließen, dass hier nicht ein „Starplaner“ das Projekt entwickelt. Blumenauer behauptet, es läge eine unzureichende Diagonalstraßenplanung im Fluchtlinienplan Wehlheiden vor. Alle diese Straßen seien falsch projektiert, weil sie die Höhenlinien senkrecht schnitten. Diese weisen dort das stärkste Gefälle auf821. (Hülbusch, 1977/78, S. 9.) Hülbusch behauptet dazu, Hohenzollernstr. 82 und 84 (KAB.) – Dagegen arbeitet Jacob Neumann (ebenfalls Architekt), in Köln geboren, als Geheimer Regierungs- u. Baurat bei der Kgl. Regierung und leitet 1887-93 als Vorsitzender den Kasseler Architekten- u. Ingenieurverein (Friderici, 1960, S. 7). Aus den Unterlagen Bau- Verwaltung, Etat-Nachweisungen, Regierungsbezirk Cassel geht bei den Ausgaben der Bauverwaltung die Besoldung der drei Regierungsbauräte hervor. 1883/85 bezieht Jacob Neumann 4500 Mark Jahresgehalt von seinem pensionsfähigen Pensionseinkommen über 4992 M. Sind noch 3% Witwen- u. Waisen-Beiträge 149,76 M. zu entrichten. 1888/91 steigt sein Grundgehalt auf 4800 M., 1890/91 auf 5100 M. (GStA, Hpt. I, Rep.151 I. C, Nr. 9650.) 819 In einem Schreiben des Polizeidirektors Albrecht vom 23. Juni 1879 ist die Rede von einem Entgegenkommen Aschrotts bei einer Brüsseler Ausstellung, zu der dieser mit einer kostspieligen Lieferung (bis zu 3800 M.) einen Plan offeriert, der beim Kgl. Ministerium des Innern „ganz besondere Anerkennung an allerhöchster und Höchster Rathe, in zwei Ministerien zu Theil wurde“ (GStA, Hpt. I. Rep. 120 Cb V, Fach A, Nr. 16). 820 Siehe Ergänzungskarte Nr. 154 (Katasteramt Kassel). 821 Diese inhaltliche Angabe Blumenauers findet sich nicht in der Literatur der zitierten Arbeit von Hülbusch wieder. In den Lebenserinnerungen Blumenauers von 1965 ist diese Aussage nicht enthalten. Die Anmerkung erscheint als nicht gesichert. 253 dies gelte nachweislich für die Germaniastraße nicht. Durch unangepasste Straßenführung wird nach Blumenauer der Verkehr unnötig erschwert und dessen Bewegungen innerhalb der Gemarkung verlangsamt. Weiter wird angeführt: „Straßen von 12 m Breite und bei 300, 410, und 430 m Länge ohne Vorgärten, sind an sich schon traurig wirkende Anlagen, sie werden noch hässlicher durch die Höhenverhältnisse, dadurch, dass sie Höhenunterschiede bis zu 14 m erhalten und die höchsten Punkte in der geraden Linie liegen, ohne Vermittlung der Gefälls- Übergänge durch Kurven oder Böschungen.“ ( Blumenauer, in: Hülbusch, 1977/78, S. 9/10.) So schreibt Stübben zu gekrümmten Straßen, diese seien in der Längenentwicklung und an das Nivellement nicht so gebunden, weil sie sich in einem vielgestalteten Bild zeigten. Die Häuser der konkaven Seite träten nacheinander voll in Erscheinung, ein Wechsel des Bildes komme häufig zustande. Wohnlicher und angenehmer wirkten diese Straßen, da beide Straßenfronten den Blick selbst beschränkten. „In sehr vielen Fällen, wo der Übergang aus einer Straßenrichtung in eine andere zu vermitteln, wo die gerade Straße den Grundstücksgrenzen oder dem hügeligen Gelände sich nicht ohne Zwang anpassen lässt, [...] sind schlanke Straßenkrümmungen schön und zweckmäßig“ (Stübben, 1924, S. 73-76.) Der Kirchweg passt sich diesem Bild an, nimmt aber in fast allen Abschnitten den Verlauf des bestehenden Verbindungsweges auf. In dem schon wiederholt angesprochenen Abschnitt der Hohenzollernstraße scheint eine Lösung nach der Vorstellung Stübbens vorteilhafter zu sein. Bei der Entwurfskontrolle verlangt der Polizei-Direktor mehrfach nach Minderung der Steigung, wie es bei der Verschwenkung der Hohenzollernstraße umgesetzt wird. Zur Steigungsminderung bietet sich als Lösung die Diagonalstraße, aber auch eine gekrümmte Diagonalstraße an. Die Steigungsminderung trifft auf die Germaniastraße zu, denn hier wird eine Straße gebraucht, die einer Pferde-Eisenbahn nicht übergroße Schwierigkeiten beim Anfahren und Bremsen bereitet. Aschrott sagt selbst, man hätte viel Geld sparen können, wenn rechtwinklige Straßenverläufe und nicht teuere Diagonalstraßen angelegt würden, bei denen für die Randbebauung festungsar- tige Grundmauern und gewaltige Erdschüttungen für den Straßenraum erforderlich seien. Diese Bemerkungen weisen auf Diskussionen der Planer hin, im westlichen Teil das rechtwinklige Planungskonzept fortzusetzen. Die Entscheidung für ein erheblich teureres Diagonalstraßen- system mit weiten Plätzen und Straßeneinmündungen ist das Ergebnis des Abwägens für eine Strategie, die dem neuesten Planungsstand entspricht, den Anteil an Licht und Luft erhöht und weitgehend verkehrstechnische und hygienische Anforderungen berücksichtigt. Gleichzeitig setzt er sich gegen den Vorwurf zur Wehr, der Plan verrate „Zufälligkeit und Willkür“822. Wiegand führt einen Bebauungsplanentwurf823 vom August 1873 an, der eine Fortführung des Rechtecksrasters von Ständeplatz bis über die Querallee hinaus aufweist. Lediglich der Abzweig der Kaiserstr. von der Hohenzollernstr. wird als Diagonallösung angewendet, ebenso sind Kirchweg, der die westliche Grenze des Entwurfs bildet, und Kölnische Str. diagonal miteinan- der verknüpft. Germania- und Olgastr. schneiden dagegen die Kaiserstr. orthogonal. Der Hohen- zollernplatz liegt westlich seiner späteren Ausführung in runder Form, jedoch verspringt auch hier die Hohenzollernstr. Ein weiteres Argument für die Fortsetzung des Rasters könnte die quadratische Form der Infanteriekaserne mit anliegenden Straßen darstellen. Der Planer greift dieses Planquadrat für die weitere Gestaltung auf. (Wiegand, 2005, S. 126/127.) Obige Plangestaltung unterstreicht die Vermutung, dass hier nicht Stübben entwirft. Der Verfas- ser bedient sich lediglich des alten Musters und behält die Gestaltung bei. Die Arbeit deutet auf Unerfahrenheit und wenig Weitblick. Erst die Zusammenarbeit mit Neumann könnte Aschrott überzeugt haben von dem bisherigen Muster abzulassen, um sich den modernen Formen für Stadterweiterungen zuzuwenden. 822 Brief Aschrott 1905. 823 Plan wird nicht weiter signiert (St AM P II, 13249). 254 Aschrott und Neumann studieren aktuelle Stadtplanungen und Veröffentlichungen. Aus den gewonnenen Erkenntnissen und auf Grund der Hanglage des Geländes planen sie mit Diagonal- straßen. So stimmt wohl die Aussage von Schulz, dass sich im „Hohenzollern Stadtteilplan“ und im Plan der Kölner Neustadt austauschbare Elemente finden (Schulz, 1983, S.44), denn Aschrott hat wahrscheinlich Teile daraus übernommen und nachträglich in seinen Entwicklungsprozess eingebaut, um sich den rational-wissenschaftlich orientierten Stadtplanungsvorstellungen anzupassen. Übereinstimmungen bezüglich der Platzgestaltung von Aschrott- und Felix-Platz als auch dem Neumarkt824 mit ihren Straßensternen sowie fächerförmige Platzgestaltungen beim Schnittpunkt mehrerer Straßen lassen auch Rückschlüsse auf Paris825, London, Rom und Berlin zu. Ihre An- lage und Gestaltung ist austauschbar. 1880 gewinnt Stübben den Wettbewerb über die Erweiterung Kölns. In Kassel bildet 1878 der Plan „Das Hohenzollern-Stadt-Theil-Unternehmen“ die Grundlage für den weiteren Ausbau. Die Kaiserstraße ist zu diesem Zeitpunkt nicht fertig und endet an dem Diakonissenhaus. Als eigentliche Diagonalstraßen sind lediglich Germania- und spätere Olgastraße projektiert. Auch der Ansatz der Aschrottstraße826 von der Wilhelmshöher Allee aus, eine östlich zu ersterer liegende parallelverlaufende sowie eine vom Kirchweg zur Kirchditmolder Str.827 geplante Diagonalstraße sind fixiert. Danach findet sich in dem Stadtplan von 1913 lediglich eine breitere Aschrottstraße wieder. Da der Stadtteilausbau 1878 sich nur bis zur Annastraße vorschiebt und nur wenige Bauten öst- lich der Infanteriekaserne stehen, wendet sich Aschrott anderen Planungen wie dem Durch- gangsbahnhof und der Pferdeeisenbahn zu. Die Straßenplanungsgrenze im Westen bildet der Kirchweg mit der Achse Kaiserstraße, die noch bis zur Main-Weser-Bahn geplant ist. Ein Durchgangsbahnhof gäbe dem Viertel ein anderes Aussehen, so erscheinen Diagonalverbindun- gen von Kaiserstraße zur Wilhelmshöher Allee als günstige Verkehrsführung, müssen jedoch von der aufgeschütteten Kaiserstraße aus das Druselbett als beträchtliche Senke überwinden. Die bisherigen Auseinandersetzungen mit den staatlichen und städtischen Behörden bei der Planverwirklichung zeigen dem Kaufmann Aschrott, welcher Einsatz aufzuwenden ist, um Teil- ziele zu erreichen. Bei einem fertigen Bebauungsplan durch einen auswärtigen Stadtplaner für den westlichen Teil des Viertels sind neben den behördlichen Verhandlungen zusätzliche Ab- sprachen mit dem Planer erforderlich. Auf Grund der Unregelmäßigkeiten in der Planung, der Schwierigkeiten mit der Administration, fehlender Anmerkungen zu Namen ist ein Planentwurf für das Hohenzollernviertel, wie Baetz ausführt (Baetz, 1951, S. 5), durch den Stadtbaumeister Josef Stübben zu verwerfen. Stübben, der mit Karl Henrici aus Aachen einen Planungswettbe- werb für die Stadtplanung der Kölner Neustadt gewinnt, setzt in der Folgezeit dort seinen Plan um (Kier, 1985, S. 158/159). Er gilt neben Reinhard Baumeister als die deutsche Stadtplaner- größe des auslaufenden 19. Jahrhunderts. 824 Diese Platzgestaltung findet sich mit kleinerem Mittelteil in Stübbens Kapitel: „Straßenkreuzungen, Straßenerweiterungen und Straßenvermittlungen“, in dem er diese Form als „Abzeigung von Schrägstraßen vermittelnd“ bezeichnet. Weiter führt er solche Gestaltung als Vergrößerung freier Straßenflächen zur Vermittlung zusammenlaufender Straßenrichtungen an (Stübben, 1924, S. 135-137). 825 „Die in Paris angewandten Methoden dienen zahlreichen europäischen Städten als Vorbild mit negativem und positivem Ausgang. Und obwohl dieser Städtebau Ausdruck drastischer Verfahren und der allzu großen Sorge um zu breite Straßen ist, prägt er [Haussmann] das Bild der Stadt des 19. Jhts.“ (Delfante, 1999, S. 159.) 826 Dieser Ansatz ist noch heute durch das schräg gestellte Haus in der Wilhelmshöher Allee zwischen Bundesgericht und Heerstraße zu sehen. 827 Die Verlängerung der Kölnischen Allee, im Stadtplan 1913 als Kölnische Straße bezeichnet, wird im Plan der Residenzstadt Cassel 1878, „Das Hohenzollern-Stadt-Theil-Unternehmen“ von der Neuen Infanterie-Kaserne an nach Westen Kirchditmolder-Straße genannt. Das entspricht sicher einer alten Wegbezeichnung in der Kasseler Gemarkung. 255 Fehl beurteilt die Vorgehensweise Stübbens als zweistufiges Stadtplanungsverfahren. In der übergeordneten Ebene wird zunächst das Funktionieren des Ganzen simuliert und das Verkehrs- netz, die Verteilung verschiedener Aufgaben, Aspekte des hygienischen Standards wie auch Faktoren für kostenreduziertes Bauen aufeinander abgestimmt. In der folgenden zweiten Stufe werden einzelne Teilbereiche der Feinplanung unterworfen, d.h. öffentliche Gebäude dem für sie entsprechenden Standort zugewiesen, Vorgartenbereiche, Grünanlagen, Parks sowie Baumpflanzungen und Ausstattung des Straßenraums festgelegt. Weiter betont Stübben nach Fehls Ansicht, es seien städtebaukünstlerische Belange herauszuarbeiten. Das gilt in gleicher Weise für Haupt- und Nebenstraßen. In der künstlerischen Gestaltung lehnt Stübben Rückgriffe auf die Vergangenheit828 ab, dagegen hebt er aktuelle Bedürfnisse der Bewohner hervor (Fehl, 1980, S. 184.) Wie wäre Josef Stübben vorgegangen, wenn er den Auftrag zur Anlage eines Bebauungsplans westlich der Querallee erhalten hätte? Es soll einmal simuliert werden: 1. Aufstellung eines Gesamtplans bis zur Main-Weser-Bahn nach der kartografischen Auf- nahme des Geländes. Der „Stübbenplan“ enthielte ein geschlossenes Straßennetz west- lich des Kirchwegs. 2. Vorlage von Teilplänen wie z. B.: Hohenzollernplatz mit Olga-, Elfbuchen- und Hohen- zollernstraße Richtung Neumarkt, Veränderungen des Kirchwegs in Bezug zum Neu- markt, Fortführung der späteren Herkulesstraße und weitere Teilpläne. 3. Klärung der Wasserversorgung durch den Druselkanal. 4. Veröffentlichung seiner Planung in Fachzeitschriften und weiteren Publikationen. Derartige oder ähnliche Entwürfe liegen jedoch nicht vor. Degenhardt sagt, zwischen 1884 und 1894 sei das gesamte Straßennetz für den oben angespro- chenen Stadtteil festgelegt worden (Degenhardt, 1935, S. 96). Der Fluchtlinienplan vom 15. April 1887 weist jedoch in dem Bereich östlich der Querallee Planungen auf, die nicht vollendet sind oder noch leere Flächen zeigen, wo später Straßen entstehen. Als Beispiele sind zu nennen: Die Fortsetzung der Annastraße829 nach Süden und die Weiterführung830 der Murhardstraße nach Norden. Im westlichen Teil, soweit ersichtlich, fehlen ganz: Elfbuchen-, Dörnberg-, Regina-, Prinzen- sowie Hessische-Straße. Erst 1897 liegt ein Fluchtlinienplan mit Abänderungen zum Plan vom 26. September 1892 für die Ortschaft Wehlheiden vor. 1897 ist die Planung überwiegend abgeschlossen. Auf dem Ausschnitt fehlt die Untere Prinzen- und die Fortführung der Herkulesstraße nach Westen. 828 Traditionen behindern nach Meinung Delfantes die Ausarbeitung einer neuen urbanen Ordnung, die sich an veränderter Wirklichkeit orientiert (Delfante, 1999, S. 159). 829 Fortsetzung der Straße nach Süden wird nicht gebaut. 830 Weiterführung der Murhardstraße nach Norden ist im Plan nicht eingezeichnet. 256 Abb.: 71 Blick über den neuen Stadtteil um 1891 – Gemälde von W. Herwarth (Ausschnitt)831 Nach dem Dargelegten kann angenommen werden, dass erst Mitte bis Ende der 90er Jahre ein endgültiger Entwurfsplan abgefasst wird, wie er im Stadtplan von 1913 angelegt ist. Diese Unregelmäßigkeiten hätte ein Stübbenentwurf wahrscheinlich nicht gehabt. Gegenüber den Kas- seler Behörden hätte Aschrott über einen Planer verfügt, der dann als eine Autorität mit aner- kannten Erfolgen als Stadtarchitekt aufgetreten wäre, mit seiner Fachkompetenz und mit seinen Ideen überzeugt hätte und als Gegengewicht zu kommunalen Behörden hätte agieren können. Dazu würde in Schriftwechseln sein Name fallen. Stübben832 ist stets bemüht, seine verschiede- nen Projekte zu veröffentlichen, um sich seinen Stellenwert unter den Stadtplanern dieser Epo- che zu sichern. Auch die für Kassel bedeutende Erweiterung würde in seinen Schriften einen entsprechenden Platz erhalten haben. Aschrott selbst beschreibt sich mehrmals als der Planer des Viertels und das trifft zu. Von ihm kommen die Ideen zur Umsetzung, er kennt detailliert die Planungsvorgänge für Kassel und er vergleicht dies mit anderen Städten. Nur er kann als Planer und Finanzier des Hohenzollernvier- tels angesehen werden. Aus diesen Gründen ist es berechtigt, die enorme Arbeit dieses Mannes für dieses Projekt zu würdigen, wie es auch in anderen Städten833 geschieht, nämlich das Stadtviertel nach seinem Gestalter zu nennen. In Kassel handelt es sich unter Würdigung der Arbeit um das Aschrottviertel. Bei einer späteren Beurteilung der Person Sigmund Aschrott muss auf diesen Aspekt nochmals eingegangen werden. Welche Rolle spielt Wilhelm Neumann bei der Umsetzung der Bauvorhaben? Der Privatbau- meister arbeitet weitgehend für Aschrott, er fertigt Pläne und Skizzen für Verhandlungen und Eingaben an. Aus seiner Feder stammen die angesprochenen Stadtpläne, auch in allen techni- 831 Stadtmuseum, Kaiserlade. 832 Der „Deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege“ veranstaltet 1868 bis 1901 Symposien, auf denen der gegenwärtige Wissensstand für den Stadtbau diskutiert wird. Die XII. Versammlung 1885 in Freiburg leitet Stübben mit anderen als wichtiger Ideengeber zu dem Aspekt: „Stadterweiterung, insbe- sondere in hygienischer Beziehung“. Bei ihrer Auseinandersetzung versuchen die Teilnehmer der Veran- staltung, den methodologischen Ansatz für einen autorisierten Gesamtplan zu verifizieren, denn die Aus- wirkungen des Hobrechtplans für Berlin zeigen, dass eine solche Planumsetzung auf aktuelle Probleme nicht eingeht. Vor diesem Hintergrund plädiert man für einen Zweistufenplan, der einerseits die wiederer- langte Planungsautorität der Fachleute stärkt, aber anderseits verändertes Investitionsinteresse, die Nach- frage auf dem Wohnungsmarkt und die Interessen der Grundbesitzer berücksichtigt. (Rodriguez-Lores, 1985, S. 45/46.) 833 Im Osten Aachens werden im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts das Rehm- und das Steffensviertel gebaut, die ihren Namen nach dem Planer und Organisator tragen (Ruhnau, 1983, S. 237). 257 schen Fragen scheint er der maßgebliche Planer zu sein. Neumann ist nicht ausschließlich Kar- tograf, sondern auch Berater in Stadtbaufragen und wickelt Unstimmigkeiten mit Bürgern ab. Von Aschrott wird er nie erwähnt und Neumann stellt sich selbst niemals öffentlich als Stadtpla- ner dar. Das scheint auf einem stillen Abkommen zwischen dem Initiator und dem Privatbau- meister zu beruhen, indem letzterer sich verpflichtet, mit seinen Ideen und Skizzen nicht in der Öffentlichkeit aufzutreten. Aschrott versucht bei seinem Ringen um Anerkennung als der allei- nige Ideengeber, Planer und Initiator zu erscheinen. Wie ist die Äußerung von Baetz zu verstehen: „Aschrott bedient sich für die Planung des Kas- seler Westens des wahrscheinlich einzigen damaligen Städtebauers, des späteren Geheimen Baurats Stübben“834 (Baetz, 1951, S. 5) Karl Baetz835 verfasst 1951 die „Aufzeichnungen über den Geheimen Kommerzienrat Sigmund Aschrott“. Er befindet sich zu der Zeit im 73sten Lebensjahr. Als früherer Angestellter Aschrotts schätzt er diesen als Arbeitgeber und Menschen. Sollte Baetz im Hause Aschrott eine Lehre begonnen haben, wäre er frühestens 1891 in die Firma eingetreten. Zu diesem Zeitpunkt lebt Aschrott schon mehrere Jahre in Berlin und kommt meist nur geschäftlich nach Kassel. Somit ist das Zusammentreffen beider nur sporadisch. Baetz führt das Aschrottsche Terraingeschäft fort. Er hat 1936 die Aufgabe, als Vertreter des Testamentsvollstreckers über den Nachlass des Geh. Kom. S. Aschrott zu verhandeln. Von Beruf ist er Kaufmann und fungiert als alleiniger Geschäftsführer der Kasseler Landgesellschaft m.b.H., die 1940 in Liquidation steht und in die Aschrott`sche Nachlass-Verwaltung mit Sitz in Kassel, Ständeplatz 18, übergeht. Baetz handelt in gleicher Verantwortung gegenüber der Nachlass-Verwaltung. (HHSt. AW Abt. 519/3/ Bd. I.) In seine Erinnerungen fließen Ereignisse wie der Vortrag des Berliner Städtebauers Prof. Jansen im Stadtverordnetensaal mit Ausführungen zu Fehlern der westlichen Stadterweiterung in Kassel (Baetz, 1951, S. 11/12), die ständigen Diffamierungen gegenüber der Person Aschrott und dem „Aschrottviertel“, dem Grundstücksspekulanten als Synonym für Wucherjuden, die Zerstörung des Aschrottbrunnens und dazu sicher auch die fast völlige Auslöschung Kassels ein. Das menschenverachtende Handeln gegenüber seinem von ihm hochgeschätzten Arbeitgeber während der Periode nationalsozialistischer Willkür und die in der Nachkriegszeit fortgesetzte Missachtung machen ihn wütend. Über sein eigenes Erleben führt er an: Die Kasseler Bürger sollen sich schämen, „die damals dem Aschrott`schen Sachwalter aufs Ärgste zugesetzt haben.“836 Da die letzte Begegnung mit Aschrott 40 Jahre zurückliegt und die Erwähnung von Stübben noch viel länger, hat sich die Erinnerung an die Bemerkung bei Baetz vielleicht verwischt. Aschrott kann ihn in der Rechtfertigung seiner Arbeit erwähnt haben. Die Bemerkung könnte lauten, dass der Plan eigentlich den Richtlinien Stübbens entspreche, da Aschrott und Neumann sich ja an Entwürfen Stübbens orientieren. Baetz versteht vielleicht die Ausführungen Aschrotts zu dem Planer nicht richtig. Eine andere Deutung: Baetz stellt den Vordenker Stübben als den eigentlichen Planer für das Projekt heraus, um bei dem verbalen Terror gegen seinen ehemaligen Arbeitgeber eine Stadtbaukapazität anzuführen, gegen die sich eigentlich die Angriffe der nationalsozialistischen Verwaltung und der fanatisiert handelnden Kasseler Bevölkerung nicht richten kann. Vermutlich möchte er so die Attacken auf Aschrott abmildern. Dabei vergisst er, dass er mit der Erwähnung Stübbens ungewollt Kompetenz, Engagement und Idealismus seines Arbeitgebers verringert. 834 Wiegand führt aus, Stübben habe auf Betreiben der Stadt Kassel im Februar 1896 die Bebauungspläne der Stadt sowie der Vororte auf ihre Abstimmung geprüft und akzeptiert und darüber hinaus neue Gesichtspunkte aufgezeigt (Wiegand, 2005, S. 131). 835 Karl August Heinrich Bätz wird am 22.11.1878 in Kassel geboren und mit Elisabeth Juliane geb. Kuhn verheiratet, die am 1.7.1883 in Senegal geboren wird. Beide sind ev. Das Paar hat vier in Kassel geborene Söhne. Die Wohnung befindet sich in der Falkensteinstr. 15, dann ab 1938 in der Albrechtstr. 29 (Heckerstr.) und ab 25.6.1945 wieder unter der ersten Adresse. Ab 7.12.1964 leben sie in Hofgeismar, „Gesundbrunnen“ – Damenstift. (EMK, Stadta KS.) 836 Damit kann August Degenhardt gemeint sein, der, wie an anderer Stelle beschrieben, ein Aschrottgrundstück erwirbt. 258 In der Rechtfertigung gegenüber dem Regierungs-Präsidenten von 1905 in Bezug auf sein bauli- ches Vorgehen legt Aschrott seine Ziele für einen neuen Stadtteil dar, so wie er es unter anderen Vorzeichen auch für Frankfurt, Berlin-Pankow und Chemnitz einbringt. Er hebt für sein Bau- projekt das „großstädtische Gepräge“ heraus, hier soll dem Verkehr Rechnung getragen werden und eine Einheitlichkeit herrschen, selbst wenn dazu große Opfer zu bringen sind. Ferner unter- streicht er, für das neue Viertel den Anspruch zu erheben, um „mein Werk vor nachträglichen Angriffen von dritter Seite [in Gefahr] zu wissen und hier[zu] erbitte ich den Schutz hoher Kö- niglicher Regierung.“837 In einem Brief vom 3. Februar 1900 an die Kaiserliche und Königliche Majestät in Berlin analy- siert der Ober-Präsident der Provinz Hessen-Nassau Graf v. Zedlitz und Tützschler838 das bauli- che Engagement Aschrotts in Kassel, indem er anführt: „...Was in baulicher Hinsicht bisher in dem neuen Stadtteil geschehen ist, und was für die Zukunft schönere Verhältnisse erhoffen lässt, findet seinen Grund in der Erschließung des westlich der alten Stadt gegen Wilhelmshöhe hin gelegenen Geländes. Dieser Feld-Abschnitt, zu welchem das meiste bebaute und unbebaute Gelände zwischen dem Ständeplatz im Osten, der Eisenbahnlinie Cassel- Guntershausen im Norden und Westen sowie der Wilhelmshöher Allee im Süden gehört, war in vier Gemeinden und ist nach der Eingemeindung von Wehlheiden noch in drei Gemeinden gelegen. Dasselbst stand im Eigentum von vielen Besitzern mit zahlreichen einzelnen Besitzstücken. Dass es gelungen ist, diesen Abschnitt einheitlich zu gestalten und der planmäßigen Bebauung zugänglich zu machen, ist im Wesentlichen das Verdienst des Banquiers Aschrott. Schon im Jahre 1867 begann derselbe seine Thätigkeit, welche in der Hauptsache zunächst in einer Art privater Consolidation be- stand, die außerordentliches Geschick und sehr bedeutende Mittel erforderte. Zu ihnen kamen noch die großen Verwaltungskosten, die Aufwendungen für Wegebauten, Entwässerungsangelegenheiten etc., welche ebenso wie die Grundkaufkosten vorerst keinen Gewinn brachten. Das unter Mitwirkung erster technischer Kräfte von Aschrott aufgestellte Straßennetz entspricht in hohem Maße den Anforderungen des modernen Verkehrs und der Hygiene, zugleich aber trägt es der Rücksicht auf die Residenz und auf die schöne Umgebung Rechnung. Wenn die großen Straßenzüge der Hohenzollernstraße, der Kaiserstraße und der Kölnischen Straße mit ihren Verbindungen und weiten Plätzen aus dem Stadium der ersten baulichen Entwicklung heraus sein werden, wird sich an sie ein modernes Städtebild von hervorragender Wirkung anlehnen. Auch ist zu hoffen, dass damit eine neue Verbindung mit Wilhelmshöhe geschaffen wird, welche vornehme von Massen- und Tram-Verkehr weniger behinderte Verhältnisse herzurichten gestattet, als diese jetzt an der Wilhelmshöher Allee leider bestehen. Daß Aschrott mit enormen Schwierigkeiten bei diesen Anlagen zu kämpfen hatte und noch hat, be- darf keines Beweises, denn, wenn er auch vielfach Unterstützung bei den Behörden der betheiligten Gemeinden und überall bei den Regiminar[?]instanzen fand, so war für ihn das Gewicht der konkur- rirenden Privatinteressen oder die stetig sich erneuernden Versuche, Zwangslagen auszudrücken, doch nur schwer und mit großen Opfern zu überwinden. Das gesamte Gelände für Straßen und Plätze wurde und wird von Aschrott kostenfrei in betriebsfä- higem Zustand hergegeben soweit es sich in seinem Besitz befindet, insoweit es aber im Eigenthum dritter stand, sind von ihm sehr erhebliche Zuschüsse zur Durchführung der Straßenzüge auch für jene Straßen gegeben worden. Außer diesen für Kommunikationszwecke und Entwässerung ge- machten Aufwendungen hat Aschrott so dann noch verschiedene Abtretungen von Bauterrain zu wohlthätigen und öffentlichen Zwecken gemacht. Über die gesamte Grundstücksbewegung und die mit derselben verbundenen Aufwendungen und Schenkungen gestatte ich mir in der Anlage 1 einen näheren Nachweis ehrfurchtsvoll vorzulegen. Die gesamten hierdurch der spekulativen Verwertung entzogenen Geländeflächen entsprechen somit 25% des überhaupt in den Bebauungsplan einbezogenen und 33 1/3 % des zur käuflichen Ver- werthung gelangenden eigenen Terrains von Aschrott. Dieselben lassen erkennen, dass er in dieser 837 A Pr.Br. Rep. 30, Berlin C. Tit. 94. 838 Graf v. Zedlitz und Trütschler, Robert, Dr. h.c., Dr. ing. h.c., geb. 8.12.1837 Freienwalde a.O., gest. 21.10.1914 Charlottenburg, bekleidet das Amt des Ober-Präsidenten in der Prov. Hessen-Nassau vom 5.1.1899 bis 28.8.1903, danach OP in Schlesien, 1910 i.R. mit Pension (Klein, 1988, S. 243). 259 Beziehung mit Opfern nicht gegeizt hat. Die Frage, ob Aschrott diese ganze unzweifelhaft mit einem Zuge ins Große angelegte und mit au- ßerordentlichen Geschick betriebene Operation vorzugsweise aus dem Gesichtspunkte einer idealen, seiner Heimatstadt gewidmeten Thätigkeit eingeleitet hat, wie er es selbst behauptet, ist schwer zu beantworten. Ich glaube, dass Motive dieser Art mitgewirkt haben, dass sie aber weder vorwiegend noch ausschlaggebend gewesen sind. Die Aussicht auf Geschäftsgewinn war wohl das veranlassende Motiv. Hierbei wirkt aber die ehrliche Absicht839 mit seiner Heimatstadt dadurch zu nützen und sich in ihr und darüber hinaus nicht nur einen Namen zu machen,“...840 Abb.: 72 Gemälde von Gertrud Queisner: „Neumarkt“ mit Hohenzollernstraße“ (Ausschnitt)841 839 Das Herausheben das Unterstreichen im Text erfolgte durch den Leser des Briefes. 840 G St A Hpt. I Rep. 120, Cb V, Fach A Nr. 16. 841 Stadtmuseum, Inv. Nr. M 0320. 260 Das Gemälde von Gertrud Queisner stellt eine Lebensatmosphäre dar, die der Zielsetzung für Wohnen im neuen Stadtteil entspricht und die Ausführungen des Ober-Präsidenten v. Zedlitz unterstreicht, „ein modernes Städtebild mit hervorragender Wirkung“842 zu schaffen. Der mit Bäumen und Grün bepflanzte „Neumarkt“ bietet einen Lebensraum, in dem städtische Bewohner in Ruhe und unter Berücksichtigung von Hygiene sich wohlfühlen können. Dieser Zustand wird noch durch die wenigen Personen an der Straßenbahnhaltestelle und in deren Nähe verstärkt. Sie bewegen sich ohne Hast oder betrachten stehend die Szenerie. Die Straßenbahn vermittelt neben der mehrgeschossigen Randbebauung von Platz und Straßen die großstädtische Urbanität. Die den Bildraum erschließende Hohenzollernstraße unterstützt die beschriebenen Zustände. Architektonische Fassadengestaltung, besonders der Eckgebäude, unterstreicht den beabsichtigten Charakter des Quartierausbaus. Lediglich die Friedenskirche übertrifft die Gebäudehöhe der 4- oder 5-geschossigen Großstadthäuser und weist durch ihre scheinbare Stellung im Block darauf hin, dass sie das Viertel nicht begrenzt, sondern die Stadterweiterung sich in gleicher Form hinter der Höhe auszubreiten scheint. 8.5.1 Unterliegt die Vergabe von Straßennamen einer Systematik? Eine Auseinandersetzung mit den Straßennamen des Quartiers sollte sich nicht bloß mit den Namen beschäftigen, sondern sie sollte den Hintergrund beleuchten und schließlich in einen inneren Zusammenhang der Namen münden. Bereits bei Planung der Hohenzollernstraße, die Genehmigung des Fluchtlinienplans steht noch aus (Wiegand, 2005, S. 121), drängt Aschrott, den von ihm vorgeschlagenen Namen zu über- nehmen und interveniert deshalb, als die Behörden nicht reagieren, beim Kaiser, um von höchs- ter Stelle eine Befürwortung seines Ziels zu erhalten. In einem Schreiben843 an die Kgl. Regie- rung für die Genehmigung einer „Straßen-Anlage“ versucht der Polizei-Direktor diese folgen- dermaßen zu beschreiben: Zwischen Hohenzollernstr. und Neuer Wilhelmshöher Allee, „zwi- schen Annastr. und Quer Allee im Knie von diesem ab durch städtische, Wehlheider und Wah- lershäuser Gemarkung in gerader Richtung (auf den Herkules) nach Wilhelmshöhe.“ Und kommt dann zu der präzisen Angabe: Die projektierte Straße wird als „Kaiser-Straße“ bezeich- net.844 Bei derartigen Umschreibungen scheint gleich eine Bezeichnung in Form einer Nummer oder eines Namens als vorteilhaft. Welche Erkenntnisse lassen sich aus verschiedenen Straßennamen gewinnen? Bereits am 22. September 1873 stellt Aschrott einen Antrag zur Errichtung einer Verbindungs- straße zwischen Kölnischer- und Hohenzollernstr. an die Stadt. Dieser wird von der Verwaltung als genehmigt weitergeleitet. Hinweise zur Namensgebung finden sich nicht. In einer Aufstel- lung von Straßennamen Kassels von 1943845 steht für Annastraße: „Nach einem weiblichen Vornamen“ und als zusätzliche Erklärung, „die zweite Frau des Landgrafen Wilhelm des Mittle- ren.“ In dieser Zone des neuen Viertels werden, wenn man von einer Einheitlichkeit in der Na- mensfindung ausgeht, Bezeichnungen, welche die landgräfliche Familie betreffen, nicht benutzt. Da Aschrott in dieser Straße sicher wegen des schönen Blicks erwägt, später sein Domizil zu errichten, wird er als Straßennamen den Vornamen seiner Frau Anna Aschrott, geborene Herz, ins Spiel bringen und schließlich durchsetzen. Auf welchem Weg er sein Ziel erreicht, ist nicht nachzuvollziehen. Die Praxis der Namensfindung und –gebung scheint aus einem Schreiben846 vom 25. Dezember 1894 Aschrotts aus Berlin an den Vorstand des Diakonissenhauses in Wehlheiden hervorzuge- hen. Dieser will von Aschrott wissen, ob eine Straße in unmittelbarer Nähe des Hauses auch den 842 Brief vom 3. Februar 1900. 843 Brief vom 6. Juli 1874 (St AM, Best. 165, Nr. 1452, Bd. 4, F 11785). 844 St AM, Best. s.o. 845 Die folgenden Straßennamen werden aus den Aufzeichnungen von Scheele, 1943, unter Stichwort zitiert. 846 LA Ka, Kurh. Diakonissenhaus Kassel, G 2.6. 261 Namen ´Diakonissenstr.´ erhielte. Schon die Nachfrage zeigt die Bedeutung des Stadtviertelinitiators, denn der direkte Ansprechpartner auf politischer Ebene wäre die Gemeindevertretung oder die übergeordnete Behörde, der Landrat gewesen. Da zwischen Aschrott und dem Diakonissenhaus ein partnerschaftlicher Austausch von Interessen besteht, wendet man sich direkt an ihn um Auskunft. Aschrott antwortet, einen Vorschlag für die Vergabe von Straßennamen bei dem für die Angelegenheit zuständigen Landrat Herrn von Dörnberg eingereicht zu haben. Die dem Hause nächst liegende Straße, solle den Namen des Diakonissenhauses tragen. Er hoffe auf das Einverständnis des Landrats und überlasse es dem Vorstand, in dieser Sache weiteres zu unternehmen. Die Antwort Aschrotts scheint dem Vorstand nicht zu genügen, der sich daraufhin im Juni 1895 an den Bürgermeister der Gemeinde Wehlheiden wendet. Eine Woche später wird der Brief wie folgt beantwortet847: Die im Aschrottschen Bebauungsplan als Schwesternstraße bezeichnete soll den Namen „Diakonissenstrasse“ erhalten und die als Brüderstraße benannte wird zur „Elisabethenstraße“. Darüber hinaus möge das Diakonissenhaus, Aschrott sowie dem Kgl. Landrat den Entschluss mitteilen. Elf Tage später erfolgt die Antwort aus Berlin848, in der Aschrott sein Einverständnis zur Bennennung der Straße XIII gibt. Sie soll „Diaconissen Straße“ heißen. Dagegen stellt er in Frage, die Straße XII b, auf gleicher Höhe, jedoch westlich von ersterer liegend, als „Elisabethen Straße“ zu bezeichnen. Aschrott erklärt, diese Straße existiere bereits in Cassel, und Doppelbenennungen zwischen Stadt und Wehlheiden seien auszuschließen. Um die Angelegenheit nicht zu verzögern oder auf andere Weise zu schädigen, möge das Diakonissenhaus sich mit dem von der Gemeinde gewählten Namen „Brüder Straße“ einverstanden erklären und dies der Gemeinde mitteilen. Weiter führt Aschrott an, dass bei der „Incommunisirung“ [Eingemeindung, Anm. d. Verf.] der Gemarkung zur Stadt Cassel das der Wunsch der Diakonissen von der städtischen Verwaltung vielleicht berücksichtigt werde und die Casseler Straße einen anderen Namen erhielte. Auf dem Stadtplan 1913 wird die genannte als Geyso Str. geführt.849 Das gute Einverständnis zwischen dem Vorstand und Aschrott wird zusätzlich aus einem Brief zur Rehabilitierung Aschrotts deutlich; noch im hohen Alter nach fast 42 Jahren ist er ständig bemüht, den Vorwurf der Beamtenkorruption zu widerlegen. In dem Schreiben wird der Vor- stand des Diakonissenhauses neben dem Geheimen Justizrat Dr. Bartels,850 den Landräten v. Weyrauch851 und Freiherr v. Dörnberg852, dem Oberpräsident v. Zedlitz und dem Staatsminister Dr. v. Trott zu Solz853 genannt, die Aschrott wegen der Ernennung zum Kommerzienrat und der Verleihung verschiedener Orden beglückwünscht haben. 847 Brief vom 5. Juli 1895 (Best. s.o.). 848 Brief vom 16. Juli 1895 (Best. s.o.). 849 Geyso – nach althessischer Adelsfamilie aus der verschiedene Offiziere stammen. Elisabethen Str. wäre nach der heiligen Elisabeth, der Stammmutter der hess. Fürstenhauses benannt (Scheele, 1943, Stichwort). 850 Dr. Otto Bartels, Rechtsanwalt und Notar wird am 12.8.1861 in Lukau geboren und stirbt am 9.2.1930. Er ist Sohn des Oberstaatsanwalts Carl B.. Seine Frau Marie Rosa Antonia Elisabeth geb. Peine wird am 31.5.1869 geboren. Sterbedatum fehlt. (EMK, Stadta KS.) 851 (v.) Weyrauch, Dr. h.c. Dr.jur. h.c. Ernst Georg Karl Ludwig Valentin, preuß. Adel 1888, geb. Neukirchen, Kr. Ziegenhain 3.8.1832, ev.-ref., gest. Marburg 10.2.1905, verh. Solz 9.8.1862 mit Sophie v. Trott zu Solz, geb. Kassel 24.10.1833, gest. Marburg 3.9.1919. LRA. Kr. Kassel, 1.4.1868 Dienstantr.; 13.8.1889 Dir. d. Kons. f. d. Reg. Bez. Kassel, 1.9.1881 Dienstantr.; 1891 UStaatsSekr. i. Kultus-Min.; 1899 i.R.. MdR. (1887-1891); MdA. (1879-1882) (Deutsch-Konservativ) (Klein, 1988, S. 236/237) 852 Frhr. v. Dörnberg, Julius Karl, hess. Uradel, geb. Siegen 25.1.1837, ev., gest. Kassel 11.3.1922, verh. mit Adelheid v. Linsingen, ab 7.12.1881 Landrat Kr. Kassel, am 1.6.1907. Gesuch um Entl. a. d. D. Schwiegervater von Wilhelm v. Baumbach, 1897-1902 LR. Kr. Melsungen (Klein, 1988, S. 113). 853 v. Trott zu Solz, Dr. theol. H.c., Dr h.c., Dr. e.h., Dr. ing. h.c. August Bodo Wilhelm Klemens, hess. Uradel, Familie der alth. Ritterschaft, geb. Imshausen, Kr. Rotenburg 29.12.1855, ev., gest. Imshausen 27.10.1938. Verh. Kassel 28.2.1901 mit Eleonore v. Schweinitz, geb. Wien 21.2.1875, gest. Imshausen 11.3.1948. RP. in Kassel 18.2.1899; 29.5.1905 Amtsübernahme als OP. v. Brandenburg; 14.7.1909- 262 Als Verfasser des angeführten Schriftstücks854, an den Herrn Staats- und Kriegsminister General der Infanterie v. Heeringen, zeigt sich ein Vertreter des Kriegsministeriums, der Geheime Justizrat Friedrich Ernst, verantwortlich. Er versucht die ablehnende Haltung des Militärs gegenüber Aschrott zu beeinflussen und verweist auf oben genannte Personen und Vorstände, die Aussagen zu dem wirklichen Aschrott treffen könnten. Der Brief wird deshalb angeführt, weil die aufgezählten Personen mit Ausnahme Bartels sich in dem Straßenverzeichnis wiederfinden. Daraus lässt sich ableiten, dass der Landrat das Verzeich- nis Aschrotts weitgehend übernimmt und bei bestimmten Bezeichnungen Klärungsbedarf an- meldet. In der Zuordnung von Namen zu Straßen, westlich der Querallee bis zur Main-Weser-Bahn, kann man eine gewisse Systematik bei der Verteilung ableiten. An der südlichen Grenze des Viertels bildet die barocke Achse die Grundlinie eines imaginären Netzes und vertritt bei der Zuordnung das Landgrafen- und Kurfürstengeschlecht. Auf der Achse bauen sich die von Ost nach West verlaufenden Hauptverkehrsstränge auf. Diese symbolisieren das Geschlecht und deren Träger, wobei eine Wichtung vorgenommen wird, bei der der Hauptträger wahrscheinlich die Basis einnimmt. Die von ihm Abhängigen ordnet man oberhalb von dem Hauptträger an. Dem Landgrafengeschlecht wird die Herkulesstraße zugeordnet, die sinnbildlich den Landgrafen Carl verkörpert und auch als Sichtachse auf dessen Insignien ausgerichtet ist. Die Mittelachse vertritt das Geschlecht der Hohenzollern als erste bedeutende Straße der Erwei- terung. Die darunter verlaufende Magistrale muss eine Gleichwertigkeit zu ersterer aufweisen. Dafür kann nur als Äquivalent die Person des Kaisers als Kaiserstraße in Frage kommen. Sie geht wiederum in die Regentenstraße über. Namensgeber ist Wilhelm I. , doch gleiches trifft für Wilhelm II. zu. Von geringerer Wertigkeit ist die Straße oberhalb der Hohenzollernstr., sie wird mit Auguste Victoria belegt, da diese zur Zeit der Straßenanlage residierende Kaiserin ist. Bei der Namensverteilung für Straßen östlich der Querallee ist eine Systematik nicht erkennbar. Le- diglich zwei zur Achse querlaufende Straßen belegt man mit Herrscherpaaren. Kronprinzenstr. vertritt Friedrich III. , der Vater von Wilhelm II., Victoriastr. die Ehefrau von ersterem. Der Ober-Präsident v. Eulenburg, Befürworter der Stadterweiterung, wird mit einer Verbin- dungsstraße zwischen Herrscherfamilie und Kaiser geehrt. Eine kurze Straße parallel und ober- halb der Hohenzollernstr. verlaufend erhält den Namen des Landrats v. Weyrauch. Sie nimmt ihren Anfang am Aschrott-Platz. Fast parallel dazu liegt die v. Trott Str., jedoch westlich vom Zentrum. Die Person ist zeitlich später politisch aktiv. V. Zedlitz Str. verbindet die rechtwinklig zur Hauptachsenrichtung gelegte Kaiserstr. mit der Wilhelmshöher Allee. Hessische Adelsgeschlechter geben ihren Namen für Straßen im Mittelteil des ausschließlich von Aschrott gestalteten Viertels. Einige münden im Aschrott-Platz. Dem Landrat v. Dörnberg wird eine Verbindung von doppelter Länge zum Zentrum, dem Neumarkt, zugedacht. Er muss den Vorschlag auch unterstützen. Anhängsel in dieser Reihung bildet die Hinzpeterstr. Er steht für den Lehrer und Erzieher des letzten Kaisers. Eine Ausnahme besteht lediglich in der Markgrafenstr., diese vertritt die Markgrafen von Brandenburg. Wie ordnet Aschrott die eigene Familie in dieses System der Hohenzollern, Landgrafen, Kur- fürsten und hessischen Adelsgeschlechter ein? Die Namensfindung der Annastr. ist angespro- chen. Die Reginastr. zweigt vom Kaiserplatz ab, dem Herzstück des Viertels, und auch durch ihre Lage kann sie als Zentrum und Ausgangspunkt der Familie gelten: Regina Aschrott geb. 6.8.1917 u. preuß. Kultus-Min.; 3.9.1917 Amtsantr. als OP. Prov. Hessen-Nassau; 1.7.1919 i.R. (Klein, 1988, S. 225). 854 A Pr. Br. Rep. 30 Berlin, C Tit. 94, Lit. A, Nr. 364 –Schreiben Friedrich Ernst vom 9.8.1912. Der Brief wird wahrscheinlich seitens des Verfassers mit Aschrott vorher abgesprochen worden sein. In den Angaben erkennt man seine Senilität, denn der angeführte v. Weyrauch ist bereits seit sechseinhalb Jahren gestorben. 263 Goldschmidt ist die Mutter des Gründers. Olga, die dritte Tochter des Ehepaars Aschrott, wird hier gleichfalls eingeordnet. Den Mittelpunkt des neuen Stadtteils nimmt bei der Planung ein kreisrunder Platz ein, in den drei Straßen enden. Eine, die Gilsastr.855, bedarf einer weiteren Erklärung. Der zentrale Platz wird von einer Fahrbahn umgeben, deren Breite die der Kaiserstraße noch übertrifft. Der Platz selbst wird von der breiten Aschrottstr. durchschnitten, die an der Wilhelmshöher Allee856 be- ginnt, in die Kaiserstr. mündet, den Verlauf dieser Straße aufnimmt, um nordöstlich die Hohen- zollernstr. zu schneiden, in den Felix-Platz führt und an der Kölnischen Straße endet. Aschrott behauptet von der Straße mit seinem Namen, sie sei wie die anderen auch für den Durchgangs- verkehr unentbehrlich.857 Die Aschrottstraße gleicht in der Dimension der Kaiserstr. In der Deu- tung ihrer sinnbildlichen Funktion verbindet sie das Geschlecht der hessischen Landgrafen mit dem der Hohenzollern und bildet die Assoziation der beiden durch das Handeln eines Bürgerli- chen, der sich in diesem Prozess den Geschlechtern und den diese augenblicklich vertretenden Personen genähert hat und sich so unmittelbar mit ihnen vergleicht. Oberhalb des Aschrott-Platzes, der nicht verwirklicht wird und zum Teil im späteren Stadthal- lengarten läge, fügt der Planer den Felix-Platz an, den Namen seines Sohnes tragend, der als einziger männlicher Nachkomme das Geschlecht Aschrott fortführen soll. Mit der Anordnung bleibt er in der Systematik des Aufbaus. In dieser Symbolik kann sich das Gesellschaftsbild Aschrotts darstellen. 855 Das Engagement des Freiherrn v. Gilsa gegenüber Aschrott wird im Kap. 9.3.1 deutlich. 856 Der Ansatz ist heute noch durch das quergestelltes Haus in der Wilhelmshöher Allee zu sehen. 857 A Pr. Br. Rep. 30 Berlin C. Tit. 94. 264 Karte 11: Systematik der Straßennamen Der westliche Teil der Stadterweiterung vom Abzweig Hohenzollern- zur Kaiserstr. unterliegt einer anderen Ordnung als der östliche. Hier soll hauptsächlich der westliche Abschnitt interpretiert werden, denn in diesem Bereich scheint Aschrott großen Anteil an der Na- mensvergabe ausgeübt zu haben. Die entwickelte Systematik bei Verteilung der Straßennamen verdeutlicht Karte 11. Bestimmte Kategorien werden weiter in Gruppen unterteilt. In der ersten Kategorie sind drei Gruppen von Bedeutung. Straßen mit dem Namen der Herrscherhäuser; hessische Kurfürsten und Hohenzollern gehören zur ersten Gruppe. Grundlage bildet die barocke Achse, der Boule- vard der Kurfürsten. Den Hohenzollern weist man eine gleichwertige Straße zu, die als Ma- gistrale und Hauptfunktionsverbindung des neuen Viertels gilt, Hohenzollernstraße. Zur zweiten Gruppe zählen direkte Vertreter der Herrscher, wie bei Kaiserstr. verdeutlicht; beim hessischen Herrschergeschlecht kann dafür stellvertretend Herkulesstr. angenommen werden, da die Na- men der Landgrafen bereits in anderen Stadtteilen verplant sind. Die Lage der Straßen aus Gruppe zwei entspricht der ersten. Gleiches gilt für die dritte Gruppe, die kaiserliche Familien- mitglieder wie Auguste Victoria, die Ehefrau des letzten Kaisers, berücksichtigt sowie für die Regentenstr. Alle Straßen dieser Kategorie verlaufen ausschließlich in Ost-West-Richtung. Gruppe vier, Vertreter aus dem Umfeld des Kaisers, verkörpern eine untergeordnete Stellung. Die Straße wird lediglich an das Hohenzollerngeschlecht angehangen und fungiert als Quer- straße. Es handelt sich dabei um die Dr. Hinzpeterstr. Er war Lehrer und Erzieher des letzten Kaisers. Straßenverläufe mit dem Namen der kaiserlichen Familie im östlichen Teil entsprechen nicht der normalen Verlaufsrichtung, Kronprinzen- und Victoriastr., nach Friedrich III. und seiner Ehefrau benannt, sind als Querstraßen angelegt. Aschrott selbst hat sich und seine Familie ebenfalls in das Straßenraster eingebracht, in die zweite Kategorie. Seine Mutter, in erster Gruppe, gibt einer Straße im neuen Zentrum den Na- men. Sie zweigt direkt vom Kaiserplatz ab. Die Aschrottstraße kann als Hauptverbindung zwi- schen Landgrafengeschlecht und den Hohenzollern gelten. Sie ist in Gruppe zwei einzuordnen. In ihrer Bedeutung zum Stadtteil, gemessen an der Breite, entspricht die Aschrottstraße der Kai- serstr. Auf den Aschrott Platz münden Straßen des hessischen Adels. Sie tragen Namen der Per- sonen, mit denen Aschrott gut kooperiert hat und die ihn geachtet haben. Die Anlage des Felix Platzes entspricht der allgemeinen Systematik. Die Kinder der Familie werden entsprechend der Systematik in der dritten Gruppe angeführt. Neben Felix findet nur eine Tochter Berücksichtigung. Die Olga Str., nach Aschrotts dritter Tochter, wird in Verbindung zur Großmutter gleichfalls im Zentrum platziert. Dagegen passt Annastr. nicht ins System, ihre Bezeichnung erfolgt früh, als eine Gesamtvorstellung sich noch nicht konkretisiert hat. Adelsgeschlechter, vorwiegend aus Hessen, sind in Kategorie drei zusammengefasst. Ihre Na- men stehen für Diagonal- und Querstraßen.. Besonders berücksichtigt werden Personen, die Aschrott unterstützen, wie v. Weyrauch, v. Dörnberg, v. Zedlitz, v. Gilsa. Die vierte Kategorie, Vertreter der Kultur, spielt eine untergeordnete Rolle und erscheint nur mit Füllnamen. Vielleicht hat hier der Landrat die Auswahl vorgenommen. 265 Karte 11: Systematik der Stra ennamen Roland Demme Klaus Horn (Kartographie) Universit t Kassel September 2005 0 200 400 600 800 1.000100 Meter 1:20.000 S.Aschrott : Das Hohenzollern-Stadtteil-Unternehmen Hohenzollern Bedeutung 1 Geschlecht 2 Kaiser 3 kaiserliche Familie 4 Umfeld Kultur Familie Aschrott Generation 1 Eltern 2 S. Aschrott 3 Kinder Adel Bedeutung 1 Landgraf 2 hess. Adelsgeschlechter 3 au erhessische Ad. Hintergrund: Stadtplan 1913 266 8.5.2 Frühe Würdigung des Stadtbaumeisters Die eingangs beschriebene Margarethenhöhe in Essen, bei deren Errichtung eine Familiendy- nastie ihr soziales Engagement zu manifestieren versucht, wird anfangs von einem Stiftungska- pital getragen. Ob die erzielten Zinserträge in Form von Mieten die eingesetzte Summe langfris- tig wieder erwirtschaften, ist nicht bekannt. Das Essener Projekt zielt auf eine Bevölkerungs- schicht, die der Masse der Beschäftigten des Industrieimperiums entspricht; die Führung will mit der Einrichtung ein soziales Zeichen setzen und gleichzeitig eine positive Einstellung der Belegschaft gegenüber dem Unternehmen und der Arbeit allgemein erzeugen. Dagegen orientieren sich Aschrotts Aktivitäten, die mehrere Jahrzehnte vor dem Essener Stadt- teil beginnen, an einem vom Kapital gesteuerten Wohnungsmarkt, der einen immensen Bedarf zu versorgen hat und die soziale Frage insoweit ausklammert, als mit Geringstverdienern keine Gewinne zu machen sind. Seine Stadtteilplanungen sind auf Kapitalakkumulation ausgerichtet, die eine Steigerung der Bodenrente erwartet. Andere Kasseler Kaufleute erkennen die Wertver- änderungen am Bodenmarkt und versuchen sich im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten einzubringen. Bei ihnen handelt es sich um Kleinanleger, die zwar partizipieren wollen, jedoch mit ihrer Strategie und ihrem geringen Kapital die Entstehung eines Quartiers im einheitlichen Stil der Zeit nicht mitgestalten können und sie nur behindern. Gleichzeitig versucht die politi- sche Verwaltung, ihre verlorene Entscheidungskompetenz beim aufblühenden Bausektor wie- derzugewinnen. Das Kapital unterläuft aber die Verwirklichung möglicher Verordnungen, indem die Bauträger die von der Bauordnung vorgegebene Gebäudehöhe durch Vergrößerung der Gebäudevolumina ausgleichen und auf diese Weise die behördlichen Aktivitäten desavouieren. Da die neuen Vorschriften den Prozess nicht entscheidend steuern können, versucht die Verwaltung in immer kürzeren Intervallen Druck auszuüben. Aschrott baut für eine andere Zielgruppe als der Essener Projektträger. Sein Plan beabsichtigt, für gehobenes Wohnen zu produzieren. Er glaubt, dass es in Kassel zukünftig genügend Men- schen dieser Gesellschaftsschicht gibt, die solche Häuser finanzieren, und dass die Hausbesitzer wiederum Mieter rekrutieren, die entsprechend hohe Mietkosten bezahlen. Die Familie Aschrott vergleicht sich mit ihren Vorfahren, bei denen die Familie der Goldschmidts ihrer eigenen unter dem Gesichtspunkt der Steuerabgaben überlegen ist. Jedoch auf Grund der Aschrottschen Le- bensleistung zählt sie jetzt auch zu der Schicht vermögender Juden. Bei seinem Bauvorhaben rückt Aschrott nicht von seinen Vorstellungen für einen großstädti- schen Stadtteil nach Berliner Vorbild ab. Er setzt sich mit großem Einsatz für verschiedene ge- meinschaftliche Einrichtungen, wie Kirchen im Quartier, Waisenhäuser, Denkmale, Museen in der Gesamtstadt ein, die zu unterstützen und neue behördliche Einrichtungen in das Viertel zu integrieren. Eine Würdigung858 seines Einsatzes erfährt er bereits im Juni 1879 durch eine Be- schreibung seiner Tätigkeit durch den Polizei-Direktor Albrecht.859 „...in Anerkennung seiner besonderen und sehr bedeutenden Leistungen für die Entwicklung der Stadt Cassel durch rationale Herstellung schöner und gesunder Straßen und Wohnungen... so bedarf 858 Der Architekt Werner Narten schreibt 1878 zur Stadterweiterung: „...welche aber erst in unmittelbarer Folge der Annexion in den Jahren 1866 bis 1873 in stauneswerthem Umfange sich vollzogen hat und nun, freilich in mäßiger Geschwindigkeit, aber stetig fortschreitend, in ausgiebiger Weise auf die Anlage geräumiger und regelmäßiger Plätze Bedacht genommen und über den wohl nivellirten Grund breite gradlinige Strassen geführt. Durch die Nothwendigkeit des Anschlusses der neuen Bauquartiere an bestehende Stadttheile und Baugruppen und durch manche unumgängliche Rücksichtnahme auf Erhebungen und Senkunken der Baugründe ist nicht nur jede Einförmigkeit in den Bebauungsplänen glücklich vermieden, sondern es sind manche hochinteressante Gruppirungen an den schiefwinklig sich schneidenden Strassenzügen, manche überraschende Durchblicke ect. entstanden.“ (Wiegand, 2005, S. 125.) 859 Schreiben des PD Albrecht vom 23. Juni 1879 an die Kgl. Regierung in Kassel, um damit den Vor- schlag zur Ernennung zum Kommerzienrat zu rechtfertigen (G St A, Hpt. I Rep. 120, CB V Fach A, Nr. 16). 267 es... für mich auch jetzt nur einen Blick auf den Stadtbebauungsplan, welcher Cassel vor und nach 1866, d.h. in der Hauptsache das darstellt, was zum größten und besten Theil des Aschrott eigene Leistung, was zum anderen Theile die Folgen seines anregenden Beispiels ist, was durch Aschrott innerhalb der letzten zwei Jahre durch Vollendung der Hohenzollernstraße und durch Neuherstellung der Victoria- und der Weißenburg- und der Kaiser-Straße erweitert wurde und im vorigen Herbst ebenfalls die ganz besondere, wiederholt angesprochene Anerkennung Seiner Majestät des Kaisers nach allerhöchst dessen eigener Anschauung gefunden hat. Ist dennoch der Aschrott in der absonderlichen Lage, durch versteckte Missgunst und die hier leider sonst auch nicht vermißte, des Beweises unfähige, aber besserer Ueberzeugung sich dennoch ver- schließende Verkleinerungssucht seine derartigen Unternehmungen, mit welchen jeder andere seinen Patriotismus erfolgreich glorifizieren würde, als bloß eigennütziges Geschäft dergestalt zu sehen, obwohl sie sich überaus nach ihrer ganzen Art, nach ihrer Ausführung und ihren sichtbaren Zielen von jenem allerdings nur eigennützigen, auch hier zum Vergleich sich darbietenden bloßen Baustellen-Hökerhendel unterscheiden, so ist doch für Jeden, der sehen will, mindestens das zu erkennen, dass dies Privat-Unternehmen jedenfalls mehr oder eher der Stadt bleibenden und sicheren Vortheil gewährt, als es dem Unternehmer für den Fall günstiger bis jetzt nicht eingetretener Verhältnisse in unsichere und ferne Aussicht stellt. Ist es ferner versucht, den rührigen und überlegenen, nur auf sich selbst gestellten Geschäftsmann Aschrott, der – zum Verdruß der Kleinen – eigene Einsicht und Erfahrung auf fremden Rath, den ei- gene und reichende Mittel auf fremde Hülfe und Genossenschaft verzichten lassen, demzufolge auch in anderer Beziehung – freilich mit vorsichtiger Reservation, aber doch so, dass immerhin Etwas hängen bleibe – zu discreditieren und u.a. auch in so fern als den lediglich eigennützigen Geschäftsmacher darzustellen, als ihm Sinn und Herz für allgemein patriotische, lokalgemeinnützige und wohlthätige Leistungen fehle, so habe ich Veranlassung gewonnen, auch in dieser Beziehung mir einigen Anhalt aus den in den letzten zwei Jahren hier vorgekommenen Gelegenheiten bezüglicher Bethätigung zu verschaffen und demzufolge mich überzeugt, dass p. Aschrott abgesehen davon, dass er für sämtliche hier bestehende gemeinnützige und Wohlthätigkeits-Anstalten und Vereine die höchsten fortlaufenden Beträge und einzelne besondere Unterstützungen gewährte – bei außerordentlichen Veranlassungen darbrachte: Für Ausschmückung der Straßen im Hohenzollern-Stadttheil, welche Seine Majestät der Kaiser im September v.J. passierte 4800 M., für das hiesige Krieger-Denkmal als nachträgliche Gabe 500 M. (die erste Gabe war 1500 M.); für Herstellung eines hiesigen Tivoli 2200 M.; für die Natur- Forscher-Versammlung 1100 M., dem Verein für Fremden-Verkehr 600 M., dem Frauen-Verein für Krankenpflege 1000 M., dem vaterländischen Frauen-Verein zweimal je 500 M., für Unterhalt und Erziehung zweier Waiserkinder 3500 M., für arme Kinder zur Weihnachtsbescherung 500 M. Es sind das innerhalb zweier Jahre über 15000 M. für patriotische, gemeinnützige und wohltätige Zwecke. Aschrott ist also auch in dieser Beziehung von keinem hiesigen Einwohner übertroffen oder nur erreicht.“ 8.6 Frankfurter Zonenbauordnung Als sich Ende des 19. Jahrhunderts die Frankfurter Außenstadt zunehmend erweitert, ändert man die baupolizeilichen Bestimmungen, um die weitere Stadtgestaltung in geordnete Bahnen zu lenken. Die Frankfurter Zonenbauordnung vom 17. Oktober 1891 unterteilt neben der dicht bebauten Altstadt eine innere und äußere Zone, die bestimmte Abschnitte als Wohn-, Misch- und Fabrikviertel definiert. Diese Maßnahmen erlauben ein adäquates Wohnen für gehobene Schichten. (Schulz-Kleeßen, 1985, S. 315.) Der Vorlage der neuen Bauordnung geht u.a. die Polizeiordnung von Köln vom 14.1.1888, die bereits den Reformgedanken für eine bessere stadthygienische Entwicklung aufgreift, voraus. Die bisherigen Richtlinien in Frankfurt gelten für das gesamte Stadtgebiet und verhindern eine ausschließlich villenartige Bebauung in bestimmten Stadtarealen. Denn die 5-geschossigen Häu- ser, die ¾ der Grundstücksfläche ausnutzen, entstehen auch in Stadtarealen für gehobenes Woh- nen. Die zulässige Mindestbreite für Straßen einschließlich Vorgärten und höchstzulässiger Ge- bäudehöhe gewährleisten nicht den erforderlichen Sonneneinfall und beeinträchtigen den Luft- 268 austausch.860 Weiter erlauben sie Mauern zwischen angrenzende Grundstücke zu setzen und differenzieren nicht eindeutig die Gebäudenutzung. (Schulz-Kleeßen, 1985, S. 336.) So werden in Villengegenden Baublöcke gesetzt, um die Bodenrente zu optimieren. Die baupolizeilichen Bestimmungen von 1891 beziehen sich nur auf die Außenstadt.861 Neben der Altstadt sind Sachsenhausen und das Quartier zwischen dem neuen Hauptbahnhof und der Stadt von diesen Anordnungen ausgenommen. Auf letzteres Viertel wurde bei der Auseinander- setzung zwischen der Stadt Kassel und Aschrott 1905862 näher eingegangen. Vorgeschrieben sind in der Zonenbauordnung Bauwich für alle Gebäude und Gebäudegruppen. Die Höhe ist für diese auf 18 m beschränkt. Hintergebäude können nur über nicht überbaute Zugänge erreicht werden. Der Abstand der Hinterhäuser muss mehr als 30 m bis zur Straßenmitte betragen. Grö- ßere Hofräume sowie Beschränkungen für störende gewerbliche Anlagen sind vorgeschrieben. Die Errichtung von Fachwerk wird erleichtert. (Schulz-Kleeßen, 1985, S. 315/316.) Für diese neue Ordnung wird das Ziel einer weiträumigen Bebauung und einer Einflussnahme der Politik auf den Bodenmarkt verfolgt. Ferner stellt sich die Frage, ob die Zonenbauordnung ein „fortschrittliches Instrument“ bei dem Aufbau von Vorstädten durch Privatpersonen und Gesellschaften darstellt (Weiland, 1985, S. 343). Richtwerte für die erfolgreiche Umsetzung bilden für Weiland: Die Geschosszahl und Die Bauweise. Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Zonenbauordnung in den 90er Jahren, bezogen auf Punkt eins, eine Zunahme von 4-geschossigen Häusern, die mehr als die Hälfte errichteter Ge- bäude ausmachen, zur Folge hat. (Weiland, 1985, S. 355.) Was die Bauweise angeht, sind in „gemischten Vierteln“ verbindliche Bauwiches vorgeschrieben und sogenannte „Gebäudegruppen“ auf eine Straßenfrontlänge von 30 m begrenzt. Jedoch gilt diese Regelung nur in „gemischten Vierteln“ mit festgesetzten Vorgärten. In vorgartenlosen Vierteln der inneren Zone existiert diese Vorschrift nicht. Hier wird der Bauwich über die Zufahrt von der Straße geregelt, die vor der neuen Ordnung überbaut werden konnte, was jetzt nicht mehr möglich ist. (Weiland, 1985, S. 361.) Es stellt sich die Frage, wer bei der Zonung von Bauflächen in Ringform profitiert? Nicht, wie eigentlich geplant, nimmt eine breite Mittelschicht die Fläche größtenteils in Anspruch, sondern die Großgrundbesitzer, zu denen die Stadt selbst auch gehört, versuchen, nachdem sie im ersten Ring erfolgreich spekuliert haben, ihren Gewinn von dort in Flächen des zweiten und dritten Rings anzulegen. Allerdings unterliegt das Geschäft mit Grund und Boden den Mechanismen des Marktes, wie die Krisenjahre 1900/1901 durch rückläufige Verkaufszahlen deutlich auswei- sen. Weiland stellt heraus, dass „eine ungleiche Produktion von Stadt“ sich für den Bewohner in un- gleichen „Wohn- und Arbeits-Bedingungen“ ausdrückt und „sich bodenökonomisch im Hinblick auf die Bauproduktion als eine durch die Bauordnung beförderte Ungleichheit von 860 Die Bauordnung von 1884 unter dem Oberbürgermeister v. Miquel setzt die Zahl der Geschosse auf 5 bei einer maximalen Gebäudehöhe von 20 m und einer Mindeststraßenbreite von 16 m fest. Kellerwoh- nungen sind verboten und die überbaute Fläche darf 3/4 des Grundstücks nicht übersteigen. Den fort- schrittlichen Gedanken für diese Vorschrift stellt die Vereinheitlichung der Baubedingungen dar. Eine Folge davon ist die Minderung der Bau- und Wohnverhältnisse. (Schulz-Kleeßen, 1985, S. 334-336.) 861 Vor Inkrafttreten der Zonenbauordnung hat sich in der Außenstadt eine „naturwüchsige Zonung“ etab- liert. In die offene Bebauung mit ein- bis dreistöckigen Häusern werden vielfach Baublöcke gesetzt, „sogenannte Mietskasernen“ in Form von 4- und 5-geschossigen Häusern. Das hat „den Zuzug von prole- tarischen Mietern, Schlafgängern und Aftermietern zur Folge.“ Weiter entstehen „Mietvillen“, nicht in offener, sondern fast in geschlossener Bebauung. (Weiland, 1985, S. 344-346.) 862 Brief vom 10. November 1905 (A Pr. Br. Rep. 30, Berlin C. Tif. 94). 269 Verwertungs-Bedingungen“ erweist. Bei äußerst schwacher Konjunktur kann sich das Boden- und Baukapital dagegen vor Totalzusammenbrüchen, anders als bei Industriebetrieben, bewahren. Die auf Grund der Einkommensverhältnisse differenzierte Gesellschaft ist nicht der Auslöser für die ungleiche Entwicklung der Stadt, sondern der verkaufte und bebaute Boden sowie der Ver- kauf und die Vermietung von Objekten, „bestimmt von rechtlichen, planerischen, konjunkturel- len u.a. Bedingungen“; steuern den Stadtbauprozess (Weiland, 1985, S. 382). 8.7 Kapitalgeschäfte am Bodenmarkt anderer Städte Einseitige Geschäfte, die sich auf einen partiellen Bereich konzentrieren, betreibt der Unterneh- mer Aschrott nur so lange, bis er in dem Marktbereich Fuß gefasst hat. Nach einem gewissen Zeitraum, der aufgrund verschiedener Problematiken und in Abhängigkeit von der jeweiligen Marktsituation nicht festzulegen ist, weitet er seinen Einfluss in dem Sektor aus, der weiter Ge- winn verspricht. Aschrott investiert auch nur in Bereichen, die sich an Grundbedürfnissen von Industrie und menschlichem Leben orientieren. Hier sind bei richtiger Strategie Steigerungsraten zu erwarten. In technischen Industrien wie im Maschinenbau ist ein Engagement Aschrotts nicht zu erwarten. Hier kann er das kaufmännische Risiko nicht abschätzen, zumal er Kaufmann und kein Techniker ist. Er investiert in soliden Wirtschaftsbereichen, Spekulationsrisiko schließt er aus. Die Kasseler Stadterweiterung ist für ihn kein Einzelfall, aber ein besonderer Fall, der mit An- hänglichkeit zur „Mutterstadt“ die Problematik treffend beschreibt. Hier steht auch das unter- nehmerische Interesse im Vordergrund, sonst wäre Aschrott kein erfolgreicher Kaufmann gewe- sen, der den Sprung von der Übernahme des erfolglosen Leinengeschäfts des Vaters zu einem der reichsten Menschen im deutschen Reich vollzogen hat. Seine emotionale Verbundenheit und sein zwanghaftes Bemühen um Anerkennung in der Stadt erklären aufwendige Stadtgestaltung und umfassende Spenden. Seine Aktivitäten an Bodenmärkten anderer Städte konzentrieren sich nicht wie in Kassel dar- auf, ein Viertel für gehobenes Wohnen zu gestalten. In den drei untersuchten Beispielen handelt es sich ausschließlich um Flächen zur Wohnungsbeschaffung. 8.7.1 Aschrotts Aktivitäten am Frankfurter Bodenmarkt Auch in Frankfurt ist Aschrott aktiv auf dem Bodenmarkt tätig. Seine erworbene Grundfläche erstreckt sich nördlich der Mainzer Landstraße, südlich der Güterbahngeleise sowie östlich der Hamburger- und Main-Weser-Bahn. Die Flächen863 liegen in einem Gleisdreieck der Frankfurter Bahn östlich der Galluswarte. Der Flächenumfang beträgt im Vergleich zu dem kasseler Bodenbesitz 8-9%. Schon in einem Vertrag von 1893 räumt der Banquier Aschrott in Berlin den Ehegatten Peter,864 bevor die Straßen hergestellt sind, das Recht ein, zu ihren Grundstücken zu gehen und zu fahren. Im Januar 1898 kommt es seitens Aschrotts zu Einsprüchen gegen den Fluchtlinienplan Nr. 256,865 der sich auf das Gebiet nördlich der Mainzer Landstraße bezieht. Die Pläne für 863 Die Flächen stellen sich wie folgt zusammen: ha a qm Flächeninhalt: 12 16 83 davon Baugelände: 7 90 94 Straßengelände: 4 25 98 Frankfurt a.M. 20. November 1899 (ISG, Stadtvermessungsamt, Sig. 100). 864 ISG s.o. 865 ISGS Magistratsakten T 984. 270 diesen Bereich sind bereits 1886 und 90 unter dem Gesichtspunkt, eine „möglichst gleichmäßige und gleichförmige Aufteilung des Geländes“866 zu erreichen, aufgestellt. Die Frankfurter Kommunalverwaltung versucht bereits 1891 mit der sogenannten Frankfurter Zonenbauordnung, eine Steuerung des Bodenmarktes sowie eine „Weiträumigkeit“ bei der Be- bauung zu erreichen (Weiland, 1985, S. 343). Väter dieser Bauordnung, der Frankfurter Ober- bürgermeister Franz Adickes867 und der Stadtplaner Reinhard Baumeister, knüpfen an die Miquelsche Bauordnung von 1884 an und versuchen mit Abänderungen, Baufehlentwicklungen zu vermeiden. In ihrer Entgegnung zu den Einsprüchen Aschrotts legt der Briefverfasser, Mitarbeiter in der Abteilung der Bauverwaltung des Tiefbau-Amts I, eine stichhaltige Argumentation unter Be- rücksichtigung des aktuellen Planungsstandes dar und gibt damit Aufschluss über die vorherr- schenden Stadtplanungen. Die rasche Bevölkerungszunahme und die notwendige Wohnungserrichtung, so stellt man von Amtswegen fest, bedarf einer konsequenten Planung, um gute Wohnverhältnisse zu erreichen. Man beruft sich hier auf die Erfahrung „hervorragender Sachverständiger“. Weiter ist der an- wachsende Verkehr zu berücksichtigen. Da es sich bei der vorliegenden Fläche um reines Ackerland handelt, ist hier eine Gestaltung einfacher. Die umfangreichen Anlagen des Hauptgü- ter- und Hauptpersonenbahnhofs engen das Gebiet ein. Es wird von der Mainzer Landstraße als einziger Verkehrsverbindung zwischen der Stadt und den westlichen Vororten Richtung Wies- baden durchzogen. Schon zu diesem Zeitpunkt ist die Straße voll ausgelastet und wird durch ein ständig sich erweiterndes Fabrikviertel zunehmend frequentiert, so dass eine andere Verbindung in gleicher Richtung unumgänglich erscheint. Die Einschränkung durch die Bahngleise erfordert eine zweckmäßige Verbindungsstraße von 45 m Breite, die anstelle von freien Plätzen tritt und mit einer Baumpflanzung auf der Mittelachse für Luftaustausch und damit für eine Verbesserung der Wohnbedürfnisse sorgen soll. Die Mit- telachse ersetzt quadratische oder rechteckige Plätze, die nur den direkten Anwohnern nutzen, wohingegen bei der vorgesehenen breiten Straße die Wohnqualität einer Vielzahl von Anwoh- nern berücksichtigt wird. Die diagonal verlaufende 50 m breite neue Straße, gleichfalls durch eine Mittelpromenade mit Bäumen besetzt, unterstützt den Luftaustausch des Viertels. Ohne Verkehrsfunktion stabilisiert sie die klimatischen Bedingungen. Zusätzlich fungiert die Straße als Sichtachse zum Taunus. Ein weiterer Grund für eine solche Planung liegt in der Verteilung der Baublöcke, die differenzierte Wohnansprüche innerhalb der Gesellschaft berücksichtigen. Ein vorliegender Bebauungsplan bewirkt die Abgrenzung einzelner Bezirke, denn die Zonenbauordnung will zwischen Wohn-, Fabrik- und gemischten Vierteln unterscheiden und damit die Baudichte sowie Luft- und Lärmbelastung mitbestimmen. 866 Best. s.o. 867 Adickes tritt das Amt am 11. Januar 1891 an und versucht eine neue Bauordnung unter den Gesichtspunkten der „Weiträumigkeit“ in der Anordnung der Baukörper und der Regulierung des Bodenmarkts mit politischen Mitteln umzusetzen (Weiland, 1985, S. 343). 271 Abb.: 73 Veränderter Fluchtlinienplan868 von 1900. Auf die Einwendungen Aschrotts, der Plan liege neben praktizierten Fluchtlinienplänen und nähme Eingriffe auf das Privateigentum vor, wird geantwortet, dass ein solches Argument keiner städtischen Erklärung bedürfe. Man wolle ihn jedoch darauf hinweisen, dass dieser Erlass baupolizeilicher Verordnung entspräche und allgemein anerkannt werde. Man führt Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts in dieser Sache an. Der betreffende Fluchtlinienplan gleiche allen übrigen und berücksichtige die gesetzlichen Vorgaben. Das Alignement869 für eine Planung ist nach städtischer Meinung nicht von einer Vorschrift abhängig. Auch Planungsänderungen infolge anderer Interpretationen und damit eine Neufas- sung bedürfen nicht eines besonderen Verfahrens oder Antrags. Ebenso sei eine Ausfertigung von Längsprofilen, offensichtlich von Aschrott bemängelt, in einem ebenen Gelände überflüssig. Eine Aufstellung von Parzellen ergäbe sich nach Ausführungsanweisungen und sei gesetzlich nicht vorgeschrieben. Dagegen ließen die Ausführungsbestimmungen Ausnahmen zu und seien bisher immer praktiziert worden. Eine in dieser Breite ausgebaute Straße, widerlegt die Verwaltung, sei hier nicht für einen Bahndammdurchbruch vorgesehen. Die zusätzlich vorgebrachten Argumente zur Verlegung der breiten Straße seien nicht stichhaltig. Die Aufteilung des Gebietes in eine größere Anzahl von Baublöcken liege zudem nicht im öffentlichen Interesse und könne von Opponenten auch nicht gewollt sein. Eine Verlegung der Straße an den Bahndamm würde ihre Funktionalität einschränken. Das Ver- hältnis von Straßen und Bauflächen870 sei günstiger für das Bauland als im vorherigen Plan. Das angrenzende Industrie- und Bahnbetriebsgelände erfordere, „vorzugsweise kleinere Wohnhäuser für Arbeiter und Betriebsbeamte“ zu bauen. Die Aufteilung der Flächen in tiefe Baublöcke hin- gegen begünstige Hof- und Hinterwohnungen, das sei nicht gewollt und widerspreche preis- günstigem und gesundem Bauen. Große Breiten der Grundstücke bewirken eine innere Auftei- lung und belasten die Grundeigentümer mit unverhältnismäßig hohen Anliegerkosten. Die Anlage von Vorgärten erlaube Anpflanzung und rechtfertige Straßenfluchten von 9 m Breite, d.h. für Fahrdamm und zwei Trottoire von 1,5 –2 m auf jeder Seite. 868 Gemarkung Frankfurt /M., Gewann XV, Frankfurt, den 4. Februar 1900 (ISG, Stadtvermessungsamt, Sig. 100). 869 Fluchtlinien. 870 Das Verhältnis von Straßen- zu Baufläche gibt die Behörde mit 30,98 zu 69,02 an (Best. s.o.). 272 Aschrotts Einwände gegen die städtischen Ausführungen bewirken ein Gutachten, das der Vor- sitzende des Bezirksauschusses im Mai 1898 an den Magistrat schickt. Das Gutachten bestärkt die Bekundungen der Stadt Frankfurt. Dagegen wendet sich Aschrott durch seinen Rechtsver- treter, den Justizrat Rieß in Cassel. Dies Vorgehen löst wiederum ein achtseitiges Gutachten871 des Landbaurats Stiehl aus Cassel aus. Wegen Klärungsbedarf wendet der Magistrat sich an den Bezirksausschuss in Wiesbaden mit einer Gegenerklärung872 zu der Beschwerde-Rechtfertigung von Aschrott. Im Februar 1899 kommt es zu einer Erklärung des Magistrats an den Provinzrat in Cassel, der ein Ergänzungsgutachten des Landbaurats Stiehl beifügt. Darin schlägt man vor, noch andere Sachverständige als Gutachter hinzuzuziehen und zwar die „als Autoritäten in allen Fragen des Städtebauens anerkannte[n] Herren Oberbaurath Prof. Baumeister in Karlsruhe und Geh. Baurath Stübben.“873 Die Erwiderungen des Landbaurats werden von dem Magistrat erweitert. Ein Telegramm874 von der Kgl. Regierung in Cassel an den Oberbürgermeister Adickes lehnt jedoch den Fluchtlinien- plan ab. Es folgt ein Beschluss des Provinzialrates in Cassel zu diesem Problem,875 der im Okto- ber 1899876 zu einem Vertrag zwischen der Stadt Frankfurt, vertreten durch OB Adickes, und Sigmund Aschrott unter Assistenz von Justizrat Dr. Geiger führt. Darin wird der Tausch von Grundstücken vereinbart. 35% der Fläche sind unentgeltlich für Straßen und Plätze abzugeben. Der Fluchtlinienplan wird geändert, es steht aber der Stadt zu, bei der Straßenbreite noch Verän- derungen vorzunehmen. Die Straßenbaukosten werden im Konsolidationsgebiet877 von der Konsolidationsgemeinschaft getragen und die Stadt stellt eine Berechnung der Anpflanzung auf. So zeigt der veränderte Fluchtlinienplan (Abb. 73) die Zurücknahme in der Breite bei der Franken Allee. Die beabsichtigten Maße werden an der Schnittfläche mit der Gutenberg Str. deutlich. Die ursprünglich diagonal zu erster verlaufende weitere Allee war noch um 5m breiter. Sie wurde durch die Bildung von Baublöcken und der Anlage von Straßen im Rechtecksraster abgelöst. Frankfurt versucht mit einer neuen Bauordnung, die Mietskasernen in der Außenstadt zu verhin- dern, die Wohnbedingungen besonders der Unterprivilegierten zu erhöhen und für verbesserte Hygiene sowie Wohnqualität in einzelnen Vierteln, zu sorgen. Das soll eine Zonenbauordnung von 1891 bewirken. Diese neue Baupolizeiordnung vertritt am 30.6.1891 in der Stadtverordne- ten-Versammlung Dr. Geiger, indem er erklärt, „dass die Ausnutzung der Bebauung in dem Kreise der Allgemeinheit bereits erhebliche Missstimmung hervorgerufen habe und man einer Bauweise Platz machen müsse, bei welcher Frankfurt den Charakter einer gesunden und schönen Stadt behalte.“ (Schulz-Kleeßen, 1985, S. 338.) In den Verhandlungen zwischen Aschrott und der Stadt Frankfurt tritt der Justizrat Dr. Geiger, von beiden Seiten anerkannt, als Vertragsnotar auf. Aschrott selbst bedient sich Frankfurter An- wälte, die ihn gegenüber der Verwaltung vertreten. Ihre Argumente decken sich mit denen der Grundbesitzer, die diese acht Jahre vorher gegen den Magistrat bezüglich der veränderten Bau- ordnung von 1891 vorgebracht haben. Sie argumentieren, einschneidende Veränderungen bedrohen Grundbesitz und Bautätigkeit mit der Folge schwerer Nachteile. Eine ähnlich gelagerte Begründung wird Aschrott sechs Jahre später in Kassel benutzen, um sich gegen neue Bauvorstellungen durchzusetzen. Er hat also aus früheren Auseinandersetzungen mit der Verwaltung gelernt. Er sucht bei der Interessensverfolgung einen örtlich angesehenen 871 Gutachten vom 19. Juni 1898. 872 Schreiben, Frankfurt, 30. August 1898. 873 Best. s.o. 874 Telegramm: „fluchtlinien nicht genehmigt-schrader“. 875 Cassel, 28. April 1899. 876 Vertrag vom 26. Oktober 1899. 877 Konsolidation – Fortbestand eines dinglichen Rechts an einem Grundstück (z.B. einer Hypothek) auch nach Erwerb durch Rechtsinhaber (Duden – Fremdwörterbuch). 273 Rechtsbeistand auf, was weitaus effektiver ist und eine kürzere Zeitspanne im Gegensatz zu seinen persönlichen Verhandlungen z.B. bei der Umsetzung der Pferdebahn beansprucht. Ein weiteres Ziel dieser neuen Ordnung, die Steuerung des Bodenmarktes zu beeinflussen und für „Zwischenschichten“ Wohnen zu bewirken, wird bei dem Aschrottschen Viertel nicht er- reicht. Er passt die Vorgaben durch den Fluchtlinienplan der Realität des Bodenmarktes an und versucht mit kleineren Baublöcken und mit größerer Anzahl von Häusern die Verwertungsbe- dingungen zu erhöhen und bodenökonomisch unter von der Kommune beeinflussten Bedingun- gen einen für ihn maximalen Gewinn zu erzielen. Diese für Frankfurt zutreffende Analyse des dortigen Aschrottschen Stadtprojekts leitet über zu einem Konflikt bezüglich seiner Kasseler Bautätigkeit. Die städtische Verwaltung in Kassel scheint anzustreben, Frankfurter Vorstellungen zu übertragen. 8.7.2 Tiroler Viertel in Berlin-Pankow Das Hohenzollernviertel in Kassel liegt zwischen der aristokratisch geprägten Friedrich-Wil- helms-Stadt und dem herrschaftlich gestalteten Park mit Herkules und Schloss und weckt so gewisse Erwartungshaltungen. Man fragt sich, ob solche Kriterien bei weiteren Aschrottschen Stadtentwicklungen wiederzufinden sind. Flächenkäufe in Berlin-Pankow könnten diese Vermutungen bestätigen. Unmittelbar nach Nor- den schließt sich der Ortsteil Niederschönhausen an, dessen Schloss878 die Überlegung verstärkt. Als weiteres Indiz könnte ein Kulturzirkel gelten, den ein Bankier879 als Privatmann pflegt. Von den Treffen könnten Impulse ausgehen, die direkt oder indirekt das gesellschaftliche Leben in Pankow mitprägen und möglicherweise Ausdruck in baulichen Formen der Ortserweiterung am Ende des 19. Jahrhunderts finden. 878 1764 erhält das Schloss Schönhausen von Johann Boumann d.Ä. seine heutige Form als Rechtecksbau mit repräsentativem Treppenhaus. Später nutzen Familienmitglieder der Hohenzollern das Schloss als Sommeraufenthalt. 1960 wird es als Sitz des neugegründeten Staatsrats der DDR verwendet und später als Gästehaus der DDR-Regierung. (Panke Museum, Museumsblätter, 3/95, o.S.) 879 Es handelt sich hier um den Bankier Christian Wilhelm Boose (1781-1870), der mit privaten gesellschaftlichen Veranstaltungen, an denen Berliner Künstler, Theologen und Wissenschaftler wie Christian Daniel Rauch, August Kiss, Karl Friedrich Schinkel, Franz Krüger und Ludwig Tieck teilnehmen, kulturelle Impulse gibt (Panke Museum, 3/95, o.S.). 274 Abb.: 74 Stadtteil Berlin-Pankow mit Schloss im Norden und dem Tiroler Viertel im Süden 275 Unter geomorphologischem Aspekt weisen Pankow und Niederschönhausen eine tischplatten- ähnliche Oberfläche auf, und es erscheint fraglich, ob sich das den Kasseler Stadtteil mitbestim- mende Hoheitszeichen in dem Aschrottschen Teil des Berliner Vororts wiederfindet. Die Ver- mutung lässt sich bei einer Ortsbesichtigung nicht halten. Das Schloss in seiner letzten Fas- sung880 als Rechtecksbau konzipiert, weist weder Dachreiter oder Kuppel noch Turm auf und ist nur aus der Nähe sichtbar. Es kann keinen Einfluss auf die Kaufentscheidung Aschrotts ausgeübt haben. Abb.: 75 Parzellierung der Grundstücke im Liegenschaftskataster Aus dem Liegenschaftskataster für den Bezirk Pankow881 geht hervor, dass ein Direktor, Belle- vuestr. 12 a in Berlin, 1900 einen Teil Ackerflächen erwirbt, die um 1904 in die Deutsche Bo- dengesellschaft m.b.H.882 Matthäikirchstr. 7 übergehen, und dass diese den Flächenkauf in den 880 Der vom Villencharakter geprägte Teil Niederschönhausens und Pankows schließt sich unmittelbar an den Schlosspark an und bestimmt Teile der “Breite[n] Straße“ sowie daran anschließende Häuserblocks. Niederschönhausen kann als ein Villenvorort Berlins beschrieben werden, der Ende des 19. Jahrhunderts, in der Gründerzeit, seinen ländlichen Charakter und Charme verliert (Panke Museum, 3/95, o.S.). 881 Das Liegenschaftskataster für den Liegenschaftsbezirk Pankow beim Bezirksamt Pankow zu Berlin, Abteilung Stadtentwicklung, Vermessungsamt führt aus dem Liegenschaftsbereich die Liegenschafts- blätter Nr. 97; Nr. 1283; Nr. 1284; Nr. 1292 und Nr. 1813 an. Flächenankäufe scheinen 1876 durch Aschrott zu beginnen, diese setzen sich 1895/96 fort und enden 1915 dem Todesjahr Aschrotts. Die Deutsche Bodengesellschaft existiert auch nach dessen Tod weiter und kauft vor allem in den 30er Jahren weitere Flächen hinzu. 882 Deutsche Bodengesellschaft m.b.H. (1905) wird im Handelsregister Nr. 1317 unter dem Zeichen 13 K 276 nächsten Jahren erheblich erhöht. Als Verkäufer werden Friedrich Wilhelm Motte, Gutsbesitzer in Berlin, und Wilhelm Werkmeister, ebenfalls Berlin, angeführt. Im Vergleich zu der Kasseler Flur beträgt die Berliner rund 60 ha,883 das sind 43% des Hohenzollernviertels.884 Die Bodengesellschaft besteht nach dem Tod Aschrotts fort. Für Aschrott gewinnt der Vorort Berlins an Bedeutung, denn schon 1878 erfolgt die verkehrstechni- sche Anbindung an das Zentrum über die Nordbahn. Weiter erhält der Ort Gas- und Wasserver- sorgung sowie Kanalisation und eine Straßenbahn, die 1900 elektrifiziert wird.885 Abb.: 76 Liegenschaftskataster nach aktuellem Stand Diese Voraussetzungen ermöglichen den Bau von Mietshäusern für Beschäftigte in Dienstleis- tungen und Industrieanlagen, denn die neue Verkehrsinfrastruktur erhöht die Mobilität der Be- wohner. Wie in Frankfurt versucht Aschrott am prosperierenden Wohnungsmarkt zu partizipie- ren. Die geschlossene Blockrandbebauung des Viertels mit weitgehend 4- und 5-geschossigen Wohnblocks scheint in den 20er und 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts errichtet zu sein. Die Anlage der Baukörper erfolgt soweit möglich in Rechtecksblöcken, um eine optimale Flächen- ausnutzung zu erzielen. Der östliche Block zwischen Tiroler- und Brennerstr., überdeckt mehr als 50 % der Grundstücksfläche. Gleiches gilt für Bauten zwischen Maximilian- und Ziller-Str.. Die quergestellten Mietsblöcke zwischen Zillertal- und Tiroler Str. stammen aus DDR Zeiten. Eine Analyse der verschiedenen Bauepochen wird in der Arbeit nicht berücksichtigt. Die Ge- bäude in Berlin-Pankow sind jedoch mit den Mietshäusern in Luisenstadt nicht zu vergleichen, bei denen meist Hinterhausbebauung vorliegt. Zur Zeit des Bodenerwerbs um 1900 beträgt die 0970 geführt. Im gedruckten Handelsregister Berlin wird 1918 unter Nr. HRB 2038 Deutsche Bodengesellschaft m.b.H. mit Geschäftsführer: Gustav Frischauf, Matthäikirchstr. 7 genannt. (A Pr. Br.- Landerarchiv Berlin.) 883 Info : Dr. Kleinlein, Berlin, der vermögensrechtliche Ansprüche der Aschrotterben vertritt (Gespräch des Verf. mit Dr. Kleinlein 2003). 884 In dieser Zahl sind auch kleine Flächen in Moabit, Wilmersdorf, Neuköln und Charlottenburg enthalten. 885 Panke Museum, Museumsblätter 3/95, o.S. 277 Einwohnerzahl in Pankow 21459; sie steigt bis zum Tod Aschrotts 1915 auf 57087 an. Die um mehr als das Doppelte angewachsene Wohnbevölkerung ist ein Beleg für die Ausweitung des Ortes und das Bedürfnis nach weiterem Wohnraum. Als Aschrott Flächen in dem später als Tiroler Viertel bezeichneten Ortsteil erwirbt, werden diese durch die Mühlenstr. mit gründerzeitlicher Bebauung im Norden und durch die Nordbahn im Nordwesten begrenzt. Weitere Straßen legt man erst nach Aschrotts Erwerb an. Der Straßen- bau beginnt 1911 mit der Brenner-, wird 1912 durch die Zillertal- und Tiroler-Str. , die aus- schließlich auf dem Gelände der Deutschen Bodengesellschaft liegen, erweitert. Die Fertigstel- lung der Brixener Str. vollzieht sich 1919 (Jacobi, 1936, S. 119-401). Der Erwerb von Flächen in Berlin-Pankow erfüllt für Aschrott nur die Aufgabe, am Berliner Bodenmarkt Fuß zu fassen und sein Kapital gewinnbringend anzulegen. 8.7.3 Union Bodengesellschaft in Chemnitz Landwirtschaftlich als Acker oder Wiese genutzte Flächen in Chemnitz-Gablenz, Chemnitz- Altendorf und Chemnitz-Reichenhain886 kauft Aschrott mit der Union Bodengesellschaft m.b.H. Lediglich bei der Liegenschaft in Ch.-Altendorf handelt es sich um ein 2 Familienhaus887 nebst 2ha 89,9a landwirtschaftlicher Nutzfläche.888 Diese Objekte bezeichnet 1945 das Grundstücks- amt der Stadt Chemnitz in Zusammenhang mit den Ausführungsbestimmungen zur Bodenreform im Bundesland Sachsen als Ländereien der Bodenspekulationsgesellschaft. 886 Stadta Ch., Best. Rat der Stadt Chemnitz, Karl-Marx-Stadt 1945-60; Sig. 8966. 887 Der Nachtragsliquidator für die Union Bodengesellschaft spricht in einem Schreiben zur Anmeldung vermögensrechtlicher Ansprüche nach Verordnung vom 11. Juli 1990 an den Magistrat der Stadt Berlin von einem Gebäude, landwirtschaftlichem Hofraum und Garten im Gutsweg 6 mit einer Fläche aus Feld, Wiese und Teich von 4 ha 89,9 a (Nachtragsliquidator, Dr. Kleinlein, Berlin 2003). 888 Stadta Ch., Best. s.o. 278 Abb.: 77 Lage des Stadtviertels Chemnitz-Gablenz in Bezug zum Stadtzentrum im Westen Die Testamentsvollstrecker des Geheimen Kommerzienrats Aschrott schreiben an die Kreisbo- denkommission über den „Aschrottschen Nachlass“, dass ausschließlich ausländische Staatsan- gehörige, darunter britische Persönlichkeiten, Inhaber der Geschäftsanteile der Union Bodenge- sellschaft seien. Die Gesamtfläche belaufe sich auf 677000 qm (67ha 70a)889. Die Bodengesellschaft890 wird im Handelsregister Berlin891 1909, also nach der Deutschen Bodengesellschaft, vermerkt. Gustav Frischauf, Matthäikirchstr. 7, Berlin, wird gleichfalls als Geschäftsführer angegeben. Beide Gesellschaften leitet eine Person. Aschrott führt in verschie- denen Städten eigene Gesellschaften, um das wirtschaftliche Risiko des Gesamtunternehmens zu vermindern. Da es sich bei den Nachfahren, den Inhabern der Geschäftsanteile, um ausländische Bürger handelt, ist anzunehmen, dass Aschrott als Alleingesellschafter die Deutsche und Union Bodengesellschafter vertritt. Aussagen zum Stammkapital der Gesellschaften892 werden nicht aufgeführt. 889 Bei Addition der Grundbuchauszüge, Fußnote (887), beläuft sich die Fläche auf 86 ha 49 a. 890 Als Gesellschaft im Rechtssinn betrachtet Rothschild einen Zusammenschluss mehrerer Personen zur Förderung gemeinsamer Absichten (Rothschild, 1920, S. 477). 891 Handelsregister Berlin HRA 7115 (A Pr. Br. – Landesarchiv Berlin). 892 Als Vergleich kann die 1910 gegründete „Union Grundstücksgesellschaft mit beschränkter Haftung“ dienen, die ihren Sitz in Chemnitz hat. Das Stammkapital beträgt 130000 M., das im gleichen Jahr auf 180000 M. erhöht wird. Als Geschäftsführer bestellt die Gesellschaft die Kaufleute Ferdinand Reich und Paul Schliffer, beide aus Chemnitz. Das Stammkapital verteilt sich auf vier Gesellschafter Kaufmann Sali Kaufmann, Frankfurt/M. mit 25000 M., Kaufmann Leopeld Kaufmann, Frankfurt/M. mit 25000 M., Kaufmann Alexander Cohn, Frankfurt/M. mit 50000 M.. Er ist Mitinhaber der offenen Handelsgesellschaft Firma Cohn und Kreh, Baugeschäft Frankfurt, Direktoren Ernst Lübbe und Richard 279 Die Anmerkung zur „Union Grundstücksgesellschaft“ unterstreicht, dass auch der Chemnitzer Bodenmarkt von verschiedenen Gesellschaften in Anspruch genommen wird, die ihr Kapital in der Fläche des Reiches anlegen, um möglichst umfassend mit Käufen zu operieren. Der Testamentsvollstrecker der Union Boden weist das Grundstücksamt daraufhin, in der Ver- gangenheit bei öffentlichen Interessen wie der Umsetzung von Kleingartenplänen bereitwillig im Wege gütlicher Einigung Entgegenkommen gezeigt zu haben. Das zeugt von geringem Interesse bei der Nutzung freier Flächen zu Bauland und erleichtert dadurch die Kooperation der Verhandlungspartner. Bei der Bewertung der Bodenrente stellen die Flächen in Ch.-Gablenz städtischen Durchschnittswert dar. Gablenz wird 1900 in Chemnitz eingemeindet und bietet sich für die Stadtentwicklung als Wohnquartier an. Die in der Stadt vorhandenen großen Betriebe erzeugen Werkzeugmaschinen- und Metallwaren. Im Präzisionsmaschinenbau sind rund 1000 Menschen beschäftigt. Weingardt deutet die Ansiedlung von Soldaten in Ch.-Gablenz mit dem Interesse der Stadt, durch militärische Präsenz eventuell vorhandenes Konfliktpotential bei der Bevölkerung zu un- terdrücken. So habe die Stadt 1900 dem Staat ein Areal geschenkt, um darauf Kasernen für das Infanterieregiment Nr. 181 zu bauen. Weiter seien dort das Ulanenregiment Nr. 21 und eine Ma- schinengewehrkompanie untergebracht (Viertel, 2002, S. 68). Das Stadtviertel für gehobenes Wohnen befindet sich auf dem Kaßberg. In der Gründerzeit ent- stehen hier eine Vielzahl herrschaftlicher Häuser mit reich dekorierten Fassaden. Zur Zeit, also nach 1909, als Aschrott am Chemnitzer Bodenmarkt investiert, sind die Flächen für gehobenes Wohnen bereits vergeben. Aschrott sucht auch in Chemnitz wie in Berlin-Pankow und in Frank- furt Flächen, auf denen Wohnungen für eine breite Bevölkerungsschicht errichtet werden kön- nen. Mit seinen Käufen beabsichtigt er die Bodenrente zu steigern und den erzielten Gewinn abzuschöpfen. Unter solchen Vorzeichen der Gewinnmaximierung am Kapitalmarkt kann die Suche nach Herrschaftssymbolen wie im Kasseler Hohenzollernviertel nur erfolglos verlaufen. Das Wohnen dient lediglich der Regeneration der Arbeitskraft. Inszenierung der Bevölkerungs- schicht im Straßenraum und auf anderen Stadtteilplätzen wird nicht vorgesehen. 8.8 Zusammenspiel von kaufmännischem Geschick und städtebaulicher Vision Mit umfassender Bodenakkumulation im Westen Kassels und dem daraus zwangsläufig er- folgenden Aufbau des Hohenzollernviertels sowie Bodenkäufen in Frankfurt, Berlin-Pankow und Chemnitz, vermutlich existieren auch Bodenkäufe in anderen Städten, arbeitet Aschrott auf dem sich entwickelnden kapitalistischen Bodenmarkt. Mit seiner kaufmännischen Begabung, die er bereits als Verleger unter Beweis stellt, gelingt es ihm früh, sich Grundstücke durch eigene Verhandlungen oder wie im Leinengeschäft durch Informationen über die Marktlage zu sichern. Über den Marktwert unbebauter Flächen ist er gut unterrichtet. Sicherlich sind ihm durch seine vielfachen Kontakte bei Waren- und Geldgeschäften besondere Einzelheiten über mögliche Gewinne am Berliner Bodenmarkt893 außerhalb der Zollmauern bekannt. Gleiches kann für das Bilden von Flächenkonzentrationen durch Gesellschaften oder Bankiers in den Außenbezirken Frankfurts angenommen werden. Die als Verleger gewonnenen Einsichten über marktmechanistische Abläufe sowie seinen aus dem Mehrwert resultierenden Gewinn setzt Aschrott für den Erwerb des jetzt als Ware gehan- Buchtler, Chemnitz mit 30000 M., als gesetzlicher Vertreter der Aktiengesellschaft Chemnitzer Bankverein. (Stadta. Ch., HRB 253, Nr. 6296, Handelsregister, Registerakten des Königl. Amtsgerichts Chemnitz.) 893 Die Unverletzlichkeit des Eigentums wird durch die Preußische Verfassung vom 5. Dezember 1848 garantiert. Die Grundstückseigentümer gehen gegen Einschränkungen durch die Kommune vor. Im Be- bauungsplan sehen sie einen Angriff auf ihre Grundfreiheit. Die Spekulanten und auch der Staat sehen es als privatwirtschaftliches Recht an, mit Boden zu spekulieren. (Lubowitzki, 1990, S. 126.) 280 delten Bodens ein. Dabei versucht der Bodenspekulant, um in der Sprache der Zeit zu bleiben, durch eigenfinanzierte Infrastrukturmaßnahmen, die sich bei anderen Gesellschaften meist auf den reinen Straßenbau beschränken, die Bodenrente zu steigern, um so das ins Stocken geratene Grundstücksgeschäft zu beleben. Die gleichfalls Konjunkturzyklen unterworfenen Bodenkäufe treiben viele Spekulanten in den Konkurs, da der Markt mit Bauaktivitäten und Investitionen reagiert, wenn die Wirtschaft sich in einer Hochphase befindet. Beim schnellen Abschwingen der Konjunktur oder gar bei Zusam- menbrüchen verfügt der Investor zwar über große Landflächen, für Erschließungsarbeiten fehlt ihm dann meist das Geld. Denn wirtschaftliche Depression oder deren Beginn bedeutet für den Bodeninteressenten Zurückhaltung zu üben. Aschrott investiert sein Kapital nicht in Einzelprojekte. Gerade die Kasseler Stadterweiterung, gekennzeichnet von vielen Störungen894, hätte möglicherweise schon in der Phase bis zur Quer- allee sein Kapitalvolumen erschöpft, doch durch die Vielgestaltigkeit seiner Kapitalanlage ge- lingt es ihm, begonnene Maßnahmen fortzusetzen. Seine emotionale Gebundenheit an Cassel trägt dazu bei, den ständigen Auseinandersetzungen mit administrativen oder kontrollierenden Behörden, wo die Führungspositionen im langen Zeitraum des Entstehungsprozesses häufig wechseln, an seiner Vorstellung festzuhalten. Dazu bergen die Anzahl der Kleinspekulanten, mehrfach geänderte Bauordnungen sowie die überdimensionierte Stadtteilfläche ein Potential an Unwägbarkeiten in Bezug auf Vollendung. Die Problemvielfalt lässt sicher oft die Frage entste- hen, ob ein Weiterbetreiben des Bauvorhabens sinnvoll erscheint. Doch Aschrotts Vision, sein fertiges Bild von einem Stadtviertel für gehobenes Wohnen und seine ungebrochene Überzeu- gung bestärken ihn, sein Projekt zu vollenden. Nach dem Verbot von Militärlieferungen Ende 1870, das mit Einbehalt der Vertragssumme für gelieferte Waren verbunden ist, die sich anschließenden gerichtlichen Auseinandersetzungen und die folgende Gründerkrise haben ihn nur deshalb nicht scheitern lassen, weil er sich nicht ausschließlich auf den Gewinn durch den Ausbau der Hohenzollernstr. fixiert hat. Denn während sich Aschrott mit Bodenkäufen beschäftigt, betreibt er den Leinenhandel weiter und bemüht sich um andere Geldanlagen. Vorwiegend investiert er in Wirtschaftssegmente, von denen Industrie und allgemeiner Verbrauch abhängig sind, das sind z. B. Kohlebergbau895 und Wasserversorgung. Die breit angelegte Kapitalstreuung erlaubt es, bei Absatzproblemen im Grundstücksverkauf oder durch Leerstand896 vieler Wohnungen den Stadterweiterungsprozess durch Gewinne in anderen Wirtschaftsbereichen zu kompensieren. Vor der Zeit des kapitalistischen Bodenmarktes wird die Bodenaufteilung im Stadtbau jeweils von veränderten gesellschaftlichen Ansprüchen beeinflusst. Eine von kapitalistischen Direktiven gelenkte Gesellschaft bewertet die Bodenfrage jetzt nach „kapitalistischen Produktions-, Eigen- tums- und Rechtsverhältnissen“. (Rodriguez-Lores, 1985, S. 105.) Die ehemalige Regelmäßig- keit der Besitzteilung kehrt sich in der neuen Epoche897 des 19. Jahrhunderts um. Eine Vielzahl neuer Besitzer, die durch ihre Verfügungsrechte über den Boden Formen des sozialen, kulturel- len und politischen Lebens mitbestimmen, bewirken es. Die Verfügungsgewalt über den Boden 894 Fertiggestellte Häuser sind wegen der hohen Mieten nicht belegt. In Zeitungen und an Fenstern leerstehender Wohnungen wird um Mieter geworben. (Knobling, 1986, S. 65.) 895 Kohlebergwerk - Germania - scheint eine Kapitalanlage Aschrotts zu sein. Der Name des Bergwerks ist auf einer Karikatur zur Person zu lesen (Karikatur, Stadtmuseum Treppenaufgang). 896 Im Handbuch der deutschen Aktiengesellschaften 1901-02 wird zu Charlottenburger Wasserwerken in Berlin vermerkt. Kapitalumfang: 12000000 M. Aufsichtsrat: (3-9) Vors. Bankier Herm. Frenkel, Bankier M. Frenkel, Bankier J. Goldschmidt, Komm-Rat Siegm. Aschrott, Bankier A. Schwabacher; Ing. C. Mennicke, Major a.D. H. Rothenberger Berlin. Zahlstelle für Dividenden Berlin: Berliner Bank-Institut Joseph Goldschmidt & Co., S. Frenkel (A Pr. Br. – Landesarchiv Berlin). 897 “Die Stadtbaukunst des 19. Jahrhunderts wird von verschiedenen Faktoren beeinträchtigt: Die Grund- stücksspekulation, die intensive Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und des Bodens werden zu einem Markt, der sich auf Ausarbeitung von Verkehrsnetzen beschränkt, [das bedeutet] (auf) die Realisierung starrer Baublöcke“ (Delfante, 1999, S. 159). 281 wird durch rationales Denken gesteuert, das die Ökonomie des Bodens bestimmt. In diesem Prozess treten die Bodeneigentümer in stetige Konkurrenz zueinander. Der städtische Boden wird durch seine veränderte Eigenschaft als Kapitalbesitz einem Verkaufsgeschäft unterworfen, bei dem der Käufer das Bauland als Voraussetzung für die Bildung einer Grundrente ansieht und damit weist er jedem Gebäude mit dem dazugehörigen Grund einen Wert auf dem Kapital- markt898 zu. Mit diesem Kapital in Gebäudeform erzielt der Investor durch Vermietung oder Verkauf einen Mehrwert, der jedoch an die jeweilige Wirtschaftslage gebunden ist. Die Ursache des veränderten Bodenmarktes liegt in der Trennung von Arbeiten und Wohnen. Das Entstehen zentraler Betriebe mit einer Vielzahl verschiedener Beschäftigter zieht eine ar- beitslose Landbevölkerung an, die durch Wohnungsnachfrage eine städtische Erweiterung her- vorruft. Der Einsatz von Großkapital in Wirtschafts- oder Verkehrsunternehmen lässt den Auf- bau der Betriebe erst zu. Mit gleichem Investitionsvolumen muss auch im Wohnungsbau vorge- gangen werden, um das existierende Wohnungsproblem zu lösen. Dies entspricht nicht Aschrotts Zielsetzung. Er möchte schichtenspezifisch mit Wohnungsverdichtung im großstädtischen Raum neuen Lebensraum entstehen lassen. Neben den Stadterweiterungsprojekten durch private Unternehmer tritt der Genossenschaftsge- danke,899 bei dem Solidarpartner das Verelendungsschicksal wenden und den fehlenden Wohn- raum beschaffen sollen. Das äußert sich z. B. im Aufkommen von Arbeiterbauvereinen und Beamten-Baugenossenschaften. Oder Unternehmer schieben, um der „Sozialen Frage“ in Betrieben zu begegnen, eigene Projekte an (z.B. Ausbau der „Margarethenhöhe“). Unternehmer wie Henschel bauen Werkshäuser, (Beispiel in der Ysenburgstr.) und vermieten diese an Beschäftigte. Das geschieht jedoch nicht nur, um soziale Probleme zu beseitigen. Seinen finanziellen Einsatz lässt er über Mieten finanzieren und versucht gleichfalls betriebsbedingte Spannungen abzubauen. Bei Differenzierung eines Stadtbaukomplexes nach verschiedenen städtebaulichen Entstehungs- epochen zeigt sich, dass diese geistes- und wirtschaftshistorischen Einflüssen unterworfen und von jeweils vorherrschenden Ausdrucks- und Gestaltungsformen geprägt sind. Impulse durch die Stadtbaukunst der Renaissance beispielsweise führen zu Veränderungen in dem sich stetig fortsetzenden mittelalterlichen Städtebau und geben dem kulturellen und sozialem Leben andere Bahnen. Die Einflüsse zeigen sich ebenfalls in künstlerischer Gestaltung. Parallel dazu ist ein Wechsel im politischen Handeln zu erkennen, indem die politisch Verantwortlichen versuchen, die von Feudalherren und Klerus abhängigen Städte in „freie“ Städte zu verwandeln. Die Neue- rungen orientieren sich an einer humanistischen Ideologie. (Delfante, 1999, S. 90.) Die Auflösung der Verfügungsgewalt über den Boden, wie in absolutistischer Epoche prakti- ziert, verändert auch eine urbane Komposition als Gesamtkunstwerk. Ein rational gesteuerter Aufbau bedient sich normativer und starrer Raster,900 um eine Anordnung der Baublöcke festzulegen und die Gleichbehandlung der Bewohner zu garantieren. 898 Der “Schutzverband für deutschen Grundbesitz”, ein Zusammenschluss von Grundbesitzern, erklärt als Antwort auf die Forderungen der Bodenreformer, der finanzielle Gewinn der Terraingesellschaften sei im Durchschnitt niedriger als bei Industrieunternehmen und betrage bei einer Gesamtübersicht für ganz Deutschland 4%; dies wird auf einem Kongress für Städtebau 1912 angeführt. Der Wert ist schwer nachzuprüfen, die Aussage trifft sowohl für die fetten Gründerjahre wie auch die mageren während einer Depressionsphase zu (Baumeister, 1918, S. 15/16). 899 Der Genossenschaftsgedanke stammt aus England und wird von dem Berliner Prof. Huber aufgegrif- fen. Dabei sollen Wohlhabende an Mitverantwortung gegenüber schwachen Gesellschaftsmitgliedern erinnert werden. Ihre Hilfe und die Selbsthilfe der Bedürftigen sollen zu einer Lösung führen. (Lubowitzki, 1990, S. 28.) 900 Sitte ist der Meinung, dass ein pompös und malerisch wirkendes Stadtbild, welches zur Repräsentanz und Verherrlichung des Gemeinwesens dienen soll, durch mit dem Lineal gezogene schnurgerade Straßenfluchten nicht zu erzeugen ist (Sitte, 1909, S. 123). 282 Nach Einschätzung Sittes beeinflussen funktionale Strategien den Stadtbauprozess. Durch die Kopie von Fluchtlinienplänen bringt man uniforme901 Stadtviertel hervor, bei denen Eigenheiten Mangelware sind. Die Quartiere gleichen damit der Systematik in der Industriegesellschaft. Durch veränderte Zuständigkeiten im Gemeinwesen fällt dem Polizeidirektor die Aufgabe zur Erstellung von Fluchtlinienplänen zu, deren Ausführungen von seiner Behörde überwacht wer- den. Dies Vorgehen soll ein Ausufern beim Bauen verhindern. Der dabei entstehende geradlinige Plan ersetzt die Ideen des „Stadtbaukünstlers“. Versucht man den Städtebau des 19. Jahrhunderts unter verschiedenen Hauptaspekten zusam- menzufassen, zeigt sich: - Stadtplanung analysiert die Strukturmängel des Bauens als Folge ungeordneten und aus- ufernden Wachstums. Dies resultiert zwangsläufig aus extensiver Wohnungsnot unterer Sozialschichten. Parallel verlaufende Prozesse, geprägt von unhygienischen Wohnbe- dingungen und sozialen Fehlentwicklungen, wirken auf die Bauentwicklung ein. Minde- rung des Wohnungsmangels wird durch Erhöhung der Wohnungsanzahl als augenblick- liche Kleinlösung praktiziert. Einer umfassenden Reform durch Änderung des Stadtpla- nungskonzepts geht man nicht einmal ansatzweise nach. - Durch Zonung oder Staffelbauordnung als Bauvorschrift wird versucht, die bestehenden Probleme zu beseitigen. Zielrichtung heißt: Verhinderung des Mietskasernenbaus. Der Markt passt sich den Vorschriften an und stellt Mietshäuser in verminderter Geschoss- zahl, aber in größerer Anzahl her. - In der Stadtgestaltung verwirklicht der Planer Ideale aus der Geschichte. Er benutzt diese häufig als Stilmittel.902 Durch ständige Wiederholung entsteht der Eindruck der Mo- notonie im Städtebau. Dem möchten Kritiker durch Gestaltung von Plätzen unter künstlerischen Gesichtspunkten903 begegnen. (Fehl, in: Breuer, 1983, S. 525-527.) 8.9 Zusammenfassung zum Komplex `Stadterweiterungen` - Das Entstehen von zentralen Industriebetrieben in Städten oder der Peripherie zieht die arbeitslose Landbevölkerung als Arbeitskräfte an. - Das Arbeitsangebot an zentralen Punkten führt dort zu einer Trennung von Wohnen und Arbeiten. - Die zwangsläufig aus dem veränderten Arbeitsangebot resultierende Wohnungsnot nut- zen Boden- und Baugesellschaften. Daraus entwickelt sich ein Grundstücks- und Woh- nungsmarkt. - Die Monopolbildung an Boden von Personen und Gesellschaften läßt den feudalen 901 „Die Vermassung des Menschen im 19. Jht. bestimmt den öffentlichen Geschmack, der dem Durch- schnitt aller entsprach, was zwangsläufig zu einem fragwürdigen Niveau führen musste. Allen verständ- lich war das, was seit langem bekannt und öffentlich anerkannt war, also das historische“ (Scharabi, 1993, S. 158). 902 “Die hohen Preise der Bauplätze veranlassen ferner noch deren möglichste Ausnützung, weshalb neuerdings eine Menge wirkungsvoller Motive in Wegfall kommen und die Verbauung jeder Parzelle immer wieder dem Typus des modernen Bauwürfels entgegenstrebt. Risalite, Vorhöfe, Freitreppen, Laubengänge, Ecktürme etc. sind für uns ein unerschwinglicher Luxus geworden, sogar bei öffentlichen Bauwerken, und höchstens weiter oben bei den Balkonen, Erkern oder am Dach darf der moderne Architekt seinen Pegasus loslassen, aber beileibe nicht unten an der Straße, wo allein die `Bauflucht` maßgebend bleibt.“ (Sitte, 1909, S. 118/119.) 903 Sitte als Kind seiner Zeit sollte nicht als Vertreter für Stadtbaukunst stehen. ...,“für einen Städtebau, der sich an Gebrauchswert von Wohnung und Stadt ausrichtet, der die Gegenwart im Auge hat und die Autorität ablehnt, weil die Stadtbewohner an den Konflikten um die Lösung dieser Probleme mitzubeteiligen sind, für einen solchen Städtebau bietet Sitte so wenig wie zu seiner eigenen Zeit eine Anregung“ (Fehl, 1980, S. 217). 283 Grundbesitz in eine veränderte Form von Grundeigentum übergehen und erzeugt unter dem Aspekt kapitalistischer Produktionsweise eine Bodenrente. - Die von städtischem Wachstum abhängigen Bodenpreise versuchen Bodenspekulanten zu beeinflussen. - Die Steigerung der Grundrente hängt von der ökonomischen Entwicklung ab. - Aschrott kauft in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts Bodenflächen im Westen Kassels und den umliegenden Gemeinden. - Vertraglich sichert Aschrott 1869 mit der Stadt Cassel und der Gemeinde Wehlheiden die bauliche Erschließung der westlich der Stadt liegenden Flur zu. Dort beabsichtigt er ein Quartier für gehobenes Wohnen zu errichten. - Die kommunale Verwaltung vermag weder städtische Entwicklungsprozesse zu initiieren noch zu steuern. - Der Unternehmer Aschrott wickelt organisatorische, finanzielle und bauliche Maßnah- men in einem bestimmten Zeitabschnitt weitgehend selbst ab. - Mit Straßenachsen wie: Hohenzollern- und Kaiserstraße und den damit zusammenhängenden Seitenstraßen wird das Erweiterungsgebiet erschlossen. - Kasseler Kleinspekulanten behindern die städtebauliche Entwicklung. - Straßenbau und Kanalisationsarbeiten unterstehen in den ersten zwei Dekaden der Ausführung durch Aschrott. - Um den Wohnungsmarkt zu beleben und die Bodenrente zu erhalten, schafft Aschrott In- frastrukturmaßnahmen wie Infanteriekaserne, Pferdebahn und englische Kirche. Er versucht auch einen Durchgangsbahnhof umzusetzen. - Mit gesetzlichen Regelungen beabsichtigen Reichs- und Provinzregierung sowie städti- sche Gremien den Städtebau zu kontrollieren. - Das Preußische Fluchtliniengesetz von 1875 zeigt mit der Enteignung von Grundstücken einen entscheidenden Ansatz zur Regulierung von Straßen- und Baufluchtlinien. - Die Frankfurter Zonenbauordnung 1891 kämpft darum, den Mietskasernenbau zurückzudrängen und erzeugt eine geringere Regulierung der Wohnungsakkumulation. Sie sichert Viertel für gehobenes Wohnen. - Mit mehrfacher Veränderung der Bauordnung versucht die städtische Verwaltung den Bauprozess im Westen Kassels zu beeinflussen, was auch zu Teilerfolgen aus ihrer Sicht führt. - Die Bauordnungsänderung 1906 beabsichtigt, die Entwicklung des Hohenzollernviertels unter sozialpolitisch motiviertem Ansatz grundlegend zu modifizieren. - Als Stadtplaner des Quartiers kann Aschrott angenommen werden, da er alle entscheiden- den Impulse gibt. - Das Kasseler Hohenzollernviertel müsste aus heutiger Sicht den Namen Aschrottviertel tragen. Es hebt sich aus dem gegenwärtigen Kassel als ein großstädtisches Quartier mit besonderem Charme heraus. - Die Stadtquartierentwicklungen in Frankfurt, Berlin-Pankow und Chemnitz zeigen das Engagement Aschrotts am kapitalistischen Wohnungsmarkt. 284 9 Militärlieferungen Das Kriegsministerium beurteilt die Handelsinteressen von Aschrott in einem Schreiben an den Ober Präsidenten v. Moeller vom 25. Juni 1877 eindeutig. Über ihn heißt es, dass er „zu derjeni- gen Klasse von Lieferanten zu zählen ist, welche unausgesetzt dahin streben, die Lieferungen in gewinnsüchtiger Weise für sich auszubeuten und die in der Wahl der Mittel, um zu ihrem Zweck zu gelangen, ohne Bedenken sind.“904 Es gilt zu untersuchen, ob die Aussagen des Beamten zutreffen und ob sich bei dem Vertragsab- schluss zwischen den Parteien ein solches Handeln einstellen kann. Weiter ist zu eruieren, in welchen gesellschaftlichen Kontext die Äußerungen aus dem Kriegs-Ministerium einzuordnen sind. 9.1 Militärlieferungen stabilisieren das Verlagsgeschäft Die Marktstrategie des Verlegers Aschrott orientiert sich an den Möglichkeiten des Marktes mit seinen veränderten Bedürfnissen, um mit der Erzeugung neuer Produkte, angepasst an eine sich entwickelnde Industrie, geeignete Abnehmer zu finden. Die zunehmende Differenzierung von Produkten eröffnet auch für handgefertigte Waren Möglichkeiten des Einsatzes. Dies gilt für die Verwendung kleiner Stückzahlen, da die Umrüstung großer mechanischer Webstühle zu ar- beitsaufwendig und damit unrentabel scheint. Neben der Spezialisierung seines Warenangebots bemüht sich Aschrott, in neuen Marktsektoren seine Produkte zu offerieren. Montierungsaufträge bedeuten für seinen Verlag, in einen Zyklus eingereiht zu sein, in dem jährlich mit abschätzbaren Kontingenten zu rechnen ist. 9.1.1 Im Verzeichnis des „Militair-Oekonomie-Departments“905 Selig Feist Goldschmidt, der Großvater Sigmunds, bezeichnet sich als „Hof-Bankier und Finanzrath“ und setzt damit die Tradition des Familiennamens als Hoffaktor indirekt fort. Der Enkel erkennt diesen Geschäftsbereich und versucht, seinen Verlag als kurhessischer Militärlieferant in diesen Marktsektor einzubringen, was ihm nachweislich gelingt. Infolge spärlicher Quellen lässt sich nur für einen Zeitraum von zwei Jahren, jedoch in einem landespolitisch wichtigen Entwicklungsprozess, ein Engagement Aschrotts bei der Ausrüstung des Kurhessischen Heeres nachweisen. Es existieren bei den Regimentern eingerichtete Schneider-Anstalten,906 die sich mit der Anfertigung großer Montierungsstücke für den Eigenbedarf beschäftigen. Das Kurfürstliche „Kriegs“ Ministerium führt eine jährliche Übersicht an Waren auf, die von heimischen Handwerksbetrieben geliefert werden. Bei „Specerei-Waaren“907 werden für das Jahr 1864 Gebrüder Cramer, Rosenzweig und Seifensieder Otto genannt. In einer weiteren Kategorie erwähnt die Ober „Kriegs“ Commission Lieferung von Feilen. Bei dem Eintrag zu Leinen führt man die Kaufleute Schaumlöffel, Höhmann und Aschrott908 auf. Der finanzielle Wert der Anträge unterscheidet sich bei den beteiligten Händlern unwesentlich. Das beruht vermutlich auf dem Gleichheitsgrundsatz, dem das Handwerk durch Zunftordnung unterworfen ist. Eine Übersicht der Waren selbst und eventuelle Stückzahlen sind nicht vorhanden. 904 Brief des Kriegsministeriums-Militär-Oekonomie-Department von Berlin, den 25. Juni 1877, gez. v. Hartock; Koellner an den Kaiserlichen Wirklichen Geh. Rat und Ober Präsidenten von Elsaß-Lothringen Herrn v. Moeller (GStA, Hpt. I Rep 120 V Fach A, Nr. 16- Im Weiteren als: GStA Com. bezeichnet). 905 Bezeichnungen werden aus den Beständen übernommen. 906 StAM,Best. 12d; Nr. 280. 907 Veralteter Ausdruck für Lebensmittel, Gemischtwaren, Gewürzen (Duden – Fremdwörterlexikon, 1971). 908 Die Aufstellung der Kaufleute erfolgt: Cassel, den 15. Januar 1864. Es handelt sich offenbar um Auftragsvolumen der Lieferungen fürs laufende Kalenderjahr (Best. s.o.). 285 Für 1865 existiert ebenfalls ein Preisverzeichnis der „Handwerker Companie“. Unter dem Ein- trag Leinen909 werden die Kaufmänner wie im Vorjahr genannt. Ihre Entgeltsummen entsprechen gleichfalls dem Vorjahr. Die Auftragsübernahme wird durch das Militär- Oekonomie Department des Kriegs-Ministeriums genehmigt. Auch für 1866 liegen Unterlagen vor, jetzt werden lediglich für Leinen Schaumlöffel und Höhmann910 aufgeführt. Aschrott taucht in der Liste nicht auf, folglich hat er in dem Jahr nicht geliefert. Für ihn ist auch kein dritter Händler hinzugekommen. Das Fehlen des Namens Aschrott in diesem Jahr wirft auf Grund der politischen Ereignisse911, das sind, die Absetzung des Kurfürsten durch Preußen und damit das Ende des Kurfürstentums sowie seine Eingliederung als neue Provinz Hessen-Nassau in das preußische Staatsgebilde, verschiedene Fragen auf. Hier ist zu überlegen, welche möglichen Ursachen oder welche persönlichen Absichten könnten das Ausbleiben der Lieferungen ausgelöst haben? Kann Aschrott auf Grund fehlender Rohstoffe nicht liefern? Konzentriert er sich wegen des gestiegenen Absatzes auf andere Bereiche? Sind ihm möglicherweise Lieferungen untersagt? Beliefert er andere Heere mit seinen Leinenanfertigungen? Hält er sich aus taktischen Gründen zurück, um bei eventueller Annexion Hessens von Preußen bei der preußischen Armee bessere Startchancen zu haben? Antworten sind in den vorhandenen Unterlagen nicht zu finden. Gleichfalls beschränken sich die Bestände auf die Jahre 1864-66. Lediglich hypothetisch kann man sich möglichen Antworten nähern. Die erste Frage bezüglich Lieferschwierigkeiten kann sicherlich ausgeschlossen werden. Zwar beklagt sich Aschrott, dass zu viel Flachs in andere Länder exportiert werde und dem eigenen Markt zu wenig verbleibe. Um jedoch einen möglichen Montierungsauftrag zu erfüllen, hätte er vor dem Hintergrund seiner guten Verlagsorganisation genügend Rohmaterial oder Endprodukte gleichgültig welcher Art beschaffen können. Gleichfalls ist ein Ausschluss zu verwerfen, denn sonst enthielten die Akten einen möglichen Vermerk. Die Hypothese, ein anderes Heer mit Produkten zu versorgen, erscheint abwegig, denn zum einen bestehen Kontrollen bei Warenausfuhren, zum anderen würden auf unterschiedlichen Wegen Informationen über Lieferungen zur politischen Verwaltung gelangen. Weiter werden Handwerker der belieferten Armeen bei Verwendung fremder Produkte intervenieren. Handelsabkommen in solcher Form scheinen auch nicht zum Aschrottschen Rechtsempfinden zu passen. Zwar kritisiert er Vorschriften, die ihn bei seinen baulichen Aktivitäten behindern, bestehende Rechtsverhältnisse sind für ihn bindend. Ein solches Hintergehen öffentlicher Belange scheint mit seinem solidarischen Handeln nicht vereinbar. Eine Antwort auf die letzte Frage erweist sich als problematisch. Aschrott ist nicht nur ein pro- fessioneller Kaufmann, der weiß, dass nur ein günstiges Angebot Mitbietern überlegen ist. Je- doch ist zum anderen in seiner Persönlichkeitsstruktur ein sich Andienen gegenüber landesherr- licher Aristokratie feststellbar. So könnte er auch überlegen, ob bei dem großen preußischen Heer nach erfolgtem Anschluss Hessens an Preußen, seine Chancen als Heereslieferant besser seien, wenn er rechtzeitig die hessischen Lieferungen einstellt. Eine gültige Antwort ist nicht möglich. 909 Aufstellung angefertigt: Cassel, am 16. Januar 1865 (Best. s.o.). 910 Best. s.o. 911 Am 18. Juni 1866 erlässt König Wilhelm I. von Preußen ein Kriegsmanifest, in dem er sich gegen angebliche Schwächung und Vernichtung wendet. Der Generalfeldmarschall Graf v. Moltke äußert sich klar, indem er sagt: „Der Krieg von 1866 ist nicht aus Notwehr gegen die Bedrohung der eigenen Existenz entsprungen..., es war im Kabinett als notwendig erkannter, längst beabsichtigter und ruhig vorbereiteter Kampf.“ (Moltke, in: Jacob, 1907, S. 8/9.) 286 9.1.2 Vertrag mit der Militärintendantur 1870 Die Emser Depesche912 vom 13.7.1870 und deren Veröffentlichung in gekürzter Form durch Bismarck steigert die Unruhe in Frankreich und führt zur Kriegserklärung gegen Preußen, die Napoleon III. am 19. Juli 1870 ausspricht.913 In Kassel überschlagen sich gleichfalls die Ereignisse. Am 22. Juli 1870 kommt es auf Betreiben Aschrotts zu zwei Vertragsabschlüssen. Die Kgl. Intendantur914 des 11. Armee-Corps in Cassel verfasst mit den Herren Alexander Lachmann (Berlin), S. Katzenstein, vertreten durch den Sohn Moritz K. (Bielefeld), Sigmund Aschrott (Cassel) und Geb. Sobernheim (Berlin) ein Abkommen „über die Lieferung für drei Armee-Corps an Victualien,915 Getränken und Fourage für die Dauer von sechs Wochen, und zwar dergestalt, dass die Lieferung mit dem 26. Juli beginnt.“916 Die Arbeit greift Einzelheiten des Vertrages heraus, um damit Tendenzen des Vertrages aufzuzeigen und Bedingungen offen zu legen, die von den Vertragspartnern zu erfüllen sind. Der Vertragsumfang wird Aschrott sicherlich schon vorher bekannt gewesen sein und von ihm sind möglicherweise Vorkehrungen getroffen worden, um die Planumsetzung anlaufen zu lassen. Der Vertrag verbindet unter § 28 das Inkrafttreten mit der Hinterlegung einer Kaution, die mit 50.000 Talern zahlbar bis zum 26.d.M. vormittags in der Intendantur des 11. Armee-Corps, zu leisten ist. Die Hinterlegungssumme geschieht nicht in der gebräuchlichen Währung, sondern man verlangt „cautionsfähige Staatspapiere und Hypotheken.“917 In den Wertpapieren scheint der Militär-Fiskus eine größere Sicherheit zu sehen, obwohl bei Kriegsausbruch die Berliner Börsen panikartig reagieren und stabile Papiere wie z.B. die Köln-Mindener-Aktien um fast 30% gegenüber dem Stand vom 1. Juli einbrechen (Stern, 1977, S. 173). Der tägliche Lieferumfang wird auf 110000 bis 111000 Portionen918 festgelegt. Bis zum Ablauf der Vertragszeit von sechs Wochen kann man von einem Umfang über 4620.000 bis 4662.000 Portionen ausgehen. Lieferung von frischem Fleisch „in lebenden Häuptern“ erfolgt mit Min- destgewicht von 500 Pfd. Deren Abrechnung wird über das Bruttogewicht minus 35% oder Ta- xieren bestimmt. Die Bewertung geschieht durch mehrheitlichen Beschluss einer Kommission, bestehend aus einem Vertreter des Lieferanten, einem abkommandierten Truppenvertreter und einem Feldbatterieschlachter. Ausschlachten hat wenigstens 24 Stunden vor Ausgabe zu erfol- gen. Reste verbleiben dem Lieferanten. Für Säcke erhält der Lieferant 20 Silbergroschen pro Stück. Eine Mietvergütung erfolgt nicht. Bis vier Wochen nach Demobilisierung ist die Rück- gabe möglich. 912 Bismarck gibt den Wortlaut einer Depesche des Botschafters überspitzt an die Öffentlichkeit weiter. Es kommt zum Ausdruck, Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen habe auf Druck von Frankreich auf die spanische Krone verzichtet. In dieser Version erscheint Frankreich als Kriegstreiber. 913 Anfangs kämpfen auf deutscher Seite 520000 Mann. Im Herbst stehen sich zwei Millionenheere gegenüber. (Nipperdey, 1992, S. 63.) 914 Von militärischer Seite zeichnen für die Feld-Intendantur Jinsch Adonny und für das Feld-Proviant- Amt p. Schimmel gegen. 915 Victualien bedeutet veraltete Bezeichnung von Lebensmitteln. Fourage entspricht Pferdefutter (Duden, Fremdwörterlexikon, 1972). 916 St AM Best. 269 Kassel, Nr. 198. 917 (Best. s.o.) 918 Eine gewöhnliche Portion nach § 2 besteht aus: 1. 3/4 Pfd. Fleisch, geliefert als ¾ Pfd. frisches und gesalzenes Fleisch (Ochsenstück oder in Ausnahmefällen Hammelfleisch) oder ½ Pfd. geräuchertes Rind oder Hammelfleisch oder 1/3 Pfd. Speck. 2. Gemüse: ¼ Pfd. Reis oder ¼ ordinäre Graupen bzw. Grütze (Hafer, Buchweizen) oder ½ Pfd. Mehl oder 3 Pfd. Kartoffeln. 3. rund 25 g Salz; 4. rund 25 g gebrannte Bohnen oder rund 12,5 g ungebrannte Bohnen. Diese Portionen werden mit 8 Silbergroschen 11 Pfennigen vergütet. Weiter können auf Befehl auch stärkere Portionen ausgegeben werden, dabei werden die einzelnen Posten erhöht. 287 Die Abrechnungsmodalitäten nehmen nicht die Portionen919 zur Grundlage, sondern es wird die jeweils angelieferte Menge gerechnet. Angebrannte und gebrannte Bohnen, Salz und lebendes Vieh ergänzen die Portionen. Neben den Victualien führt der Lieferant die Versorgung der Pferde mit Fourage,920 bestehend aus Hafer, Stroh und Heu durch. Ein siebentägiger Bedarf soll bis zum 26. Juli früh in den von den Lieferanten bereitgehaltenen Magazinen deponiert und stets konstant gehalten werden. Zu- sätze sind erlaubt. Ebenso verpflichtet man sich, Branntwein, ersatzweise „Sprit“, mit einem Alkoholgehalt921 von 80% einzulagern.Der Vorratsumfang umfasst gleichfalls für sieben Tage. mitgelieferte Fässer erfahren keine Vergütung.922 Die Lieferung der Obligate hat nach Frankfurt und Umgebung zu erfolgen. Dort sind mindestens 3 Magazine mit ausreichenden Vorratsräumen sowie An- und Abfahrtswege einzurichten; alle müssen als Vorratsort zur Verteilung des Lagergutes geeignet sein. Die Magazine bilden die Grundlage für beide Armee-Corps und die Reserve Artillerie. Die Distribution der Verpflegungsgegenstände an weitere Magazine fällt in die Zuständigkeit der Lieferanten; die Abholung von dort erfolgt durch die Truppen mit deren Gefäßen und Säcken. Veränderte Truppenstellungen können die Verlegung von Magazinen nach sich ziehen. In dem Fall hat der Unternehmer zu dem festgesetzten Zeitpunkt die Vorräte an von der Militärführung vorgesehenen Orten zu dislokalisieren. Die Vergütung hierbei erfolgt nach festgesetzten Sätzen. Die Militär-Verwaltung kann zusätzlich Verpflegungsartikel aus kgl. Magazinen zur weiteren Verwendung in den Lieferantenmagazinen deponieren. Die Verwaltung übernimmt die Ver- pflichtung, die Unternehmer möglichst zeitig zu informieren. Die Preise zu Artikeln aus anderen Landesmagazinen sind mit dem Unternehmer vorher zu vereinbaren. Bei dem Transportmittel wird zwischen Eisenbahn und Wasserstraße differenziert. Der Trans- port mit Fuhrwerken wird unterschieden in Benutzung von befestigter und unbefestigter Land- straße. Die Kosten variieren nach Art der Inanspruchnahme. Zur Vermeidung zusätzlicher Transportkosten kann mit Einverständnis der Unternehmer die Militärkolonne beansprucht wer- den. In Fällen, wo die Kolonne nicht erlaubt ist, und der Unternehmer nicht über Fahrzeuge ver- fügt, kann die Intendantur diese stellen. In gleicher Weise hat die Behörde Lokalitäten für Magazine zu beschaffen, wenn infolge der Kriegssituation die Unternehmer dazu nicht in der Lage sind. Hier gleicht der Unternehmer mit Taxpreis aus. Der Lieferant bringt seine Objekte auch in außerdeutsche Gebiete; die Lieferpreise unterliegen dann geänderten Vereinbarungen. Die Feldadministration sowie höhere Truppen-Befehlshaber sind jeder Zeit berechtigt, die Ma- gazine und sonstige Einrichtungen zu besichtigen und auf Anordnungen nach Vertragsmaßgabe zu drängen. In jedem Magazin sind Verwaltungsbeamte stationiert, die die Lieferungen seitens der Unternehmer im Interesse der Truppen und des Fiskus überwachen. Sie haben auf Verlangen der Unternehmer vertragsmäßige Einlieferungen zu konstatieren. Über die Qualität bzw. Ausgabefähigkeit der Verpflegung aus den Magazinen entscheidet der kontrollierende Beamte sowie bei außerordentlichen Kontrollen der Truppenbefehlshaber. Nicht ausgabefähige Gegenstände sind sofort zu ersetzen. Die Vergütung gelieferter Produkte erfolgt 14-tägig terminiert und wird von der Feld-Kriegs- kasse oder General-Kriegskasse in Berlin getätigt. Alle Zahlungen laufen über den Militärliefe- ranten Sigmund Aschrott. Die Empfangsbestätigung ist an andere Personen übertragbar. Auf 919 Angabe zu einer Portion laut Vertrag. 920 Der Fourageumfang (nach § 6) beläuft sich bei 7 Tagen auf 23923 Pfd. Hafer, 6457 Pfd. Heu und 7533 Pfd. Stroh. Der Zentner Hafer wird 5 Th.25 Sgr.; Heu mit 3 Tl. 27 ½ Sgr., Stroh 3 Th.15 Sgr. vergütet. 921 Zum Einsatz des Alkohols wird angemerkt, dass dieser als Befehl von höherer Stelle als außerordent- liches Verpflegungsmittel erfolgt. Seine Ausgabe findet wahrscheinlich vor einem Sturmangriff statt, um damit bei den Soldaten die Angst zu dämpfen. 922 Die fehlende Vergütung verstärkt den vorher vermuteten Einsatz, denn bei Kampfbeginn kann eine Garantie nicht übernommen werden. 288 Gegenstände angerechnete Schlacht- und Mahlsteuer wird vom Fiskus an den Unternehmer rückerstattet. Alle anderen Lasten, auch die durch den Vertrag fälligen Steuergelder, trägt der Lieferant. Mit der Beschaffung der Lieferobjekte ist sofort zu beginnen und sie müssen nach Abschluss von fünf Tagen vom 21.d.M. ab im vorgeschriebenen Umfang in Magazinen deponiert sein. Es wird bei Lieferungen nur das vergütet, was in Magazinen und bei Transport nachweislich durch feindliche Gewalt verloren geht. Findet der Transport durch Eisenbahn oder sonstige öffentliche Verkehrsmittel statt, genügt die Angabe der Einrichtung. Dieser Vertrag verdeutlicht zumindest partiell die Versorgungsstruktur der preußischen Armee im Kriegsfall. Den Aufgabenbereich der Verpflegung und deren Nachschub übernimmt ein Pri- vatunternehmen. Auf die in diesem Zusammenhang entstehenden Fragen soll nur insoweit ein- gegangen werden, inwieweit sie sich mit dem Unternehmer beschäftigen. Die Intendantur über- gibt vermutlich einen solchen Auftrag nur einem Unternehmer, von dem angenommen wird, dass er in der Lage ist, die Probleme ohne größere Komplikationen lösen zu können. Weiter baut man vielleicht auf Erfahrung, die eine Verwaltung schon in Friedenszeiten gesammelt hat. So könnte man annehmen, dass zwischen Armee und Unternehmer schon andere Versorgungsfälle abgelaufen sind. Die Intendantur bringt sich durch den Vertrag in eine existenzielle Abhängigkeit eines Armeelieferanten, bei dessen Fehlverhalten oder Ausfall ganze Armeeteile nicht mehr einsatzfähig sind und somit Kriegshandlungen entscheidend mitbestimmt werden könnten. Die Regulierung des Verpflegungsnachschubs steht unter dem Zeichen enormen Zeitdrucks und soll schon in knapp 4 Tagen vollzogen sein. Ebenso problematisch erweist sich der Verpfle- gungsumfang des Unternehmens. Im vorliegenden Fall handelt es sich darum, die fast zweiein- halbfache Anzahl der augenblicklichen Kasseler Gesamtbevölkerung 923 mit Nahrungsmitteln sowie beträchtlichem Fourage zu versorgen. Dieser tägliche Bedarf muss für einen vorläufigen Zeitraum von sechs Wochen koordiniert werden. Neben der Terminierung und Lieferung wird auch die Qualität der Ware von verschiedenen Ent- scheidungsebenen des Militärs bestimmt. Die Überprüfung der vorgegebenen Standards beginnt bei der Beschaffenheit von Magazinen, deren Inhalte wiederum von abgeordneten Truppenangehörigen und von Kommandeursebene kontrolliert werden. Das lebend zu befördernde Vieh erfährt seine Qualitätsschätzung durch eine militärische Beurteilungskommission. Diese angesprochenen Kontrollinstanzen befehligen täglich darüber, was an Verpflegungsumfang nachzuliefern ist. Für den Gesamtumfang der Leistung trägt allein der Lieferant das Risiko von Verlust, Minde- rung und Ausfall. Lediglich bei Mahl- und Viehsteuer macht das Militär Zugeständnisse. Der Abrechnungszeitraum von vierzehn Tagen sowie die Abschlagszahlung von 75% des Gesamt- betrages lassen den Unternehmer in gewaltige Vorauszahlungen treten. So wird nach zwei Wo- chen der auf den Wert von 3 ½ Tagen angelaufene Vorschuss vom Militär wieder ausgeglichen. Der Vertrag lässt Rückschlüsse zu Aufgaben des Hofjuden in absolutistischer Zeit erahnen, der gleichfalls mit militärischen Versorgungsaufgaben betraut wurde und mit eigenem oder geliehe- nem Kapital das Gesamtrisiko übernahm. Jedoch bei erfolgreich abgeschlossenen Unternehmungen auch beträchtlich profitieren konnte. In dem vorliegenden Fall übergibt die Armee-Intendantur die Logistik, in modernen Armeen ein Zweig der militärischen Führung, im Sektor Verpflegung einem privaten Unternehmer924 und 923 1871 beläuft sich die Einwohnerzahl Kassels auf 46.300 (Kasseler Post vom 13.6.1926, in: Hülbusch 1977/78, S.2). 924 Als sich das deutsche Hauptquartier 1870 im Schloss der Familie Rothschild niederlässt und der Kaiser „requiriren“ verbietet, der Haupthofmeister Rothschild keinen Wein verkauft und man wütend auf die Ungastlichkeit eines reichen Juden ist, tritt Bleichröder auf den Plan und schwingt sich als selbsternannter Lieferant von Delikatessen auf. Daraufhin können Kaiser, Kanzler und ihre Offiziere 289 dessen Organisationstalent. Wirft anfangs Einlagerung in Magazinen im Raum Frankfurt noch lösbare Transportfragen auf, komplizieren sich diese bei Verlegung, steigern sich bei Verände- rung in außerdeutsche Gebiete und scheinen bei Erreichen des Kriegsschauplatzes nur unter Lebensgefahr lösbar. Das Risiko des Unternehmers wird lediglich bei Benutzung öffentlicher Einrichtungen, welche bei auftretenden Schäden selbst haften, gemindert. Bei Lieferungen zu Kriegshandlungen, die infolge erhöhten Gefahrenpotentials sicherlich die Weigerung und un- sachgemäße Ausführung durch Spediteure nach sich ziehen, stellt die Armee-Verwaltung eine eigene Transportkolonne. In dem Fall stellt das Militär seinen Transportaufwand nach dem Ab- rechnungsmodus der Lieferungen dem Unternehmer in Rechnung. In dem Vertrag schließt die Militär-Intendantur für sich eine Mitverantwortung fast nahezu aus. Die Aufnahme der Lieferungsbehältnisse in das Vertragswerk lässt ein Intervenieren Aschrotts vermuten, da er detaillierte Kenntnisse über Gewinnmarchen925 bei Werg- und Juteverarbeitung besitzt. Dies könnte nach seiner Berechnung bei dem benötigten Umfang eine erhebliche Ge- winnspanne ausmachen, die der Intendantur durch fehlende Informationen nicht bewusst ist. Auf die Wiederverwendung von Fässern dagegen scheint er keinerlei Einfluss ausüben zu wollen, da das nur ein Problem der Alkohollieferanten darstellt. Aus dem Grund ist ihm wahrscheinlich ein Fassentgelt entbehrlich. Mit Annahme des Auftrages wird Aschrott zur Zentralstelle für Sach-, Transport- und Finanzie- rungsfragen, die mit ständig wechselnden Risiken verbunden sind. Hier zeigt sich über welche strategische und kaufmännische Begabung dieser Mensch verfügt, der bei einem solchen kom- plexen Logistikproblem Über- und Fernblick behält. 9.1.3 Societätsvertrag des Consortiums Nach Unterzeichnung des Vertrages mit der Militärintendantur legen die vier Vertragspartner die Regelung ihrer Zusammenarbeit926 sowie das Betriebskapital und Veränderungen im Vertragsverhältnis fest. Die Anteile der Partner setzen sich aus: a. Aschrott mit 45%, b. Lachmann mit 16 2/3% c. Katzenstein mit 20% d. Gebr. Sobernheim mit 18 1/3% zusammen. Die Beteiligten sind mit Gewinn und Verlust an dem Unternehmen mit ihren jeweiligen Anteilen beteiligt. Die von der Intendantur geforderte Hinterlegung der Kaution wird von jedem der Kontrahenten nach Maßgabe seines Anteils erbracht. Aschrott obliegt die Leitung der Geschäfte, der Buchführung, Verwaltung der Kasse und des Betriebskapitals. Alle Gelder werden von ihm empfangen und quittiert. Die übrigen Kontrahenten widmen dem gemeinschaftlichen Unternehmen ihre Tätigkeit ohne weitere Vergütung. Von den Gebr. Sobernheim wird Siegmund Sobernheim sich mit dem gemeinschaftlichen Unternehmen befassen. Die Summe des Betriebskapitals wird mit 150000 Tl. festgesetzt. Bei Bedürfnis sind weitere Zuschüsse auf Anforderung durch Aschrott binnen vier Tagen zu leisten. Jede Vertragsveränderung soll nur Bestand haben, wenn alle Partner schriftlich zustimmen. Lachmann merkt an, bei Erhöhung des Kapitals erfolge seine Zahlung durch die Gebr. Sobernheim. Bleichröders Nahrungsmittel essen, seinen Cognac trinken und seine Zigarren rauchen. (Stern, 1977, S. 181/182.) 925 Unter § 26 werde dem Lieferanten zwanzig Silbergroschen pro Sack vergütet. Die Beträge für gelieferte Säcke werden wahrscheinlich wegen der ungeheuren Menge bei den jeweiligen Liquidationen mitbezahlt und im Falle der Rückgabe dem Militär rückvergütet. 926 Das Königliche Kreisgericht zu Cassel schreibt in der Sache Katzenstein gegen Aschrott von einem „Scietätsvertrag,“ den die vier Partner zwecks der Ausführung eines Liefervertrages miteinander eingehen (St AM, Best. 269 Kassel, Nr. 198). 290 Die Anmerkung deutet darauf hin, dass Lachmann seine Verpflichtung während der Vertragszeit wahrscheinlich nicht erfüllen kann und die Gebr. Sobernheim dessen Anteile übernehmen. In einem bereits zitierten Schreiben vom 23. Juni 1879927 schreibt der „Geheime Kriegs-Rath“ der Intendantur an das Kgl. Regierungs-Präsidium von einem „Consortium“, dem Aschrott, Katzenstein und Gebr. Sobernheim angehören. Somit scheint obige Annahme bestätigt. Im Falle der Übernahme fallen Gebr. Sobernheim 35% Anteile zu. Bei Erwirtschaftung überflüssiger Gelder muss der ungefähre Überschuss nach Anteilen an dem verfügbaren Geschäftskapital geleistet werden. 9.1.4 Ausschluss von Militärlieferungen Vielfach wird in der Arbeit der vollständige Ausschluss Aschrotts von Armeelieferungen ange- sprochen. Dieser Vorgang beschäftigt ihn so sehr, dass er – in einem letzten Anlauf – noch mit 85 Jahren im Kriegsministerium um seine Rehabilitierung ersucht. Der Geheime Justizrat Ernst928 charakterisiert in einem Brief an den Staats- und Kriegsminister General der Infanterie von Heeringen 1912 die Person Sigmund Aschrott und dessen Interesse an der „Wiederherstellung seiner angefochtenen Ehre.“929 Ernst als Jurist hat das Preußische Kriegsministerium selbst in Rechtsstreitigkeiten vertreten und scheint über den Vorgang der Beschuldigung wie den Kasseler Rechtsspruch bestens informiert zu sein. Aschrott habe sich mit der Feststellung des Gerichts nicht zufrieden gegeben und stets gehofft, von der Behörde eine Rücknahme des Verdachts zu erhalten, weil er sich als unbegründet her- ausgestellt habe. Vergeblich habe er versucht, eine Wiederherstellung seiner Ehre durch erneute Berücksichtigung bei einem Lieferauftrag zu erreichen, obwohl er an einem damit verbundenen Geschäftsgewinn keinerlei Interesse mehr habe. Die Rücknahme der Anschuldigung sei der ein- zige Grund seines Bemühens. Ernst führt den Ober-Präsidenten v. Zedlitz und den Staatsminister v. Trott zu Solz an, die über die Persönlichkeit Aschrotts aussagen könnten und fügt an, bei geschäftlichem Verkehr mit die- sem habe er dessen peinliches Rechtsgefühl empfunden, womit aus seiner Sicht ein unrechtmä- ßiges oder gar verbrecherisches Vorgehen als völlig ausgeschlossen gelten könne. Ernst fügt seinem Schreiben die Abschrift der General-Intendantur der Armee bei, in dem der Armeeintendantur der Dritten Armee mitgeteilt wird, der Große-General-Stab der Armee habe den Armeelieferanten S. Aschrott wegen des Verdachts der Bestechung eines Beamten verdäch- tig gemacht und habe zur Feststellung der Tatbestände und der Bestrafung Aschrotts die Ange- legenheit der Staatsanwaltschaft übergeben. Die Militär-Intendantur werde aufgefordert, alle bestehenden Verträge mit Aschrott zu kündigen und ihm die Armeelieferungen zu entziehen. Weiter seien Corps- und Etappenintendanturen davon zu unterrichten. Der Beschluss erfolgt am 18. Dezember 1870 in Versailles. Die Ratskammer des Kgl. Kreisgerichts930 beschließt, dabei handelt es sich um eine zweite beiliegende Abschrift, „auf den Antrag des Staatsanwalts: dass der Angeschuldigte hinsichtlich der gegen denselben erhobenen Beschuldigung der versuchten Bestechung außer Verfolgung zu setzen sei, da der Sachverhalt, wie die bisherigen Verhandlungen solchen ergeben haben, den Thatbestand jenes Vergehens nicht erkennen läßt.“931 Cassel am 14. März 1871. Die 927 GStA Com. 928 A Pr.Br. Rep. 30; Berlin C. Tit.94 (im weiteren A Pr.Br. Wied. genannt). 929 Best. s.o. 930 Sitz des Kgl. Kreisgerichts auch gleichzeitig Schwurgericht befindet sich im Renthof 3. Es ist folgen- dermaßen besetzt: Kreis-, Gerichtsdirektor Schultheis; Mitglieder: Kreisgerichtsräte Bernhard, zugleich Vorsteher der Kriminalabteilung u.a.; Kreisrichter: Collmann Untersuchungsrichter; Staatsanwaltschaft Duysing; Rechtsanwälte wie am Kgl. Appellationsgericht Dr. Steinfeld, Alsberg, Gervinus (Kasseler Adressbuch 1871). 931 Best. s.o. 291 Unterzeichner des Urteils sind Bernhard, Deysing,932 Collmann.933 Der Vorgang scheint nicht rekonstruierbar. Es werden beim erneuten Aufgreifen des Ereignisses von militärischer Seite noch veränderte Angaben hinzukommen, die in keiner Weise belegt sind. Die Militärbehörden reichen zum Gerichts-Beschluss keinen Widerspruch ein. Das könnte auf bestehenden Zweifeln ihrerseits beruhen, was eine Beschuldigung Aschrotts möglicherweise entkräftete. Die kurze Beleuchtung der Vorgänge in Frankreich geben einen Einblick in das Umfeld der Mi- litär-Intendantur. Am 2. September 1870 erfolgt durch die Schlacht bei Sedan die schwerste Niederlage Frankreichs und die Gefangennahme von Napoleon III934. Das deutsche Hauptquar- tier verlegt am 5. Oktober seinen Sitz vom Schloß Ferrieres935 der Familie Rothschild nach Ver- sailles (Stern, 1977, S. 181). Im Dezember verriete das Verhalten des Königs und Bismarcks, schreibt Stern, den „Zustand höchster nervöser Gereiztheit“. Weihnachten so heißt es weiter, sei das Leben in Versailles noch zänkischer. Denn trotz der Niederlagen wollen die Führer Frank- reichs weiterkämpfen. Die Kluft zwischen Moltke und Bismarck936, der immer auf ein schnelles Ende des Krieges dringt, vertieft sich. Der auf Bismarcks Gesuch mit den Parlamentariern ins Hauptquartier angereiste nationalliberale Abgeordnete Ludwig Bamberg wird dort als „der rote Jude“ abgestempelt. (Stern, 1977, S. 188-192.) In Versailles scheint ein ausgesprochen antisemitischer Ton vorzuherrschen. Auch Bismarck kann unterstellt werden, offen und verletzend über die „Allgegenwart von Juden“ zu sprechen. Von diesen Äußerungen weiß Bleichröder, der stets um gute Stimmung im Hauptquartier von Deutschland bemüht ist, nichts. Für den Generalstab hat der Banquier eine „Doppelmoral“: Jude zu sein und ein Geschöpf Bismarcks. So fasst man beides aus militärischer Sicht in dem Begriff: „Des Kanzlers Privatjude“. (Stern, 1977, S. 182.) Stern führt weiter aus, in der deutschen Kriegsmaschinerie existiert ein harter antisemitischer Kern, der sich mit Gefühllosigkeit gegen- über Leiden anderer äußert und Juden und Polen als eine „geringere, minderwertige Rasse“ be- zeichnet (Stern, 1977, S. 193). Das kurz skizzierte latent vorhandene und auch intern oder öffentlich geäußerte antisemitische Empfinden werden auch andere Teile der Militärverwaltung haben. Diskriminierungen scheinen sich infolge des Krieges und der damit verbundenen geistigen und emotionalen Enge der Betei- ligten weiter zu verstärken. Nach Erörterung bestimmter vorhandener gesellschaftspolitischer Tendenzen innerhalb der Hee- resführung lassen sich für den Vorfall „Aschrott“ zwei Situationen konstruieren. 932 Hier liegt ein Schreibfehler vor. Gemeint ist Ferdinand Duysing, Kreisgerichtsrat wohnhaft Kölnische Str. 2, geb. 1822, Ludwig, Emil, August, Sohn; Johanna und Albertine, Töchter. (nach Thiele) Alte Casseler Familie, über die eine Familienchronik besteht (Murhard Bibliothek). 933 Collmann, Bernhard Kreisrichter, Ob. Carls-Str. 4 II zieht Ostern 1870 nach Jordan-Str. 2 III. In Nr. 4 wohnen: Blaue, Schreinermeister; Höltring, Dr. Direktor, Höltring (Realschull.) (Kasseler Adressbuch). 934 Mit dem Sturz Napoleons, den Gebietsforderungen von preußischer Seite und dem Einschluss von Paris (19. Sept.) durch preußische Truppen verändern sich die Kriegshandlungen auch für Frankreich, das jetzt unter republikanischer Führung steht, zum Nationalkrieg. An verschiedenen Orten stellt sich ein Partisanen- und Guerillakrieg ein. Nach anfänglichen schnellen Siegen folgen Rückschläge. Die gut ausgebildete preußische Armee setzt sich gegenüber der französischen Massenarmee durch. (Nipperdey, 1992, S. 64.) 935 Stern beschreibt den groben Antisemitismus, von dem zwar niemand spricht, der aber bei der Besetzung des Rothschild-Palais als preußisches Hauptquartier bei den Besetzern aufkommt. „So wurden etwa die Initialen J.R. – James de Rothschild – auf den verschiedenen heraldischen Emblemen höhnisch als ‚Judeorum Rex’- König der Juden – gedeutet.“ Roon bezeichnet Rothschild als „Judenkönig“. Nach Roons Meinung übertreffe der Rothschildsche Landsitz an Aufwand und Luxus weit den eines fürstlichen. (Stern, 1977, S. 181.) 936 Die Konfrontation zwischen Bismarck und den Generälen steigert sich in der Form, dass Ersterer über entscheidende militärische Absichten nicht mehr informiert wird (Nipperdey, 1992, S. 64). 292 Erstens: Aschrott braucht Informationen zu Vorratslagern, Verpflegungszahlen, Transportwegen und sonstigem, die man ihm nicht präzise weitergeben möchte. Er äußert sich in der Weise, die als Bestechung interpretiert wird. Vielleicht sagt er: „Das ist nicht zu ihrem Nachteil?“ Zweitens: Aschrott fragt nach obigen Informationen und der Beamte denkt, sein Intervenieren komme einer Art der Bestechung gleich. In beiden Fällen könnte das Militär, durch Kriegs- handlungen verstärkt, höchst empfindlich reagieren und aus seiner Sicht den Versuch als eine Bestechung bewerten. Schon eine mögliche Andeutung könne man schon als strafbar empfinden. Drei Monate später bei einer Verhandlung des Kasseler Kreisgerichts ist dieser Bestechungsver- such nicht mehr erkennbar. Folglich wird Aschrott von dem Vorwurf freigesprochen. Die mora- lische Verurteilung durch das Militär bleibt. Bei Differenzierung zwischen den beiden konstruierten Möglichkeiten und dem erfolgten Frei- spruch erweist die Einbeziehung antisemitischer Vorurteile in dem militärischen Entschei- dungsvorgang als mittragende Komponente unerlässlich. Von einer solchen antijüdischen Einstellung innerhalb der militärischen Führung scheint Ernst bei der Deutung der Vorgänge nichts zu wissen. Jedenfalls drückt er eine solche Einflussnahme in seinem Brief nicht aus. Auch Aschrott, der wahrscheinlich bestimmten Bemerkungen 937 stän- dig ausgesetzt ist, differenziert nicht und spricht nur von Verletzung seines Rechtsempfindens. Die Stellungnahmen des Kriegsministeriums zu diesem Vorgang in den nächsten Jahrzehnten sehen weiter den moralisch Verurteilten als den „Wunderjuden“, dem jedes Geschäft recht ist. 9.1.5 Rechtsverfolgung durch alle Instanzen – der Streitfall mit Katzenstein Zur Hinterlegung der von der Militär-Verwaltung angeforderten Kaution übersendet Katzenstein mit einem Schreiben vom 26. Juli 1870938 Aschrott eine Aufstellung der angefügten Wertpapiere939 in Höhe von 10000 Talern und verbindet dies mit der Bitte, dem Casseler Proviantamt diese zu übergeben und ihm einen Depositenschein zukommen zu lassen. Aus einem am 24. Mai 1871 eingeleiteten Verfahren wird von dem Kreisgericht in Cassel Aschrott verklagt, die Wertpapiere Katzenstein zurückzugeben. In der Klageschrift werden De- tails zum Ablauf aus Sicht Katzensteins940 geschildert. Darin heißt es: Verklagter telegraphiert am gleichen Tag zurück, die Kaution bereits gestellt zu haben und Katzenstein möge ihn autori- sieren 10mille als Faustpfand zu benutzen, da enormer Bedarf an Kasse [Geld] vorhanden sei. Katzenstein habe sich tags darauf brieflich geweigert und ihn aufgefordert entweder beim Provi- antamt die Papiere zu hinterlegen oder zurückzuschicken. Verklagter sei beidem nicht nachge- kommen, obwohl er seitdem mehrfach dazu mündlich und schriftlich aufgefordert sei. Weiter werden neben den verschiedenen Papieren Fälligkeitsdaten angeführt. Aschrott wird vom Kläger aufgefordert mit Ausnahme extra aufgeführter Aktien die Papiere mit Dividenden binnen 937 Der Jude Bleichröder ist immer einem Antisemitismus ausgesetzt, den Stern modisch und annehmbar nennt. Der Antisemitismus entspringe stets einem Snobismus und drücke Argwohn einem Volk gegenüber aus, dessen Vertreter man als gewinnsüchtig und zweitklassig einschätze. Diese Vorstellung sei überall anzutreffen und in dem Zusammenhang als nicht bösartig zu bezeichnen; jeder Deutsche bejahe diese Einschätzung bedenkenlos. Gleiche Art antijüdischer Einstellungen sind in Frankreich, Großbritannien und den Vereinigten Staaten zu finden. (Stern, 1977, S. 599.) 938 StAM, Best. 269 Kassel, Nr. 198. 939 Aufstellung der Wertpapiere: Nordbahn-Prioritäts-Obligationen; Bergisch-Märkische Stammaktien; Rhein-Nahe-Eisenbahnobligationen; Cöln-Mindener Stammaktien; Cöln-Mindener-Prioritätsobligationen; Rheinische Eisenbahngesellschaft; Prioritäts-Stammaktien Magdeburg-Halberstädter Bahn; Oberschle- sische Prioritäts Actien; Preußische Staatsobligationen; Preußische Staatsschuldscheine; Pfandbrief neue westpreußische Landschaft. Schwerpunkt der Geldanlagen bilden verschiedene Eisenbahnunternehmen, von denen Expansion erwartet wird sowie sichere Staatsanleihen. 940 Katzenstein wird durch Rechtsanwalt Rieß aus der Praxis Dr. Oetker/Rieß vertreten. Die Rechte von Aschrott nimmt RA Peters wahr. 293 kürzester Zeit zurückzugeben und Katzensteins Verbindlichkeiten beim Proviant-Amt damit auszugleichen. Katzenstein ergänzt, Aschrott habe zur Zeit seines Telegramms noch keine Kaution gestellt und später eine nur für sich eingezahlt. Katzensteins offener Wert beläuft sich nach Abzug erhaltener Coupons auf 9400-9600 Tl. Das Amtsgericht Cassel verurteilt den Verklagten als schuldig und fordert diesen auf, innerhalb von 14 Tagen die Papiere nebst Zinsen und Dividenden an den Kläger zurückzugeben oder im gleichen Zeitraum dem Proviant-Amt den Betrag in den Papieren zu erstatten und dem Kläger entstandenen Schaden laut Aussage der Papiere zu erstatten und die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gegen den Entscheid vom 7.3.1872 legt Aschrott Berufung ein. Beim „Civil-Senat des Kgl. Ap- pellationsgerichts“ wird am 12. September d.J. das Urteil des Kreisgerichts bestätigt, die Kosten des Verfahrens werden im Verhältnis Kläger 1/10 und Verklagter 9/10 geteilt. Gegen diesen Bescheid als Ergebnis mündlicher Verhandlung vom 12. September reicht der Verklagte „Nichtigkeitsbeschwerde ein und nimmt jedes sonst zulässige Rechtsmittel an das Kgl. Oberappellationsgericht in Berlin hindurch“941 in Anspruch. Das Reichs-Oberhandelsgericht – erster Senat für Recht942- weist die erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zurück. Der Verurteilte hat die Verfahrenskosten zu tragen. Auch in letzter Instanz bleibt das Urteil des Kgl. Kreisgerichts bestehen. In welcher Weise Aschrott auf die Anklageschrift in erster Instanz reagiert, kann nur vermutet werden, da das Schreiben in den Akten nicht existiert. Aschrott könnte erwidert haben, er habe durch die Kürze der Zeit schnell handeln müssen. Da bei Terminfälligkeit die Papiere nicht eingetroffen und noch Gelder von Katzenstein zur Vorfi- nanzierung der Lieferungen erforderlich seien, habe er den Aufschub der Katzenstein-Kaution dem Proviant-Amt angezeigt, als er die eigene Kaution hinterlegt habe. Die später erhaltenen Papiere Katzensteins habe er jedoch als eine gewisse Sicherheit für seinen zusätzlichen finan- ziellen Einsatz behalten. Nach seiner Einschätzung der Sachlage scheint Aschrott geglaubt zu haben, mit Einbehaltung der Papiere rechtlich richtig gehandelt zu haben. Aus seiner eingeschränkten Sichtweise probiert er mit einem Gang durch die Institution zu seinem Recht zu gelangen. Durch Diskriminierung seitens der Militärintendantur, so könnte man in einer anderen Version das abgelaufene Handeln deuten, hat er versucht, gegenüber seinem ehemaligen Partner Recht zu bekommen, was im Falle des Betrugsverfahrens in weite Ferne gerückt zu sein scheint. Die Einleitung des Verfahrens Katzensteins beginnt am 24. Mai 1871, fünf Monate nach dem Aus- schluss von Militärlieferungen, die Klageschrift erfolgt bereits am 7. März d.J., also unmittelbar nach dem genannten Vorgang. Von einem Consortium ist in den vorliegenden Schriften nicht mehr die Rede. Zu dem Zeitpunkt des Rechtsstreitsbeginns scheint der fast 45 Jahre alte Aschrott unter Beeinflussung des Bestechungsvorwurfs zu stehen und vielleicht nicht schlüssig zu sein, wie anstehende Zahlungen zu verkraften sind. Die Abwicklung der Vorratslieferungen hat ihn übermäßig beansprucht, zudem sind noch andere Probleme mit Subunternehmern denk- bar. Neben dem Geschäftsschaden durch ausstehende Gelder wird ihn sein verletztes Ehrem- pfinden belasten, das 1870 bereits durch die Annullierung seiner Wahl in die Handelskammer beschädigt ist. Gegenüber dem Privatmann Katzenstein sieht er sein Agieren insoweit als legitim an, weil die Problematisierung dieser geringen Zahlungen für die Sache an sich nur eine Behinderung der Millionen umfassenden Geschäftsabwicklung bedeutet. Aschrott kann bei seinen Verpflegungs- lieferungen wahrscheinlich mehrfach in finanzielle Schwierigkeiten geraten sein. Das angespro- chene Telegramm gibt darauf einen Hinweis. 941 Best. s.o. 942 Mit einer Entscheidung vom 18. März 1873 wird seine Beschwerde zurückgewiesen (Best. s.o.). 294 Bei Heranziehen des Streitwertes in der Sache Katzenstein beträgt dieser 1 bis 2% im Vergleich zu den noch anstehenden Kosten für Militärlieferungen.943 Die Fortführung des Rechtsstreits durch die Instanzen unterliegt keinen kaufmännischen Überlegungen. Bei Einschätzung der Sachlage scheint Aschrott zu versagen und in Peters einen Rechtsberater zu haben, der ihn über Erfolg und Misserfolg der Berufungen nicht richtig informiert. Nur sein psychischer Zustand in diesem Lebensabschnitt, bei dem er innerhalb kurzer Zeit meh- rere persönliche Niederlagen zu verkraften hat, könnte eine Erklärung für sein verletztes Rechts- empfinden liefern. 9.1.6 Militärisches Urteil als ständige Wiederauflage von 1876-1900 Im Jahre 1877 gehen von Aschrott offensichtlich Bestrebungen944 aus, wieder als Armeelieferant zugelassen zu werden. In einem bereits zitierten Schreiben des Kriegsministeriums an den Ober Präsidenten von Elsaß-Lothringen, Herrn v. Möller, wird geäußert, gleichzeitig mit dem Intervenieren bei der General-Intendantur habe er auch im Kriegsministerium gedrängt, um sich in unerlaubter Weise Mitteilungen zu verschaffen. Aus dem Schreiben geht nicht hervor, ob der Vertreter des Ministeriums gleichfalls in Frankreich Dienst tut oder in Berlin von Aschrott gedrängt wird. Das Militär-Oekonomie-Department führt weiter aus, an dem Verbot sei festzuhalten, was schon aus Rücksicht auf Wahrung der Integrität ihres Beamtenpersonals geboten erscheine. Zwei Jahre später teilt die Militär-Intendantur in Cassel, vertreten durch den „Geheimen Kriegs- Rath“ Ritter, dem Reg. Präsidium in Cassel945 mit, Restforderungen Aschrotts seien als nicht liquidationsfähig zurückgewiesen worden und man habe unter strenger Geheimhaltung überlegt, eine Provokationsklage gegen Aschrott einzureichen, um eventueller Verdunkelung vorzubeugen. Ebenso habe Aschrott eine mögliche Klage gegen den Militärfiskus ausgesprochen, diese jedoch nicht verwirklicht. Das Oekonomie-Department würde augenblicklich von einem juristischen Vorgehen gegen Aschrott absehen. Auf Seiten des Militärs scheint man sich der rechtlichen Stellung nicht mehr so sicher zu sein und sieht deshalb von einer Klage ab. Man kann Aschrott laut Kreisgericht nichts nachweisen und der Militärfiskus befürchtet vor diesem Hintergrund bei einer erneuten Verfahrensaufnahme, Restforderungen Aschrotts zumindest teilweise ausgleichen zu müssen. Auf Anfrage des Ministers für Handel und Gewerbe in Berlin antwortet das dortige Kriegsmi- nisterium,946 Änderungen im Fall Aschrotts seien nicht eingetreten, obwohl dieser 1882 unter Aufwand riesigen Beweismaterials vorstellig geworden sei, um die Zurücknahme des Aus- schlusses zu erwirken. Eine Rehabilitierung könne von Ministeriumsseite nur abgelehnt werden. Das Kriegsministerium in Berlin nimmt 1891947 gegenüber dem Oberpräsidenten Graf zu Eulen- burg in Cassel wiederum zu der Entscheidung der Intendantur über den Ausschluss Aschrotts Stellung. Gleiche Gründe wie vorher werden angeführt. In der Beschreibung des Sachverhalts taucht nach fast 14 Jahren eine detaillierte Version auf. Aschrott habe nämlich in einem Fall versucht, einen aus dem Zivilverhältnis für den Verwaltungsdienst einberufenen Beamten zu Mitteilungen über bevorstehende Truppenformationen auszufragen. Mit einem ähnlichen Vor- wand habe Aschrott während des Krieges 1870 einen noch im Dienst befindlichen Beamten des Kriegsministeriums in seiner Wohnung aufgesucht, um Erkundigungen einzuholen. Folglich 943 Für die Aufstellung eines Gesamtumsatzes für Militärlieferungen könnte folgende Beispielrechnung dienen. Annahme: 2 ausstehende Wochen sind nicht bezahlt, das sind 2 Millionen M.. Aschrott liefert 1 Woche im Juli und 16 Wochen von August bis November, dazu 1 Woche im Dezember, ergeben 18 Wochen, das bedeutet 9 Abrechnungsperioden mal 2 Mio. gleich 18 Mio. Als Verdienst werden 30% angenommen, ergibt 6 Mio. Rechnung stellt lediglich eine Überlegung dar. 944 Brief vom 25. Juni 1877 (GStA Com.). 945 Brief vom 23. Juni 1879 (Best. s.o.). 946 Brief vom 17. Juni 1885 (Best. s.o.). 947 Brief vom 30. September 1891 (A Pr. Br. Wied.). 295 muss Aschrott in Berlin gewesen sein, die Intendantur dagegen hielt sich in Frankreich auf. Weiter wird argumentiert, Aschrott habe zwar mehrfach auf ausstehende Zahlungen hingewie- sen, dies jedoch nicht weiter verfolgt. Daraus schließt der Militärssprecher, dass dieser Verzicht, hier handelt es sich um über 2 Millionen Mark ausstehender Restzahlung, seine besondere Be- wandtnis hat. Aschrott habe zwar seine Forderungen durchsetzen wollen, sei aber von deren Rechtmäßigkeit selbst nicht überzeugt. Wenn gegenwärtige Verhältnisse wohl ohne praktische Wirkung seien, lautet der abschließende militärische Standpunkt, verlange jedoch die moralische Bedeutung die Aufrechterhaltung der Maßregeln. In seinem Verhalten gegenüber der militärischen Verwaltung offenbart sich eine Einstellung Aschrotts, die gleichfalls in Auseinandersetzung mit städtischen Behörden zu beobachten ist. Obwohl Aschrott berechtigte Aussichten hat, gegenüber Behörden oder Ministerien den Rechts- weg für sich zu entscheiden, scheut er diesen hier. Bei Privatpersonen, wie mehrfach dargestellt, besteht diese Hemmschwelle nicht. In solchen Fällen scheint es sich bei ihm um Klärung des Rechtsverhältnisses unter gleichen Bürgern zu handeln. In öffentlichen Verwaltungen dagegen könnte er eine Autorität vermuten, von der an- zunehmen ist, dass bei genügend gesicherter Beweislage man sein Recht ohne gerichtliches Verfahren anerkenne. So äußert er sich bei einem Streit um die veränderte städtische Bauord- nung, er glaube an die Gerechtigkeit des preußischen Staates, indem er pathetisch schreibt: „Ich habe das volle Vertrauen auf Schutz bei Kgl. Regierung rechnen zu dürfen.“948 Aschrott teilt seinen Glauben an die Gerechtigkeit preußischen Institutionen mit, obwohl ihn seine Erfahrun- gen Gegenteiliges lehren. Unter Berücksichtigung von Erlebtem erscheint sein Vorgehen als Appellation an die Träger der Verwaltung, die von ihnen verkörperte Rechtsposition einzuneh- men, um von dieser Warte quasi überparteilich seine Probleme zu beurteilen. Neben obiger Einschätzung sei eine andere Deutung seines Zögerns dargestellt. Bei rechtlicher Auseinandersetzung mit einer staatlichen Institution fokussiert dieser Apparat sich auf ihn, den Juden, Millionär, Spekulanten und brandmarkt halboffiziell oder öffentlich einen Teil seines Handelns und damit auch seines Lebensweges. Aus Erfahrung bei gleichen Vorgängen wählt er die Version einer klaren vorsichtigen Stellungnahme oder eines Andienens, um so für seine Sache zu werben und um einen positiven Ausgang damit vorzubereiten. Die Gegenseite deutet solches Auftreten als Schwäche, da sie von einer anderen Gesellschaftsposition aus urteilt und unterstellt ihm ein Unrechtsempfinden. Im Zusammenhang mit dem Versuch von Ernst, beim Kriegsministerium eine Rehabilitierung Aschrotts zu erreichen, fragt dieser beim Polizei-Präsidenten949 in Berlin an, auf welche Vor- kommnisse die raschen Ehrungen von Aschrott beruhen, obwohl dieser früher einer Ehrung nicht würdig erschienen sei. Gegenüber Rehabilitierung und Auszeichnung habe man sich stets ablehnend verhalten und die Gründe dazu bereits 1885 und erneut 1891 ausführlich geschildert. Die vorangegangenen Ausführungen unterstreichen die Entscheidungskompetenz des Kriegsmi- nisteriums und sicherlich auch der meisten anderen öffentlichen Institutionen im Deutschen Reich gegenüber einem von ihnen festgestelltem Tatbestand dahingehend, dass dieser als unum- stößlich gilt. Selbst dann, wenn eine rechtliche Absicherung Gegenteiliges erbringt, hält man auch nach einem Zeitraum von vier Jahrzehnten an seinem Entschluss fest. Überarbeiten oder Überdenken aufgrund neuer Informationen, um seine Meinung eventuell zu verifizieren, ent- spricht nicht einem militärischen Befehl. Da Rehabilitierung unter solcher Rechtsauffassung nicht möglich erscheint, kann das Verbot der Militärlieferung einem Befehl gleichgesetzt wer- den, der lediglich der Ausführung bedarf. Das führt zu der Annahme, dass auf dem Pfad strikter Rechtsverfolgung dem, der sein Recht geltend macht, nicht bewusst wird, infolge seines Strebens den Blick für Veränderungen zu verlieren und bei Einhaltung des eingeschlagenen Weges, sich gleichfalls ins Unrecht setzt. 948 Brief Aschrotts vom 10. November 1905 an den Reg. Präsidenten Herrn Graf von Bernstorff (A Pr.Br. Wied.). 949 Brief vom 17. August 1912 (A Pr.Br. Wied.). 296 9.2 Antisemitische Haltung als breite öffentliche Meinung Bei Eintritt in das elterliche Geschäft gelten für Sigmund Aschrott die gleichen bürgerlichen Rechte wie für die Gesamtbevölkerung. Weiterhin behält ein Großteil der Gesellschaft die früheren Vorstellungen bei, ihn in der Rolle eines „Schutzjuden“ (siehe Kap. 4.1) zu sehen. Vor dem Hintergrund seines wirtschaftlichen Erfolgs avanciert er so schließlich zum Hofjuden oder Hoffaktor und übernimmt den gesellschaftlichen Rang des Großvaters Goldschmidt. Jedoch führt die Rücknahme staatsbürgerlicher Rechte unter der Regierung Hassenpflug950 auch de jure für Juden zu erneuter Einschränkung erworbener Gleichberechtigung. Der Auf- und Ausbau seines Verlags im Leinenhandwerk wird wahrscheinlich begleitet von Ressentiments der ländlichen Bevölkerung, die in ihm noch den jüdischen Nothändler zu erken- nen glaubt. Die politische Veränderung durch Annexion Hessens von Preußen und die damit verbundene völlige Gleichstellung der Juden wird Aschrott weiter bestärken, die veränderten Normen für Arbeit, Leistung und Grundbesitz zu nutzen, um seinen wirtschaftlichen Erfolg zu steigern. Die offenkundige Zunahme von Geschäftserfolgen scheint Aschrott nicht zu bewegen, mehr und nachhaltiger in der Öffentlichkeit aufzutreten. Das kann womöglich mit Erfahrungen zusam- menhängen, die er als jüdischer Jugendlicher sammeln musste oder die ihn während seiner Lehrjahre in Frankfurt mitprägen. Bezüglich der Änderung seiner gesellschaftlichen Anerkennung kann der Reg. Präsident 1877, Aschrott ist bereits im 51sten Lebensjahr, nur feststellen, dass durch seine große Zurückhaltung und sein sehr vorsichtiges Auftreten er eher schwer zu charakterisieren sei. Nach Meinung des Reg. Präsidenten treten bei der Wahl zur Handelskammer bei einem Teil der Mitglieder unter- schiedliche Vorstellungen zu der Person Aschrotts auf. Als dieser sich für die Position des va- kant gewordenen dritten Mitglieds der Kammer zur Wahl stellt, wird er prompt gewählt. Die Zustimmung könnte als Resultat seines sichtbaren Engagements beim Ausbau der Stadt Cassel gedeutet werden; man scheint auch erfolgreichen jüdischen Mitbürgern verantwortliche Positio- nen einräumen zu wollen. Der seine Person belastende angebliche Bestechungsversuch eines preußischen Beamten (siehe Kap. 9.1.4 – Freispruch vom 14. März 1871) tritt in den Hinter- grund. Als die Meinungsbildenden951 der Handelskammer das gesetzte Signal erkennen, wird ihre Missgunst gegenüber der Person Aschrotts, offensichtlich von antijüdischer Haltung getra- gen, sichtbar. Die Wahl des gesamten Vorstands wird aufgehoben und als Lösung Neuwahl für alle ausscheidenden Mitglieder angeordnet. Bei dem erneuten Wahlverfahren setzt sich Aschrott nicht mehr durch. Abstimmungsergebnisse existieren nicht. Als Interpretation dieses Vorgangs kann eine Abstimmungsbeeinflussung gegen den Juden Aschrott angenommen werden. Eine solche Niederlage, ebenfalls Vorfälle aus anderen Lebensabschnitten, bestärken ihn wahr- scheinlich, gesellschaftliche Aktivitäten weiter zu meiden. Ob die Handlungen gegen seine Per- son ursächlich in seinem Verhalten oder seinem judaistischen Glauben zu suchen sind, lässt sich nach vorliegender Quellenlage nicht mehr feststellen. Da Aschrott kein Einzelfall ist und die Aversionen sich hauptsächlich gegen Juden richten, wie bei Bleichröder gezeigt, kann seine Glaubens- und Gesellschaftsgruppenzugehörigkeit als Auslöser für solche Ereignisse angenom- men werden. Erfahrenes Misstrauen scheint er durch zusätzliche Leistungsbereitschaft bei sei- nem gegenwärtigen Hauptprojekt, dem Hohenzollernviertel, abzubauen. Dieser Lebensabschnitt 950 1850 wird das Ministerium unter Vorsitz von Eberhard aufgelöst und Hans Daniel L. Hassenpflug tritt an dessen Stelle. 1852 erfolgt die Aufhebung der fortschrittlichen Verfassung von 1831. (Wegner, 1999, S. 122/ 123.) 951 Der Reg. Präsident v. Brauchitsch notiert zu dem Vorgang: „Diese Wahl [Aschrott] erregte eine nicht geringe Aufregung in dem bethuligte Kreise, hatte die Anfechtung der Wahl zur Folge, und ...dieselbe wegen wesentlicher Mängel [wiederholt] werden musste, so wurde eine Neuwahl für sämtliche ausgeschiedenen Mitgliedern der Handelskammer angeordnet. Hierbei ist es Aschrott nicht gelungen, die Majorität zu erlangen.“ (Schreiben vom 21.7.1879 – GStA Com.). 297 fällt z.B. zusammen mit dem Ausbau der Kaiserstraße. Spätere Bemerkungen seinerseits zur Feidel-Goldschmidt-Stiftung sowie die Verwirklichung seines Grabmals auf dem jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee sind aus fehlender Anerkennung erklärbar. In seiner politischen Einstellung wird er als ein äußerst konservativer Mensch beschrieben, der aber nicht am politischen Leben teilzunehmen scheint. Als 1880 die Deutsch-Konservative Par- tei in Kassel ihr Parteiprogramm fixiert und den Landrat Weyrauch zu ihrem Vorsitzenden wählt, sympathisiert Aschrott vermutlich mit dieser Gruppe. Deren politische Vorstellungen möglicherweise bei ihm Anklang finden. Dazu kommt, dass sich seine Vorstellungen in Stadtbaufragen mit denen Weyrauchs decken. Antisemitische Äußerungen an deutschen Universitäten 952 werden die Gründung des „Deut- schen Reformvereins“ in Kassel mit verstärkt haben. Als Gründungsmitglied dieser Veranstal- tung nimmt Otto Böckel teil. Diese antisemitische Vereinigung löst ihrerseits eine Vielzahl wei- terer gesellschaftlicher und politischer Aktivitäten aus, die von journalistischen Äußerungen begleitet wird. Sie verstärken innerhalb der Bevölkerung, durch wirtschaftliche Rezession for- ciert, eine Einstellungsänderung gegenüber jüdischen Mitbürgern im öffentlichen Bereich. Das erklärt die hohen Auflagen von Familienzeitschriften wie die Gartenlaube, die mit Auflagenvo- lumen von einer halben Million mit Serien wie „Börsen- und Gründungsschwindel“ ihre Leser unterhält. Andere Zeitungen nehmen diesen Trend auf, um mit gleicher Thematik und Diskrimi- nierung von Personen, vielfach sind das Juden, an dem Geschäft zu partizipieren. 9.2.1 Güterschlachten als Deutungsversuch Aschrottschen Landerwerbs Mit dem Umzug nach Berlin im Jahre, 1886, hat Aschrott das Geschäft mit Leinen längst hinter sich gelassen und den Stadterweiterungsprozess soweit abgeschlossen, dass dieser auch in seiner Fortsetzung aus der Entfernung zu steuern ist. Aschrott ist vermutlich bereits stärker an Geldgeschäften beteiligt und übt konzentrierter den Beruf des Bankiers aus. Mit dieser Bezeichnung umschreibt er seine Tätigkeit in den nächsten zweieinhalb Jahrzehnten.953 Er wechselt aus dem überschaubaren Lebensraum der Residenzstadt, in der er mit verschiedenen Vorurteilen zu kämpfen hat, an den Hauptfinanzsitz des Deutschen Reiches. In Berlin erfährt der Unternehmer anfangs keine Beachtung, denn die Presse nimmt noch nicht Notiz von ihm. Das hängt wahrscheinlich wiederum mit seiner starken Zurückhaltung gegenüber jeglichem öffentlichen Leben zusammen. Von Jahr zu Jahr nehmen seine Steuerabgaben zu, damit gerät der jüdische Bankier ins Fadenkreuz der denunzierenden Journalistik. Mosse, der sich mit den wirtschaftlichen Erfolgen jüdischer Unternehmer im 19. Jahrhundert beschäftigt, stellt Geschäftsentwicklungen von Loebel Schottländer und seinem Sohn Julius aus Breslau denen Aschrotts gegenüber und betont, erfolgreiche jüdische Kaufleute versuche man damit zu beschreiben, indem man ihnen Leihgeschäfte unterstellt und sie somit in die Kategorie Wuchergeschäfte oder Nothandel einordnet. Mosse beruft sich in seiner Darstellung auf Zei- tungsäußerungen und zitiert einen Zeitungsartikel, der Aschrott zu diskriminieren versucht. Darin heißt es: „Er borgte den Weserbauern Geld, er verkaufte ihnen Manufakturen, Klee- und Oelsaat, kurz alles, was der Bauer braucht... Auf der anderen Seite konnte der Weserbauer bei Aschrott alles das los werden, was Haus und Hof hergab; selbst das handgesponnene Leinen, die sogenannten „Packen“ ...“ (Mosse, 1987, S. 148; in: Deutsches Wochenblatt, 24. Juni 1911.) Ein sachunkundiger Leser wird mit einem vorher festgelegten Klischee konfrontiert, um den Beschriebenen in die gewollte Ecke zu stellen. Wie bei dem Aufbau und der Abwicklung seines Verlagsgeschäftes ausführlich beschrieben, sind Leinengeschäfte mit Weserbauern nicht zu be- 952 Siehe auch Kap. 4.2. 953 In dieser Zeit beginnt die Stadt Kassel mit der Anlage von Fluchtlinienplänen, die nicht als geschlos- senes Ganzes erstellt werden, sondern nur für den Teil, den man gerade benötigt (Info: Fenner, Vermes- sungsamt Kassel). Flächen Aschrotts werden mit der Bezeichnung: „Banquier Aschrott, Berlin“ belegt. 298 legen, da dort eine Gewerbestruktur vorliegt, die mit der für die Stadt Grebenstein zu verglei- chen ist. Die Leinenproduktion in dieser Region beschränkt sich auf die Monate im Jahr, in de- nen das bäuerliche Gewerbe nur einen geringen Teil der vorhandenen Arbeitskapazitäten erfor- dert. Bei einer solchen Struktur kann ein Verlag nach der Vorstellung Aschrotts nicht existieren, schon gar nicht, wenn er sich gegen bereits vorhandene Industriebetriebe in diesem Wirtschafts- sektor zu behaupten hätte. Der Artikelschreiber versucht mit seinen reduzierten Äußerungen den Leinenhandel mit mögli- chen Geldleihgeschäften und Saatgutverleih zu verbinden, um so Aschrott in die von Böckel vertretene Ebene des „Güterschlachtens“ einzuordnen. Ein Urteil über den von ihm dargestellten Leihhandel überlässt er dem Leser. In Deutung des von dem Journalisten beschriebenen Vorgangs wird dem jüdischen Mitbürger eine bestimmte Handlungsweise in seinem Geschäftsgebaren unterstellt. Vielleicht möchte der Schreiber gleichfalls in seinem Artikel den Landerwerb Aschrotts im Westen Kassels mit skiz- zieren und bewerten. Den hier angesprochenen Besitzerwechsel von landwirtschaftlichen Betrieben führt Böckel fort, indem er über den „Fortgang“954 der Güterschlachterei schreibt und prognostisch hervorhebt, welcher Zustand zukünftig eintritt. Dabei nimmt der Antisemit Böckel die Einstellungen und gefühlsmäßigen Empfindungen vieler Menschen auf und wiederholt deren Meinung, um sie darin zu bestärken. In einer populistischen Sprache will er den Vorgang zum Leser transportie- ren, um in derber Ausdrucksweise eine destruktive Haltung des Angeklagten offen zu legen. Die Abkehr von der normalen Schriftsprache wird als Mittel eingesetzt, um die Aufmerksamkeit von Leser und Zuhörer zu erhöhen und gleichzeitig die Übereinstimmung zwischen Autor und Konsumenten herzuvorheben. Mit solchen argumentativen Mitteln versteht es Böckel, Massen von seinen Gedanken zu überzeugen und Zuhörer sich zu der Äußerung hinreißen zu lassen: „Seht euch den Mann [Böckel] an, das ist unser Befreier!“955 In dem oben angesprochenen Artikel wird von Aschrotts Berliner Grundstücksgeschäften behauptet, dass jeder, der auf dem Grundstücksmarkt in Berlin tätig sei, in irgendeiner Form mit ihm zusammenhinge. Denn bei Zwangsversteigerungen von Terrain und Fabriken sei stets davon auszugehen, dass Aschrott an einer Übernahme interessiert sei. Zudem arbeiteten für ihn geschickte Zuträger, meist Menschen, die zwangsweise sozial abgestiegen seien (Mosse, 1987, S. 149, Anmerkung). Auch hier zielt die tendenziöse Berichterstattung darauf ab, Aschrott zu diskreditieren. Dabei geht der Reporter völlig unkritisch mit dem Grundstücksmarkt und den eigentlichen Absichten von Grundstücksankäufen um. Das vorherrschende Bild des Grundstücksspekulanten wird undifferenziert auf Aschrott zugeschnitten. Die Ausführungen orientieren sich nicht an einem wahren Sachverhalt, um diesen so zu gestal- ten, dass das gewünschte Image der Person zum Ausdruck kommt. Der Schreiber möchte mit Aschrott ein Gesellschaftsbild konstruieren, wo der Jude versucht, bei jeglichen Zwangsverkäu- fen als Interessent aufzutreten und die wirtschaftliche Notlage anderer auszunutzen. Mit „habgierigem Geschäftsgebaren“ wird versucht, den beträchtlichen jährlichen Verdienst Aschrotts zu beschreiben. 954 „Das Streben der Juden geht dahin, systematisch den Bauernstand wie in einem Netz zu verstricken und ihn rettungslos der jüdischen Ausbeutung zu überliefern. Mit dem Viehhandel fängt die Bekanntschaft der Bauern mit dem Juden an, mit der Subhastation des bäuerlichen Gutes hört sie auf, oder besser gesagt, sie hört auch dann noch nicht auf, wenn der Bauer es nicht vorziehen sollte, statt in ewiger Sklaverei der Juden zu leben, nach Amerika auszuwandern.“ (Böckel, 1887, S. 7; in: A Pr Br Rep. 30; Nr. 15369.) 955 Siehe auch Kap. 4.4. 299 9.2.2 Bewertung von Aschrotts Nobilitierungsantrag Das ständige Bemühen Aschrotts um öffentliche Auszeichnung in Form des Kommerzienrat- Titels, inhaltlich später abgehandelt, reißt nicht ab. Wiederholte Eingaben diesbezüglich durch angesehene Bürger bei der zuständigen Stelle der Königlichen Regierung, das sind in der Kasseler Phase der Reg. Präsident der Provinz Hessen-Nassau und in folgender Zeit die für Berlin zuständige Administration, unterstreichen das. Der Presse bleiben diese Anträge gleichfalls nicht verborgen. So wird die Ernennung zum Kommerzienrat von der Berliner Zeitung956 unter ironischem Aspekt veröffentlicht. In der Akte957 des Königlichen Ministeriums in Berlin zu den Anträgen über die Auszeichnung Aschrotts wird ein Artikel der Zeitung : „Die Wahrheit“ vom 29. Juni 1907 archiviert. Der un- voreingenommene Leser erhält auf diese Weise ein Bild des Millionärs Aschrott, das genau dem entspricht, was eine bestimmte politische Gruppierung von ihm herzustellen versucht. Der Artikel mit „Staatsminister Delbrück - Kommerzienrat Aschrott“ überschrieben, scheint einen Teil verschiedener Veröffentlichungen zu der Problematik wiederzugeben, denn in den Ausführungen ist von einem weiteren Artikel die Rede, in dem über „Vorgänge“ zu Aschrott bereits berichtet wurde. Um die Person genau zu fixieren und gleichzeitig den Wahrheitsgrad zu erhöhen, wird neben der Bezeichnung Kommerz. A. auch die genaue Wohnungsangabe in Berlin vermerkt. Damit wird der angeführte Vorgang der Öffentlichkeit preisgegeben. Aschrotts Bemühungen zur Erlangung öffentlicher Ehrenbezeichnungen durch „Kaiserliche Hoheit“ potenziert der Redakteur, indem er behauptet, Aschrott habe die Nobilitierung beantragt und diese sei ihm auch in Aussicht gestellt worden. Voraussetzung sei jedoch eine Spende über 750000 M. für wohltätige Zwecke. Dieser Vorgang an sich stellt nichts besonderes dar, denn Spenden bedeuten häufig Grundlage für Ehrungen. Doch der Fortgang spitzt sich weiter zu, da man anführt, der 50fache Millionär solle weitere 100 000 M. zahlen. Aschrott habe die Zahlung angeblich auch zugesichert, jedoch nur unter der Voraussetzung, die verantwortliche Stelle verfüge schriftlich über die baldige Nobilitierung. Ein angeblicher Mittelsmann Aschrotts wird mit Namenskürzel in die Darstellung eingebunden. Die Abkürzung scheint kundigen Lesern bekannt. Der Ablauf der Handlung gipfelt in einer Erklärung des Chefs des Zivilkabinetts, letztendlich Unterzeichner einer solchen Ehrung. Der äußert: „Nur über meine Leiche!“ Welchen Ausgang soll die aufgebaute Dramaturgie nehmen? Führt sie zu einer Lösung, mit der beide Seiten zu ihrem Erfolg kommen? Wer gibt in dem Fall nach, die politische Führung oder der Stellvertreter des jüdischen Kapitals? Der Schreiber entwirft eine für die Darstellung typische Zwischenlösung. Nach der Bemerkung aus dem Zivilkabinett habe Aschrott den Stand des Vorgangs erkannt und sein Geld zurückver- langt. Da von der Summe bereits 250.000M. für wohltätige Zwecke weitergereicht wurden, habe man ihm 500000 M. angeblich zurückgezahlt. Nun greift der Artikel belehrende Maßnahmen auf. Im ersten Bericht sei bereits auf mögliche Komplikationen hingewiesen worden und man habe gehofft, ein Millionär wie Aschrott würde von einer Ernennung Abstand nehmen, um nicht öffentlich ins Gerede zu geraten. Doch mit dieser Vermutung habe man sich getäuscht. Ein Nachdenken der Beteiligten, von ihrem Vorha- ben abzuweichen, habe nicht stattgefunden. Die von dem Schreiber angestrebte Strategie wird insofern weiter verfolgt, dass Aschrott bei seiner Forderung, die restlichen 250000 M. auch zu- rückzuerhalten, bliebe. Zudem stellt der Artikel die Rigorosität Aschrotts in geschäftlichen Din- gen heraus. Der Autor fügt hinzu, mit der vertretenen Annahme, Aschrott möchte nicht ins Ge- rede kommen, habe man falsch gelegen. 956 Berliner Zeitung vom 10.03.00, in: A Pr.Br. Rep. 30, Nr. 8795. 957 G StA Com. 300 Schließlich wird in einem Kompromiss die Lösung gesucht, Aschrott wird der Titel Geheimer Kommerzienrat zuerkannt und es wird ergänzt, da die 250000 M. schon ausgegeben seien, habe das Ministerium noch für einen akzeptablen Ausgang gesorgt. Die Ernennung zum Geh. Kommerzienrat, so heißt es weiter, sei aber auch mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden, denn der Handelsminister Delbrück habe sich dazu geäußert, lieber von seinem Amt zurücktreten zu wollen, als sich für solche Sache verantwortlich zeigen zu müssen. Dem ständigen Intervenieren von vielen Seiten habe der Minister widerstanden, jedoch in solch „unerquickliche[r] Situation“ keinen anderen Ausweg gesehen. Eine genauere Erklärung erfolgt nicht. Hier wird der Leser bewusst im Unklaren gelassen, um für die Interpretation des Falles jegliche Deutung zu eröffnen. Im Weiteren ist von drei ähnlichen „Wohltätigkeits-Angelegenheiten“ die Rede, die zu unter- scheiden seien und nur ausgesprochen würden, wenn Delbrück erneut, wie bei Aschrott, zu- stimme. Doch die Betreiber der Verfahren wollten unter gegebenen Umständen mit dem Minis- ter nicht verhandeln. Mit dem Fall Aschrott versucht der Autor gleichzeitig die Praxis des Geldsammelns am Hof anzuprangern. Dort wolle man durch Vergabe von Auszeichnungen für „titelsüchtige Geldleute“ Mittel für Wohltätigkeitszwecke zusammentragen. Im Gegensatz zu dem ständigen Gemauschel in Kronnähe hebt der Artikel, die vorbildliche Haltung Delbrücks lobend hervor, und er äußert die Hoffnung, dass er nicht die Macht des Kapitals, wie bei Aschrott, unterstütze und diesem den Weg zum Thron erleichtere. Der Bericht endet mit der Aufzählung der seit einem Jahr in den Adelsstand erhobenen Juden Friedländer-Fould, Caro, Mendelsohn, Oppenheim und unterstreicht nochmals, Geld schaffe die Möglichkeit, geadelt oder mit Titeln versehen zu werden. Dabei wird bewusst auf jüdische Fa- milien gezielt. In seiner Ausführung vertritt der Artikel eine Tendenz, die sich gegen das Kapital, insbesondere gegen jüdisches Kapital und seine Vertreter richtet. Der Auslöser zu dem Artikel scheint die Ernennung Aschrotts zum Geh. Kommerzienrat gewesen zu sein. Um ihn damit zu diffamieren und in die entsprechende Gruppe jüdischer Bürger einzuordnen, wird die Geschichte der Nobili- tierung konstruiert. Bei dem zuständigen Ministerium, dem Geheimen Zivilkabinett,958 liegt keine Akte zu Aschrott vor, gleichfalls weisen Überlieferungen des für Standes- und Adelssa- chen zuständigen Heroldsamts959 keinen Antrag auf Nobilitierung960 für Aschrott aus. Das bedeutet, der Inhalt ist unwahr. Der Schreiber beabsichtigt nicht, den Leser über einen Vorgang zu informieren, er benutzt die Handlung, um den Leser zu einer vorbestimmten Meinung zu drängen. Die Umschreibung mit Jude oder jüdischer Kapitalist erfolgt nicht, da der Konsument der Nachrichten davon auszuge- hen scheint, eine solche Beschreibung treffe nur auf einen Juden zu. Weiter kommt zum Aus- druck, dieser sei bereit, eine beträchtliche Summe zur Abwicklung des Nobilitierungsgeschäfts zu investieren, jedoch nur unter Gewissheit des geschäftlichen Erfolgs. Hier erweist sich der „titellüsterne“ Bankier nicht in der Lage, auch bei strikter ministerieller Absage, sein Vorhaben zurückzunehmen. Bei seiner Einstellung erscheint ein persönliches Engagement zur Linderung sozialer Probleme als ausgeschlossen. Platzt das Handelsgeschäft, gelte für den „Geldhungrigen“ nur die Rückforderung des eingezahlten Geldes. Einen moralischen Anspruch erwartet der Schreiber als Außenstehender für den „Kapitalisten“ als selbstverständliche Handlung. Seine diffamierenden, unwahren Behauptungen stellt er niemals in Frage. Mit seiner Aussage bestätigt er die beim Leser existente Einstellung und verstärkt indirekt bestehende Regeln, die gesellschaftliche Prozesse beeinflussen könnten. Die Zeitung „Wahrheit“ 958 G StA PK, I. H A Rep. 100 Ministerium des Kgl. Hauses. 959 G StA PK, I. H A Rep. 176 Heroldsamt. 960 G StA P K, I. H A Rep. 90 Staatsministerium, Nr. 2011, das betrifft den Aktenband „Standeserhöhungen, Spezialia“, Bd. 2: 1895-1927, dieser führt keinen Antrag für Aschrott auf. 301 beschreibt sich in ihrer Festnummer vom 10. August 1884 als eine Wochenzeitschrift961 mit Sitz in Berlin. Neben den üblichen Angaben zu Bestellungen wird vermerkt: „Jüdische und unsittliche Inserate finden keine Annahme“.962 Als Zielrichtung wird beispielsweise vorgegeben: „Die Feigen verhöhnen Die Brüder versöhnen, Den Michel so necken, Bis er greift zum Stecken, Die Lügner zu schlagen, Die Schurken zu jagen; Will Wucherer zücht`gen, Den Bierdurst verflücht`gen und nimmer ablassen Vom Kämpfen und Hassen“. Der Auszug zeigt deutlich die beabsichtigte politische Richtung. In dem gleichfalls das Titelblatt beherrschenden „lustigen Antisemitenlied“ zur Feier des 10. August 1884 wird darauf hingewiesen, dass es ohne die Berliner Juden Mosse und Cohn gehe. In der vierten Strophe heißt es, zu schlechtem Wetter in deutschem Land sei es gekommen, seit Juden und Judenknechte die Zügel in ihrer Hand halten. Das Lied endet: „Doch woll’n wir zum Schlusse mit kräftigem Schlucke Die Juden auch mal leben lassen: Es sollen leben die Herren vom Sem! Doch nicht in Berlin! In Jerusalem!“ Die angeführten Äußerungen weisen auf einen aggressiven herabwürdigenden Antisemitismus hin. Dabei wird die beabsichtigte Vorgehensweise als Witzblatt postuliert, um bei möglichen Verleumdungsklagen die demagogischen Absichten mit Spaßausführungen zu entkräften. Die hier vertretene politische und menschliche Meinungsbildung bereitet den Weg für den Antisemitismus der Hitler Diktatur. Die angenommene Vermutung, dass es sich bei dem Nobilitierungsartikel um eine antisemitische Kampagne gegen das jüdische Kapital und Aschrott handelt, steht damit außer Frage. Warum jedoch dieser Zeitungsartikel in die Akte des Ministeriums für Handel und Gewerbe betreffend die „Verleihung von Auszeichnungen an den Fabrikanten Sigmund Aschrott“ gelangt, bleibt unbeantwortet. 9.2.3 Missglückte Triumphfahrt durch die Kaiserstraße – als Diskredit einer Stadtbauentwicklung In der Arbeit von Hülbusch (Hülbusch, 1977, S. 4) wird ein Vorgang zum Ausbau der Kaiser- straße beschrieben, bei dem die Fertigstellung der Verbindung der Kaiserstraße von der Hohen- zollernstraße bis zur Wilhelmshöher Allee über die Germaniastraße unter großem Zeitdruck erfolgt. Der Grund dafür sei der Kaiserbesuch Wilhelms I. 1878 in Kassel, zu dem man die Straße fertig haben wolle. Man errichtet zusätzlich eine Ehrenpforte, damit der Kaiser mit sei- nem Tross die neue Straße befahre und somit die Arbeit Aschrotts würdige. Der Autor wertet diese Aktion so, dass der Kaiser Aschrott den Gefallen nicht getan habe. 961 Die zitierte Ausgabe ist einer Anlage zu einem Polizeibericht über das „antisemitische Volksfest“ vom 10. August 1884 entnommen. Die Zeitung beschreibt sich als „Die Wahrheit - Einziges antisemitisches Witzblatt. Wöchentlich 1 reich illustrierte Nummer von 6-8 Folioseiten. Preis pro Quartal nur 2 Mark. Text stets interessant und witzig. Erste Mitarbeiter und Künstler. Die „Wahrheit“ kämpft seit 5 Jahren an der Spitze der antisemitischen Bewegung und ist das einzige in christlichen Händen befindliche Witzblatt. (Info: Frau Erler, Landesarchiv Berlin, A Pr.Br. Rep. 030, Tit. 95, Sektion 5, Nr. 14961.) 962 Best. s.o. 302 Schmidtmann berichtet über diesen Besuch:963 „Am 15. September haben die Casselaner die Stadt festlich geschmückt und an verschiedenen Stellen Ehrenpforten errichtet. Dem Kaiser wurde nach einigen Tagen, als er die Stadt besuchte, ein imposanter festlicher Empfang bereitet, der sich in ähnlicher Weise wie bei früheren Empfängen abspielte.“ (Schmidtmann, 1993, S. 175.) Über den ersten Besuch des damaligen Königs in Cassel 1867 schreibt obiger Bürger zu der Wegstrecke, dass diese damals vom Bahnhof Wilhelmshöhe über die Wilhelmshöher Allee zur Torwache geführt und dass hier die erste Begrüßung stattgefunden habe. Da der Besuch in gleicher Form wie bei vorangehendem abläuft, berichtet Schmidtmann über die Fahrt am 15. September 1878 durch eine „vieltausendköpfige Menge.“ (Schmidtmann, 1993, S. 175.) Das ist nur so zu interpretieren, dass der Kaiser vom Schloss in die Stadt den gleichen Weg, wie bei anderen Festlichkeiten, zurücklegt. In anderem Zusammenhang berichtet Graf Solms-Roedelheim von der Eröffnung der „Kaiserstraße“ durch seine Majestät und von dessen Lob dazu gegenüber dem Polizei-Direktor Albrecht. Das deutet auf Bejahung der Straße hin und nicht auf Ablehnung.964 Gleiches teilt Albrecht 1879 in seiner Beurteilung Aschrotts anlässlich des Antrags zum Kommerzienrat mit. Darin wird angeführt, dass „Seine Majestät der Kaiser im September v.J.“ die ausgeschmückten Straßen passiert habe (Kap. 8.5.2). Hier wird gleichfalls das Interesse des Kaisers an dem Projekt hervorgehoben. Ein anderer Tatbestand unterstreicht diese Annahme. In einem Entwurf965 zum Statut der Stadt Kassel an die königliche Regierung vom 8. Mai 1880 nimmt der OB Weise auch zur Kaiser- straße Stellung. Er bemerkt an, Aschrott irre, wenn er annehme, die Stadtverwaltung könne eine vollständig hergestellte Straße nur deshalb für unfertig im Sinne § 1 Abs. 3 deklarieren, weil sie noch nicht mit einer Gasbeleuchtung versehen sei. Im weiteren wird die Abhängigkeit von bau- polizeilichen Bestimmungen in Abstimmung mit der Gemeindebehörde beschrieben. Die Aus- führungen zeigen, dass die Straße als unfertig gegolten hat und noch nicht für den öffentlichen Verkehr freigegeben wurde. Dieser Zustand wird auch gut anderthalb Jahre vorher bei dem Kai- serbesuch bestanden haben. Der kaiserliche Tross, wie vorn angeführt, wird nicht über eine Straße in die Stadt fahren, für die keine Freigabe für den Verkehr vorliegt. Jedoch gilt es auf einen Besuch Wilhelms II. 1891 hinzuweisen, bei dem Aschrott Seiner Majestät eine sogenannte „Kaiserlade“966 als Geschenk überreichen will. Die Übergabe kommt nicht zustande. Als mögliche Ursache könnte die antisemitische Haltung des Kaisers gelten. Allerdings wird zu dem gleichen Besuch am 11. September 1891 berichtet, Kap. 7.5.5, dass sich die Kaiserin, ebenfalls antisemitisch eingestellt, für die Grundstückserweiterung des Diakonissenhauses engagiert. Der Grundstücksgeber ist wiederum Aschrott. Eine Deutung der Vorfälle erlaubt die benutzte Quellenlage nicht. Es könnte bei der Zeitungsinformation eine Verwechslung der Besuche vorliegen. Dennoch kann das Hülbusch Zitat, Sonntagsblatt vom 24. Mai 1936, nur als eine bewusst anti- semitische Berichterstattung zur Verhöhnung Aschrotts eingestuft werden. Baetz unterstreicht die Annahme, indem er zur „Feindschaft der Nazis gegen das Judentum“ schreibt, dass diese auch Aschrott nicht verschonen und „Schmähungen widerlichster Art“ aussprächen (Baetz, 1951, S. 13). Die Darstellung des Sonntagsblattes kann als Teil eines antisemitischen Programms gesehen werden, das sich systematisch gegen die Person Aschrotts richtet. Mehrere Veröffentlichungen ab Ende der 70er Jahre des 20. Jhts. stützen sich entweder auf die Hülbusch-Arbeit oder nehmen 963 In seinem Antrag vom 29. April 1879 an das Handelsministerium in Berlin, Aschrott zum Kommerzienrat zu ernennen, erwähnt der Graf zu Solms-Roedelheim, seine Majestät habe in höchst eigener Person die neueste Straße dieses Stadttheils eröffnet und habe die „großartige Schöpfung“ Kaiserstraße gegenüber dem P.D. Albrecht angesprochen (GStA Com.). Die von Personen außerhalb Kassels ausgesprochenen Anträge zur Titelvergabe führen zwar verschiedene Handlungen zum Wirken Aschrotts an, diese sind jedoch häufig unpräzise. 964 Best. s.o. 965 St AM Best. 165 Nr. 1457, Bl. 66/67. 966 Wegner, 1997, o.S. 303 direkt auf den Vorgang Bezug und erhärten die Behauptung weiter. Der damalige Landrat und spätere wirkliche Geheime Rat und Unterstaatssekretär v. Weyrauch verfasst 1900 eine Charak- terisierung von Aschrott, die dazu dient, den Antrag zur Ernennung zum Kommerzienrat zu un- terstützen. Weyrauch hat über 12 Jahre, wie er schreibt, Gelegenheit gehabt, die weitblickende Tätigkeit und das Engagement Aschrotts zu beobachten, denn in diese Zeit fällt auch eine grundlegende Entwicklung des neuen westlichen Stadtteils. Weyrauch führt an: „Aschrott habe keine Anstrengung und kein Opfer gescheut, um die ihm vielfach hemmend entgegentretenden engherzigen Anschauungen der städtischen Behörden zu überwinden; er hat dabei nicht selten auch mit Neid und persönlicher Eifersucht zu kämpfen gehabt und seine Ziele allen Widersachern gegenüber mit rücksichtsloser Energie verfolgt.“ Das zeige den Einsatz und die Durchsetzungskraft, mit der der Stadtbauer seinen Plan verwirklicht. Bei einem Bauprozess, der eine Bauepoche verkörpern und die Handschrift seines Erbauers tra- gen soll, wird durch häufiges Eingehen auf Änderungsvorstellungen der Einheitscharakter des Entwurfs gestört. Aschrott unterscheidet genau zwischen seiner ausschließlich gewinnorientier- ten Tätigkeit als Kaufmann und seinem öffentlichen Engagement in Form von Spenden oder Wohlfahrtseinrichtungen. Weyrauch erklärt weiter, dass man versucht habe, Anstrengungen von ihm zu verschweigen und zu mindern, um damit Person und Charakter (von dem Ausführenden beabsichtigt) in einem schlechten Licht erscheinen zu lassen. Die Einstellung habe zur Folge gehabt, dass ihm öffentli- che Anerkennung bisher versagt geblieben sei, obwohl gerade für ihn im Vergleich zu anderen, gleichfalls sich für die Stadt Cassel engagierenden Geschäftsleuten, eine Heraushebung zuträfe. Als Landrat habe er viele auf die Person und die Geschäftsinteressen bezogenen negativen Ge- rüchte gehört. Er sei denen nachgegangen, um zu einem objektiven Bild von Aschrott zu gelan- gen und müsse feststellen, „stets nur unbestimmte[m] Gerede und allgemeinen Urtheilen begeg- net und es ist mir niemals gelungen, belastende Thatsachen festzustellen“.967 Diese eindeutigen Aussagen Weyrauchs zeigen, dass Verwaltung und Teile in der Bevölkerung einerseits nicht nur Neid gegenüber dem äußerst erfolgreichen Stadtbauer und Kaufmann Aschrott empfinden, sondern diesen Neid in ihr antisemitisches Denken übertragen, das sie stän- dig auf den „Grundstücksspekulanten“ Aschrott fokussieren. Die Grundstücksgeschäfte werden nicht als Geschäftsabschluss zwischen zwei gleichberechtigten Parteien gesehen. Im Gegenteil, dem Vorgang haftet bis heute ein Odium an, bei dem der „Wucherjude“ dem in Not geratenen Landwirt seinen Broterwerb entreißt. Die von Böckel vertretenen Vorstellungen und Ansichten scheinen heute bei Teilen der Bevölkerung latent weiter zu existieren. 9.3 Adel und Bourgeoisie als Interessensgemeinschaft Zahllose „kleine Kronenträger“, zitiert Witt Elard von Oldenburg, gewährleisten die Sicherheit der Krone und wünschen sich diesen Zustand auch für ihre Nachkommen. Das kann jedoch nur fortdauern, wenn der väterliche Betrieb des Preußischen Junkers erhalten bleibt und seine Söhne weiterhin als Soldaten und Beamte dem König dienen. Doch durch veränderte wirtschaftliche Bedingungen wird der Besitz der „kleinen Kronenträger“ mit Hypotheken belastet, argumentiert der Zitierende weiter und damit die Basis kaiserlicher Macht geschwächt. So erwartet man von der „Krone“ wirtschaftliche Unterstützung. Die Analyse der eingetretenen Not mündet in: „.... so arm sein, ist kein Unglück; arm werden, das ist eins“. Damit wird gleichzeitig angedeutet, zu wessen Ungunsten das Problem zu lösen ist, nämlich von den Bevölkerungsschichten, die über wenig verfügen oder ganz mittellos sind. Sie sollen die Last höherer Abgaben tragen. (Witt, 1933, S. 146/147.) Die bestehenden Privilegien des Adels möchten die „Kronenträger“ erhalten und weiterhin den Offiziers- und Beamtenapparat bestimmen. Mit staatlicher Förderung hofft man, den materiellen 967 G StA, Com. 304 Unterschied zu Industrie und Handel zu vermindern. Seine Wünsche stützt man auf eine Interes- sensidentität zwischen „kleinen Kronenträgern“ und der Krone selbst. Die Vorstellungen zu den „kleinen Kronenträgern“ lassen sich gleichfalls auf bürgerliche968 Gutsbesitzer969 übertragen. 100-1000ha große Agrarbetriebe sind zu 67% in bürgerlichem Besitz. Wenn es sich dabei noch um einen gemeindefreien Gutsbezirk970 handelt, empfindet sich der Eigentümer als Herr über Haus und Hof gleich seinem adeligen Nachbarn. Für beide trifft der Gruß von Untergebenen mit „gnädiger Herr“ zu. Gleiches gilt für den bürgerlichen Fabrikanten, der über Wohl und Elend tausender Arbeiterfamilien bestimmt und die Stellung eines Feldherrn einnimmt. Hier wird punktuell auf eine „selbstbewusste Bourgeoisie“ hingewiesen, die, von Idee, Tatkraft und Bildung geleitet, sich als Träger für politische und soziale Führungspositionen meldet und versucht. sich mit der „herrschenden Klasse“ der alten Aristokratie gleichzustellen. Der veränderte Zustand formt eine Gesellschaft, in der sich der herkömmliche Adel und die neue Bourgeoisie mit gleichen Interessen verbinden, allerdings unter dem Vorzeichen, dass der Adel herausgehoben und der Bourgeoisie die volle Gleichberechtigung verwehrt bleibt. Diese Interessensgemeinschaft gelingt, weil sie sich durch einen Einheitsgedanken gegenüber der Masse der Mittellosen abgrenzen kann. Das ist keine typisch deutsche Erscheinungsform, sondern alle europäischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts sind davon geprägt, unterscheiden sich jedoch durch normative Rahmenbedin- gungen und deren verinnerlichte Attribute für Bürger und Monarchen. Die preußische Gesell- schaft zeichnet sich besonders durch Machtbefugnisse bei Uniformträgern aus, die in dem Ziel des blinden Gehorsams gipfeln. Das preußisch Deutsche Kaiserreich als soziopolitisches System scheint mit Unterstützung des Bürgertums eindeutig auf eine bürokratisch-militärische Führung ausgerichtet (Witt, 1993, S. 152) und untersteht einer offenbar festgelegten Rangordnung, in der jeder seinen festen Platz hat. Das zeigt sich nicht nur auf den Adel bezogen, der in der Abstufung mit den einfachen Herren „von“ beginnt und beim Kronprinzen endet. Auch beim Offizierskorps als zweiter Säule der Staatsmacht reicht die Hierarchie vom Fahnenjunker bis Generalfeldmarschall. Der Beamtenapparat als dritte Säule fängt beim Unterbeamten an und kulminiert mit dem Wirklichen Geheimen Rat, der mit Titel und Anrede Exzellenz sowie aktiver und inaktiver Staatsminister weitere Steigerung erfahren kann. 9.3.1 „Commerzienrath“ nach wiederholten Anläufen In diesem System möchte sich Aschrott nicht nur in seiner Wohnungswahl, wie in Kap. 6.3 aus- geführt, verankern. Sein wirtschaftlicher Erfolg, seine Kompetenz als Organisator und sein Bau- projekt für gehobenes Wohnen finden bereits in dem Kasseler Umfeld Resonanz. Was ihm fehlt, ist eine kaiserliche Auszeichnung, deren Titel ihn augenscheinlich und ohne eigene Umschrei- bung971 in die Rangordnung der wilhelminischen Gesellschaft aufnimmt. Mit seinen Berufsbezeichnungen Fabrikant, Großgrundbesitzer, Bankier bringt er dieses Bedürf- nis ständig zum Ausdruck. 968 Bürgerlich heißt zum Bürgertum gehörig. Diese Schicht lässt sich schwer abgrenzen, so wird auch von „Kleinbürgern“, „Wirtschaftsbürgern“ und „Bildungsbürgern“ gesprochen. Aus der jeweiligen Sicht des Betrachtenden wird die Person in die Schicht oder Untergruppen eingeordnet. Sicherlich erfolgt Zuge- hörigkeit aus eigener Einschätzung und entspricht dann auch Wunschvorstellungen. Ein Merkmal ist allen Mitgliedern eigen, sich von denen „dort unten“ abzugrenzen. (Witt, 1933, S. 144 ff.) 969 In Besitzungen von 1000-5000 ha ist der Adel mit 71,9%, die Bürgerlichen sind mit 28,1% vertreten. Größen von über 5000ha entfallen auf 154 Adelige und 9 Bürgerliche. (Heß; in: Witt, 1993, S. 149.) 970 Unter „gemeindefreie“ Gutsbezirke versteht man Güter, die nicht der kommunalen Selbstverwaltung unterliegen. Dabei handelt es sich vorwiegend um sog. „Rittergüter“, die sich vor allem in Brandenburg, Pommern, Ostpreußen u.a. bilden (Witt, 1993, S. 144). Die hier lebenden Menschen besitzen auf lokaler Ebene keine Mitwirkungsrechte. 971 Aschrott selbst nennt sich: Fabrikant, Großgrundbesitzer und Bankier (Kasseler Adressbuch). In Schriftwechseln wird er zusätzlich mit Unternehmer, Rentier bezeichnet. 305 So schreibt der Minister für Handel972 in Berlin, dass die Verleihung973 des Titels Kommerzien- rat974 an den Fabrikbesitzer H.S. Aschrott zu Kassel in Anregung gebracht wurde und fordert die dazugehörigen Unterlagen an. Die Reichsbank Direktion975 antwortet zuerst und umschreibt dessen Tätigkeit von der Leinenfabrikation zu umfangreichen Grundstücksspekulationen. Nach kleinen Anfängen sei dieser zu einem erheblichen Vermögen gelangt, was auf 5 bis 6 Millionen Mark geschätzt werde. Man charakterisiert ihn als intelligenten und geschickten Geschäftsmann, „aber im Ganzen eine wenig angenehme und beliebte Persönlichkeit.“ Ende Februar 1877976 wird der Ober-Präsident gemahnt, sich zur Verleihung des „Charakters als Commerzienrath“ an Aschrott zu äußern. In seiner Antwort vom 4. August fügt dieser an, der P.D. Albrecht habe sich zugunsten Aschrotts ausgesprochen, während v. Brauchitsch sich entschieden gegen die Verlei- hung wende. Dieser Auffasssung schließt sich Freiherr v. Ende an. Seine Meinung begründet er folgendermaßen: Solange die Oberste Militär-Verwaltung Aschrott untersage Armee-Lieferun- gen auszuführen, ihn praktisch in Bann halte, sei mit diesem Misstrauensvotum eine Verleihung der Auszeichnung nicht zu vereinbaren. Dies geschehe, obwohl die „erhobene Beschuldigung der versuchten Bestechung... außer Verfolgung gesetzt“ und der Beschuldigte durch „vielfache Zeugnisse seine Tätigkeit und Zuverlässigkeit als Armeelieferant“ vorgelegt habe und mit Hilfe des Lan- deskreditkassen Direktors Dr. Harnier seine Unschuld nachweisen wolle. Weiter versucht v. Ende die fehlende Anerkennung und Achtung der Person Aschrott durch seine Mitbürger mit einem Vorfall zu unterstreichen. Bei beantragter Aufnahme in das Casseler sog. Bahn-Museum977 zeige die Anzahl der abgegebenen schwarzen Kugeln bei der Ballotage978 eindeutig seine Ablehnung, so dass nach dieser „öffentlichen Demonstration“ nur die Rück- nahme des Aufnahme-Antrags bleibe und dieser nicht erneuert werde. Im Juni 1877979 sendet das Militär-Oekonomie-Department des Kriegs-Ministeriums eine Nach- richt an den jetzigen Ober-Präsidenten von Elsaß-Lothringen v. Möller, in der der Vorgang der Militärlieferungen sowie die Notwendigkeit der strafrechtlichen Verfolgung angesprochen wer- den. Die militärische Sicht des Schreibens wird bereits im Kap. 9.6.1 eingebracht. Warum wird in dem Zusammenhang v. Möller gefragt? Dieser bekleidet von 1868 bis 71 in Kassel das Amt des Ober-Präsidenten und scheint bestens mit den Auswirkungen des Lieferverbots und den Be- ginn der Stadterweiterung vertraut. Wahrscheinlich hat v. Ende sich bei v. Möller informiert und letzteren gegenüber dem Kriegsministerium eingeschaltet, um vielleicht die Tatkraft Aschrotts zu unterstreichen. 972 Schreiben vom 20.12.1876. 973 Auf einem Extrablatt der Akte wird zu diesem Vorgang geschrieben, Herr S. Aschrott zu Cassel wird von guten Leuten zur Ernennung vorgeschlagen. (Bestand wird im folgenden Text nur bei Aktenwechsel angegeben.) 974 Der Ernennungsvorgang verläuft, indem eine angesehene Persönlichkeit mit einem Vorschlag, der sich auf bestimmte Leistungen gründet, Bürger an die zuständige Landesbehörde, hier dem Ober-Präsidenten, mitteilt oder direkt dem Ministerium für Handel und Gewerbe oder seiner Majestät vorschlägt. Wählt man den Weg über den Ober-Präsidenten, leitet dieser den Vorgang weiter an das Ministerium für Handel. Nach Abwägen des Antrags wird die zuständige Provinzialregierung um Gutachten zur Person gebeten. In Hessen-Nassau führen das der Regierungs-Präsident (als Vize Präsident) und der P.D. aus. Werfen die Gutachten Zweifel auf, werden betroffene Einrichtungen zur Sache befragt. Im Fall Aschrotts betrifft das die Militär-Intendantur in Kassel und das Kriegsministerium in Berlin. Nach Überprüfung der Aussagen entscheidet der Minister und leitet bei positivem Entscheid an die General-Ordens-Kommission zur Patentanfertigung weiter. Die Aushändigung veranlasst das Ministerium für Handel bzw. der P.D. durch Übergabe. 975 Schreiben vom 5. Januar 1877. 976 Schreiben vom 27. Feb.1877. 977 Casino, in welchem die Herren der Bürgerschaft einschließlich Juden verkehren. 978 Ballotage – geheime Abstimmung mit weißen und schwarzen Kugeln. 979 Schreiben vom 25. Juni 1877 an den Wirkl. Geh. Rat und Ober-Präsidenten Herrn v. Möller – Excellenz Straßburg. Herr v. Möller, geb. 1814, gest. 1880, ist 1867 RP in Kassel und 1868-71 dort OP. 306 Das vernichtende Urteil des Militärs lautet: Sich vorsätzlich von Militärbeamten unerlaubte Mitteilungen zu verschaffen, billigt schon mit Rücksicht auf die Integrität des Personals keine Verbotsrücknahme. Unter solchen Vorzeichen könne eine Aufhebung des Banns nicht erfolgen. Noch im August980 wird der Antrag in Berlin abgelehnt. Bereits 1878981 meldet das Ministerium weiter, die Verleihung des Titels „Commerzien-Rath“ an Aschrott sei in Anregung gebracht. Das zuständige Kabinett bringt die bekannten Gründe vor und rät, Abstand zu nehmen. Der Kommentar des Ministers besteht nur aus der Anmerkung: „Ganz einverstanden.“982 Graf zu Solms-Roedelheim983 erneuert 1879 den Antrag der Titelverleihung. Neben Bekanntem wird Aschrott auch als Landwirt und Besitzer der Hochstätter Bergwerke beschrieben. Zu dem Projekt Stadterweiterung wird ergänzt, „bei jüngster Anwesenheit in Cassel haben Majestät in höchst- eigener Person die neue Straße des Stadtteils eröffnet und sich in anerkennender Weise über die wahrhaft großartige Schöpfung...`Kaiserstraße` - gegenüber dem Herrn Polizei Direktor Albrecht [...] ausgespro- chen.“ Auch wird ein Geschenk an den Kaiser erwähnt, das „10 Jahre der Entwicklung Cassel unter Preußischem Zepter“ als Plan der Stadt zeigt. Mit ihm will Aschrott den Fortschritt des preußi- schen Jahrzehnts gegenüber der Entwicklung Kurhessischer Herrschaft verdeutlichen, um dem Herrscherhaus zu gefallen und an sein Projekt zu erinnern. Bei dem Geschenk kann es sich nur um eine Ausführung des Neumannplans handeln, der mit Begleittext überreicht wird. Die Behörde lehnt die Verleihung des Charakters mit der Begründung, „schon früher wiederholt und zuletzt noch im vorigen Jahr eingehend“ geprüft zu haben, ab.984 Ob beim Ministerium mündlich interveniert wird, ist nicht festzustellen. Der zuständige Dezer- nent greift am 10. Mai985 in einem Schreiben an v. Ende erneut die Anregung zur Ernennung auf, verweist auf v. Endes Brief vom 4. August 1877 und betont, neuerdings sei von beanstandenswerter Seite der Vorgang wieder angesprochen worden. Der Ober-Präsident wird um Mitteilungen zu Veränderungen gebeten oder gefragt, ob Bedenken weiter bestehen. Im Juni mahnt das Ministerium v. Ende986 mit der Bitte um Erledigung. Ein anderer Antragsteller für einen weiteren Versuch ist nicht erkennbar. Anmerkungen fehlen, es ist wahrscheinlich eine mündliche Eingabe. V. Ende987 teilt mit, nicht alle Unterlagen erhalten zu haben. Dabei hebt er hervor, dass Äußerungen des PD noch nicht eingegangen sind und man sich um weitere Gutachten bemühe. Ullmann988 ermahnt Kassel erneut. Schließlich treffen drei Berichte mit einer kurzen Stellungnahme v. Endes989 in Berlin ein. Der Militär-Intendant990 des 11. Armee-Corps, der Wirkl. Geh. Kriegs-Rat Ritter, fasst das militärische Vorgehen und die Einschätzung des Kriegsministeriums zusammen. Interpretatio- nen des Berichts erfolgen im Kap. Militärlieferungen. Er spricht jedoch vom Einreichen einer Provokationsklage gegen Aschrott, „ einer Verdunkelung des Sachverhalts vorzubeugen“, von der Berlin aber erst Abstand nehmen will. In seinem Gutachten vom 23. Juni 1879,991 unterstreicht der PD das besondere Engagement Aschrotts und stellt dessen Arbeit heraus. Für ihn ist dieser würdig, einen Titel zu erhalten, und 980 Schreiben vom 26. August 1877. Die eingesandten Gutachten gehen zurück. 981 Schreiben vom 8.7.1878. 982 Best. s.o. 983 Schreiben vom 29. April 1879. 984 Schreiben des Dezernenten Dr. Ullmann von Mai 1879. 985 Beim Schreiben vom 10. Mai kann die Unterschrift nicht eingeordnet werden. Nicht Ullmann unterzeichnet, vermutlich wird ein Ranghöherer abzeichnen, vielleicht der Minister selbst. 986 Schreiben vom 6. Juni 1879. 987 Schreiben vom 16. Juni 1879. 988 Schreiben vom 23. Juli 1879. 989 Schreiben vom 25. Juli 1879 990 Schreiben vom 23. Juni 1879. 991 Teil des Berichts wird bereits unter dem Punkt: “Frühe Würdigung des Stadtbaumeisters“, zitiert. 307 er erwähnt bereits im Bericht vom 10. Februar 1877, dazu geantwortet zu haben. Seine Einschätzung zu Aschrott habe sich nicht geändert. Für Albrecht bedeuten die Differenzen mit Aschrott, um die Sache zu streiten. Er scheint frei von Ressentiments gegenüber dem „Juden und Bodenspekulanten“, spricht dessen vordergründiges Ziel, den Kapitalgewinn bei dem Projekt, an und weist darauf hin, dass ohne Idealismus ein solches Unternehmen nicht zu verwirklichen sei. Mit dieser Einschätzung scheint der Reg. Präsident v. Brauchitsch nicht einverstanden gewesen zu sein und hat sie wahrscheinlich für äußerst abwegig gehalten. So beginnt er mit der Beurtei- lung des PD Albrecht, dass dieser es unterlassen habe, auf Fragen des Ministeriums zu antwor- ten, ob sich die Ansichten wesentlich verändert haben, obwohl dazu mehrfach aufgefordert. Nach Meinung992 v. Brauchitschs besteht kein Grund zur Verleihung, weder zu einem früheren noch zu einem späteren Zeitpunkt. Im letzten Teil des Schreibens setzt er sich mit der Auszeich- nung des Bankiers Louis Pfeiffer und dessen Unterstützung des Handels auseinander. Die Titel- verleihung an ihn, als Ehrenmitglied der Handelskammer, sei angebracht gewesen, wogegen Aschrott noch nicht einmal in diese aufgenommen worden sei. V. Ende unterstreicht in seiner Stellungnahme, mit allen Berichten im Allgemeinen einverstan- den zu sein und verweist auf die Äußerungen vom 4. August 1877, dass Aschrott dort bereits von der Kgl. Preußische Militär-Verwaltung „quasi mit Bann belegt“ gewesen und eine Aus- zeichnung daher ausgeschlossen sei. Mit den Ausführungen Albrechts können die Verwaltungen in Kassel und Berlin nicht umgehen, da er von der eingeschlagenen Linie abweicht. Bei späteren Äußerungen wird mehrfach dessen Gutachten erwähnt. Im Juni 1880993 wird eine erneute Aufnahme angeregt. Verfasserin des Schreibens ist „die Palastdame Ihrer Majestät der Kaiserin und Königin, Gräfin v. Hacke.“ Sie charakterisiert die Wohltätigkeit des Bankiers Aschrott und dessen offene Hand zur Linderung von Not und Leiden innerhalb der Bevölkerung, seine Förderung der Leinenindustrie und seine Schaffung eines neuen Stadtteils, der Hohenzollernstadt. Er habe „für die Preußische Sache... in Hessen warm und eifrig gewirkt.“ „Durch Grundbesitz und Fabriken [sei er] heute der höchstbesteuerte des früheren Kurfürstenthum-Hessen.“ Das Ministerium994 fragt erneut, verweist auf das Albrecht-Gutachten und fordert das Dezernat995 auf, ob die 2 Millionen Mark unausgeglichener Ansprüchen von Aschrott noch bestehen. Ob das Verbot überhaupt ergangen sei und wie man heute im Kriegs-Ministerium dazu stehe. Der Minister oder auch sein Stellvertreter wollen sich fast 10 Jahre nach Abbruch der Militärlieferungen ein eigenes Bild machen. Die Antwort nimmt die früheren Argumente996 erneut auf und unterstreicht weiter, von einer Auszeichnung Abstand zu nehmen. Auch auf ausstehende Zahlungen an das Consortium wird eingegangen. Das Ministerium für Handel997 antwortet der Palastdame, dass die Auszeichnung von den beiden Amtsvorgängern, Minister Achenbach und Minister Maybach, 1878 angeregt worden sei, eingehende Erörterungen stattgefunden hätten. Wie auch bei den Vorgängern festgestellt, seien „geschäftliche und persönliche Verhältnisse der p. Aschrott nicht geeignet, um die Befürwortung einer Verleihung gerechtfertigt erscheinen zu lassen.“ Ihn haben „zwingende Gründe“ gehindert, der „Anregung Folge zu leisten.“ 992 Auf das Schreiben v. Brauchitsch von 21. Juli 1879 wird bereits bei der Frage des Stadtbaumeisters eingegangen. 993 Schreiben vom 2. Juli 1880. 994 Datum des Schreibens ist unleserlich. 995 Schreiben an den Kgl. Staats- und Kriegsminister, General der Infanterie Herrn v. Kamecke vom 9. Juli 1880. 996 Schreiben vom 14. Juli 1880. 997 Das Schreiben vom 23. Juli 1880 unterzeichnet eine Person Hofmann. 308 In einem Promemoria998 wird der bisherige Vorgang nochmals einzeln aufgegriffen. Es schließt: „Dies alles ist aber nicht genügend erschienen, um die vorerwähnten schweren Bedenken zu beseitigen.“ Offensichtlich will das Dezernat in Berlin eine Argumentationsbasis schaffen, um bei weiteren Anträgen darauf zurückzugreifen. Von wem die Zusammenfassung stammt, ist nicht festzustellen. Es dauert 5 Jahre bis 1885 der Freiherr v. Gilsa999 einen neuen, nach vorliegenden Quellen den fünften, Antrag stellt. Herr v. Gilsa führt die bereits bekannten Erfolge Aschrotts an. Nach seiner Deutung bringt der materielle Erfolg eine Anzahl von Neidern hervor, die mit egoistischem Handeln Aschrotts begründet werden können. Weiter erklärt v. Gilsa, kaufmännisches Handeln sei stets mit einem positiven Geschäftsabschluss verbunden. In Kassel würde sich derzeit ein Umschwung der Einstellung zu Aschrott vollziehen, da viele Menschen bei seinen Unternehmungen Arbeit fänden. Weiter erwähnt er den Straßenbahnausbau sowie das Wohltätigkeitsgeld,1000 das über ihn abgerechnet wurde. Die Früchte von Aschrotts Arbeiten ernten sicherlich die Enkel. Man solle überlegen, ob die Anerkennung Aschrotts mit einem Titel, ihn nicht zu weiteren nützlichen Tätigkeiten ansporne. Eine Auszeichnung wirke sich gleichfalls für Kassel positiv aus, da dort seit 1866 erst ein Kaufmann geehrt wurde. Rückfragen beim Ober-Präsidenten Graf v. Eulenburg würden „hochgeeignet“ zur Antwort haben. Aschrott werde hohe Intelligenz und Bildung zugeschrieben. Zudem sei er im Gegensatz zu seinen Glaubensgenossen „Anhänger der Conservativen Preuß. Richtung.“ Seine Andeutung, Aschrott sei trotz mosaischen Glaubens wirklicher Preuße, könnte bedeuten, dass in diesem Fall ein allgemein bestehendes Urteil über Juden nicht zutrifft. In Berlin führt Personalwechsel zur Anfrage1001 beim Kriegministerium, das auch um eine Stel- lungnahme zu Rehabilitierungsversuchen für Aschrott gebeten wird. Wie man heute damit um- gehe. Die Antwort1002 heißt: Ablehnung. Diese wird ergänzt um die Aussage zu einem Wiedergutmachungsversuch Aschrotts von 1882, wo dieser mit großem Aufwand an Beweis- material um Zurücknahme der Beschuldigung nachsucht. Seine Entlastung lehnt das Ministe- rium ab. Bei der Antwort des Ministers an v. Gilsa muss es zu einem Zustellungsfehler gekom- men sein. Die Ablehnung wird an die Hoteladresse geschickt, v. Gilsa ist bereits abgereist, wie der Polizeiwachtmeister feststellt, der angibt, ein Baron v. Gilsa müsse mit diesem identisch sein. Die Ablehnung wird dann wahrscheinlich an v. Gilsa in Gilsa geschickt, der in seiner Ant- wort von Verwechselung1003 spricht. Nach erneuter Unterbrechung von 5 Jahren unternimmt der Ober Präsident Graf v. Zedlitz1004 einen wiederholten Versuch, um Aschrott, er ist im 74. Lebensjahr, mit dem Titel `Kommerzienrat` auszeichnen zu lassen. Graf v. Zedlitz hat dazu schon beträchtliche 998 Promemoria – zum Gedächtnis. 999 Antrag vom 5. Juni 1885. In diesem Brief beschreibt der Freiherr v. Gilsa Aschrott als einen Menschen mit hoher Intelligenz, mit guter Bildung und im Gegensatz zu seinen Glaubensgenossen als einen warmen Anhänger der „conservativen“ preußischen Richtung. - Die offensichtlichen Nachfor- schungen zu der Person macht der Polizeiwachtmeister Marx. In dem Hotel Kaiserhof hat in der Zeit von 28. Mai bis 7. Juni d.J. ein angeblicher Baron Gilsa, Privatier aus Gilsa bei Kassel, logiert. Er dürfte mit dem Freiherrn aus Kassel identisch sein. Den Nachforschungen wird vermutlich nachgegangen, da der Brief des Ministers an v. Gilsa in Berlin, in dem diesem mitgeteilt wird, dass durch eingezogene Erkundigungen der Charakter des früheren Fabrikbesitzers S. Aschrott „nicht angängig“ für den Titel Kommerzienrat sei, zurückgeschickt wird. Die Nachfragen bei dem Gutsbesitzer Felix v. Gilsa zu Gilsa durch gleiche Stelle ergeben, dass es sich um eine Verwechslung oder einen Irrtum handeln müsse, denn diesem sei niemals in den Sinn gekommen, Aschrott zu charakterisieren. (G St A, Hpt. I Rep. 120, Cb V, Fach A, Nr. 16.) 1000 Auf Einzelheiten wird im Kapitel “Spenden” eingegangen. 1001 Schreiben vom 10. Juni. 1002 Schreiben vom 17. Juni 1885. 1003 Schreiben vom 26. Juni 1885. 1004 Schreiben von 3. Februar 1900. 309 Vorarbeit1005 geleistet. Bei einer Fahrt mit dem Kaiser nach Arolsen bringt er die Verdienste Aschrotts in Cassel zur Sprache und berichtet detailliert von Anstrengungen und Verdiensten des Stadtbaumeisters.1006 Er stellt die Stadtbausituation unter dem letzten Kurfürsten, bei der Kassel lediglich 41000 Einwohner hat, dar und vergleicht diese mit der Entwicklung der letzten 34 Jahren, in denen die Stadt auf 101300 angewachsen sei. Einige bauliche Entwicklungen seien nicht in der Form erfolgt, wie es für eine Kaiserliche Residenz angemessen sei. Der „Feld- Abschnitt“ vom Ständeplatz im Osten nach Wilhelmshöhe im Westen stelle einzig ein Verdienst des Bankiers Aschrott dar. Wie kann es zu den sich regelmäßig wiederholenden Anträgen kommen? Fehlende Informationen oder falsche Sachlagendarstellung lassen auf eine Weitergabe durch Gespräche schließen. So kann Aschrott versuchen, in seinen Geschäftskreisen Personen zu fin- den, die sich direkt für ihn einsetzen oder andere einflussreiche Persönlichkeiten überzeugen, einen Antrag zu stellen. Aussagen des Freiherrn v. Gilsa wiederum zeigen, dass er mit den Ver- hältnissen vertraut ist. Graf v. Zetlitz kennt die Ursachen der ständigen Ablehnung. Um die Meinung des Kriegs-Mi- nisteriums zu umgehen, bittet er das Militär vor Ort um eine Stellungnahme. Von diesem Kreis könnte eine Rehabilitierung ausgehen, weil die Verleumdung dort wahrscheinlich ihren Anfang nahm. General der Infanterie und Generaladjutant v. Schweinitz1007 sowie General des 11. Armeecorps General der Infanterie und Generaladjutant v. Wittich1008 geben ihr Urteil zu den Verdiensten ab. Das fällt einhellig positiv aus; Aschrott hat nach ihrer Meinung mit seiner Stadtentwicklung viel vorzuweisen. Herr v. Wittich zieht einen Schlussstrich unter die Armeelieferungen, indem er betont, keine Veranlassung zu sehen, frühere Bedenken aufrecht zu halten. Herr v. Weyrauch1009 lobt gleichfalls die weitblickende Tätigkeit1010 des Fabrikanten Aschrott. Die Strategie des Ober-Präsidenten führt zum Erfolg. Der Patententwurf zum Charakter des Kommerzienrats enthält Bemerkungen zu früherer Ableh- nung Aschrotts. So habe der Reichsbank-Präsident mündlich erklärt, keine Bedenken zu haben. Das sei 1877 nicht der Fall gewesen, weil er damals von geringer Beliebtheit gewesen sei und Anfeindungen ausgesetzt gewesen sei als Folge der Grundstücksgeschäfte. Jedoch sei früher schon die bauliche Entwicklung hervorzuheben. Das Kriegministerium habe sich noch 1883 gegen Aschrott ausgesprochen, trotz des negativen Resultats der 1870 eingeleiteten Klärung. Nach dem positiven Ende zweifele man an der ersten Stellungnahme. Das Festhalten am Mili- tärbetrug wird ebenso kritisiert, da nach Urteil durch das Amtsgericht kein Beeinflussungsver- such erkennbar sei. Am 20. Februar 1900 wird der Titel1011 verliehen. Vierzehn Jahre wohnt Aschrott bereits in Berlin, doch die entscheidende Initiative zur Ernen- nung kommt aus Kassel. Hier erkennt ein einflussreicher Kreis die Arbeit des Stadterweiterers an, von der der frühere PD Albrecht bereits 1876 überzeugt ist. 1005 In der Akte des Polizei Präsidenten Berlin, betreffend den Bankier Sigmund Aschrott von 1897-1915, existiert ein Schreiben vom 13. August 1897 von dem Präsidenten an den dortigen Reg. Präsidenten, in dem der bekannte Werdegang Aschrotts dargestellt wird. Der Informationsfluss lässt Rückschlüsse auf eine eventuelle Anfrage aus Kassel zu, inwieweit sich die Einstellungen geändert haben. Vielleicht könnte sie darauf verweisen, der Antrag sei lange über einen Zeitraum von 3 Jahren vorbereitet. (A Pr.Br. Rep. 30, Nr. 8795.) 1006 Teile des Schreibens fanden bereits im Kap.: Ausbau des Hohenzollern-Viertels Verwendung. 1007 Schreiben vom 23. Januar 1900 (GStA, Com.). 1008 Schreiben vom 28. Januar 1900 (Best. s.o.). 1009 Die Äußerungen v. Weyrauchs sind im Zusammenhang mit Antisemitismus angesprochen. 1010 Die Äußerungen v. Weyrauchs sind im Zusammenhang mit Antisemitismus angesprochen. 1011 Es heißt: Laut Patent vom 20.02.1900 zum „Commerzien-Rath“ ernannt (A Pr.Br. Rep. 030, Nr. 8794). 310 Vergleicht man die öffentliche Anerkennung der Unternehmerfamilie Henschel mit dem fort- währenden Bemühen Aschrotts um Ernennung, so erhält der 11 Jahre jüngere Oskar Henschel1012 bereits 1868 nur zwei Jahre nach dem Anschluss an Preußen den Titel. Aschrotts Auszeichnung beschreibt auch die Berliner Presse.1013 Die Berliner Zeitung1014 berich- tet, die Ernennung werde in Kreisen der Berliner Industrie- und Handelswelt lebhaft besprochen. Sein Verdienst beruhe auf der Schenkung von Terrain aus seinem enormen Kasseler Grundbesitz für einen Exerzierplatz an den Fiskus. Diesen Vorgang habe man ihm so hoch angerechnet, dass das Civil-Kabinett sogar darauf ver- zichtet habe, Informationen in der üblichen Weise bei den Ältesten der Kaufmannschaft und beim Polizei Präsidenten einzuholen. Der Bericht endet: „Wenn die Sache so glatt gegangen ist, so haben offenbar diejenigen Unrecht, die behaupten wollen, dass es Herrn Aschrott nur, sozusagen mit Hängen und Würgen gelungen sei, eine Auszeichnung zu erlangen, nach der er schon lange Anspruch zu haben glaubte.“ Hier wird in veränderter Form, nicht ohne ironische Absicht, das 24jährige Bemühen Aschrotts zum Ausdruck gebracht. In seinen Anstrengungen um öffentliche Auszeichnungen wird er nicht müde, neue Anläufe zu nehmen, um sein Ziel zu erreichen. Seine fortdauernden Aktivitäten im Geschäftsbereich überträgt er auf den Sektor Ehrungen. Ständige Wiederholungen erlauben Deutungen zu einem besonderen Persönlichkeitsbild Aschrotts, was vielleicht familiär bedingt ist. Das könnte auf Grund großelterlicher Anlagen, eines Trotzverhaltens sowie erzieherischer Auswirkungen auf Unbeirrbarkeit und Zielstrebigkeit bei Verfolgung eigener Interessen hinwei- sen. In anderem Zusammenhang kann man wahrscheinlich von Patriotismus in Bezug auf seine „Mutterstadt“ und Gefolgstreue gegenüber dem Kaiser ausgehen. Wiederholtes Abweisen bei seinen ständigen Erfolgsbemühungen negiert er, um mit neuen Anläufen einen Durchbruch zu erzielen. Für viele Bürger, die gleichfalls mit Auszeichnungen sympathisieren, bieten seine Be- mühungen Anlass zur Kritik. 9.3.2 Auszeichnungen und Spenden – ein enger Zusammenhang Nach Ernennung zum Kommerzienrat scheint der „Bann“ gegenüber Ehrungen für Aschrott gebrochen. Die Akte gibt Auskunft zu weiteren Auszeichnungen innerhalb kurzer Zeit. In Schriftwechseln lässt sich eine veränderte Einstellung zu Aschrott feststellen. Doch das Ent- scheidende für die Wende geht vermutlich von ganz anderer Seite aus. Die Aschrott betreffen- den Unterlagen über Spenden zum Wiederaufbau1015 der Saalburg stehen meist in engerem Zusammenhang mit weiteren Auszeichnungen. Bei den Ausführungen zur Anglikanischen Kirche1016 in Kassel wird auf Aschrotts Besuche in Bad Homburg hingewiesen. Doch sein Aufenthalt dort lässt sich ebenso mit seinem Interesse am Projekt Saalburg erklären. Die Aufmerksamkeit Wilhelms II., die er dem Wiederaufbau des Römerkastells schenkt, ähnelt nach Motivationslage der des hessischen Kurfürsten Wilhelm I.1017 im Bezug zur Löwenburg. 1012 Am 10. Oktober 1868 wird Henschel der Titel “Commerzien-Rath” verliehen (Wörner-Heil, 2004, S. 161). 1013 Best. s.o. 1014 Berliner Zeitung Nr. 116 vom 10.3.1900. 1015 GStA Hpt. I Rep. 89, Nr. 20673 (weiter als GStA Saalb. bezeichnet). 1016 Kap. 8.3.4 Anglikanische Kirche. 1017 Dazu führt Presche an, die Löwenburg „ist in erster Linie aktuelle `Modeerscheinung` aus England und zugleich ein Rückzugsort von der Hofetikette (gleiche Funktion hatte schon der burgähnliche Turm in Wilhelmsbad bei Hanau, vor seinem Regierungsantritt). Damit entsprechen solche Bauten den „chine- sischen“ Lustschlössern des Rokoko. Dieser Rückzug in die private Welt wird im Sinne der romantischen Mode jener Zeit mittelalterlich verbrämt. Die klassische Antike steht dabei häufig für die offizielle Seite, die Staatsrepräsentation, das Mittelalter übernimmt den privaten Rückzugsbereich. (Ch. Presche zu obiger Textausführung schriftlich an den Verf.) 311 Hier werden monarchistische Kindheitswünsche im Erwachsenenalter1018 zur Realität. Aschrott wird von dem Interesse Wilhelms II. für die Saalburg wissen und deshalb ein Treffen mit dem Geh. Baurat Jacobi einleiten. Jener hat als Kopf des Wiederaufbaus des Kastells direkten Zu- gang zum Kaiser. Diesen Einfluss möchte Aschrott nutzen, um persönliche Anerkennung durch seine Majestät zu erfahren. Jacobi schreibt im August 19031019 an den Kaiser: ...“Herr Commerzienrath Sigmund Aschrott von Berlin, der sich mir vorstellte, besuchte heute mit mir die Saalburg, bei welcher Angelegenheit er mir zu erkennen gab eine Stiftung für den weiteren Ausbau des ihn sehr interessierenden Römerkastells zur Ver- fügung stellen zu wollen. Ich habe Herrn Aschrott den Vorschlag gemacht die Mittel für einen in sich abgeschlossenen Bauteil zu geben und auf die Porta dextra hingewiesen und zwar soll er die bereits ver- ausgabten Kosten und diejenigen, die noch für die Fertigstellung des Innern sowie für die Brücke erfor- derlich sind mit 20000 M. übernehmen. Herr Aschrott hat sich hierzu bereit erklärt und mir heute Abend die betreffende Summe von 20000 M. eingehändigt.“ Jacobi stellt weiter dar, wie die Arbeiten durch die Zuwendung vorangehen werden. Bemerkenswert erscheint der Schlusssatz. „..., dass Herr Aschrott mich gebeten hat von einer Veröffentlichung seiner Stiftung zur Zeit absehen zu wollen.“ In- folge dieses Treffens könnten bei den Beteiligten sowie Unbeteiligten drei verschiedene Überle- gungen reifen. Obiges Treffen Aschrotts1020 mit dem Geheimen Baurat Jacobi1021, Leiter der Wiederherstellung der Saalburg, findet am 20.8.19031022 in Bad Homburg statt. Jacobi führt Aschrott durch das Römerkastell und dabei bietet sich der Kommerzienrat an, sich finanziell an den Arbeiten zu beteiligen. Er sagt nach der Begegnung mit Begeisterung und Erleichterung, man habe das aus dem Saalburgfond für die porta dextra entnommene Geld wieder zur Verfügung. Für Jacobi, 10 Jahre jünger als Aschrott, bedeutet das zufällige Kennenlernen, einen großherzi- gen älteren Herrn getroffen zu haben, der ohne lange zu zögern mit einer beträchtlichen Summe das Interesse des Kaisers, das auch sein eigenes ist, unterstützen will. Hier wird ein sehr hoher Betrag angeboten. Zwar bezahlt Curt v. Honrichs im Mai 19031023 den gleichen Betrag, aber noch im Februar d. J.1024 berichtet Jacobi enttäuscht: „...im vergangenen Jahre [hat] ein Herr aus Mecklenburg [gemeint ist v. Honrich] das linke Thor stiften wollen, aber, wie es scheint, [ist er] bisher nicht dazu gekommen.“ Das Überwältigende der Begegnung mit Aschrott wird die sofortige Geld- übergabe noch am Abend sein. Zudem äußert Aschrott den Wunsch, nicht öffentlich erwähnt zu werden, für den Baurat wahrscheinlich eine Geste äußerster Bescheidenheit. Der Kaiser hat die Vorstellung, das Zusammentreffen beschleunige den umfassenden Fortgang der Bauarbeiten, und füge somit seinem Kindheitstraum einen weiteren Baustein hinzu. Den Namen des Spenders wird er nicht registrieren, das kann möglicherweise erst bei Wiederholung des Vorgangs erfolgen. 1018 Wie das Bestreben nach Macht gegenüber anderen als fundamentales Bedürfnis menschlichem Verhaltens anzusehen ist, lässt sich dessen Ursprung in „familialen Konstellationen narzisstischer Strebungen und ödipaler Wünsche und Ängste“ vermuten. So können gleichfalls Kindheitsträume von soldatischem oder ritterlichem Handeln den Prozess für Machtentfaltung mit beeinflussen, dies tritt in der „Raumsymbolik“ als „menschheits- wie individualgeschichtlich verankertes Phänomen“ zutage. (Jüngst, 1996, S. 16.) Nachbildungen oder Rekonstruktionen von Bauwerken ermöglichen Individuen die Sensibilisierung und das Erleben von historischem Kontext und tragen weiter zu dessen Verstärkung bei. 1019 Schreiben vom 19. August 1903 (GStA Saalb.). 1020 Die Zugangsliste vom 15. bis 19. Juni 1903 der „Kur-Bureau“ führt Aschrott unter: Aichroth, Comm.- Rat u. Bdg., Berlin, Ritters (Stadta BH, Homburger Fremdenliste). 1021 1909 hat Aschrott weitere 10000 M. für die Saalburg gespendet und er bittet am 15.7.1909 Jacobi ihm schriftlich eine Bestätigung des Betrages mit dem Titel „Forum“ zukommen zu lassen. Am 2.8.d.J. bittet er Jacobi erneut, nach Karlsbad in Böhmen die Bestätigung zu schicken, und fügt an, ihm sei unbekannt, ob die letzte Spende schon offiziell Erwähnung gefunden habe. (G St A, Hpt. I, Rep. 89, Nr. 20673.) 1022 Brief vom 20.8.1903 von Jacobi an Euere Exellenz (G St A,Hpt. I, Rep. 89, Nr. 20673). 1023 Schreiben vom 29. Mai 1903 (Best. s.o.). 1024 Schreiben vom 18. Februar 1903. 312 Für Aschrott bedeutet das Ereignis, eine Änderung seiner Taktik und damit einen neuen Weg zu betreten, indem er den Kaiser seine Ergebenheit beweisen kann. Aschrott ist sich bewusst, wie er den Baurat mit Geld für seine Absichten gewinnen kann. Seine diskrete Zurückhaltung ent- springt seiner gelernten Vorsicht, die besagt, nur bei Diskretion reifen Vorhaben. Dagegen kön- nen schnelle Publikationen die Entfaltung eher verhindern oder in eine nicht gewünschte Rich- tung lenken. Bei einer Aufforderung1025 zu einer Spendenbestätigung sechs Jahre später fragt Aschrott Jacobi, ob seine „letzte Widmung [gemeint ist eine Spende über 10000 M.] schon offi- ziell Erwähnung gefunden hat?“ Der Bankier hat jetzt seinen Platz in der Gesellschaft erreicht und erwartet eine Reaktion für seine Spenden. Welchen Stellenwert Jacobi im Leben des Spen- ders einnimmt, drückt der Schlusssatz aus. „Mit meinen besten Empfehlungen begrüße ich Sie hochverehrter Herr Geheimrat in alter Verbundenheit freundschaftlichst S. Aschrott.“ Das hand- schriftlich in ungelenker Schrift von dem 83jährigen Geschriebene und seine persönlichen Schlussworte verraten eine enge Verbundenheit mit Jacobi. Diese schließt Dankbarkeit mit ein, denn durch ihn gelingt Aschrott der schnelle Erfolg bei seinem Bemühen, der Obrigkeit zu ge- fallen und von ihr akzeptiert zu sein. Auf seine Spende reagiert der Hof1026 sofort und teilt dem Minister für Handel mit, seine Majes- tät der Kaiser und König sei geneigt, Aschrott den „Roten Adler Orden“ vierter Klasse zu verleihen. In einem vertraulichen Schreiben1027 fordert das Ministerium von dem Polizei- Präsidenten eine „schleunige Äußerung“, ob Bedenken zur Verleihung bestünden. Es wird hinzugefügt, der genannte habe sich schon früher mit Spenden zu wohltätigen Zwecken hervorgetan. In einem weiteren Brief am 22. August 1903 berichtet der Ober-Hofmarschall Graf zu Eulenburg an den Baurat Jacobi seine Majestät „von der hochherzigen Stiftung des Kommerzienrats Aschrott für die Saalburg“1028 unterrichtet zu haben. „Der Kaiser äußerte allerhöchste Freude“ und stimme der Verwendung der Mittel zu. Dem Stifter wolle er seinen Allerhöchsten Dank aussprechen. Der zweite Teil des Briefes ist an den Minister für Handel und Gewerbe, Herrn Moeller, ver- fasst. Hierin heißt es, der Kommerzienrat Aschrott in Berlin habe sich schon früher mit reichen Spenden zu wohltätigen und gemeinnützigen Zwecken hervorgetan und zur Wiederherstellung der Saalburg eine große Summe zur Verfügung gestellt. Daher würden Seine Majestät beabsich- tigen, ihm „den Roten Adler Orden... zu verleihen.“ Der Polizei-Präsident beziffert in seinem Gutachten1029 das Vermögen Aschrotts und führt aus, er „gilt trotz seines hohen Alters noch als außerordentlich rühriger und scharfblickender Geschäftsmann, der an der Börse in Folge seines Reichtums Beachtung findet, auch werden klare Abmachungen im geschäftlichen Verkehr mit ihm als wünschenswert bezeichnet.“ Gerüchte über seine frühere geschäftliche Tätigkeit seien nicht verstummt, doch sei seit seiner Ernennung nichts Neues bekannt. Die Verleihung des Ordens kann erfolgen. Alle Vorbehalte der letzten drei Jahrzehnte sind vergessen, eine Beurteilung uneingeschränkt positiv. Am 8. September 19051030 erscheint der Kaiser mit großem Gefolge1031 in Bad Homburg, um auf der Saalburg die wiedererstellten Tore einzuweihen und sich die „verschiedenen Donatoren“ 1032 vorstellen zu lassen. Das sind nach dem Taunusboten: „Mr. Roß Winans-Baltimore, der 1025 Schreiben an Jacobi vom 2.8.1909 (GStA Saalb.). 1026 Schreiben: Potsdam, den 22. August 1903 (GStA Com.). 1027 Schreiben wie oben. 1028GStA Saalb. Nr. 127. 1029 Schreiben vom 28. August 1903 (GStA Com.). 1030 Die Zugangsliste des „Kur-Bureau“ führt für 5. bis 9. September 1905: Aschrott, Komm.-Rat u. Sekr. U. Bdg., Berlin, Ritters (Stadta BH s.o.). 1031 Kaiserin, Kronprinz u. Kronprinzessin, Prinz Eitel Friedrich, Adalbert, Prinz Heinrich, Kronprinz von Griechenland, Prinz Friedrich Karl von Hessen, Prinz Boris von Mecklenburg, alle mit zahlreichem Gefolge (Taunusbote vom 9. Sept. 1905 – Stadta BH). 1032Stiftungen für den Kaiserlichen Sammelfond für 1903: 313 Stifter der Porta sinistra, Dr. von Honrichs, der Stifter der praetoria, Kommerzienrat Aschrott, der Stifter der Porta dextra“ u.a.. Bei beiden angeführten Besuchen steigt Aschrott im Ritters Park-Hotel, dem Domizil des Kai- sers, ab. In der Erwiderung1033 oben angeführten Schreibens an seine Majestät bemerkt der Chef des Geh. Civil-Kabinetts, gegen die Verleihung des Roten-Adler-Ordens an Sigmund Aschrott keine Bedenken zu haben, die General-Ordens-Kommission1034 sei mit der Ausfertigung beauftragt. Der Polizei Präsident wird aufgefordert,1035 die Insignien zu überreichen, was am 11. September erfolgt. Am 15. September1036 erhält der Minister für Handel von der General-Ordens-Kommission die Dekoration des Adler-Ordens sowie das Bestätigungsformular für den Empfänger. Vier Wochen sind seit Jacobis Brief bis zur Ordensverleihung vergangen. Das Ergebnis wird Aschrott antrei- ben, den Weg fortzusetzen. Nach weiteren 20 Monaten1037 wird der Polizei Präsident durch den Geh. Reg. Rat v. Bartsch um baldigen Bericht zu persönlichen und geschäftlichen Verhältnissen des Bankiers Aschrott gebeten, dem, wie durch Erlass mitgeteilt, der Titel Kommerzienrat verliehen wurde. Ein Vermerk auf dem Schreiben weist auf den Antragsteller, den Kammerherrn seiner Majestät Dr. v. Behr-Pinnow hin, und erklärt die Absicht. Es handelt sich um die Ernennung zum Geheimen Kommerzienrat. Die unterschiedlichen Meinungen zu diesem Vorgang verdeutlicht die Bemerkung: „... der Minister hat v. B. bereits gesagt, dass acht Jahre die Minimal-Frist für Ernennung... sei, und weiteren schriftlichen Bescheid vorbehalten.“ Auf Grund seiner Bekanntheit bei den engsten Beratern des Kaisers wird nach knapp zwei Jah- ren von dieser Stelle versucht, Aschrott mit weiteren Auszeichnungen zu belohnen. Der zustän- dige Ministerialbeamte sieht darin einen Missbrauch praktizierter Regelungen und scheint sich darüber mit dem Minister verständigt zu haben. Der Bericht1038 des Polizei-Präsidenten umfasst 12 Zeilen.1039 Er führt an, Änderungen gegen- über seinen Angaben vom 22. August 1903 lägen nicht vor. Sein Vermögen1040 belaufe sich jetzt auf 39 Millionen und sein Jahreseinkommen1041 auf 1 ½ Millionen Mark. Curt von Honrichs, Pieversdorf, Mecklenburg 20000.- Ross R. Winans, Baltimore 18500.- Kommerzienrat Aschrott, Berlin 20000.- u.a. Summe 70143,82 (Jacobi, 1903, S. 5). 1033 Schreiben vom 6. September 1903 (Best. s.o.). 1034 Schreiben vom 11. September 1903. 1035 Schreiben des Ministers für Handel vom 18. September 1903. 1036 Berlin, den 15. September 1903 – Wilhelm Str. 63 (GStA Com.). 1037 Schreiben vom 6. Mai 1905 (Best. s.o.). 1038 Schreiben vom 18. Mai 1905 (Best. s.o.). 1039 Der Bericht ist erstmalig mit Schreibmaschine geschrieben (Best. s.o.). 1040 Eine andere Quelle veranlagt 39600000 Mark von Aschrott zur Steuer. Sein Jahreseinkommen wird auch hier mit 1 ½ Millionen Mark angegeben (A Pr.Br. 030, Nr. 8795, Reg. Nr. 26). 1041 Informationen zu Vermögen und Jahreseinkommen Aschrotts durch Reichsbank oder Polizei Präsidenten zeigt folgende Übersicht: 1877 Vermögen 5-6 Millionen Mark 1903 Vermögen 32 Millionen Mark 1905 Vermögen 39 Millionen Mark Jahreseinkommen 1 ½ Millionen Mark. In einer Auflistung der 100 reichsten Personen in Preußen (Jahrbuch der Millionäre in Preußen, von Rudolf Martin, 1912) rangiert Aschrott mit einem Vermögen von 20 Millionen Mark an 64. Stelle. Sein jährliches Einkommen wird mit 1.31 Millionen Mark angegeben. (Simon, 1988, S. 162.) 314 Die Preußische Bürokratie sieht in dem Vorschnellen des Kammerherrn eine ungleiche Behand- lung verschiedener Anträge. Der Geh. Reg. Rat Bartsch des Handels-Ministeriums argumentiert gegenüber dem Kgl. Kammerherrn mit Begründungen, die eine Ernennung nicht erlauben. Erstes Argument: Aschrott sei nicht aktiver Kaufmann, aber nach Allerhöchster Bestimmung sei nur an aktive Kaufleute zu verleihen. Zweites Argument: Aschrotts Ernennung zum Kommerzienrat erfolgte zum 20. Februar 1900, die Wartefrist für den Geh. Kommerzienrat betrage 10 Jahre, in besonderen Fällen 8 Jahre. Drittes Argument: an der Frist sei festzuhalten, weil man sonst Berufungen befürchte und weitere Ausdehnung vermieden werden müsse. Anträge anderer Provinzialbehörden, die den Vorschriften nicht entsprachen, habe er zurückgewiesen.1042 Der Ober-Präsident1043 in Kassel scheint die durch das Ministerium geäußerten Bedenken beherzigen zu wollen und stellt fest: „Das Einwirken des Geh. Kommerzienrat Titels an Aschrott durch v. Behr-Pinnow sei durch die Ausführung vom 2. Juni, abgelehnt... (nicht mehr aktiver Kaufmann, erst 5 Jahre).“ Deshalb solle dem nicht weiter nachgegangen werden. Absicht des Schreibens seitens der Krone besteht darin, die Verleihung des Titels anlässlich des Kaisermanövers auszuführen. Dem Brief wird ein Bericht des Reg. Präsidenten beigefügt, in dem die Auszeichnung mit dem hohen Alter und Aschrotts Wohltätigkeitsbeweisen begründet wird. Der Polizei-Präsident1044 wiederholt in seiner Würdigung die bekannten Angaben: Stadterweiterung, Leinenindustrie und ergänzt: Geldspenden und Grundstücksabgaben an das Hess. Diakonissenhaus. Diese trügen bedeutend zur Weiterentwicklung der Anstalt bei. Ferner könne der „Bau einer neuen (Dritten) lutherischen Kirche“1045 durch Preisermäßigung eines wertvollen Grundstücks erfolgen. Die Verleihung des Kronenordens III. Klasse am 18. September 1905 ist der Abschluss der Querelen zwischen Ministerien und Krone. Bei den unterschiedlichen Vorstellungen zwischen Kgl. Kammerherrn und Handels- Ministerium zur Auszeichnung Aschrotts setzt letzteres sich durch. Der Kammerherr des Kaisers muss sein Vorhaben ändern, da man jedoch an der öffentlichen Ehrung festhalten möchte, wird der Kronenorden gewählt. Die hier dargestellten Interessenskonflikte decken sich in vielen Punkten mit dem am 29. Juli 1907 in „Die Wahrheit“ dargestellten Artikel: „Staatsminister Delbrück – Kommerzienrat Aschrott“. Allerdings verfälscht der Artikel, wie erörtert, bewusst die eigentliche Sachlage und verfolgt mit seiner Darstellung eine antisemitische Demagogie, die sich gegen jüdisches Kapital und deren Vertreter Aschrott richtet. Ein knappes Jahr später erfolgt Aschrotts Auszeichnung mit dem Roten-Adler-Orden III. Klasse mit Schleife.1046 Aus einer Mitteilung des Handels-Ministeriums1047 wird die Ernennung zum Geh. Kommerzien- rat deutlich. Diese wird am 10. April 1907 durchgeführt. Das Schreiben führt an, dass „die vom „ Die zehn größten Berliner Vermögen (in Mill. Mark)“: Für 1905 Ernst v. Mendelssohn-Bartholdy 40,00/ Fritz v. Friedländer-Fuld 35,02/ Rudolf Mosse 34,02/ Kommerzienrat Arnhold 31,24/ Hans v. Bleichröder 31.10/ James Simon 24,72/ Geh. Kommerzienrat Louis Ravené 24,26/ Oskar Huldschinsky 22,18/ Dr. James v. Bleichröder 21,12/ Geh. Kommerzienrat Dr. Ed. Simon 21,10 (Mosse, 1976, S. 78). In der Aufstellung fehlt Aschrott; wieso ist nicht festzustellen. 1042 Als Beispiel dient der Antrag des Ober-Präsidenten in Münster für den Kommerzienrat Dr. Karl Möller, Kupferhammer bei Brackwede, der schon seit 1898 ernannt ist (GStA Com.). 1043 Schreiben vom 2. Juni 1905 (Best. s.o.). 1044 Schreiben von 30 Juni 1905. 1045 Gemeint ist der Bau der Friedenskirche (Hohenzollernstraße). 1046 Auszeichnung am: 14 Juni 1906 (Best. s.o.). 1047 Hier erfolgen Eingabe und Gesuch unmittelbar an die höchste Behörde. Gleiche Vorgänge laufen meist auf dem Dienstweg ab. 315 Gesuchsteller in Aussicht genommenen Zuwendungen im Gesamtbetrage von 100000 Mark“ für die Projekte „eine wesentliche und sehr erwünschte Förderung bedeuten.“1048 In seinem Dankesschreiben an den Kaiser drückt Aschrott seine Gefühle aus. Es ist „mir ein auf- richtiges Bedürfnis, Eurer Majestät dafür meinen ehrfurchtsvollen und tiefgefühlten Dank abzustatten. Um diesem Dankgefühl zugleich einen sichtbaren Ausdruck zu verleihen, hege ich den Wunsch Eurer Majestät einen Betrag von hunderttausend Mark für Unternehmungen zur Verfügung zu stellen.“1049 Im September 1907 berichtet das „Geh. Civil-Cabinett“1050 dem Ministerium für Handel von einem an Aschrott gerichteten „Allerhöchsten Handschreiben“ als Danksagung. Darin bemerkt der Kaiser: „... habe ich mit Freuden ersehen, dass Sie sich gedrungen fühlen, Ihrer opferwilligen ge- meinnützigen Gesinnung einen erneuten Ausdruck zu geben. Indem ich mich zur Annahme der dargebotenen Summe von 100000 Mark hiermit gern bereit erkläre,...“ Aschrott erläutert in seinem Schreiben die Verteilung des Geldes an verschiedene Institutionen. Der Kaiser nimmt lediglich den Betrag „von 30000 M. für eine Muster-Anstalt für Säuglings- pflege“ von Aschrotts Vorschlägen auf und behält sich bei dem restlichen über 70000 M. den Bestimmungszweck vor. Deshalb stellt der Kaiser Aschrott „anheim, den Betrag von 30000 M. an das Kabinett Ihrer Majestät, der Kaiserin und Königin, sowie den Restbetrag einstweilen an meine Scha- tull-Verwaltung abzuführen. gez. Wilhelm R“ – Der von Aschrott verfasste Brief und die kaiserliche Antwort zeigen für den Geh. Kommerzien- rat, seinen Weg gefunden und damit sein Ziel „allerhöchster“ Anerkennung erreicht zu haben. Bei seiner Auszeichnung wird schließlich auch die achtjährige Mindestfrist ignoriert. Nach 7 Jahren und 2 Monaten erfolgt die Ernennung. Eine letzte Ordensverleihung1051 soll auf Grund der Übergabe des Flora-Parks an die Stadt zwecks Errichtung einer Kasseler Stadthalle erfolgen. In den für Auszeichnungen notwendigen Unterlagen befindet sich ein Schreiben des Ministers des Innern an den Ober-Präsidenten in dem „gegen Verleihung des Kgl. Kronenordens zweiter Klasse an den Geh. Kom. Aschrott“ anlässlich „der Tausendjahrfeier der Stadt Kassel“ keine Bedenken bestehen. Aus der Rekonstruktion der Auszeichnungen auf eine Zusammenstellung von Spenden schließen zu wollen, muss scheitern. Über vier Jahrzehnte währende Zuwendungen lassen sich nur punktuell nachweisen. Das bereits zitierte Gutachten1052 des PD Albrecht enthält auch eine Spendenaufstellung. Er schreibt bereits im Juni 1879, Aschrott habe bei „sämtlichen hier bestehende[n] gemeinnützige[n] und Wohltätigkeits-Anstalten und Vereinen die höchsten fortlaufenden Beträge“ gewährt. „Es sind innerhalb von zwei Jahre über 15000 M. für patriotische, gemeinnützige und wohltätige Zwecke. Aschrott ist auch in dieser Beziehung von keinem hiesigen Einwohner übertroffen oder nur erreicht“ worden. Gleichermaßen äußert sich Graf Solms zu Roedelheim.1053 Er habe als Wohltätigkeitspenden des Fabrikanten Aschrott für 1884 allein 20000 M. erhalten. Gefördert werden Diakonissenhaus, Waisenhäuser der Stadt unabhängig von ihrer Konfession sowie Kinderheilanstalten in Soden bei Allendorf. 9.3.3 Philipp Feidel und Emilie Goldschmidt`sche Stiftung Neben umfangreichen Spenden bringt sich Sigmund Aschrott in eine Stiftung1054 ein. Bei der Auseinandersetzung um deren Rechtsstellung wird eins seiner Lebensziele deutlich. Sein Enga- 1048 Das Schreiben wird von Minister Delbrück sowie dem Minister für geistliche Angelegenheiten Dr. Holle unterzeichnet (Best. s.o.). 1049 Schreiben: Berlin, den 28. Juni 1907 (Best. s.o.). 1050 Schreiben: Posen, den 20. September 1907 (Best. s.o.) 1051 Schreiben des Minister des Innern, ohne Datum (Best. s.o.). 1052 Schreiben vom 23. Juni 1879 (GStA Com.) – bereits in Punkt 8.5.2 zitiert. 1053 Schreiben vom 5. Juni 1885 an das Handels-Ministerium (Best. s.o.). 1054 GStA I HA, Rep. 77 Tit. 1017, Nr. 32 –Judensachen Provinz Hessen. Im Weiteren mit GStA Stift. bezeichnet. 316 gement gilt dem israelischen Waisenhaus, genannt die Philipp Feidel und Emilie Gold- schmidt`sche Stiftung zu Cassel sowie die H.S. Aschrott und Regine Aschrott-Stiftung. Für den mit der Familie verbundenen Sigmund Aschrott bedeutet die Zuwendung für die Stiftung seiner Verwandten mütterlicherseits ein besonderes Anliegen. Zur Klärung einer Rechtsfrage 1055schreibt der Reg. Rat Lotz an das Ministerium des Innern in Berlin, der verstorbene Bankier Philipp Lewi Feidel habe aus seiner Hinterlassenschaft1056 bestimmt, 20000 Th. für eine „Wai- sen-Anstalt für arme israelische Kinder der Stadt Cassel“ zu verwenden. Lotz spricht von Ausführungen der Curatoren zu Wirksamkeit und Gültigkeit der Stiftung, ei- nem Statutenentwurf über künftige Geschäftsabwicklungen sowie über das Grundstück Gieß- bergstr. 16, einer Immobilienzuwendung des Kaufmanns Ruben Elias Goldschmidt. Man fordert den Minister zur „Erteilung der Rechte einer juristischen Persönlichkeit“ für die Stiftung auf. Da der Wert 1000 Thl. übersteigt, bittet die Verwaltung um Genehmigung. Die Antwort an den Ober-Präsidenten v. Moeller verlangt, die eingereichten Statuten seien unter dem Aspekt Auflö- sung und Vertretung nach Außen nochmals zu überprüfen. Weiter sei zu kontrollieren, ob die Schenkung die Genehmigung der Standesbehörde erfahren habe oder ob nach Gesetzeslage im damaligen Kurfürstentum dies nicht erforderlich gewesen wäre. Im Dezember 18701057 kommt aus Versailles die Genehmigung für die Zuwendung des Grund- stücks und Anerkennung zur juristischen Person. 17 Jahre später, 1887, Regina Aschrott ist ein Jahr zuvor verstorben und Sigmund bereits nach Berlin gezogen und im 61sten Lebensjahr, wendet sich die Kgl. Regierung1058 in Cassel mit einem Schreiben des Curatoriums1059 des israelischen Waisenhauses an die Berliner Regierung, eine beabsichtigte Schenkung über 6000M. durch den Fabrikanten Sigmund Aschrott zu genehmigen. Aus der Antwort1060 geht hervor, dass die 6000 M. zugunsten der „Aschrott`schen Stiftung“ gedacht sind. Es wird jedoch auf eine unklare Rechtslage hingewiesen. Aschrott solle erklären, ob er dem israelischen Waisenhaus, das als legitimiertes Rechtsobjekt anzusehen sei und nicht, wie beabsichtigt, dem Stiftungs-Fond den Betrag schenke. Letzterer entbehre der juristischen Persönlichkeit. Die Zuwendung könnte in urkundlicher Form oder durch Übergabe geschehen. Aus Cassel1061 wird mitgeteilt, der Fabrikant Aschrott wolle jetzt das Geld an das Waisenhaus und nicht an den Fond überweisen. Da aber die Übergabe bereits erfolgt sei, bitte man um nach- trägliche Genehmigung. Das Berliner Ministerium1062 verdeutlicht mit seiner Zusage, wie das Geld anzulegen sei. Mit den Zinsen des eingezahlten Betrags sollen Aussteuer bzw. Stipendien für Zöglinge der Anstalt bezahlt werden. Gleichfalls werden Bedenken wegen fehlender landesherrlicher Genehmigung in der Kurfürstlichen Ära beseitigt. Nach dem Tod der Mutter scheint der Sohn mit seiner Spende zu beabsichtigen, die Stiftung der Eltern weiter auszubauen. Jedoch treten für Aschrott an bestehender Rechtslage Zweifel auf. Reg. Rat Freiherr Schenk zu Schweinsberg1063 informiert das Ministerium über die Testamentseröffnung von Pauline Goldschmidt,1064 die dem Waisenhaus 10000 M. 1055 Schreiben vom 11. Juli 1870 (Best. s.o.). 1056 Anordnung erfolgt am 27. Februar 1855. Der Vertrag wird am 6. November 1855 gerichtlich beglaubigt. 1057 Schreiben vom 2. Dezember 1870 gez. Wilhelm R. 1058 Schreiben vom 14. März 1887. 1059 Schreiben vom 14. März mit der Anmerkung: Bedenken bestehen nur wegen fehlender notarieller „Cabinettordre von 1. Februar 1843“. 1060 Schreiben vom 6. April 1887. 1061 Schreiben vom 2. Juli 1888. 1062 Schreiben vom 16. August 1888. 1063 Schreiben vom 15. Februar 1902. 1064 Pauline Goldschmidt stirbt am 27. August 1901. Bei Problemen um einen Hausbau in der Victoria Str., Ecke Kölnische Str., wird bereits auf sie Bezug genommen. Siehe Kap. 7.6.4. 317 zugesprochen hat. Da die Verstorbene keine bedürftigen Angehörigen hinterlassen hat, bestehen gegen die Schenkung keine Bedenken. 19071065 erfolgt durch Aschrott eine weitere Zuwendung über 30000 M. an die Feidel-Gold- schmidt-Stiftung. Zweck soll die verbesserte Förderung entlassener Waisenhauszöglinge sein. Auf Grund des „amtsbekannten“ Vermögens des Geldgebers scheint eine Verletzung der Pflicht, hilfsbedürftigen Familienmitgliedern zu schaden, ausgeschlossen. Ein Jahr vor seinem Tod möchte Sigmund Aschrott, wie aus früheren Schreiben bereits hervor- geht, die Rechtsverhältnisse1066 zwischen dem israelischen Waisenhaus und der seit Jahren angeschlossenen „H.S. Aschrott und Regina Aschrott`sche Aussteuerstiftung“ klären. Beide werden getrennt abgerechnet. Das Kapital letzterer Stiftung beläuft sich z. Zt. auf 53000 M. Der Sohn des Stifters möchte den Betrag um weitere 22000 M.1067 erhöhen, wenn der Stiftung „Rechtspersönlichkeit“ verliehen wird. Beide Stiftungen will man in zwei getrennte rechtsfähige überführen. Die Verwaltung der Aschrottstiftung soll nach Satzung von den Kuratoriumsmitgliedern des Waisenhauses erfolgen. Den Grund der Verselbstständigung der Stiftung führt Aschrott mit „Verewigung“ seines Namens an. Die Rechtsstelle des Reg. Präsidenten bemerkt, Verletzung der Pflicht gegenüber hilfsbedürftigen Angehörigen, wie oben schon festgestellt, bestehe bei den notorisch guten Vermögensverhältnissen des Spenders nicht. „Bedenken gegen die Verleihung der Rechtspersönlichkeit“, so stellt der Geh. Reg. Rat Graf v. Platen-Hallermund fest, „habe ich nicht geltend zu machen, wenn ich auch das Vorhandensein eines Bedürfnisses nicht anzuerkennen vermag.“ Mit seiner letzten Bemerkung weist der Verfasser daraufhin, dass rechtliche Eigenständigkeit kein Erfordernis darstellt. Das Ministerium1068 antwortet noch im gleichen Monat. Das Schreiben beginnt: „Die Absicht des Geh. Kommerzienrats Aschrott durch Zuwendung seinen Namen zu verewigen kann auch ohne Errichtung einer rechtsfähigen Stiftung... erreicht werden.“ Weiter heißt es, die 22000 M. der Feidel-Goldschmidt-Stiftung mit der früheren Zuwendung von 53000 M. zu einem Kapital zusammenzufassen und unter der Bezeichnung „H.S. Aschrott und Regina Aschrott`sche Aus- 1065 Schreiben vom 19. September 1907 durch den Reg. Präsidenten. 1066 Schreiben vom 5. März 1914. 1067 Die Satzung der Stiftung führt den Auslöser sowie die Zahlungen der Einrichtung an. Aus Anlass der Goldenen Hochzeit am 5. März 1868 stiften H.S. Aschrott in Cassel in Gemeinschaft mit Frau Regina Aschrott geb. Goldschmidt zur Gewährung einer Aussteuer-Beihilfe an weibliche Zöglinge den Betrag von 400 Tl. (12000 M.) und vier weiteren à 200 Tl zusammen 800 Th. (2400 M.) In dem Fond hat der Sohn S. Aschrott eingezahlt: 9. Juni 1873 50 Tl. 150 M. 31. Mai 1884 1051 M. 1887 6000 M. 4. Mai 1906 30000 M. Außerdem sind laut Testament von Frau Dr. Rosalie Bacher aus Stuttgart 3000 M. hinzugekommen. Der „Heirats-Fond“ setzt sich zum Ziel bei Verheiratung weiblicher Zöglinge einen Betrag bei der Errichtung eines eigenen Hausstandes sowie eine einmalige Unterstützung von bis zu 1000 M. zu leisten. Das Kuratorium bestimmt die Art des Stiftungsvermögens in Form von Wertpapieren und Zinsscheinen bzw. Gewinnanteilbogen. Im Falle der Auflösung der Feidel-Goldschmidt-Stiftung soll ein neues Kuratorium unter Mitwirkung des derzeitigen Casseler Rabbiners und fünf Personen der Casseler Synagogengemeinde gebildet werden. Das Kuratorium besteht am 23. Dezember 1915 aus: Alexander Fiorino, Bankier, Vorsitzender Kom. Georg Rosenzweig, stellv. Vorsitzender Landrabbiner Dr. Doctor Rudolf Ballin, Kaufmann, Rechnungsführer Joseph Heß, Rentner, Schriftführer (Amtsblatt der Kgl. Regierung zu Cassel, Nr. 2 vom 15. Januar 1916 – Stadta. KS). 1068 Schreiben vom 15. März 1914. 318 steuerstiftung... als sogenannte unselbstständige Stiftung zu dem von ihm bezeichneten Zweck gesondert zu verwalten,“ sei möglich. Im Oktober1069 bedarf es weiteren Erklärungsbedarfs in Berlin. Man fragt, ob die Zweckbestim- mung der Aussteuerstiftung über die des Waisenhauses hinausgehe und ob Mittel des Waisen- hauses zugunsten ehemaliger Zöglinge eingesetzt würden. Obiges Ereignis verdeutlicht erneut die Geschäftsinteressen. Daneben tritt der psychosoziale Hintergrund Aschrott`scher Handlun- gen hervor. Die Anlage des Fonds verrät die Zielsetzung, es wird nicht nur eine augenblickliche Unterstützung angestrebt, sondern diese soll weit darüber hinaus fortgeführt werden. Bei der unbedingten Unterscheidung der Fonds scheint auch ein gewisser Altersstarrsinn deutlich zu werden. Ihm geht es allein um die Anführung des Namens. Denn laut Aussage des Ministeriums stellt der bestehende Rechtsstatus die Trennung der Zuwendungen sicher. Aschrott will Ge- währleistung und diese nach seiner Vorstellung in zwei verschiedenen Statuten. So wird das Kapital unter kaufmännischen Gesichtspunkten in Aktien oder anderen Wertpapie- ren angelegt, um dadurch ständiger Geldentwertung besser entgegenzuwirken. „Verewigung“ bedeutet für Aschrott: Den Namen weiterhin in Verbindung mit dem Planer, Spender, Finanzier, Titelträger und Menschen Aschrott zu bringen. Als primäre Motivation für sein Handeln gilt sein Verlangen, seine Wertschätzung in dem Sozialsystem zu erhöhen. Das bezieht sich besonders auf die Gesellschaftsträger, die ihn auf Grund seines Glaubens, aus Neid und wegen seiner gradlinigen kaufmännischen Geschäftspraxis1070 ablehnen. Im Verlauf seines Lebens hat sich seine Triebkraft nach wirtschaftlichem Gewinn in ein zwanghaftes Bedürfnis verwandelt, im Gemeinwesen als achtbar zu gelten. Somit scheint sich sein vordergründiges Verhalten, sich lediglich an Gewinnmaximierung zu orientieren, verändert zu haben. Als Auslö- ser dazu könnte man den Erfolg bei seinen kaiserlichen Spenden sehen. Nach unendlich langer Verzögerung erlangt er Titel und Erfolge. Das fordert nach mehr auf. Für die Umsetzung seines Ehrgeizes erweist sich der wirtschaftliche Erfolg als die Vorausset- zung. Nach Auszeichnungen ist er jetzt interessant für die Kasseler Handelskammer, die ihre Einstellungsänderung durch eine Geburtstagsgratulation ausdrückt. Ein Vergleich des öffentlichen Engagements zwischen der Familie Henschel und S. Aschrott zeigt unter der vorher angeführten Prämisse für Sophie Henschel1071 einen reziproken Gesell- schaftsbezug. Henschel ist als ortansässige Unternehmerin, hohe Steuerzahlerin, Arbeitgeberin, Fertigung sichtbarer Erzeugnisse, Unternehmensführung in mehreren Generationen unter die ersten „Fünf“ der Kasseler Gesellschaft einzuordnen. Sophie Henschel ist als Persönlichkeit ge- achtet; gleichzeitig wird von der Familie erwartet, sich in soziale Lösungen einzubringen. So wird ihre Mitarbeit in Comités und Vereinen der Stadt akzeptiert und Sophie Henschel mit dem Vorsitz im „Kasseler Vaterländischen Frauenverein“ des Roten Kreuzes eine besondere Aufgabe übertragen. (Wörner-Heil, 2004, S. 112/113.) Aschrott dagegen, mit seiner Bereitschaft in der Kasseler Handelskammer Verantwortung zu übernehmen, wird von dieser unter Missachtung des bestehenden Wahlrechts ausgeschlossen. Für Sophie Henschel und Sigmund Aschrott bestehen in Kassel verschiedene Präferenzen. Für Aschrott ergibt sich kein öffentliches Amt, ihm bleibt lediglich soziales Engagement in Form finanzieller Zuwendungen sowie konkrete Hilfe für seine Mitarbeiter.1072 1069 Schreiben vom 7. Oktober 1914. 1070 Der Kaufmann wird als Mensch beschrieben, der als Geschäftsmann seine private Person von Geschäften trennen muss. Kann er das nicht, dass er bei Freunden kauft statt beim billigsten Anbieter oder seinen Sohn anstelle eines kompetenten Fachmannes zum Geschäftsführer ernennt, schwächt er sein Unternehmen. (Vowickel, 1992, S. 31.) 1071 Nach dem Tod ihres Mannes Oskar Henschel 1894 führt sie als Alleininhaberin und Leiterin das Unternehmen fort. 1072 Baetz berichtet von Johannes Berlit, den Aschrott fördert, oder von den Kindern des Bürodieners Lindner in Berlin (Baetz, 1951, S. 3 u. 19). 319 Sophie Henschel, geb. Caesar, integriert sich in eine Unternehmerfamilie, die sich, wie ihr Tes- tament1073 vermerkt, der Wohlfahrt der Belegschaft verpflichtet fühlt. Ähnliche Bedingungen werden bereits bei Darstellung der Margarethe Krupp-Stiftung für Wohnungsfürsorge in Essen (Margarethen-Höhe) offenkundig. In seinem Nachlass setzt Aschrott in Berlin eine Stiftung für Familienmitglieder ein, die infolge ihrer Wirtschaftslage der Hilfe bedürfen. Das von ihm vorbestimmte Stiftungsgremium soll seine Entscheidungen lediglich nach Bedürftigkeit und nicht nach ´Würdigkeit´ treffen. Das auf 500000 M. festgesetzte Stiftungsvermögen wird erst Zahlungen tätigen, wenn es durch Zinser- träge die Summe von 750000 M. annimmt. Dieses Volumen ist stets als Fond zu erhalten. (Nachlassakten Sigmund Aschrott, in: Knobling, 1986, S. 101.) In der nächsten Generation wird die Stiftung nicht in Anspruch genommen, da seine Kinder ein beträchtliches Vermögen erben. 9.3.4 „Kunstdenkmäler“ für Berlin-Weißensee und Kassel Die Auseinandersetzung mit dem Mausoleum der Aschrotts, das unter den vielen auf dem jüdi- schen Friedhof in Berlin-Weißensee das aufwendigste und weit und breit wahrscheinlich das kostspieligste sein dürfte - so bemerkt Etzold bei seiner Beschreibung der letzten Ruhestätte - (Etzold, 1991, S. 208) kann sich nicht in einer äußeren Beschreibung erschöpfen. Der von Aschrott beauftragte Architekt Bruno Schmitz verbindet mit diesem Bauwerk und des- sen Ausgestaltung Gedanken und Wünsche des Auftraggebers. Schmitz lässt seine Vorstellun- gen und Leitlinien zu Großdenkmälern des wilhelminischen Kaiserreichs, wie er sie schließlich im Kaiser-Wilhelm-Nationaldenkmal1074 auf dem Kyffhäuser und im Völkerschlachtdenkmal1075 von Leipzig1076 verwirklicht, miteinfließen. Hauptziel derartiger Großdenkmäler stellt ihre Einmaligkeit dar. So erscheint das Hauptmotiv nicht wieder bei anderen Ausführungen. Ledig- lich die gleiche Standortwahl bei Randlagen, mit Höhenlage herausgehoben, zeigt Gemeinsam- keiten monumentaler Kunstwerke. Mit der Wahl des Architekten scheint das Vorhaben des Auftraggebers deutlich, kein reines Mausoleum bauen zu wollen. Bei der Ausführung orientiert man sich an Merkmalen des Denk- mals. Dessen Aufgabe besteht in Erinnerung an Personen und Ereignisse und impliziert somit einen gesellschaftspolitischen Auftrag. „Forderungen nach Anerkennung von Herrschaft oder Aktivieren von Geschichte als politische Triebkraft und Zielweisung, für das Denkmal“ stehen dabei im Vordergrund (Mittig, 1985, S. 43). Es wird nicht nur als Standbild mit Sockel gestaltet; 1073 „Wohltätige Zwecke insbesondere zum Besten unserer Beamten und Arbeiter, wie dies beim Tod meines Mannes geschehen, auch zu Geschenken an meine Dienerschaft und Gärtner in derselben Art wie damals..., aus Wohlfahrtskassen der Fabrik Henschel & Sohn, an den hiesigen Vaterländischen Frauenverein zur Deckung der durch den Neubau des neuen Rot-Kreuz-Krankenhauses entstandenen Schulden und anderer Wohltätigkeitsanstalten“ (Testament Sophie Henschel vom 27.10.1900; in: Wörner-Heil, 2004, S.113). 1074 Das von Schmitz in den Jahren 1891-96 geschaffene Kaiser-Wilhelm-Nationaldenkmal auf dem Kyffhäuser (Müller, 1990, S. 371) zeigt in seinen Stufungen einen ähnlichen Aufbau wie das in der gleichen Zeit entwickelte Aschrott-Mausoleum; nur in der Dimension der Grundkörper unterscheiden sie sich. Das Aschrott-Grabmal betont die Breite im Verhältnis zur Höhe. Beim Denkmal auf dem Kyffhäuser herrschen umgekehrte Größenverhältnisse. Die Mausoleumsgestaltung ist für einen Friedhof angebrachter. Bei beiden ist eine Dreistufigkeit im Aufbau vorhanden. Wobei der vierseitige Kopfteil des Mausoleums der Krone des rotsandsteinigen Kyffhäuser-Denkmals entspricht. Auch in der Steinfarbe gleichen sich beide. Der aufwendige Steinschliff sowie das Material Granit scheinen dem Architekten beim Mausoleum angebracht, um Einzigartigkeit und Wertigkeit der Anlage zu unterstreichen. 1075An dem Völkerschlachtdenkmal in Leipzig (1898-1913) arbeiten die Architekten Bruno Schmitz und Clemens Thieme sowie die Bildhauer Christian Behrens und Frank Metzner (Mittig, 1985, S. 75). 1076 Schon Moritz Arndt schreibt nach der Schlacht, „dass auf unseren Feldern bei Leipzig ein Ehrenmal errichtet werden muß....Das Denkmal muß draußen stehen, wo so viel Blut floß; es muß so stehen, dass es ringsum von allen Seiten gesehen werden kann, auf welchen die verbündeten Heere zur blutigen Schlacht der Entscheidung heranzogen. Soll es gesehen werden, so muß es groß und herrlich sein, wie ein Koloß, eine Pyramide, ein Dom von Köln.“ (Arndt, M.; in: Marx, 2001, S. 169.) 320 auch Bauten wie der Wiederaufbau der Kaiserpfalz in Goslar mit seinen Bildzyklen sind hier einzuordnen. Auf den Begriff „Kunstdenkmal“ treffen Objekte zu, die an einen Ort gebunden sind, als erhaltenswert erscheinen und deshalb in die „Denkmalspflege“ einzureihen sind. (Mittig, 1985, S. 51.) Aschrott bewertet das Mausoleum als „Kunstdenkmal“ im halböffentlichen Raum. Die Denk- malspflege1077 legt er auf 100 Jahre fest. Der Grundriss des massiven Baukörpers gleicht einem gleichschenkligen Trapez, dessen längere Parallelseite zu einem Rondell des Friedhofs zeigt, hier besteht freie Sicht und gleichfalls wird die Dimension des Bauwerks hervorgehoben. Ein Sockel geht an der Frontseite in vier massive Pfeiler mit schmalen aber gestuften Kapitellen über. Über ein großzügig bemessenes Eingangsportal gelangt man in einen halbdunklen Raum. Die beiden Steinsarkophage stehen auf einer erhöhten Bodenplatte. Sie sind in der Raummitte platziert, sodass der vordere Teil von außen sichtbar ist. Auf den Pfeilern liegt ein schwerer Ar- chitrav mit der in Großbuchstaben geschriebenen Inschrift: ASCHROTT. Zwei Schneckenorna- mente unterbrechen das Kranzgesims. Den zurücktretenden Oberbau in Form eines Pyramiden- stumpfes trägt eine Pfeilergruppe. Die dabei entstehenden Öffnungen lassen indirektes Licht in den Innenraum fallen. Die Davidsterne als Fenster auf den Pyramidenseiten (ebenfalls in ihrer Form gleichseitige Trapeze) sind mit gelben Glas geschlossen und geben dem Raum direktes mildes Licht. Die Sterne umgrenzt Ornamentik. Auf dem Stumpf ist ein verzierter Kopf aufge- setzt. Bei dem Oberbau lässt sich ein europäischer Baustil nicht erkennen, er ist eher als orienta- lisch oder asiatisch einzustufen. Der Grundriss ermöglicht eine monumentale Vorderfront, dagegen verjüngt sich der Körper nach hinten und verringert so seine Masse. Das Mausoleum wirkt in Friedhofs-Umgebung über- dimensioniert.1078 Der Davidstern1079 als Sinnbild für sichtbare und unsichtbare Welt, seit dem 18. Jahrhundert als Glaubenssymbol verwandt, verweist auf den mosaischen Glauben des Erbauers, von ihm empfangen die Toten direktes Licht. Der gesamte Baukörper und die Sarkophage bestehen aus rotem Granit, alle Flächen sind ge- schliffen. Das Gestein könnte infolge seiner Festigkeit und Herkunft als Tiefengestein eine Zeit- spanne ausdrücken und auf die Existenz des Mausoleums und des Erbauers hinweisen. Der Schliff verleiht als Spiegel zusätzlichen Glanz. Das rötliche Gestein verbirgt etwas Königliches. 1077 Die Familienstiftung hält Geld bereit, um das Grabmal zu erhalten und zu pflegen (Knobling, 1986, S. 101). 1078 Das Mausoleum sei das größte in Berlin und mit einem Kostenaufwand von 300000 R.M. erbaut (Info: Friedhofsverwaltung Weißensee). 1079 Brockhaus, 1972, Stichwort: Davidstern. 321 Abb.: 78 Aschrott-Mausoleum auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee1080 Mit diesem „Kunstdenkmal“ möchte Aschrott öffentliche Anerkennung und Achtung über sei- nen Tod hinaus erreichen. Jedoch scheinen viele Betrachter, wahrscheinlich unter dem Eindruck der Masse, eine distanzierte Haltung zu dem Objekt einzunehmen. Für den Künstler weist das Bauwerk möglicherweise eine Grundhaltung des bürgerlichen Lebens auf. Der Bildungsbürger sieht gegen Ende des 19. Jahrhunderts das Denkmal1081 als Mittel der Selbstbestätigung. Nach seiner Vorstellung hängt das menschliche Ansehen nicht mehr von der Herkunft ab, lediglich Leistung und damit verbundener Wohlstand sind Träger öffentlicher Anerkennung. Durch „Abbilden“ wird im Allgemeinen die Wiedergabe der äußerlichen Wirklichkeit verstan- den (Mittig, 1985, S. 62). In seiner erinnernden Funktion weist das Denkmal auf seinen Erbauer hin und ruft den jüdischen Großbürger ins Gedächtnis, der seine Diskriminierung mit wirt- schaftlichen Erfolgen zu kompensieren versucht. Mit dem Bauwerk möchte er der Nachwelt seine Leistung zeigen. In Kassel ist das Kunstwerk (Rathausbrunnen, Abb. 79) von und für Aschrott nicht mehr sichtbar. Es entsteht bereits 1908, von dem Rathausarchitekten Karl Roth geschaffen, in einem der beiden Ehrenhöfe, die sich zur Königsstraße aus der Zweiflügelanlage und der Rathaustreppe bilden. Der rechte,1082 aus der Sicht des Magistrats gesehene erhöhte Ehrenhof wird der Familie Henschel vorbehalten. Sie hat ihren Stellenwert in der Kasseler Gesellschaft über Generationen manifestiert. Den linken auf Straßenniveau abgesenkten bietet die Verwaltung Aschrott an. 1080 Aufnahme des Verf. 2003. 1081 Mittig stellt fest, im wilhelminischen Kaiserreich scheint ein Abkommen zwischen Krone, Groß- und Bildungsbürgertum zu bestehen. Das „einfache“ Volk übernimmt, obwohl oft anders postuliert, lediglich die Rolle des reinen Adressaten statt eines Miturhebers. (Mittig, 1985, S. 69.) 1082 Nach alter gesellschaftlicher Sitte bedeutet rechts von etwas zu stehen als hochwertiger. So heißt es nach christlicher Glaubensvorstellung: Sitzend zur Rechten Gottes. 322 Zwar hat vormals der Verschönerungsverein der Stadt die Kosten des Brunnens tragen wollen, doch der Geh. Baurat Höpfner1083 teilt dem Vereinsvorsitzenden mit, dass der Vorschlag von 8000 M. nicht einzuhalten ist, obwohl der Architekt für seinen Brunnenentwurf keine Kosten berechnet. Auf Anfrage der Verwaltung hat Aschrott bereits signalisiert, zur Ausstattung des Rathauses 15000 M. zu stiften, um damit das Brunnenprojekt zu finanzieren. Die Entwürfe liegen bereits vor, als Aschrott der Bezahlung des Brunnens zustimmt. Auch wird dieser von der Signifikanz seiner Stiftung am Rathaus angetan sein. Denn nur zwei Stifter kön- nen ihre ökonomische Potenz mit symbolischem Raumbezug unterstreichen. Die Plätze für die Brunnen erfordern durch Schräge des Geländes architektonische Konzepte. Daraus entstehen unterschiedliche gesellschaftliche Voraussetzungen für eine Stiftung. Der für Henschel vorbe- haltene Ehrenhof liegt höher, damit wird ihm von vornherein Priorität zugestanden. Dem Architekten gelingt es, mit seinem Entwurf zwischen Henschel und dem anderen Spender (hier Aschrott) unter dem Aspekt gesellschaftlicher Relevanz eine Pattsituation herzustellen. Nimmt man beide in einer Linie stehenden Brunnen in Bezug auf ihre Höhe als Parameter öf- fentlicher Bedeutung, dann erreicht der Sandstein-Obelisk mit 12 Höhe (Kimpel, 1991, S. 331) vom Straßenniveau fast das doppelte Maß der Figurengruppe Everdings.1084 Roth stellt den Obelisken mit seinem Sockel in ein breites Wasserbecken und überträgt sein Gewicht mit Ku- geln auf die Unterlage. Die hier offerierte Gelenksituation bringt Verletzbarkeit zum Ausdruck. Die enorme Höhe des Steins wird durch regelmäßige Sockel vermindert und nimmt damit den Rhythmus der Rathausfassade auf. Mit dem gleichen Material, dem hellen Sandstein, erhöht der Architekt die Korrespondenz zwischen beiden. Roths barocke Brunnenform lenkt den Blick von dem beschatteten tieferliegenden Ehrenhof ins Licht. Abb.: 79 Rathaus 1908 mit Aschrott-Brunnen1085 1083 Brief des Geh. Baurats Höpfner an den Vorsitzenden des Verschönerungsvereins, Geh. Reg. Rat Dr. Knorz von 7. Mai 1908 (Stadta. KS, S 5 A 239). 1084 Den von Sophie Henschel gestifteten Brunnen gestaltet Hans Everding 1910-12 (Wörner-Heil, 2004, S. 137). Die Höhe des Brunnens von Straßenniveau aus, also einschließlich der Terrasse, des Beckens und der Figuren ist mit rund 6 m anzunehmen. 1085 Stadta. KS, S 5, A239. 323 Die Lösung scheint ein Teil der Bevölkerung nicht zu akzeptieren. Deshalb antwortet der Er- bauer den Kritikern, der Aschrott-Brunnen stelle eine häufig „zu findende architektonische Spielerei dar, wenn auch vielleicht etwas schief`.“ Das Konstrukt hilft mit, „in den linken Vor- hof etwas Gliederung zu bringen.“ Dagegen stellt nach seiner Meinung der Henschelbrunnen auf der Terrasse das „Präsentierstück“1086 dar. Der Blick des Architekten und Künstlers auf das Rathaus erfolgt von außen, um die Ausgestaltung seines Entwurfs zu überprüfen. So erfolgt auch seine Bewertung der Ehrenhöfe; ob er damit eine gesellschafts-politische Akzentuierung impliziert, ist nicht nachzuweisen. Die politischen Entscheidungen werden jedoch innen (im Rathaus) getroffen. Aus dieser Sicht kehren sich Bewertungen von rechts und links um. Henschel befindet sich nun rechts oben. Sitzend zur Rechten. Aschrott belegt den linken unteren Platz. Die Höhe des Aschrott-Brunnens schafft den Ausgleich unterschiedlicher Voraussetzungen und ragt über den Henschel-Brunnen hinaus. In seiner Stellungnahme scheint Roth sich zu scheuen, der Publikumskritik zu widersprechen und nimmt seinen Entwurf in die zweite Reihe zurück. Statt dessen „präsentiert“ er das noch nicht vorhandene Werk Everdings als hervorstechende Lösung. Damit bestärkt er die Bevölkerungsmeinung: Oben Henschel, unten Aschrott. Mit gleicher Tendenz, aber zusätzlichem Vernichtungswillen äußert Scheidemann eine Meinung in „Cassläner Jungen“ zu dem Judenbrunnen. Scheidemann unter dem Pseudonym Henner Piffendeckel1087 beschreibt zwei Freunde (einer kann er selbst sein), die von einem Fremden nach dem neuen Rathaus gefragt werden. Einer antwortet, es stehe „hinner dem Judenbrunnen.“ Doch der andere berichtigt, das Rathaus stehe erstens an der Königsstraße und zweitens sei der Judenbrunnen längst abgerissen. Das Problem wird gelöst, indem Letzterem unterstellt wird, keine Ahnung zu haben, da er in der Mühlengasse wohne und dass „der Jiddenbrunnen widder ofgebaut äs.“ (Piffendeckel, 1910, S. 78.) Die Nationalsozialisten folgen in ihrer Vernichtungsfantasie dem „angedachten Auftrag“ und reißen den Obelisken um. Sie deformieren das Becken, das nun mit Erde gefüllt und mit Blumen bepflanzt wird. Ihr „Werk“ nennen sie Aschrottsgrab. (Baetz, 1951, S. 14/15.) Die Nazizielsetzung für den Aschrott-Brunnen könnte heute, obwohl eine ganz andere Sinnge- bung vorliegt, unter rechtspopulistischer Sichtweise als erreicht angesehen werden. Aschrotts Intention, für die Ausstattung des Ehrenhofes Geld zu spenden, scheint in dem heutigen Kunst- denkmal unberücksichtigt. Er möchte mit und in seinen Werken gesehen werden. Der Obelisk hat dem Betrachter den steilen Aufstieg des kleinen Leinenhändlers zu einem der reichsten Leute des Kaiserreichs sichtbar gemacht und wird mit seiner Singularität dieser besonderen Persönlichkeit des 19. Jahrhunderts gerecht. 9.3.5 Tod des Ehepaares Anna und Sigmund Aschrott Mit dem frühen Tod seiner Frau, Aschrott ist im 64. Lebensjahr, wird sich das Leben des Ban- kiers entscheidend ändern. Vorerst behält er den gemeinsamen Lebensmittelpunkt, Berlin, Bellevuestr. 12a, bei. Anna Aschrott, geb. Herz, stirbt am 25. Februar 1890 im Alter von 55 Jahren in Wien und wird dort am 28. Februar auf dem jüdischen Friedhof beigesetzt.1088 Wahrscheinlich beginnt der Bau des Mausoleums erst nach ihrem Tod. Denn der Leichnam wird am 8. November 1894 nach Berlin mit der Bahn überführt und dort am 9. November1089 auf dem Jüdischen Friedhof Berlin- Weißensee beigesetzt. 1086 Zeitschrift „Hessenland“ Jg. 1909, S. 243 (Stadta. KS, Best. s.o.). 1087 Henner Piffendeckel steht als Synonym für den Redakteur Heinrich Scheidemann, Ausrufer der Deutschen Republik am 9. November 1918 und späterer Kasseler Oberbürgermeister. 1088 Archiv des Jüdischen Friedhofes in Berlin Weißensee. 1089 Aschrott, Anna geb. Herz, Bellevuestr. 12a, gestorben am 25. Februar 1890, beerdigt am 9. November 1894, C Abt. II Erbbegräbnis 435 (Archiv des Jüdischen Friedhofs Berlin-Weißensee). 324 Nach 1900, nachweislich für 1905, wird Aschrott vermutlich in Begleitung seines Sekretärs1090 nach Bad Homburg verreisen, um dort mit den anderen Donatoren dem Kaiser vorgestellt zu werden. Wahrscheinlich wird sich auch Sohn Felix im Kurort aufhalten. Mehrfach fährt Aschrott nach Deutsch-Österreich (Diercke, 1911, S. 138) zur Kur. Am 5.8.1909 verlässt er die Bellevue Str. und reist nach Karlsbad, wie er Jacobi nach Bad Homburg1091 schreibt. In der Folgezeit scheint Aschrott von seinem Ort der persönlichen Repräsentation Bellvue Str. 12a in das Haus seines Büros, Matthäikirchstr. 7 umgezogen zu sein. Dort stirbt er am 5.5.19151092 nachmittags um 15.15 Uhr im Alter von 89 Jahren. Als Todesursache wird Herzlähmung, Folge einer chemischen Nierenentzündung, genannt. Er überlebt seine Frau um 15 Jahre. In seinem Geschäftshaus, seinem Sterbehaus, findet am Sonntag, dem 9. Mai des Jahres, um 11.30 Uhr die Trauerfeier statt. An dieser nehmen aus Kassel OB Koch und Oberbaurat Höpfner teil (Baetz, 1951, S. 19). Am gleichen Tag wird er in Abt. II, Erbbegräbnis 4351093 auf den Jüdischen Friedhof Weißensee neben dem Sarkophag1094 seiner Frau beigesetzt. Der Berliner Lokalanzeiger1095 berichtet vom Tod einer bekannten Berliner Persönlichkeit und hebt deren Engagement für Wohltätigkeitseinrichtungen und humane Institutionen hervor. 1090 Bereits im Punkt 8.3.4 – Anglikanische Kirche – angesprochen. 1091 Brief vom 4.8.1909 (GStA, Saal.). 1092 Archiv des Jüdischen Friedhofs. 1093 Neben dem Mausoleum am Rondell liegt ein Familiengrab aus schwarzem Marmor einer Familie Abraham Goldschmidt 1832-1895 und Frau Flora. Eine Verbindung zu der Kasseler Familie lässt sich aus den Friedhofsunterlagen nicht feststellen, da dort nur Geburts- und Sterbedaten, nicht Geburtsort, ange- führt werden (Info.: Friedhofsverwaltung Weißensee). 1094 Rechtsanwalt Moser habe 1999 einen Antrag eines angeblich verarmten amerikanischen Nachkommen vorgelegt, worin dieser empfiehlt, das Grabmonument Aschrotts abzubauen und die Steinteile an Berliner Steinmetze zu verkaufen, um mit dem Erlös den Nachkommen zu unterstützen (Info.: Friedhofsverwaltung Weißensee). 1095 Auszug aus Nr. 229 des Berliner Lokalanzeigers vom 6.5.1915: „Gem. Kommerzienrat Sigmund Aschrott ist gestern im Alter von 89 Jahren gestorben. Er war eine bekannte Berliner Persönlichkeit, die für Wohltätigkeits- und humane Institute stets eine offene Hand hatte. Namentlich der Stadt Kassel, wo er jahrelang ein großes Geschäft geleitet hatte, wandte er reiche Spenden zu. Für das Landesmuseum daselbst spendete er 200000 Mark. Anlässlich der Kasseler Jahrtausendfeiern erhielt er vom Kaiser den Kronenorden 2. Klasse. Der Verstorbene war stellvertretender Vorstand der Charlottenburger Wasser- werke.“ (A Pr.Br. Rep. 30, Nr. 8795.) 325 Im Casseler Tageblatt1096 wird Aschrotts Bedeutung für die Textilindustrie gewürdigt. Gründer Casseler Firmen der Leinen-Branche seien aus dem Hause Aschrott hervorgegangen. Weiter spricht der Artikel die Stadterweiterung nach Westen sowie deren Ausgestaltung, die Aschrott sein ganzes Leben weiterverfolgt, an. Sein Verdienst sei die Bewunderung, die das Quartier selbst erfahre. Durch seine Initiativen entwickele sich die Stadt zu einer „empor blühenden“ Großstadt. Sein Weitblick und seine unermüdliche Tatkraft sowie seine Fähigkeit, auftretende Probleme zu lösen, gäben ihm als Kaufmann einen Ruf, der weit über Cassel hinausreiche. Es wird an die Schenkung des Stadthallengrundstücks erinnert, die Stiftungen für das Landesmu- seum, den Rathaus-Brunnen (Schafskopfbrunnen)1097 und seine offene Haltung gegenüber Ar- men und Bedürftigen. Ferner werden seine Verdienste um die Förderung des Fremdenverkehrs, beim Verkehrs-Verein, mit dem er Nachmittagskonzerte auf dem Kaiserplatz veranstaltet habe, erwähnt. Dieses Wirken habe die Handelskammer zu seinem 85. Geburtstag mit einem Glückwunschtele- gramm anerkannt. Und so habe sich Aschrott in der Stadt selbst ein bleibendes Denkmal gesetzt. Besondere Ehren seien ihm durch Titel und Orden des Kaisers zuteil geworden. Der Artikel führt viele seiner Initiativen an und bewertet sie mit täglichem journalistischem In- strumentarium. Damit erscheint er dem Leser im Nachhinein als ein großer Mäzen seiner „Mut- terstadt“, der er auch ist. Die häufigen Auseinandersetzungen mit Verwaltungen, bezogen auf seine Bauaktivitäten z.B. oder die Annullierung der Wahl in die Handelskammer, finden keine Erwähnung, obwohl diese Ablehnung und Schmähung Aschrott als Mensch und Mitglied städti- scher Gesellschaft sicherlich schwer getroffen haben müssen. 1096 Cassel Tageblatt und Anzeiger Nr. 210 vom 6. Mai 1915. 1097 Wasser läuft aus Schafsköpfen in das Brunnenbecken. 326 9.4 Zusammenfassung zum Komplex persönliche Erfolge und Niederlagen - In kurfürstlicher Zeit beliefert die Leinenhandlung H.S. Aschrott die hessische Armee. Dies gilt nicht mehr für 1866, das Jahr der Annexion von Preußen. - 1870 erfolgt ein Vertrag mit der Militärintendantur in Kassel und einem Consortium über Verpflegung, Getränke und Fourage für drei Armee-Corps. - Dem Consortium gehören A. Lachmann (Berlin), S. Katzenstein (Bielefeld), Geb. Sobernheim (Berlin) und S. Aschrott (Kassel), der für die Leitung des Geschäfts sowie die Verwaltung der Kasse zuständig ist, an. - Wegen des Verdachts der Bestechung durch Aschrott werden dem Consortium im Dezember 1870 die Lieferungen entzogen. - Der Freispruch des Beschuldigten erfolgt im März 1871, da die Verhandlungen den Tatbestand des Vergehens nicht erkennen lassen. - Über 2 Millionen Mark an Restforderungen behält der Militär-Fiskus. Ein Ausgleich er- folgt nicht. - In einem Rechtsstreit durch alle Instanzen versucht Aschrott, der die bei der Intendantur zu hinterlegende Kaution von Katzenstein zum großen Teil einbehält, Recht zu bekom- men. Aschrott unterliegt. - Über 2 Millionen Mark ausstehender Forderungen an das Consortium begleicht der Mili- tär-Fiskus nicht. Stattdessen versucht Aschrott mit umfassendem Beweismaterial der Armeeführung seine Unschuld zu beweisen. Ohne Erfolg. - Aschrott ist vielfach direkt oder indirekt antisemitischen Kampagnen ausgesetzt. Diese gipfeln in einem Zeitungsartikel, in dem vom Kauf der Nobilitierung gesprochen wird. - In den Jahren 1876-1900 bemüht sich Aschrott mehrfach um den Titel des Kommerzien- rats. Die Auszeichnung scheitert ständig an der negativen Stellungnahme des Kriegs- Ministeriums. - Ober Präsident von Hessen-Nassau Graf v. Zedlitz erkennt das Hindernis und bittet das Militär vor Ort um Stellungnahme. - S. Aschrott wird am 20. Februar 1900 Kommerzienrat. - Weitere Ehrungen folgen in kurzen Abständen, weil der „Bann“ gebrochen und Spenden zum Saalburg-Fond vom Kaiser gewürdigt werden. - Mit Veränderung der elterlichen Stiftung in eine eigenständige Rechtsperson folgt die „Verewigung“ des Namens Aschrott. - Die „Kunstdenkmäler“, das Mausoleum in Berlin-Weißensee und der ehemalige Aschrott-Brunnen in Kassel, dienen als Spiegel seiner persönlichen Leistung. - 1900 und 1915 sterben Anna und Sigmund Aschrott. 9.5 Zur theoretischen Fragestellung: Einsatz des Faktors Handeln, um als Produkt Anerkennung zu erzielen Treibt das Fehlen von gewünschter Anerkennung das Individuum an, seine Leistung zu erhöhen? Unterstützt auf diesem Weg der Kampf um Macht das Vorhaben? Welche Rolle spielen in den komplexen Abläufen von Strategien Handeln, Problemlösen und Entscheiden? Kann die Schichtzugehörigkeit des Handelnden außer Kraft gesetzt werden? 327 Dies sind Fragen, die in dem untersuchten Beispiel nach einer Antwort verlangen und in dem theoretischen Teil allgemein erläutert sind. Der Handelnde der Untersuchung wird in drei verschiedenen wirtschaftlichen Segmenten be- schrieben, als Verleger, Städtebauer und Armeeversorger in Kriegszeiten. In allen Beispielen versucht der Aktor ein Ordnungssystem herzustellen, in dem er die Fäden zu einem Netz zu- sammenzieht. Dies entspricht einem Aufbau an Machtbefugnis. Wird durch seinen Einfluss in- nerhalb des Netzes an den Fäden manipuliert, verändern sich die Zustände im Sinne des Ziehen- den. Ohne diesen Mechanismus würde dem System die Dynamik fehlen. Wenn jedoch die Be- teiligten lediglich an dem Profit des Unternehmens partizipieren, da als Grundlage allein das Geld dient, ist das für alle mit erheblichen Differenzen verbunden, und der Prozess kann nur mit großen Reibungsverlusten ablaufen. Die Verlagsbeteiligten gelten als ungleiche Partner. Die Solidarität des Heimwerkers mit dem Vertrieb reicht so weit, wie seine Waren den von ihm erhofften Gewinn bringen. Des Verlegers Ansprüche wiederum werden durch rechtzeitig gelieferte und mit entsprechender Qualität ausgezeichneter Ware befriedigt. Der Markt nimmt nur ein verwendungsfähiges Produkt zu lukrativem Preis bei bestehendem Bedürfnis. Allen Beteiligten geht es um das Erzielen von Gewinn und die Anerkennung ihres Arbeitsbeitrages. Das bedeutet, ohne materiellen Ertrag und das individuelle Bedürfnis gebraucht zu werden, funktioniert das System nicht optimal. Die Beteiligten müssen wechselseitig Gefühle für solidarische Achtung aufbringen, denn ohne Orientierung an gemeinsamen Zielen und Werten wird keine Grundlage für ein motivierendes Erfahrungsgefühl initiiert. Anerkennungsgewährender sowie –suchender haben im Lebensalltag bestimmte Bedrohungen im existenziellen Sinn miteinander gemein. (Honneth, 1992, S. 146/147.) Wiederum existiert das Erfahren von Selbstachtung durch Gewähren von Rechten gegenüber dem Betroffenen, die der Person vermitteln, als Mitglied einer Gemeinschaft geachtet zu sein. Die Erkenntnis, in einem Gemeinwesen als Beteiligter einer Rechtsperson gleichgesetzt zu wer- den, erweckt in diesem eine positive Einstellung gegenüber sich selbst, weil der Beteiligte als Subjekt seine Rechte respektiert sieht und er ein „moralisch zurechnungsfähiger Aktor“ wird. (Honneth, 1992, S. 1227/128.) Oben angesprochener Machtaufbau, um einen Prozess am Leben zu erhalten, erzeugt gleichzei- tig Distanz zu den anderen Akteuren, die sich beim Ablauf als Passive empfinden. Der Heim- werker kennt diese Rolle. Er lebt vielleicht am Existenzminimum und wird bei individueller Blockade gegen den Verleger nichts erreichen. Die Bildung eines Kollektivs, um mit Gleichen am Mehrwert stärker zu partizipieren, scheint ausgeschlossen, denn die Organisation als Verlag ist in anderen Regionen längst überwunden. Die proto-industrielle Phase ist bereits zu indus- trieller Fertigung übergangen. Nur das Agieren des Verlegers am Markt erlaubt dem Betriebs- zweig die Existenz. Der Verleger selbst hat sich längst einem anderen Marktsektor zugewandt. Seine Mitarbeiter führen das Geschäft weiter und passen es den veränderten Bedingungen als Industriebetrieb an. Um auf dem Kapitalmarkt Gewinn durch Bodenrente zu erzielen, steigt der Aktor rechtzeitig und mit umfassenden Landkäufen ein, um eine Monopolstellung zu erreichen und beginnt mit seinem Projekt, als andere wegen fehlender Mittel nicht dazu in der Lage sind. Eine nicht gerüs- tete kommunale Verwaltung, in fachlicher wie ordnungspolitischer Kompetenz nicht vorbereitet, ermöglicht den Bodenmarkt unter Zielsetzung des Kapitalismus zu steuern oder zu beeinflussen. Regulierungen erfolgen erst, als der Bauvorgang einen Höhepunkt erreicht. Da die Kommune über keinen entsprechenden Finanzrahmen verfügt, finanziert und organisiert der Aktor Baumaßnahmen selbst. Die Verwaltung sieht in ihm, dem „Macher“, einen Machtfaktor, der ihre Kompetenzen beschneidet und reglementiert. Dieses Vakuum seitens der Verwaltung ist auszugleichen, was überdeutlich in der Person Fabarius zu Tage tritt. Der Polizei-Direktor aber erkennt rechtzeitig, dass Kooperation mit dem Aktor den Prozess beschleunigt und gewisse Mitsprache ermöglicht. Die bei Aufbau der Machtstruktur eingetretene Distanz zwischen „Macher“ und Verwaltung bleibt bestehen. 328 Seine im Verlag praktizierte Organisationskompetenz übernimmt der Handelnde beim Aufbau eines Versorgungssystems in Kriegsgebieten. Für den Aufbau eines solchen Netzes sind Infor- mationen von allen Seiten erforderlich. Das heißt auch, durch unkonventionelles Handeln, Ver- sorgungsengpässe zu umgehen und den Vertrag zu erfüllen. Außenfaktoren,1098 die das Unternehmen gefährden können, sind von dem „Macher“ nicht zu eliminieren. Gruppenzugehö- rigkeiten mit dem Merkmal: „vermögender Jude“1099 scheint für die Entwicklung entscheidend. Eine einseitige Verteilung von Anerkennung durch politische Strömungen sowie Ressentiments innerhalb der Armee oder andere zufällige Ereignisse stoppen den wirtschaftlichen Erfolg des Aktors und degradieren ihn zu einem unehrenhaften Bürger, dem über Jahrzehnte durch diesen Vorgang öffentliche Achtung versagt bleibt. Bei Ausdehnung des Konzepts der Gerechtigkeit auf intersubjektive Bedürfnisse nach Anerken- nung stellt sich die Frage nach berechtigtem oder unberechtigtem Anspruch. Dabei ist das Ar- gument, Anerkennung sei ein Instrument der Selbstverwirklichung, zu verwerfen. Der Anerken- nung Suchende sollte dagegen darauf verweisen, dass nach dem „institutionalisierten Muster“ für kulturelle Bewertung ihr /ihm gleicher Respekt und /oder gleiche Chancen zum Erwerb ge- sellschaftlichen Ansehens zustehen. (Fraser/ Honneth, 2003, S. 56-58). Wegen der erfahrenen „Disqualifikation“ versucht der Aktor mit umfassendem Beweismaterial seine Unschuld und damit sein gesellschaftliches Ansehen wieder herzustellen. Er sieht jedoch dabei nicht, dass der Vorgang wegen Ungleichheit von Chancen unumkehrbar ist. Bei den von unterschiedlicher „Logik“ ausgehenden Parteien ist eine Übereinkunft ausgeschlossen. Der in Armeekreisen angesprochene Verdacht gilt selbst in Zweifelsfällen als unumstößlich. Ein Befehl ist nicht zurückzunehmen. Dies überdenkt die zivile Verwaltung nach zeitlicher Distanz. Der Betroffene will nicht anerkennen, mit dem manifestierten Urteil leben zu müssen, selbst wenn er seine Unschuld beweisen kann. Es liegt ein militärisches Diktat vor, das sich jeglicher Rechtsstaatlichkeit entzieht. Problemlösen als Veränderung eines bestehenden Zustandes in einen gewünschten Endzustand kann unter den Rahmenbedingungen nicht stattfinden. Der Vorgang erzeugt beim Aktor Hand- lungsunsicherheit, die sich durch Festhalten an gleicher Strategie weiter verstärkt. Schließlich stellt er seine Glaubwürdigkeit selbst in Frage. Entscheiden dagegen wird definiert als Handlungen beenden und sie zu einem Ergebnis zu bringen. Hier erweist sich der Aktor als Meister, da er an der Regel, Geschäftsgewinn zu erzielen, festhält, selbst wenn dadurch ein Abschluss nicht gelingt. Die eingetretene Distanz der städtischen Gesellschaft als Folge eines nicht gewünschten Macht- strukturaufbaus lässt den Handelnden Ablehnung und Ausgrenzung erfahren, die ihn jedoch antreiben, mit regelmäßigen Wiederholungen um öffentliche Anerkennung zu buhlen, um die Isolation zu überwinden und dem eigenen Anspruch zu genügen. Erst ein Politiker, der nicht an dem Kräftevergleich zwischen Stadtteilgründer sowie der Kontrollbehörde teilnimmt, rückt den Aktor an den ihm zustehenden Platz in der Öffentlichkeit. Diesen hat der Handelnde schon längst auf Grund seines Vermögens innerhalb der Bourgeoisie erreicht. Mit der Wahl seines 1098 In einem Vorgang, bei dem Anerkennung sich als eine Angelegenheit der Gerechtigkeit erweist, stellt Fraser gegenüber Honneth heraus, dass es sich bei Verteilung und Anerkennung um zwei Konzeptionen handelt. Mangelnde Anerkennung resultiert nicht nur aus ungerechter Verteilung von Ressourcen und Recht. Andere Nebenprodukte, Fraser nennt dazu das Beispiel eines afroamerikanischen Wall Street Bankers, den kein Taxifahrer mitnehmen will, führen zu einer Kombination unfairer Verteilung mit recht- licher Diskriminierung. (Fraser/ Honneth, 2003, S. 51/52.) 1099 Die Beurteilung der Handelsinteressen von Aschrott durch das Kriegs-Ministerium vom 25. Juni 1877 an den Ober Präsidenten v. Möller zeugen von eindeutiger Aussage. Über ihn wird geurteilt, dass er „zu derjenigen Klasse von Lieferanten zählt, welche unausgesetzt dahin streben, die Lieferungen in gewinnsüchtiger Weise für sich auszubeuten und in der Wahl der Mittel, um zu ihrem Zweck zu gelangen ohne jede Bedenken sind.“ (GStA Com.) 329 Wohnsitzes Bellevuestr. 12a in Berlin segregiert er sich von einem Großteil gleicher Schichtzu- gehöriger. In der wilhelminischen Gesellschaft herrscht keine Chancengleichheit. Die Herkunft gibt klare Vorrechte und präferiert den Adel. Die Feudalgesellschaft bleibt in vielen Köpfen bestehen. Doch die Forderungen der „kleinen Kronenträger“ zeichnen den Veränderungsprozess vor. Die sich schnell institutionalisierende kapitalistische Gesellschaft verschiebt die Machtstrukturen eindeutig zu Gunsten des Teils der Bevölkerung, der an dem Industrialisierungsprozess verdient. Entscheidende politische Verantwortung liegt noch beim Adel, der so die Monarchie stützt. Die Krone selbst festigt die vorgegebene hierarchische Ordnung, indem sie die Formel: Spenden gleich Auszeichnung, praktiziert, um einerseits den sozialen Haushalt und den der Krone aus- zugleichen und andererseits mit den Ausgezeichneten sich ebenfalls selbst neuen Beistand zu sichern. Der Aktor erkennt die persönliche Schwäche des Monarchen, nämlich die Verwirkli- chung eines Kindheitstraumes. Mit Danksagung an den Kaiser für dessen Auszeichnung, sieht sich der Handelnde als moralisch zurechnungsfähiger wahrgenommen und jetzt als Rechtsperson akzeptiert. In der kaiserlichen Staatshierarchie erreicht der Aktor einen Platz, der ihn weit heraushebt und ihn gesellschaftlich in die Nähe seiner ökonomisch mächtigen nicht jüdischen Konkurrenten stellt. Er erfährt Anerkennung. Das bedeutet, trotz bestehender Unterschiede verkörpern Individuen gleiche Rechtspersonen. Damit wird die Person nicht nur in die Gemeinschaft aufgenommen, „sondern... [ihr wird] als lebensgeschichtlich individuiertes Subjekt Bestätigung verschafft“ (Honneth, 1992, S. 129). 330 Mit dem Satz der Gedenktafel am Tordurchgang der Saalburg möchte Aschrott seine Ehrerbie- tung gegenüber dem Kaiser und gleichzeitig sein Engagement für die Gesellschaft zum Aus- druck bringen, um seine Stellung innerhalb des monarchischen Systems zu festigen. Zu Ehren Kaiser Wilhelms II. ließ S. Aschrott aus Berlin das Tor mit den Türmen, das durch feindliche Gewalteinwirkung zerstört worden war, auf eigene Kosten wiederherstellen. In honorem Imperatoris Guilelmi II portam cum turribus vi hostium dirutam de suo reficiendam curavit S. Aschrott Berrolinensis1100 1100 Info: Frau Datzko, Stadta. 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Brandenburgisches Landeshauptarchiv Staatsarchiv München Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden – HHStAW Hessisches Wirtschaftsarchiv Darmstadt Staatsarchiv Marburg - St AM Institut für Stadtgeschichte Frankfurt – ISG Stadtarchiv im Gotischen Haus Bad Homburg – Stadta BH Stadtarchiv Chemnitz – Stadta Ch Stadtarchiv Kassel – Stadta Ks Stadtarchiv Spangenberg - Stadta Sp Landeswohlfahrtsverband Hessen Archiv Kassel Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck – Landeskirchen Archiv - Kassel - LA Ka Amtsgericht Charlottenburg - Registerabteilung Amtsgericht Frankfurt/ M. - Registerabteilung Amtsgericht Kassel - Registerabteilung 11.3 Katasteramt Amt für Bodenmanagement Korbach 339 11.4 Vermessungsämter Städtisches Vermessungsamt Chemnitz Städtisches Vermessungsamt Kassel Bezirksamt Pankow von Berlin – Vermessungsamt Städtisches Liegenschaftsamt Kassel 11.5 Register 11.5.1 Personen Abel, Franz 72, 73 Abel, Friedrich Wilhelm 72, 73 Achenbach, Heinrich 308 Adickes, Franz 201, 207, 244, 271, 273 Adorno, Theodor 13, 16 Albrecht, August 60, 136, 138, 140, 147, 148, 153, 170, 175, 180, 181, 186, 189, 201, 253, 267, 303, 306, 307, 308, 310, 316 Althaus, Karl Wilhelm 52 Arendt, Hannah 6 Arnthal, Rudolph 181, 182 Aschrott, Albert 83 Aschrott, Felix 87, 249 Aschrott, Hedwig 91 Aschrott, Herz Seligmann 59, 72 Aschrott, Johanna 83 Aschrott, Marie 91 Aschrott, Olga 91 Aschrott, Rachel 83 Aschrott, Regina 81, 83, 317 Aschrott, Sigmund 2, 3, 4, 22, 27, 43, 48, 52, 59, 60, 63, 65, 69, 70, 72, 76, 78, 79, 83, 84, 86, 87, 88, 89, 91, 92, 93, 95, 100, 128, 135, 143, 149, 151, 158, 160, 166, 171, 175, 178, 188, 201, 209, 236, 246, 257, 258, 273, 287, 288, 291, 297, 302, 310, 312, 314, 316, 317, 318, 319, 320, 324, 325, 327 Bacher, Dr. Rosalie 84, 318 Baetz, Karl 59, 68, 319 Bamberg, Ludwig 292 Bartels, Dr. Carl 262, 263 Bartsch, v. 314 Baumbach, Friederike v. 52 Beck, Carl 226 Becker, Georg Heinz 139, 151, 199 Behrens, Karl 68 Behr-Pinnow, Dr. v. 314 Berg, Graf v. 189 Bernhard, Carl 291, 292 Bernstorff, Graf v. 4, 238, 296 Bethmann, Freiherr v. 98, 128 Bischhausen 140 Bismarck, Otto v. 50, 52, 55, 150, 287, 292 Bleichröder, Gerson v. 52 Blumenauer, Fritz 58, 147, 149, 173, 175, 195, 196, 208, 239, 253 Böckel, Anton 106 Böckel, Dr. Otto 51, 53 Bödicker, Ludwig 52 Bohlen-Halbach, Gustav v. 154 Boschan, Artur v. 91 Boschan, Victor v. 91 Brauchitsch, v. 77 110 Caro 301, 91, 180, 297, 306, 308 Büding, Henriette 87 Carl, Landgraf Cohn, Alexander 279, 302 Collmann, Bernhard 291, 292 Cönning, Johannes 67, 69, 78 Dahrendorf, Ralf 7, 14, 24, 25, 96 Damaschke, Adolph 70 Dawson, W.H. 24 Degenfeld, Graf 46 Delbrück, Rudolf v. 300, 301, 315, 316 Dörnberg, Freiherr Hugo v. 52, 262 Duysing, Ferdinand 291, 292 Eberhard, Bernhard 46, 47, 297 Eberstadt, Rudolf 239 Ende, Freiherr v. 60, 77, 91, 306 Engelhardt 33, 117, 135, 188 Enneccerus, Ludwig 57 Ernst, Friedrich 52, 263 Etzold 320 Eulenburg, Graf v. 263, 295, 309, 313 Everding, Hans 323 Fabarius, Waldemar 239, 240, 328 Feidel, Philipp 44, 316, 317 Feldner, Günther 127 Flies 139 Förster, Bernd 52 Friedländer-Fould 301 Friedrich-Wilhelm, Kurfürst 1, 22, 32, 33, 90, 102, 103 Frischauf, Gustav 277, 279 Fröhlich, Salomon 67 Geiger, Dr. 273 Gilsa, Freiherr v. 228, 309, 310 Glagau, Otto 49 Goldschmidt, Benedikt 44 Goldschmidt, Emilie 44, 316, 317 Goldschmidt, Pauline 188, 189, 317 Goldschmidt, Philipp Selig 81, 82, 83 340 Goldschmidt, Ruben Elias 317 Goldschmidt, Samson Selig 81, 83 Goldschmidt, Selig Feist 81, 82, 285 Gotthelft, Th. 246 Gottschalk, Moritz 68, 69, 78 Grimm, Dr. Karl 54 Habermas, Jürgen 16 Habich, Eduard 58, 143, 252 Hacke, Gräfin v. 308 Harkort, Karl 31, 95 Harnier, Dr. 151, 306 Hartog 87 Hassenpflug, Ludwig 22, 47, 90, 297 Haussmann, Geoges 26, 130, 255 Hedderich, Konrad 54 Heeringen, v. 263, 291 Hegel, Friedrich 8, 17, 18 Heinrich Siebold 76 Henkel, Victor 22, 139, 142, 144, 182 Hennies, Karl 57 Henrici, Karl 255 Henschel, Carl Anton 23, 32 Henschel, Oskar 311, 319 Henschel, Sophie 319, 320, 323 Herz, Anna Hirsch, Abraham 81 Hochapfel 139, 140, 143, 161, 162, 228 Hochapfel, Erich 142 Hochapfel, Louis 161, 226 Hondrich Karl Otto 9, 10, 14, 16 Honneth, Axel 6, 8, 13, 15, 16, 17, 18, 19, 328, 329, 330 Honrich, Curt v. 312, 314 Höpfner, Karl 323, 325 Hupfeld 40, 64, 65 Huter 64 Hutten, Freiherr v. 46 Jacobi, Louis 66, 67, 69, 278, 312, 313, 314, 325 Julie Aschrott 91 Kaiser Wilhelm I. 185 Kaiser Wilhelm II. 233, 234 Karl Baetz 258 Kerl, Chr. 226 Klöfflen 237 Knetsch 182, 183 Königsdorff, Felix Graf v. 188, 235 Koppen, O. C. 106 Krekeler, Theodor 52 Krupp, Berta 154 Krupp, Friedrich Alfred 154 Krupp, Margarethe 320 Kukro 58 Lange 129, 218 Lauckhardt, Sigmund 139, 143, 147 Lieberg, Moritz u. Wolf 68, 137, 143, 144, 166, 167 Lotz, Georg 76 Lücken, Josef 59 Luyken, August 181, 182 Maybach, Albert v. 308 Mead, George Herbert 9, 17, 18, 19 Meissner 178 Mendelsohn 301 Mengers, Dr. Alfred 91 Meyerhof, Herrmann 166, 167 Moeller, Eduard v. 285, 317 Moltke, Helmuth Graf v. 56, 286, 292 Mosse, W.E. 95, 298, 299, 302, 315 Motte, Friedrich Wilhelm 277 Mühlhausen 74 Napoleon I. 25, 129, 130 Napoleon III. 3, 25, 26, 129, 287 Narten, Werner 233, 267 Nash, John 25, 26 Nebelthau, Friedrich 201 Nebenius 31 Neumann, Wilhelm 172, 252, 257 Noel, L. v. 94, 111, 124, 125, 139, 173, 188, 239 Oetker, Dr. Carl 138 Oetker, Dr. Friedrich 50 Oppenheim, Hugo 23, 98, 301 Ostheim, Hermann 139, 140, 151, 252 Peters, Carl 151 Piffendeckel, Henner 324 Platen-Hallermund, Graf v. 318 Plaut 182, 206 Prinz Heinrich 313 Range 63, 67 Rauch, Christian Gottlieb 250 Regina Aschrott 81, 90, 263, 318 Renno, Wilhelm 128 Riemann, Georg 40, 64, 65 Riemenschneider, Christian 61 Ritter, Julius 42, 149, 158, 160, 295, 307 Roon 56, 292 Ross R. Winans 314 Roth, Karl 322 Rothschild, Freiherr v. 98 Ruhl, Julius Eugen 33, 102, 103, 104, 105, 130, 163 Rutt, Heinrich 161 Salzmann, Heinrich 69, 102 Salzmann, J. G. 63, 69, 70 Schäfer, Johannes 41, 76 Schaumlöffel 85, 285, 286 Scheel, Carl u. Gottlieb 138, 139 Scheidemann, Heinrich 324 Schenk zu Schweinsberg, Freiherr 317 Schmidtmann, Heinrich 1, 2, 3, 28, 31, 58, 88, 104, 106, 135, 136, 140, 143, 162, 225, 228, 242, 303 Schmitz, Bruno 320 Schnell, Philipp 226 Scholl, J. G. 65 Scholten 228 Schomburg, Carl 46 Schröder 40, 59, 64, 65, 69, 75, 76 Schulze-Delitzsch, Hermann 53 341 Schweinitz, v. 262, 310 Seitz 41, 64, 65 Sinning, A. 76 Solms-Roedelheim, Graf zu 303, 307 Spangenthal, Ruben Levi 76 Spilling 180 Stephenson, George 32 Stiehl 273 Stoecker, Adolf 55, 56 Strauss, Alphonse 91 Strousburg, Bethel Henry v. Stübben, Josef 251, 255, 256 Tornow 98, 128 Trott zu Solz, August v. 52, 188, 262, 291 Virchow, Rudolf 50 Wachenfeld, Carl Daniel A. 22, 85, 135, 252 Waldemar Fabarius 239 Walther, Carl Oswald 226 Weber 56, 103 Weber, Dr. Otto 52 Wedekind, Konsul 156 Weise, Dr. Emil 52, 201 Werkmeister, Wilhelm 277 Wertheim, Moritz 68, 95, 135, 185 Weyrauch, Ernst v. 52 Wigand, Heinrich 216 Wilhelm Neumann 181 Winans, Ross R. 313 Wittich, v. 310 Wüstenfeld, Carl 226 Zetlitz, Graf v. 310 11.5.2 Orte und Straßen Aachen 98, 255 Akazienweg 131, 132, 133, 185 Alte Wilhelmshöher Allee 105, 110, 132 Altmarkt 226 Anglikanische Kirche 229, 233, 311, 325 Annastraße 92, 154, 159, 255, 256, 261 Aschrott Park 92, 94 Aschrott Platz 113, 118, 250, 251, 252, 265 Bad Homburg xiii, 45, 231, 232, 233, 311, 312, 313, 325 Bahnhof Kassel-Unterstadt 219 Bahnhofsplatz 104, 186, 195, 243 Bahnhofsstraße 33, 107, 108, 198, 201, 218, 226 Belle Allianz Platz 250, 251 Bellevuestraße 79, 249 Berlin xii, xiii, 1, 2, 31, 32, 33, 43, 49, 50, 56, 59, 60, 69, 70, 79, 81, 87, 91, 95, 98, 99, 101, 103, 126, 127, 140, 141, 149, 151, 172, 175, 178, 181, 182, 190, 200, 213, 215, 216, 217, 218, 219, 220, 221, 223, 225, 226, 228, 234, 238, 239, 240, 242, 243, 247, 248, 249, 251, 252, 255, 257, 258, 259, 261, 262, 263, 264, 269, 270, 274, 275, 276, 277, 278, 279, 280, 281, 284, 285, 287, 288, 291, 294, 295, 296, 298, 299, 300, 302, 303, 306, 307, 308, 309, 310, 312, 313, 314, 316, 317, 319, 320, 321, 322, 324, 327, 330, 337 Berliner Platz 113 Berlin-Pankow xiii, 127, 259, 274, 275, 277, 278, 280, 284 Bettenhäuser Bahnhof 226 Bielefeld 149, 287, 327 Bismarckpark 92 Bismarckstraße 58, 133, 140, 143, 153 Bonn 98 Brandenburger Tor 110 Bremen 32, 35, 42, 64 Brüderstraße 262 Cassel xi, xii, 2, 28, 30, 32, 44, 59, 60, 68, 92, 94, 103, 105, 106, 110, 115, 117, 118, 121, 122, 124, 125, 127, 128, 134, 136, 138, 141, 142, 147, 149, 151, 165, 166, 167, 172, 173, 174, 177, 178, 180, 181, 182, 189, 195, 198, 218, 220, 221, 222, 225, 226, 227, 233, 235, 236, 237, 239, 240, 247, 250, 253, 255, 259, 262, 267, 273, 281, 284, 285, 286, 287, 290, 291, 293, 295, 297, 303, 304, 306, 307, 310, 317, 318, 326 Central-Bahnhof 160, 172, 219 Charlottenburg xiii, 175, 200, 215, 221, 259, 277 Chemnitz xii, xiii, 70, 126, 127, 259, 278, 279, 280, 284 Chemnitz-Altendorf 278 Chemnitz-Gablenz xiii, 278, 279 Chemnitz-Reichenhain 278 Darmstadt 154, 243 Diakonissenhaus 177, 178, 255, 261, 262, 315, 316 Dörnbergstraße 247 Durchgangsbahnhof 216, 217, 218, 219, 255, 284 Düsseldorf 81 Elisabethenstraße 262 Eschenstruth 62, 65, 66, 75, 91, 218 Essen 2, 27, 154, 155, 241, 267, 320 Felix Platz 113, 265 Frankfurt/M. 70, 98, 162, 279 Friedrichsplatz 104, 106 Friedrichstadt 2 Friedrichstraße 130, 250, 251 Friedrich-Wilhelms-Platz 90, 103, 106, 110, 142, 195, 222 Friedrich-Wilhelms-Stadt 103, 122, 131, 132, 136, 208, 274 Friedrich-Wilhelms-Straße 105, 136 Galluswarte 270 342 Garde-du-Corps-Straße 103 Gera 56 Germaniastraße 193, 226, 227, 254, 302 Gleisdreieck 270 Graben 106, 226 Grebenstein 32, 60, 299 Grüner Weg 147, 201 Hanau 33, 40, 46, 102, 311 Harleshausen 113 Hauptfriedhof 225, 228 Hausen 63 Hedwigstraße 226, 228, 247 Herkules 2, 110, 175, 231, 261, 274 Herkulesstraße 205, 256, 263 Hessisch Lichtenau 61, 64, 65 Hochheim 59, 74, 81, 83, 84, 85, 90, 231 Hohenzollernplatz 164, 195, 253, 254, 256 Hohenzollernstraße 103, 134, 135, 136, 137, 138, 139, 140, 141, 142, 147, 148, 153, 158, 163, 164, 166, 176, 196, 220, 221, 224, 229, 248, 249, 253, 254, 256, 259, 260, 261, 265, 268, 302, 315 Hohenzollernviertel 2, 4, 5, 26, 93, 136, 143, 154, 211, 218, 230, 233, 240, 243, 251, 252, 255, 274, 280, 284, 297 Holländische Straße 226, 228 Holzmarkt 226 Infanterie-Kaserne 104, 117, 159, 161, 163, 164, 196, 255 Jena 52 Kaiser Platz 117 Karlshafen 64 Karlsruhe 243, 273 Karthäuser Weg 105, 111, 122, 132, 133, 136, 137, 138, 139, 140, 142, 143, 144, 147, 148, 156, 157, 158 Kassel xi, xii, xiii, 1, 2, 3, 4, 5, 21, 22, 23, 26, 27, 28, 29, 30, 32, 33, 39, 40, 50, 51, 52, 53, 54, 57, 59, 60, 65, 66, 67, 68, 69, 70, 71, 72, 73, 74, 79, 81, 83, 84, 85, 87, 88, 91, 92, 95, 98, 99, 100, 102, 103, 104, 106, 108, 110, 111, 113, 115, 117, 122, 124, 125, 126, 127, 128, 129, 130, 135, 138, 140, 141, 143, 149, 151, 152, 154, 155, 159, 161, 163, 164, 167, 170, 173, 175, 178, 180, 182, 189, 190, 195, 197, 198, 201, 204, 208, 209, 214, 215, 216, 218, 219, 227, 229, 231, 232, 233, 234, 235, 236, 237, 238, 239, 240, 241, 242, 243, 244, 246, 248, 249, 250, 251, 252, 253, 255, 257, 258, 259, 261, 262, 267, 269, 270, 273, 274, 284, 287, 290, 293, 298, 302, 303, 306, 307, 308, 309, 310, 311, 315, 316, 319, 320, 322, 325, 327 Kirchditmold 3, 113, 115, 118, 133, 141, 160, 165, 172, 184, 201, 209, 219, 220, 234, 236, 244 Kirchditmolder Weg 113, 118 Kirchweg 113, 134, 165, 177, 179, 225, 244, 254, 255 Kölnische Allee xi, 110, 111, 113, 133, 161 Kölnische Straße xi, 103, 109, 133, 157, 158, 188, 205, 255 Königstor 2, 105, 110, 132, 222 Köthener Straße 249 Kratzenberg 103, 111, 124, 128, 129, 237 Krefeld 77 Kronprinzenstraße 111, 133, 142, 153, 253 Kurfürstendamm 243 Lang-Göns 53 Leipzig 31, 59, 66, 87, 147, 320 Leipziger Platz 249 Leipziger Straße 109, 249 London xiii, 1, 2, 25, 26, 77, 78, 91, 98, 110, 129, 151, 220, 223, 232, 255 Luisenstadt 277 Mainz 24, 98 Mainzer Landstraße 270, 271 Marburg xiii, 32, 51, 52, 53, 54, 55, 124, 262 Margarethen-Höhe 27, 154, 155, 241, 320 Marktgasse 226 Martinsplatz 226, 228 Matthäikirchstraße 249 Melsungen 29, 30, 39, 40, 41, 60, 62, 63, 64, 65, 67, 69, 70, 75, 262 Murhardstraße 230, 233, 256 Museumsstraße 103, 106, 107, 199, 219, 220, 226, 228 Neumarkt 234, 244, 245, 249, 253, 255, 256, 260, 261, 263 Neu-Wehlheiden 57, 58, 134 Oberkaufungen 65, 100 Oberneustadt 2, 45, 88, 92, 103, 199 Olgastraße 255 Osterode 81 Pankow 274, 276, 278 Paris 1, 2, 21, 25, 26, 33, 77, 98, 110, 129, 151, 220, 255, 292 Parkstraße 133, 150 Philippinenhof 127 Philosophen-Weg 58 Potsdam 31, 92, 200, 248, 313 Potsdamer Bahnhof 249 Potsdamer Platz 249 Quer Allee xi, 110, 111, 113, 117, 118, 133, 134, 137, 147, 151, 211, 220, 261 Querallee xi, 3, 28, 110, 111, 113, 124, 125, 126, 129, 137, 138, 142, 143, 150, 161, 163, 165, 166, 173, 174, 175, 176, 191, 193, 205, 208, 213, 216, 222, 244, 246, 251, 252, 253, 254, 256, 263, 281 Regent Street 25, 26, 110 Rondell 131, 222, 250, 321, 325 Rosenkranzkirche 234, 245 Schloss Schönhausen 274 Schwerin 98 Sedan 147, 292 Spangenberg xiii, 33, 39, 40, 41, 42, 59, 60, 61, 62, 63, 64, 65, 66, 67, 68, 70, 75, 76 Stuttgart 84, 152, 318 Tannenkuppen Park 118 343 Tiroler Viertel 274, 275, 278 Ulmenstraße 105, 122, 131, 132, 133 Unter den Linden 103, 110, 251 Untere Königsstraße 89, 90, 226 Victoriastraße 94, 103, 132, 134, 148, 153, 156, 158, 181, 184, 185, 186, 187, 188, 189 Wahlershausen 3, 109, 113, 115, 124, 125, 126, 166, 201, 209, 239 Wahlershäuser Weg 111, 113, 118, 124 Wehlheiden iv, 3, 57, 58, 109, 110, 111, 113, 115, 117, 118, 125, 126, 134, 135, 150, 165, 167, 177, 195, 197, 201, 209, 218, 222, 225, 233, 234, 238, 246, 248, 249, 253, 256, 259, 261, 262, 284 Weimar 105, 243, 251 Weißenstein 113 Westendstraße 153, 179 Wiesbaden xiii, 127, 152, 271, 273 Wilhelmshöher Allee 105, 109, 111, 113, 115, 117, 122, 124, 126, 130, 131, 133, 141, 147, 152, 156, 163, 165, 166, 173, 176, 177, 184, 198, 199, 208, 211, 218, 220, 222, 239, 244, 255, 259, 261, 263, 264, 302, 303 Wilhelmshöher-Thor-Platz 104 Wolfhagerstraße 108, 133 344 Erklärung: Hiermit versichere ich, dass die vorliegende Dissertation selbstständig und ohne unerlaubte Hilfe angefertigt und andere als die in der Dissertation angegebenen Hilfsmittel nicht benutzt habe. Alle Stellen, die wörtlich oder sinngemäß aus veröffentlichten oder unveröffentlichten Schriften entnommen sind, habe ich als solche kenntlich gemacht. Kein Teil dieser Arbeit ist in einem anderen Promotions- oder Habilitationsverfahren verwendet worden.