I n g r i d B a u m g ä r t n e r BIBLISCHE, MYTHISCHE UND FREMDE FRAUEN. ZUR KONSTRUKTION VON WEIBLICHKEIT IN TEXT UND BILD MITTELALTERLICHER WELTKARTEN Summary In the texts and illustrations of medieval Mappae mundi, women are represented in three different roles: as biblical or Christian characters (such as Eve in the Garden of Eden, Lot's wife and female saints), as legendary or mythical figures (e.g. the Queen of Sheba, mermaids) and as 'other' creatures with a deviant behaviour fiom the European norm (e.g. Arnazons). The principal goal of this study is to analyse the different strategies that were developed by male European observers to project a filtered image of woman in the selective medium of cartography fiom the tenth to the fifteenth century. Auf der gegen Ende des 13. Jahrhunderts entstandenen, aus einem einzigen Stück Pergament gefertigten enzyklopädischen Ökumenekarte von Hereford' mit den beachtlichen Außenrnaßen 158 X 133 cm hat der 1 Angesichts der umfangreichen Literatur zur Hereford-Weltkarte seien hier nur einige grundlegende Titel genannt: P(au1) D.A. Harvey: Mappa Mundi. The Hereford World Map. Toronto, Buffalo 1996 (mit zahlreichen Abbildungen); Konrad Miller: Mappaemundi: Die ältesten Weltkarten. 6 Bde. Stuttgart 1895- 1898, hier Bd. 4: Die Herefordkarte, 1896 (mit dem Text der Karte); Meryl Jancey: Mappa mundi. The Map of the World in Hereford Cathedral. Hereford 1987 (mit Bildtafeln). Eine kurze Zusammenfassung des For- schungsstandes mit Angaben zur älteren Literatur findet sich bei Herma Kliege: Weltbild und Darstellungspraxis hochmittelalterlicher Weltkarten. Münster 1991, S. 84; Anna-Dorothee von den Brincken: Fines Terrae. Die Enden der Erde und der vierte Kontinent auf mittelalterlichen Weltkarten. Hannover 1992 (MGH Schriften 36), S. 93-95; Evelyn Edson: Mapping Time and Space. How Medieval Mapmakers Viewed Their World. London 1997 (The British Library Studies in Map History l), ND 1999, S. 139-144; Valerie I. Flint: The Hereford Map: Its Autor(s), two Scenes and a Border. In: Transactions of the Royal Historical Abb. la: H e r e f d e r Weltkarte (nach 1283' ing aus dem Paradies; Abb. mit kundlicher Genehrnirrunr von ine uean ana Lnapter of Hereford Cathedral and the Herefor ), Ausschn - . -. - - . . - . i t i mit da .,.-- d Mappa h ----P-- mutmaßliche Autor des Entwurres, ein gewisser Kicnara von Hal- dingham oder Lafford, verschiedene, oft wenig beachtete Frauen- gestalten abgebildet, die sich drei Weiblichkeitstypen zuordnen lassen, nämlich biblischen, mythischen und fremden Frauen. Alle drei Kate- gorien manifestieren sich kartographisch in mehreren Einzelgestalten. Den ersten Typ der biblischen Frauen verkörpert insbesondere Eva, die msammen mit Adam im Paradies der Versuchung der Schlange erlag ehe bei& von dem Cherub mit dem Flammenschwert aus dem Garten Eden vertrieben wurden (Abb. l a und lb).* Ein weiteres biblisches Motiv verarbeitet die Geschichte um Lots Frau, die nach Genesis 19-26 während der Flucht auf das zerstörte Sodom 1 ind Gom Society 6' sdes 8 (1998). S. 1944, Cathetine DelmSmithlRoger J.P. Kain: English Maps: A Hisiory. Toronto, Buffi10 1999, S. 17 und S. 38 f. ~i~ Hereford-Karte als episches Meisterwerk untersuchte Btian J. Levy Signes et communioitions "extraterrestres". Les inscriptions marginales de la m-- monde de Herefud (13eme sihle). In: Das große Abenteuer der Entdeck Welt im Mittelalter. Hrsg. von Danielle B u s c h i n p und Wolfgang S GreifSwald 1995 (Gseifswalder BeitrILge m Mittelalter 43), S. 35-48. Harvey Mappa Mundi (wie Amn. I), S. 40 mit Abb. -''uk'F- mng der 'piewok. Abb. lb: ypus ein n Weib iundi voi ade die c zur Sz ren eine , .. . Meer zurückblickte und ilzsäule erstarrte.' Den zweiten, mythischen Typ symbolisie Seejungfrau im Mittelmeer westlich der griechischen Insel Naxos ( ~ b b . 2); ferner vielleicht noch die in Afrika nahe dem Nil eingezeichnete Sphinx mit Vogelfedern, Schlan- genschwanz und einem Mädchenkopf sowie die auffallend mit Penis und Vulva sexualisierten ~ l e m m ~ a e ~ m äußersten Ende Afiikas. Den dritten T ier fremden, europäische Verhaltensnormen durch- brechende lichkeit repräsentieren die in Indien regierenden Frauen, eillwlullzt ganz im Osten unterhalb des Paradieses, gleichsam am Ende der Welt (Abb. 3): ebenso wie die Frauen der Psylli am südlichen Rand Afrikas, deren Männer die eheliche Treue ihrer Gattinnen dadurch testeten. daß sie die neugeborenen Kinder den Schlangen aussetzten.' Abbildungen weiblicher tsprechemk Texte prägen allerdings nicht nur die Haclvlun w ~ i i n a ~ r q sondern auch zahlreiche andere Mappae R m ausgehenden 10. bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts. Ger, mzyklopädische Ausrichtung implizierte un- Für d a Rij ksuni Harvey: Peter Rc i und m 1X?..1&Ip..&. 3 Harvqr: Mappa Mundi (wie Anm. I), S. 43 mit Al 4 H817rey Mappa Mundi (wie Anm. l), S. 8 mit Abl 5 i Hinweis bedanke L-' h Maraiet Hoogvliet, iversiteit Groningen. 6 7 Mappa Mundi (wie 1 . .-xber: Visual Encyclopaedias: l h e Heretord and other Mappae Mundi. In: The Map Collector 48 (1989), S. 2-8, hier S. 3 mit Ahb. ich mich 4nm. I) , S .. - i herzlich . 6 mit Abl . - - " bb. J. Abb. 2: Herefotdet Weltkarte (nach 1283). Ausschnitt mit der Seejunghu im Mittelmeer; Abb. mit freundlicher Genehmigung von The Dem an( o f Hereford Cathedral and the Hereford Mappa Mundi Tmt. willkürlich auch die Einfügung weiblicher Geschöpfe in die symbol- beladene, wohlstrukturierte göttliche Ordnung, wobei die Kartographen eine bewußte Auswahl der in Bibel, Sagen und Reiseberichten beschriebenen Bestimmungen, Funktionen und Fahigkeiten von Frauen in ihr vielschichtiges Medium übertrugen. Die vielfaltigsten Anregun- gen boten hier sicherlich die Ostasienberichte mit ihren untethaltsarnen Schilderungen von Liebes-, Geburts-, Heirats- und Trauerbrauchni, mit den ßeobachtungen der gavöhnlich männlichen Verfasser zur Frau- enherrschaft, Vielweiberei und Witwenbehandlung sowie mit Überle- Abh. 3: Hereforder Weltkarte (nach 1283), Ausschnitt mit den in Indien regie- renden Frauen; Abb. mit freundlicher Genehmigung von The Dean and Chapter of Hereford Cathedral and the Hereford Mappa Mundi Tmst. gungen zu Prostitution, Schmuck und Kleidung, Körperlichkeit und Jungferns~haft.~ Doch die Frauendarstellungen auf Weltkarten begannen natürlich, wie auch nicht anders zu erwarten, mit Eva im Paradies, zuerst veranschaulicht in verschiedenen, aus dem 10. bis beginnenden 13. Jahrhundert stammenden Exemplaren der Weltkartenserie des Beatus :n Aufiiß 2 :reits Folk .. . wr Petzepi :er E. Rei tion der Geschlechterrollen in den Reiseberichten chert: Fremde Frauen. Die Wahrnehmung von Geschlechterrollen in den spätmittelalterlichen Orientreiseberichten. In: Die Begegnung des Westens mit dem Osten. Kongreßakten des 4. Symposions des Medi:ivistenverbandes in K6ln 1991 aus Anlaß des 1000. Todesjahres der Kaiserin 'l'heophanu. Hrsg. von Odilo Engels und Peter Schreiner. S i p a r i n p 1993. S. 167-184. von Lidbana. Bald erfolgte eine Integration der auf weibliche Gestalten zurückgehenden Territorialentwürfe, insbesondere der Gefilde der Amazonen. Sie finden sich unter anderem in der um 1180 mit viel Liebe zum Detail erstellten Wolfenbütteler Überlieferung der hemi- sphärischen Weltkarte des Lambert von saint-0mer; die fast nur Namen von Provinzen und Völkern verzeichnet, ebenso in der ovalen, erst im ausgehenden 12. oder gar irn beginnenden 13. Jahrhundert entstandenen, falschlich dem Domherrn Heinrich von Mainz zugeschriebenen Ökumenekarte, die zusammen mit des Honorius' Augustodunensis enzyklopädischem Handbuch Imago mundi in einer Handschrift aus dem Besitz der englischen Abtei Sawley überliefert ist.'' Sie finden sich aber auch in der vermutlich nach 1262 in London entstandenen, am Anfang eines englischen Gebetbüchleins überlieferten Londoner Psalterkarte, die viele Informationen auf kleinstem Raum komprimiert." Doch kurz vorher erstaunen in der Mitte des 13. Jahrhunderts bereits einzelne Regionalkarten des sehr produktiven Text und Reproduktion der Karte bei Miller: Mappaemundi (wie Anm. I), Bd. 3: Die kleinen Weltkarten. 1895, S. 43-53 und Abb. 4; ausführliche Analyse bei Danielle Lecoq: La Mappemonde du Liber Floridus ou La Vision du Monde de Lambert de Saint-Omer. In: Imago Mundi 39 (1987), S. 9-49; vgl. Kliege: Weltbild (wie Anm. I), S. 72-74 und S. 133-149; Brincken: Fines Terrae (wie Anm. I), S. 73-76 mit Abb. 29; Edson: Mapping Time and Space (wie AN^. I), S. 105-1 11 mit Abb. 6.2. 10 Cambridge, Corpus Chnsti College, Ms. 66, S. 2; Maße 29,5 X 20,5 cm; vgl. Text der Karte bei Miller: Mappaemundi, Bd. 3 (wie Anm. 9), S. 21-29; Danielle Lecoq: La mappemonde d7Henri de Mayence ou l'image du monde au XIl? siecle. In: Iconographie m6di6vaie: image, texte, contexte. Hrsg. von Gaston Duchet-Suchaw. Paris 1990, S. 155-207 mit Reproduktion; Brincken: Fines Terrae (wie Anm. l), S. 68-71 mit Abb. 24; P.D.A. Harvey: The Sawley Map and Other World Maps in Twelfth-Century England. In: Imago Mundi 49 (1997), S. 33-42 mit Fig. 1; Edson: Mapping Time and Space (wie Anm. I), S. 111-1 17 mit Abb. 6.3. " London, British Library, Additional Ms. 28681, f. 9' (Durchmesser 9,s cm); Text bei Miller: Mappaemundi, Bd. 3 (wie Anm. 9), S. 37-43; Abb. u.a bei P.D.A. Harvey: Medievai Maps. London 1991, Abb. 20. Zur Einordnung vgl. Kliege: Weltbild (wie Anm, I), S. 82 £, S. 167-171 und Taf. 11-12 mit Recte und Versoseite; Brincken: Fines Terrae (wie Anm. I), S. 85-89; Edson: Mapping Time and Space (wie Anm. I), S. 137; zur Datierung vgl. Nigel Morgan: Early Gothic Manuscripts. Bd. 2: 1250-1285. London 1988 (Survey of Manuscripts Illuminated in the British Isles 4,2), Nr. 114, S. 82-85. Enzyklopädisten Matthaeus Parisiensis mit Texten und Abbildungen von rauen.'^ Abwechslungsreicher ausgestaltet wird das kartographische Frauenbild aber erst in den meist größeren Kartenprodukten des späten Mittelalters. Einen Anfangspunkt setzt wohl, neben der bereits erwähnten Herefordkarte, die in der Datierung äußerst umstrittene, aber wohl nicht vor der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts entstandene Ebstorfer Weltkarte mit ihrer enormen Größe von 358 X 356 cm, deren Original 1943 in Hannover verbrannte.13 Und auch in manch späteren kartographischen Erzeugnissen sind Geschichten um und über das sogenannte "schwache Geschlecht" oft ausführlich und äußerst individuell verzeichnet. Denken wir nur an einige, im folgenden noch intensiver zu erörternde Weltkarten des 14. Jahrhunderts, speziell an die verschieden geformten kartographischen Entwürfe des Ranulph Higden (gest. 1363),14 dessen PoZychronicon in der verlorenen 12 Zur Einordnung vgl. Kliege: Weltbild (wie Anm. I), S. 77-79; Brincken: Fines Terrae (wie Anm. I), S. 106-109 mit Abb. 34; Suzanne Lewis: The Art of Matthew Paris in the Chronica Majora. Berkeley, Los Angeles, London 1987, bes. S. 321-376; Evelyn Edson: Matthew Paris' 'other' map of Palestine. In: The Map Collector 66 (Spring I994), S. 18-22; Edson: Mapping Time and Space (wie Anm. l), S. 118-125 zu den verschiedenen Exemplaren der Palästinakarte in London, Cambridge und Oxford. 13 Dem Original am ntichsten kommen die retuschierten Photographien von Ernst Sommerbrodt: Die Ebstorfer Weltkarte. im Auftrag des Historischen Vereins für Niedersachsen, hierbei ein Atlas von 25 Tafeln in Lichtdruck. Hannover 1891; Text bei Miller: Mappaemundi (wie Anm. I), Bd. 5: Die Ebstorikarte, 1896. Eine Zusammenfassung der ausgedehnten Forschungsdiskussionen bieten u.a Birgit Hahn-Woernle: Die Ebstorfer Weltkarte. Ebstorf 1987, 2. Aufl. 1993, mit zahlreichen Abb.; Ein Weltbild vor Columbus. Die Ebstorfer Weltkarte. Interdisziplintires Colloquium 1988. Hrsg. von Hartmut Kugler in Zusammenarbeit mit Eckhard Michael. Weinheim 1991 mit zahlreichen wichtigen Beiträgen; Brincken: Fines Terrae (wie Anrn. l), S. 91-93; Hartmut Kugler: Hochmittelalterliche Weltkarten als Geschichtsbilder. In: Hochmittel- alterliches Cieschichtsbewußtsein im Spiegel nichthistoriographischer Quellen. Hrsg. von Hans-Werner Goetz Berlin 1998, S. 179-198; vgl. demnächst dazu JUrgen Wilke: Die Ebstorfer Weltkarte. Bielefeld, Giitersloh 2000 (Ver6ffentlichungen des Instituts Alr Historische Landesforschung der 14 Universittit Gottingen 39). Millcr: Mappaemundi, Bd. 3 (wie Anm. 9), S. 94-109; vgl. David Wdward: Mcdicval Mappa~.mundi. In: l'hc History of Cartograpliy. Vol. I: Cartograpliy in Prehistoric, Ancicnt, and Mcdieval Europe and the Mediterranem. Hrsg. von J. B. 1CIarlcy und David Woodward. Chicago, London 1987, S. 286-370, hier S. 348 und S. 352 E mit Abb. 18.67-18.69; Klicge: Weltbild (wie Anm. I), S. 85; Originalfassung der ersten Version wohl noch keine Karte enthielt, oder an den reich ausgeschmückten, um 1375 auf Mallorca von den Zeichnern Abraham und Jafuda Cresques angefertigten Katalanischen Weltatlas, der nur in der aufwendigen Kopie fur König Kar1 V. von Frankreich überliefert ist.15 Eine Ausstattung mit Elementen aus der Frauenwelt setzte sich im 15. Jahrhundert fort. Dies beweisen die in Niello-Technik gefertigte Borgia-Karte (um 1430), die nach arabischem Vorbild gesüdete Weltkarte des Salzburger Benediktiners Andreas Walsperger, die 1448 in der geographisch-kartographischen Tradition der Klosterneuburger Schule entstand,'' und die mandelförmige, ptolemäisches Erbe auf- greifende Genueser weltkarte17 von 1457. Auch wenn sich der Umgang der Kartographen mit der Überlieferung über Frauen im Laufe der Zeit deutlich veränderte, wobei besonders die Abbildungen anfangs zu- nahmen, um dann teilweise wieder m verschwinden, belebten zumin- dest einzelne kurze Textpassagen über weibliche Besonderheiten oder Einflußspharen den Kartenraum. Ein solcher Ansatz gilt selbst fir die 1459 fur den portugiesischen Hof vollendete, aber nur in der Vene zianischen Kopie erhaltene Mappa mundi des betont kritischen Vene- zianischen Kamaldulensermönchs Fra Mauro, dessen äußerst anregen- de, nach arabischem Vorbild gesüdete Zusammenfassung des geogra- Brincken: Fines Terrae (wie Anm. I), S. 112 f.; Harvey: Medieval Maps (wie Anm. I I), S. 34 Abb. 26. l5 Paris, Biblioth2que Nationale, Esp. 30; Faksimile: Der Katalanische Weltatlas vom Jahre 1375. Mit einer E in f ihng und Übersetzungen von Hans-Christian Freiesleben. Stuttgart 1977 (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Geographie und der Reisen 11); Mapp~mndi. The Catalan Atlas of the Y e g 1375. Hrsg. von Georges Grosjean. Zürich 1978; vgl. W~odward: &dieVal Mappaemundi (wie Anm. 14), S. 3 15. l6 Biblioteca Apostolica Vaticana, Pal. lat. 1362 B; Faksimile: Weltkarte des Andrem Walsperger, Pal. lat. 1362 B. Erläuterung von Edmund Pognon. zkich 1987; Text bei Miller: Mappaemundi, Bd. 3 (wie Anm. 9), S. 147 E; vgl. Konrad Kretschmer: Eine neue mittelalterliche Weltkarte der vatikanischen Bibliothek. ~ n : Zeitschrift der Gesellschail für Erdkunde zu Berlin 26 (1891), S. 371-406; Woodwgd: Medieval Mappaemundi (wie Anm. 141, S. 316; Brincken: Fines Terrae (wie Anm. I), S. 145-147. 17 Edward Luther Stevenson: Genoese World Map 1457. Facsimiie arid Critial Text. New York 1912 (Publications of the Hispanic S o c i e ~ of America 831, phischen Wissens aufgrund der enormen Größe von 196 X 193 cm ungeahnte Möglichkeiten für ausführliche Legenden bot.'' Diese geraffte Aufiählung soll aber nicht suggerieren, daß Frauen oder zumindest weibliche Konzepte auf den kartographischen Erzeugnissen des Mittelalters grundsätzlich vertreten sein mußten. Erinnert sei nur an die große Zahl text- und bildarmer Ökumenekarten, auf denen keine Frauen und meist auch keine Männer, sondern höchstens Völker oder gleichsam geschlechtslos agierende Menschen eingetragen sind.lg Auch dieser Kartentyp erstreckt sich, soweit wir wissen, über das ganze Mittelalter. Zu denken ist beispieIsweise an das spirituelle, rechteckige Weltbild des Kosmas Indikopleustes, die zahlreichen schematischen Sallustkarten sowie die beiden regional orientierten Hieronymuskarten, die verschiedenen Zonenkarten des Macrobius, aber auch an die trotz ihrer Ostung unkonventionelle und ovale Weltkarte von Albi, die (im Spanien oder Septimanien des ausgehenden 8. Jahrhunderts skizziert) in einer Sammefhandschrift mit geographischen Texten von Orosius überliefert ist.20 Zu den fur die Ethnographie Asiens und Afrikas weniger ergiebigen frühen Karten zählt letztlich auch die wohl im beginnenden 11. Jahrhundert entstandene, stark auf Europa fxierte ~ottoniana?~ eine geostete 18 Faksimile, Text und Erläuterungen: Il Mappamondo di Fra Mauro. A cura di Tullia Gasparrini Leporace. Presentazione di Roberto Almagia. Rom 1956; Marcel Destombes: Mappemondes A. D. 1200-1500. Catalogue pripad par la Commission des Cartes Anciennes de lYUnion Ghgraphique Internationale. Arnsterdam 1964, S. 223-226, Nr. 52,14; vgl. ingrid Baumgärtner: Kartographie, Reisebericht und Humanismus. Die Erfahrung in der Weltkarte des venezianischen Kamaldulensermönchs Fra Mauro (gest. 1459). In: Das Mittel- alter. Perspektiven mediävistischer Forschung 3 (1998), Heft 2: Fernreisen im Mittelalter. Hrsg. von Folker Reichert. Berlin 1998, S. 161-197. 19 Vgl. Miller: Mappaemundi, Bd. 3 (wie Anrn. 9), passim. 20 Albi, Bibliothkque Municipale, MS 29, £ 57"; Text und Nachzeichnung bei Miller: Mappaemundi, Bd. 3 (wie Anrn. 9), S. 57-59. Zu Kartentext und ~ber~ieferun~szusarnrnenhan~ vgl. Mappa Mundi e codice Aibingensi 29. In: Itineraria et alia geographica. Turnholti 1965 (Corpus Christianorum Series Latina 175), S. 468-494, bes. S. 469 mit Abb.; zum Stand der Interpretation vgl. Edson: Mapping Time and Space (wie Anm. I), S. 32-35 mit Abb. 2.4. London, British Museum, Cotton Tiberius B. V, f 56" (auch Angelsächsische Weltkarte oder Weltkarte des Tiberius genannt); Faksimile: An Eleventh- Century Anglo-Saxon nlustrated Miscellany. Hrsg. von Peter McGurk u.a. Kopenhagen 1983 (Early English manuscripts in facsimile 21); Text der Karte und Umzeichnung bei Miller: Mappaemundi, Bd. 3 (wie Anm. 9), S. 29-37; vgl. Kliege: Weltbild (wie Anm. I), S. 65 £; Harvey: Medieval Maps (wie Anm. 1 I), rechteckige Mappa mundi, die f i r ihren geographischen Realismus und großen Detailreichtum bekannt ist. Selbst für das 12. bis 14. Jahrhundert sind zahlreiche Ökumene karten ohne eine Anspielung auf weibliche Lebensräume zu nennen, darunter das farbenfreudige Exemplar des Guido von Pisa (1118) sowie die in der Nomenklatur stark von Isidor abhängige einfache TyO- Zeichnung im Werk des Wilhelrn von Tripolis, die nur in einer AbschriR des 14. Jahrhunderts seines um 1273 verfaßten Werkes erhalten istu Dazu gehören auch die malerische Karte der Bibliothek Sainte Gdnevikve in Paris (ca. 1364-1372) und die farbigen Skizzen aus der mehrfach überlieferten, 1344 verfaßten Chronik des Franzis- kaners Johannes ~ t inens i s .~~ Und Frauenlosigkeit manifestierte sich ferner in zahlreichen unter dem Einfluß der Portolankartographie stehenden italienischen Erzeugnissen in der Zeit von Pietro Vesconte (um 1320) bis Andrea Bianco (1436), obwohl sogar dieser fur praktische Belange produzierte Kartentyp die Einbettung weiblicher Figuren und Konzepte nicht grundsätzlich ausschloß. Eine erste Durchsicht der genannten Weltentwürfe zeigt, daß Frauen, übrigens ähnlich wie Männer, auf mittelalteriichen Mappae mundi prinzipiell in drei verschiedenen Funktionen präsentiert werden, als Gestalten aus Bibel und Christentum, als mythische, historische oder auch pseudohistorische Individuen sowie als fremde, von der europäischen Verhaltensnorm abweichende Wesen. Dieses Potential unterschiedlicher, vom 10. bis 15. Jahrhundert in Bild und Text entwickelter Vorstellungen von Frauen ist im folgenden exemplarisch zu beleuchten und in einem ersten Zugriff zu erfassen. Zu erwarten ist kein Entwurf einer umfassenden Theorie von differenzierten Wahr- nehmungsstrategien oder Geschlechterverhalten; da& eignen sich die wortreichen Reiseberichte sicherlich besser. Aber immerhin sind die Weltkarten ein Teil der Wirkungsgeschichte der "Berichte; sie sind bildlicher Ausdruck einer Perzeption von Geschlechterrollen, die der europäische männliche Beobachter (und fast alle Berichterstatter und S. 21-26 mit farbiger Abb.; Harvey: Mappa Mundi (wie Anm. I), S. 26-28 mit farbiger Abb.; Edson: Mapping Time and Space (wie Anm. I), S. 74-80; Ddano- 22 SmithlKain: Engiish Maps (wie Anm. l), S. 34-36 mit Abb. Text und lineare Umzeichnung bei Miller: Mappaemundi, Bd. 3 (wie Anm. 91, 23 S. 121 £; vgi. Brincken: Fines Terrae (wie Anm. l), S. 89 f. Zu den Karten vgi. Brincken: Fines Terrae (wie Anm. I), S. 135 £ Kartenzeichner waren Männer) angesichts fremder Frauen in schwer zugänglichen und kaum faßbaren Welten entwickelte. Bescheidenes Ziel der folgenden Ausfihrungen ist es deshalb, anhand einiger Beispiele die Gattungstraditionen und Repräsen- tationsstrategien der Kartographie zu analysieren, die Vielfalt der kartographischen Repräsentation wahrgenommener weiblicher Wirk- lichkeit auhzeigen und dann die verschiedenen Strategien fur die Aneignung des Wissens über fiemde Frauen im selektiven und traditionellen Medium der hoch- und spätmittelalterlichen Kartographie zu erläutern. Dabei können die zahllosen Variationen, Kombinationen und Permutationen nur partiell berücksichtigt werden, so daß der folgende erste Überblick keinerlei Anspruch auf Geschlossenheit und Vollständigkeit erhebt und eher als eine Sammlung von Kuriositäten, Widersprüchlichkeiten und Ungleichzeitigkeiten zu betrachten ist. 1. Weibliche Gestalten aus Bibel und Christentum Bibel und Christentum tragen zu unserem Thema vielleicht weniger bei, als wir erwarten. Häufiger eingezeichnet ist fast nur das geradezu als Kennzeichen mittelalterlicher Mappae mundi geltende Paradies, das im hohen Mittelalter meist versinnbildlicht wird mit Adam und Eva, der ersten Frau der Weltgeschichte, die mit ihrem Sündenfall Sexualität und Tod in die Welt einführte. Die Gestalt von Eva, neben Adam und der um den Baum der Erkenntnis gewundenen Schlange, erscheint am fnihesten in der Gruppe der Wzehn mehr oder weniger stark divergierenden Weltkarten, die sich in den 26 illustrierten Handschriften des Apokalypsekommentars des Beatus von Lidbana erhalten haben.24 In der Regel nehmen diese Beatus-Karten die 24 Vgl. die Zusammenstellung der Abbildungen der 26 illustrierten Codices des Apokalypsekommentars bei John Williams: The Illustrated Beatus. A Corpus of the Illustrations of the Commentary on the Apocalypse. 5 Bde., erschienen Bd. 1- 3. London 1994 und 1998, Bd. 1: htroduction, S. 28 £, S. 51 £, S. 181 und jeweils am Ende der Bände. Die AufStellung zeigt, daß 15 Codices Weltkarten enthielten, davon ist die Weltkarte in der heute unvollständigen Handschriff Eswrial, Biblioteca del Monasterio, t.iI.5 nicht mehr überliefert; allerdings fiihrt John Williams die einzige isoliert vom Apokalypsenkommentar tradierte und erst spät entdeckte Weltkarte in der Biblioteca Ambrosiana in Mailand in seiner Liste nicht auf. Destombes: Mappemondes (wie Anm. 18), S. 40-42 kennt davon nur 13 Karten des 10. bis 12. Jahrhunderts; vgl. auch die aersicht bei Kliege: Weltbild (wie Anm. I), S. 61 £ Zu den Legenden und dem Inhalt einzelner Karten vgl. Miller: Mappaemundi (wie Anm. I), Bd. 1: Die Weltkarte Doppelseite eines Codex ein; zusätzlich zum irdischen Paradies, das zwar nicht außerhalb, aber jenseits der menschlichen Erfahrungs- möglichkeiten verortet wurde, ist immer noch ein vierter Kontinent abgebildet. Bei den Paradiesdarstellungen lassen sich zwei verschieden ausgestaltete Typen herauskristallisieren; differenzierendes Kriterium ist die graphische Ausstattung, denn den Garten Eden belebten entweder die Urmenschen Adam und Eva neben dem Feigenbaum mit der Schlange oder (weniger häufig und gleichsam als abstrakte Lösung) nur die vier Paradiesflüsse. Der erste, stärker religiös orientierte Typ besticht durch eine signifikante Hervorhebung des Paradieses mit Adam und Eva sowie einem Feigen- oder Apfelbaum, um dessen Stamm sich die Schlange rankt. Dieses Design akzentuiert den Garten Eden als Inbegriff der Erschaffung des Menschen und der nachfolgenden Vertreibung, folglich den Beginn der irdischen menschlichen Geschichte. Im sogenannten ~aius-Beatus2', einem der ältesten Codices der Tradition, der vermutlich spätestens 962 entstand, liegt auf der rechten Kartenhälfte das Paradies, in dem Eva auf der linken Seite Adams steht und beide mit einem großen Feigenblatt ihre Scham bedecken. Die Szene spielt sich also nach dem vollzogenen Sündenfall ab und unmittelbar vor der Vertreibung aus dem Paradies, während die Schlange sich noch um den stilisierten fruchttragenden Baum neben Eva windet und ein unbestimmbarer Baum neben Adam die Symmetrie vollendet. Eine außerordentlich ähnliche Anordnung zeigt auch das fiühe Exemplar aus ~a l ladol id~~, entstanden um 970, auf dem nur der ntsätzliche Baum neben Adam fehlt. Und die Maius-Tradition setzt sich zudem in dem um 1047 niedergeschriebenen Facundus-~eatus~~ fort, in dem das des Beatus (776 n.Chr.), 1895. Wichtige Hinweise geben auch Brincken: Fines Terrae (wie Anm. I), S. 56-58; Edson: Mapping Time and Space (wie Anm. I), S. 149-159. 25 New York, Pierpont Morgan, Ms. 644, f. 33'-34'; Reproduktion: A Spanish Apocalypse. The Morgan Beatus Manuscript. Introduction arid Commentmies by John Williams, Codicological Analysis by Barbara A. Shailor. New York 1991, 33'-34'; Beatus-Apokalypse der Pierpont Morgan Library. Ein Hauptwerk der spanischen Buchmalerei des 10. Jahrhunderts. EinfUhrung und Kommentar von John Williams. Stuttgart 1991. Valladolid, Biblioteca de la Universidad, Ms. 433, f. 36'-37'; vgl. Reproduktion bei Miller: Mappaemundi (wie Anm. I), Bd. 2: Atlas von 16 Lichtdruck-Tafeln, 1897, Abb. 5. 27 Madrid, Biblioteca Nacional, Vitrina 14-2, f. 63'64'; vgl. Faksimile: Beato di Liebana: Miniature del Beato de Fernando I y Sancha (Codice B. N. Madrid, Vit, deutlich vergrößerte Paradies die rechte Kartenhiilfte dominiert sowie Evas und Adams Bnistrippen markant ausgefonnt sind. Die Szene betont jeweils den erfolgten Sündenfall und verweist, verstärkt durch den unübersehbaren Schlangenkopf direkt neben Evas Haupt, auf die selbst verschuldete, kurz bevorstehende Vertreibung. Abb. 4: Silos-Beatus (spätestens 1109). Ausschnitt mit Adam und Eva im Paradies; London, Rritish Library, Additional Ms. 11695, f. 39'-40'; Abb. by permission of The British Library. London. 14-2). Hrsg. von Umberto Eco. Parma 1973; Reproduktion bei Miller: Mappaemundi, Rd. 2 (wie Anrn. 26), Abb. 6; vgl. John Williarns: Isidore, Orosius and the Reatus Map. In: Imago Mundi 49 (1997), S. 7-32 mit Fig. 9. Die geschilderte Komposition beherrscht ferner die nur als Entwurf gezeichnete, noch nicht ausgemalte Seu d ' ~ r ~ e l l - ~ a s s u n ~ ~ ~ a s dem letzten Viertel des 10. Jahrhunderts, auf der das rechteckige irdische Paradies weiter nach rechts Richtung Mika verrückt ist und die Schlange sich noch um einen imaginären Baum windet. Und selbst der deutlich jüngere Silos-Beatus in London, dessen Illuminationen erst im W e n 12. Jahrhundert, genauer 1 109, vollendet wurden;9 präsentiert exakt dieses Bild der Stammeltern neben dem Apfelbaum mit der Schlange. Die Haltung der Schlange deutet an, daß die Versuchung von ihr auf Eva ausgegangen ist (Abb. 4). Greifbarer wird der Vorgang des Sündenfalls nur auf einer einzigen Beatus-Karte, nämlich auf der besonders detailreichen ovalen Weltkarte aus saint-sever;' entstanden zwischen 1028 und 1072. Hier pflückt die langhaarige blonde Verfuhrerin Eva, unmißverständlich vor dem Essen der Frucht, gerade den Apfel vom Baum mit der Schlange, während Adam noch ohne Feigenblatt im Zustand der Unschuld verweilt. Diese herausragende Paradiesversion wird (ebenso wie die im äußeren, die Welt umgebenden Ozean schwimmenden Fische) im allgemeinen dem fihrenden Iliu- minator des Codex, Stephanus Garsia Placidus, zugeschrieben, dem Leiter und 'Chefdesigner' der angesehenen produktionswerkstatt,3' dessen Hand offensichtlich die wichtigsten Teile der Weltkarte entwarf. In mehreren Varianten dieses ersten Beatkskartentyps wurden die Komponenten leicht reduziert, indem man insbesondere das Paradies Seu d'urgell, Museu Diocesh, Num. Inv. 501, E VIV-VIIr (im Herbst 1996 gestohlen); Abb. bei Williams: The iilustrated Beatus (wie Anm. 24), Bd. 3: The Tenth and Eleventh Centuries, Abb. 10-1 1. 29 London, British Library, Additional Ms. 11695, f 39'40'; vgl. Reproduktion bei Miller: Mappaemundi, Bd. 2 (wie Anm. 26), Abb. 7; Harvey: Mappa Mundi (wie Anm. I), S. 24 mit Abb. 30 Paris, Bibliothkque Nationale, Lat. 8878, E 45bisv45ter'; Faksimile: Comentarios al Apocalipsis y al Libro de Daniel. Edition facsimil del ddice de la abadia de Saint-Sever. 2 Bde. Madrid 1984; vgl. Reproduktion bei Miller: Mappaemundi, Bd. 1 (wie Anm. 24), Abb. 1; Anna-Dorothee von den Brincken: Weltbild der lateinischen Universalhistoriker und -kartographen. In: Popoli e paesi nella cultura altomedievale, 23-29 aprile 1981. Vol. 1. Spoleto 1983 (Settimane di studio del centro di studi sull'alto medioevo 29), S. 377-421 Cdiscussione' S. 409421), hier Tav. Xm; Williams: The Illustrated Beatus (wie Anm. 241, Bd. 3, S. 47 und Abb. 392-393; Kenneth Nebenlaht: Atlas a im Heiligen Land. Karten der Terra Sancta durch zwei Jahrtausende, Stuttgart 19959 S. 26 f. 31 Williams: The Illustrated Beatus (wie Anm. 24), Bd. 3, X. 44. auf die Stammeltern einengte und die Schlange an der rechten Umrandung des Paradieses hochklettern ließ. Frühestes Beispiel ist der 975 verfaßte Beatuscodex von ~ e r o n a . ~ ~ Dieser Fassung folgen auch die im 11. oder frühen 12. Jahrhundert entstandene ~ u r i n - ~ a r t e ~ ~ und das auffallend farbig ausgeschmückte, aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts stammende Manuskript aus ~anchester:~ in dem allerdings Eva mit Adam den Platz tauschte, um sich dadurch eigenartigerweise von der Schlange zu entfernen. Dieser Platztausch ist sehr ungewöhnlich; er läßt sich lediglich mit außerparadiesischen Einflüssen und einem mutmaßlichen Gesamtkonzept der Ökumenekarte erklären, das eine veränderte Position von Adam und damit auch von Eva erforderte. Allerdings wird diese unkonventionelle Positionierung der Ureltern zueinander erneut in der wohl spätesten Beatuskarte von ~ r r o ~ o ~ ~ aus der ersten Häifte des 13. Jahrhunderts aufgegriffen. In diesem dekorativ überwucherten Weltbild ist der Baum mit der Schlange jedoch so weit nach rechts verschoben, daß er vollkommen aus dem Garten Eden evakuiert ist, während der seine Scham bedeckende Adam mit dem Zeigefmger auf die schuldige Eva deutet, die, ein Blatt vor dem Geschlecht, mit abwehrender Geste darauf reagiert. Mit dieser Anklage gewinnt, gleichsam in Anpassung an die veränderte Mentalität der Zeitgenossen, die Sündhafiigkeit der Urmutter als Vertreterin der Weiblichkeit ein neues Gewicht. Zu untersuchen wäre in diesem Zusammenhang, ob die Kartographen die zunehmend polarisierende Sicht der Theologen auf Frauen als Sünderinnen und jungfkäuliche Heilige auch auf andere weibliche Gestalten aus Bibel und Christentum übertrugen. Zumindest könnte der kartographische Weltentwurf im erst 1220 fertiggestellten Codex von 32 Gerona, Museu de la Catedral, Num. Inv. 7 (1 I), f. 54"-55) vgl. Reproduktion bei Miller: Mappaemundi, Bd. 2 (wie Anrn. 26), Abb. 3b; Abb. bei Williams: The Iilustrated Beatus (wie Anm. 24), Bd. 1, S. 52 mit Abb. 22. 33 Turin, Bibliotem Nazionale Universitaria, Sgn. 1.11.1, f. 45'46'; vgl. Reproduktion bei Miller: Mappaemundi, Bd. 2 (wie Anm. 26), Abb, 8. 34 Manchester, John Rylands University Library, Ms. lat. 8, E 43'44'; Faksimile: Beatus a Liebana in Apocalypsin Commentarius: Manchester, the John Rylands University Library Latin MS 8. Hrsg. von Peter Klein. München 1990 (Codices illurninati medii aevi 16). 35 Paris, Bibliotheque Nationale, Nouv. acq. lat. 2290, f. 13"-14'; vgl. Abb. bei Leo Bagrow1R.A. Skelton: Meister der Kartographie. 4. neu bearbeitete und erweiterte Aufl. Berlin 1973, S. 310 mit Tafel XXUI. Las ~ u e l ~ a s ~ ~ ufgrund der bewegten Gestik der Ureltern in die gleiche Richtung weisen, wenngleich hier - einzigartig in der Beatustradition, aber durchaus gewöhnlich für hochmittelalterliche Paradiesdarstellungen - der Baum mit der Schlange zwischen Adam und Eva steht. Diese personale Wiedergabe des Beginns der menschlichen Geschichte fehlt auf drei ~eatus- arten:^ die anstelle von Adam und Eva nur die zentrale Quelle mit den in die vier Teile der Welt fließenden Paradiesflüssen reproduzieren. Ein solch abstraktes Layout betont die Schöpfung und den Ursprung der Welt in Gott, nicht mehr den menschlichen, in erster Linie weiblichen Ungehorsam. Mit den vier in die Ecken fließenden Urströmen dekoriert ist der weiterhin in der rechten Kartenhälfte angesiedelte Garten Eden sowohl auf der besonders kunstfiig ornamentierten, auf 1086 datierten Osma- arte^* als auch auf der gegen Ende des 12. Jahrhunderts entstandenen Ofiakarte in ~a i l and .~ ' An das Urfluß-Modell knüpfte zudem die konfus und vollkommen unsystematisch wirkende Beatus-Karte in Paris an, deren willkürliche Zusammenstellung von Orten den Sinngehalt des ausnahmsweise in die linke Kartenhälfte verschobenen, krakenhaft gestalteten Paradieses stark relati~iert.~' Die kurze Analyse der sich verändernden Rolle Evas im Paradies der verschiedenen Beatus-Karten zeigt das Bemühen der Karten- 36 New York, Pierpont Morgan Library, Ms. 429, f. 3lV-32) Anscari M. Mund6 und Manuel Shchez Mariana: E1 comentario de Beato al Apocalipsis: Cataogo de los ddices. Madrid 1976, Nr. 18 mit weiterer Literatur. 37 Aufgrund ihres fragmentarischen Zustands können der hrväo-Beatus (Lissabon, Arquivo Nacional da Torre do Tombo, 160, datiert 1189) und die rudimentär erhaltene Wandkarte in San Pedro de Rocas nicht berücksichtigt werden. 38 Bwgo de Osma, Archivo de la Catedral, Ms. 1, f 34'-35'; Faksimile: Apocalipsis Beati Liebanensis Burgi Oxomensis. Valencia 1992; vgl. Reproduktion bei Miller: Mappaemundi, Bd. 2 (wie 261, Abba 3a; Brincken: Fines Terrae (wie Anm. l), Abb. 17; Edson: Mapping Time arid Spate (wie Anm. I), ~ b b . 8.3; Williarns: The Illustrated Beatus (wie Anm. 2% Bd. 1, S. 51 mit Abb. 21. 39 Mailand, Biblioteca Arnbrosiana, F 105 Sup., f 71"-72'; nicht bei Williams: The Ulustrated Beatus (wie Anm. 24). Vgl. Luis Vmuez de Parga: Un mapa desconocido de la serie de los "Beatos". In: Actas del Simposio Para el estudio de los c6dices del 'Comentario al Apocalipsis' de Beato de Liebana. ~ d . 1. Madrid 1978, S. 273-278. 40 Paris, Bibliotheque Nationale, Nouv. acq. lat. 1366, f 24"-25'; vgl. Reproduktion bei Miller: Mappaemundi, Bd. 2 (wie Anm. 2619 Abb. 2; BagrowISkelton: Meister (wie Anm. 35), S. 310 mit Tafel m. zeichner, eigene Intentionen bezüglich der Wahrnehmung Evas bildlich umzusetzen und Vorgaben aus Vorgängerkarten fur den eigenen Bedarf zu modif~ieren. Auffallend ist der in Szene gesetzte Funktionswandel von der anfangs figurativ fast gleichberechtigten Partnerin zum letztlich von Adam offen angeklagten, der Zuwiderhandlung gegen göttliches Gebot beschuldigten Wesen, wobei der Sündenfall nicht nur die Bedeutung der Geschlechtlichkeit grundlegend verändert, sondern auch zur Einführung von Konkupiszenz und Geburtsschmen beigetragen haben ~011."~ In der Herefordkarte ist die Paradiesdarstellung mit Adam und Eva, wie eingangs geschildert, in zwei konsekutiven Phasen wiedergegeben (oben Abb. l a und lb):42 In dem von der Welt durch eine Mauer und einen Wassergraben abgetre~ten Paradies erfolgt zuerst die Versuchung. Um den im Zentrum verankerten Baum der Erkenntnis windet sich die Schlange, deren Kopf in Richtung Eva vorstößt, um mit dem Maul die verbotene Frucht hinüberzureichen, während der hinter Eva stehende Adam bereits in seinen Apfel beißt. Aus den Wurzeln des zentralen Baumes entspringen die vier Paradiesflüsse Euphrat, Tigris, Gehon (Elon) und Phison. Außerhalb der turmartig befestigten Paradiespforte ("Paradisi porte") sehen wir rechts darunter die zweite Phase, die Vertreibung aus dem Paradies durch den Cherub mit dem erhobenen Schwert in der Rechten. Mit der linken Hand schiebt der Wächterengel geradezu die unter der neuen Last gebeugten Stammeltern, über denen der Text "Expulsio ade et eva" das Ereignis kommentiert, aus dem Paradies. Die Botschaft scheint klar: Die vertriebenen Stammeltern haben das Recht auf eine Rückkehr ins Paradies verwirkt und müssen mit ihren Nachkommen Buße leisten. Nicht veranschaulicht ist allerdings die weitergehende Interpretation der Theologen, die sündige Frau habe in Zukunft dem Mann zu gehorchen, 41 ZU den Paradieskonzeptionen des fiühen und hohen Mittelalters vgl. Reinhold Grimm: Paradisus coelestis, paradisus terrestris. Zur Auslegungsgeschichte des Paradieses im Abendland bis um 1200. München 1977 (Medium aevum 33), passim. 42 Vgl. Frcd Plaut: Where is Pwadise? Tlie Mapping of a Myth. In: Map Collector 29 (Dce. 1984), S, 2-7, bcs. S. 2 mit einer Reproduktion der alten scliematisclien Umrsiclinung von 1854, welche die Vorghge in und außerhalb des Paradieses deutlicher crkcnncn Iüßt; vgl. auch die Beschreibung bei W.L. Bevan und H.W. Phillott: Mcdicvd Gcogr:r:iphy. An Essay in Illustration of the I-Iereford Mappa Muridi. Iandon, IIcrcfard 1873, ND Atiistcrdiun 1969, S. 25; Janutcey: Mappa tnundi (wie Anin. I), Segt11cni 2. Abb. 5: Hereforder Weltkarte (nac freundlicher Genehmigung Hereford Mappa Mundi. -W- - - V - ; Spiege :It, da dr i wird. ner Blicl Ir Salzsä .-*-*- :- . h 1283), , ean and Cl 4ussdinitt iapter of H mit Lots : erefwd Ca ien w i i ~ iblichen 1 tc Er.x. Frau; Abb. mit nhedral and the da sie das vt Heil nur durch Unterordnung mr nnen könne. Die Ikonograpnie H-fordkarte, mit der enzyklopadischen Vielfalt der Erde a15 lbild des göttlicl ens, ist un- gewöhnlich ausgeklügt is Thema des wei Ungehorsams nochmals aufgegriffer. -, nämlich mit Lo„ , .„, deren nach Genesis 19,26 verbote zurück auf Sodom und Gomorrha die ohnehin Namenlose n iule erstarren ließ, beschrieben mit den Worten "uxor Lods muuiui in petra salis" (Abb. 5). Dieses Motiv war in den zeitgenössischen Reiseberichten vorgegeben. Bereits 1 172173 &schrieb der jüdische, in den Jahren 1168 und 1169 durch Paläsha reisende Benjamin von Tudela in seinem auf Tagebuchn~tiz~n zurückgehenden Buch der Reisen den Blick vom Ölberg auf das M= von sodom, in dessen Nähe die Salzsäule stehen sollte, "die Lots Weib war [...I. Und die Schafe und Ziegen lecken an ihr. Und danach wiichst sie wieder [und wird3 wie Eindringlicher konnte weibliche Renitenz und deren fortwährende Bestrahng nicht dargestellt werden. Und auch wenn nicht alle Reisenden bereit waren, an die Existenz von Lots Frau im vegetationsarmen Umland des Toten Meeres zu glauben, so wurde sie trotzdem gerne beiläufig genannt. Denken wir nur an Petachja von Regensburg, der rund ein Jahrzehnt später seine aus persönlicher Erfahrung gewonnenen Zweifel mitteilte.44 Häufig suchten die Pilger jedoch sehr gezielt nach der in der Bibel nur in einem kurzen Satz Erwähnten. Nach einem langjährigen Aufenthalt irn Nahen Osten verwies der Dominikaner Burchard von Monte Sion beispielsweise in seinem um 1283 verfaßten sachkundigen und weit verbreiteten Handbuch Descriptio terrae sanctae auf die Schwierigkeiten solcher Nachforschungen irn sarazenischen Territo- ri~rn.4~ Trotz aller Unsicherheiten entschlossen sich zumindest zwei in England arbeitende Kartographen, den Platz in ihren Produkten zu kennzeichnen. Außer dem Autor der Herefordkarte war dies Matthaeus Parisiensis, Mönch der großen Benediktinerabtei St. Albans im englischen Hertfordshire; er verzeichnete gegen Mitte des 13. Jahr- hunderts auf dem mit Bildern zurückhaltenden Oxforder Exemplar seiner Palästinakarte einen Großteil der von Benjamin genannten darunter auch die "Uxor Loth" als "Statua salis", abgebildet als 43 Benjamin von Tudela: Buch der Reisen (Sefär ha-Massa'ot). Ins Deutsche übertr. von Rolf P. Schmitz. Fradcfkt am Main, Bern, New York, Paris 1988 (Judentum und Umwelt 22), S. 18; Die Reisen des Rabbi Benjamin bar Jona von Tudela. In: Benjamin von Tudela, Petachja von Regensburg. Jüdische Reisen im Mittelalter. Aus dem Hebräischen übersetzt von Stefan Schreiner. Leipzig 1991 (Sammlung Dieterich 416), S. 5-1 19, hier S. 44; Zitat nach: Syrien und Palästina nach dem Reisebericht des Benjamin von Tudela. Hrsg. von Hans Peter Rüger. Wiesbaden 1990 (Abhandlungen des Deutschen Palästinavereins 12), S. 45. 44 Die Reise des Rabbi Petachja ben Ja'aqov von Regensburg. In: Benjamin von Tudela, Petachja von Regensburg. Jüdische Reisen im Mittelalter (wie Anm. 43), S. 121-164, hier S. 161 zu dem als Salzmeer bezeichneten Toten Meer: "Dort gibt es kein Kraut. Die Salzsäule, hat er erzählt, hat er nicht gesehen. Es gibt sie überhaupt nicht." 45 Burchard of Mt. Sion: Description of the Holy Land. London 1896 (Library of the Palestine Pilgrims' Text Society), ND New York 1971, S. 59: "I strove hard to See this, but the Saracens told me that the place was unsafe ... I have learned since that it was not so.)' 46 Syrien und Palästina nach dem Reisebericht des Benjamin von Tudela. Hrsg. von Rüger (wie Anm. 43), S. 15 mit Abb. Verzeichnet ist hier die Uxor Loth als Statua salis (auf einem Mons), zudem abgebildet als eine Frauengestalt in der Nähe von Sodoma, Gomorra und dem Toten Meer. eine Frauengestalt auf einem Hügel in der Nähe von Sodom und Gomorrha und nicht weit entfernt von der großen Kreuzfahrerburg Krak des Chevaliers auf der anderen Seite des Toten ~ e e r e s . 4 ~ Beide Karten dürften (jede auf ihre Weise) der Information von Pilgern gedient haben. Für die kleine Palastinakarte ist dies offen- sichtlich, aber auch die visualisierte Eschatologie der Hereforder Welt- karte eignete sich als Kirchenschmuck, auch wenn die ursprüngliche These, daß es sich um ein Altarbild gehandelt haben könnte, längst verworfen ~ u r d e . 4 ~ Als Mittelbild eines Triptychons, dessen Zentralteil aus Holz wiederentdeckt wurde, könnte sie die Wand geziert haben, an der die zahlreichen Pilger vorbeizogen, die die Kapelle mit dem Schrein des 1320 kanonisierten Heiligen Thomas de Cantilupe, Bischof von Hereford von 1275 bis 1282, besuchen wollten.49 Die jemalern- zentrierte Mappa mundi eignete sich, Marcia Kupfer mfoige, hervorragend zur didaktisch-religiösen Unterweisung im Umkreis der Hereforder Kathedrale, aber meiner Meinung nach wohl nicht - wie die Autorin ferner zu demonstrieren versuchte - abgeschlossen in der elitären Kathedralschule und ihrer erlesenen Bibliothek, sondern noch besser in der viel besuchten Kirche, in d a sie fir die aus den umliegenden Gegenden herbeieilenden Pilger sichtbar ausgestellt wer- den konnte. Man kann sich gut vorstellen, daß die Pilger zuerst, somsagen mr Einstimmung, an dieser enzyklopädischen Belehrung über die Vergänglichkeit des irdischen Seins vorbeizogen, um dann um so demütiger die F a eile des Heiligen ZU betreten. Eine Möglichkeit, die Karte an d e f l a n k ,des Seitenschiffs in Sichthöhe zu befestigen, könnte ein heute noch existierender Steinsockel geboten haben. Dies entspräche bis zu einem gewissen Grade auch der Plazierung der 47 Edson: Matthew Paris (wie Anm. 12), S. 19. 4s Harvey: Mappa Mundi (wie Anm. I), S. 12-16; Marcia Kupfer: Medieva, world Maps: Embedded Images, Interpretive Frames. In: Word and Image 10,3 (1994), S. 262-288, bes. S. 273-275. 49 Die hegungen für diese These verdanke ich der Diskussion mit ~~~i~~~ Harbour (Hereford) und Daniel Terkla (Illinois Wesleyan University) vor ort in der Kathedrale von Hereford anläßlich der "Mappa Mundi Conferenc? vom 27. Juni bis 1. Juli 1999; vgl. dazu die Darstellung von Daniel P, ~ ~ ~ k ~ ~ : Impassioned Failure. Memory, Metaphor, and the Drive toward Intellection. I,, Imagining Heaven in the Middle Ages. A B00k of Essays. Hrsg. von Jan Svvango Emerson und Hugh Feiss, OSB. Afterword by Jeflcey Burton Ilussell. New york, bndon 2000, S. 245-3 16, hier S. 266. verlorenen Wandgemälde mittelalterlicher Weltkarten, die sich zumin- dest in zwei sorgfältig rekonstruierten Fällen gerade in dem für Laien zugänglichen Kirchenschiff und nicht im Altarraum befunden haben müssen.50 Propagandistischer hätte man die Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies und die Mahnung an den menschlichen Ungs horsam kaum bekunden können. Abb. 6: Ebstorfer Weltkarte (zweite Halfte 13. Jh.), Ausschnitt mit Adam und Eva im Paradies. Auf den Karten war nur bedingt Platz fur individuelle Entscheidungen, so daß die Zeichner auch im Blick auf Frauen höchstens in begründeten Fällen den anerkannten Hauptstrang der biblischen Tradition verließen und sich also weitgehend auf die kartographische Inszenierung des Paradieses mit Adam und Eva konzentrierten. Allerdings repräsentierten die Bilder nicht immer eine so einseitige Schuldzuweisung an die Frau wie in den späten Beatuskarten. Der große Garten Eden der Ebstorfer Weltkarte (Abb. 6) illustriert zwar eingängig den Sündenfall, doch der weißhaarige Adam Marcia Kupfer: The Lost Mappamundi at Chalivoy-Milon. In: Speculum 66, 3 (1991). S. 540-571; Serafin Moralejo: EI mapa de la diiispora apostolica en San Pedro de Rocas: notas ptua su interpretaci6n y filiaci6n en la tradici6n cartogrhfica de los "Reatos". In: Compostellanum 3 1 (1986). S. 3 15-340. und die brünette Eva stehen fast gleichberechtigt auf beiden Seiten des früchtebeladenen Baumes, um dessen Stamm sich eine Schlange ringelt, deren Menschenkopf nahe an Evas Haupt die Einflüsterung des Bösen suggeriert, während hinter Adam die vier Paradiesströme aus der Quelle des Lebens sprudeln, auf deren anderer Seite sich der Baum des Lebens erhebt. Zweifellos halten beide Ureltern bereits eine rote Frucht in Händen, so daß nicht der verbotene Akt des Pflückens, sondern das einträchtige Verspeisen akzentuiert wird. Die Gemeinsamkeit des Vorgehens spiegelt sich ferner in dem über dem Paradies schwebenden Begleittext, der nur von der Täuschung der Ureltern durch das Reptil spricht, ohne Evas maßgebliche Rolle auch nur an~udeuten.~' Das Paradies gehörte zu den kartographischen Standardmotiven; die individuelle Ausgestaltung setzte jedoch erkennbare Akzente, nicht nur in der Wahrnehmung geschlechtsspezifischer Rollen. Unter den drei jerusalemzentrierten Karten des 13. Jahrhunderts bildet etwa die Londoner Psalterkarte eine Ausnahme; das irdische Paradies ist mit den Gesichtern des Elia und des Enoch ausgeschmückt, die nach altkiichlicher Anschauung wegen ihrer Frömmigkeit körperlich dorthin versetzt wurden, während fünf Ströme (zusätzlich zu Phison, Geon, Tigris und Euphrat auch der Ganges) den Garten Eden verlassen." Den Höhepunkt solch komplexer und individueller Darstellungen erreichte sicherlich das 13. Jahrhundert. Im 14. und 15. Jahrhundert etablierte sich das Paradies zunehmend als stark befestigte und damit ver- schlossene gotische Burg. Doch das konventionelle Bild mit Adam und Eva nach dem Sündenfall sowie der sich um einen zentralen Baum windenden Schlange kennzeichnet selbst noch die aus der Serie der sogenannten Weltkarten des Ranulph Higden stammende, ovale ~vesham-~eltkarte?~ die vermutlich zwischen 1390 und 1392 in der gleichnamigen Abtei entstanden ist und an der Wand hinter dem Altar aufgehängt gewesen sein könnte. Das von einer Art kunstvoll Miller: ~ a ~ ~ a e m u n d i , B . 5 (wie Anm. 13), S. 48: "Paradisus et lignum vite et quatuor flumina fluentes de Paradiso; ubi primos parentes decepit serpens suadens de ligno vetito manducare." 52 Miller: Mappaemundi, Bd. 3 (wie Anm. 9), S. 38 behauptet irrtümlich, es wären die Gesichtsbilder von Adam und Eva 53 Peter Barber: Die Evesham-Weltkarte von 1392. Eine mittelalterliche Weltkarte im College of Arms in London. Von der Universalität zum Anglozentrismus. Cartographica Helvetica 9 (1994), S. 17-22, hier S. 17 f. und 21 mit Abb.; Peter Barber: The Evesham World Map: A Late Medieval Englisli View of God arid the World. In: Imago Mundi 47 (1995), S. 13-33, bes. S. 14 mit Abb. und S. 22 f. geschnitzter Rückwand eines Throns umrahmte Paradies, Ort des Sündenfalls und des letzten Gerichts, symbolisiert gleichzeitig Beginn und Ende der menschlichen Zeit, im Hintergrund durchquert von den vier Paradiesflüssen. Ansonsten werden ~chö~fun~s~eschichte und biblische Stoffe in dieser Zeit bereits eher in den fur differenzierte Äußerungen besser geeigneten Begleittext verschoben. Auf dem textreichen ersten Doppel- blatt des Katalanischen Weltatlas (1375) wird beispielsweise die Erzählung um Isaaks Frau, die listige Rebekka, wiedergegeben, die ihren Lieblingssohn Jakob bewog, seinen Bruder Esau um den väterlichen Segen zu betrügen; zugleich wird die Frau schlechthin bezeichnet als "eine Verworfene, verleumderisch und faul".54 Doch soIche misogynen Attacken waren selten und hatten nur beschränkte Auswirkungen, m a l die Zeitgenossen im ausgehenden Mittelalter immer vorsichtiger gegenüber Illustrationen biblischer Geschichten wurden und nach neuen Lösungen suchten. Ein außergewöhnliches Programm entwickelte in diesem Zusarn- menhang vor allem der Venezianer Fra Mauro, der trotz der Ausmaße seines Weltentwurfs den Garten Eden als eigenständiges Gemälde aus der Ökumene auslagerte und es in der Ecke links unten zwischen dem zentralen Weltenkreis und dem fast quadratischen Rahmen ~erortete.~' Auffallend ist die Komplexität dieser originellen und gelehrten Abbildung: Das nach der Erbsünde für den Erdenrnenschen uner- reichbare irdische Paradies ist ein befestigter, von einer starken Mauer umgebener Garten mit dem im Zentrum wachsenden Baum der Erkenntnis, neben dem auf der weltzugewandten Seite Eva halb versteckt hinter Adam steht, Leide nahem ängstlich und mit schamhaft auf der Brust gekreuzten Armen, während auf der anderen Seite, gleichsam Einhalt gebietend, Gottvater dominiert. Den Eingang 54 Der Katalanische Weltatlas. Hrsg. FreiesIeben (wie Anrn. 15), S. 28 f. " I1 Mappamondo di Fra Mauro (wie Anm. 18), S. 22; Abb. auch bei Peter Whitfield: The Image of the World. London 1994, S. 13; vgl. Plaut: Where is Paradise (wie Anm. 42), S. 4 f. zur Auslagerung des irdischen Paradieses bei Fra Mauro und anderen Weltkarten des 15. Jahrhunderts; dazu neuerdings auch Alessandro Scafi: Ii Paradiso Terrestre di Fra Mauro. In: Storia dell'arte 93/94 (1998), S. 41 1-419; ders.: Mapping Eden. Cartographies of the Earthly Paradise. In: Mappings. Hrsg. von D. Cosgrove. London 1999, S. 50-70, bes. S. 66 f. Nach Abschluß des Manuskripts wurde mir erst zumglich Alessandro Scafi: The Notion of the Earthly Paradise ffom the Patristic Era to the Fifteenth Century. London 200 1. bewacht der Cherub, unter dessen Füßen sich gleichsam das Wasser, das aus der unterhalb des Baumes entspringenden Quelle des Lebens sprudelt, in die vier Paradiesflüsse Ganges, Tigris, Euphrat und Nil aufteilt, um die Erde zu be~ässern.'~ Der lange Begleittext darüber beschreibt die Situation und benennt irn Rekurs auf Augustinus, Albertus Magnus und Beda nur den Ungehorsam Adams, der durch das Essen der Frucht seine Verdammung aus dem Paradies verursachte. Erstaunlich ist, daß die Rolle der mindestens ebenso sündigen Eva volIkomrnen verschwiegen wird.57 Offensichtlich war die Relevanz der Frau bis zur Nichtbeachtung gesunken. Gleichzeitig zogen es die Kartographen vor, die realen Bedürfnisse von Pilgern zu berücksichtigen. Schon seit langem bildeten sie die Gräber christlicher Heiliger als Grundlage wichtiger Klostergrün- dungen ab, die als Orientierungspunkte die Territorien beherrschten und anhand der Reiseberichte leicht zu lokalisieren waren. Dieses Modell gilt nahezu unterschiedslos fur weibliche wie fur männliche Heilige. Fra Mauro verzeichnet den Begräbnisort der Heiligen Brigitte in ~orwegen'~ und die Genueser Weltkarte von 1457 den Berg Sinai mit dem Katharinenklo~ter.~~ Ein solcher Ansatz war natürlich keine Erfindung des 15. Jahrhunderts. Das von Pilgern bei ihren Heilig-Land- Reisen häufig besuchte Sinaikloster, das in zahlreichen Berichten beschrieben wird, zierte unter anderem bereits das vierte Doppelblatt des Katalanischen Weltatlas, begleitet von folgender Formulierung (Abb. 7): "Hic est Corpus catarina ~ir~inis".~' 56 Scafi: I1 Paradiso Terrestre (wie Anm. 55). 57 58 II Mappamondo di FraMauro (wie Anm. 18), Tav. XXXVII, S. 22. I I1 Mappamondo di Fra Mauro (wie Anm. 18), Tav. =I, 24, S. 60: "'NorVegia 1 ... Qui se dice esser el co(r)po de sancta Brigida, la qua1 sego(n)do alguni fo de suetia." 59 Stevenson: Genoese World Map 1457 (wie Anm. 17). S. 29. 60 Der Katalanische Weltatlas. Nrsg. Freiesleben (wie Anm. 15), S. 31: "I-Iier ist der K6rper der Jungfrau Katarina". Zum Katharinenkloster in den deutschen . Reiseberichten des Sptitmittelaltcrs vgl. Aleya Khattab: Das Amtenbild in den , deutschsprachigen Reiscbeschreibungcn der Zeit von 1285-1500. Frankfurt Main, Bern 1982 (Europtiische I-Iochschulschriftcn. Reihu I: Deutsche Spracht und Literatur 5171, S. 84-92. Abb. 7: Katalanischer Weltatlas (1375). viertes Doppelblatt, Ausschnitt mit dem Heiligen Land und dem Katharinenkloster (rechts unten), Paris, Biblioth&que Nationale, Esp. 30 (Faksimile: Der Katalanische Weltatlas vom Jahre 1375. Mit einer Einflhmng und Übersetzungen von Hans-Christian Freiesleben. Stuttgart 1977). Doch außer der betonten ~un~fiäulichkeit~' lassen sich keine weiteren geschlechtsspezifischen Eigenheiten erkennen. Männliche und weibliche Heilige eigneten sich gleichermaßen fit solch praktische Referenzen. 61 Zum gewandeltem Ideal der Virginität im Spätmittelalter vgl. Claudia Opitz: Hunger nach Unberührbarkeit? JungfifIulichkeitsideal und weibliche Libido im spateren Mittelalter. In: Feministische Studien 5 (1986), Heft 1, S. 59-75. Abb. 8: Katdanis &las (1375). anf i e s Doppelblatt. Ausschnitt mit der KGnigin von Saba; Pans, Hibliotheque Nationale, Esp. 30 (Faksimile: Der Kata- lanische Weltatlas vom Jahre 1375. Mit einer EinEhrung und ifbersetzungen von Hans-Christian Freiesleben. Stuttgari 1977). 2. Historische und mythische Frauen aus Sage und Geschichte Klassische Texte und Sagen, rezipiert und kommentiert in den Berichten der Orientreisenden, dürften vermutlich den historisch- mythischen Blick auf das Weibliche stimuliert haben. In das imaginäre Wirkungsfeld der Karten gesetzt wurden, ähnlich wie "große" Männer, "berühmte" Frauen mit überragenden Leistungen, fmer aufregende Phantasieprodukte aus Kinderträumen, die irgendwo in der Welt ja schließlich existieren mußten, und feminisierte Kontinente und Inseln. Die Kartenmacher ließen sich gerne animieren, die Überliefeningen aus Sage und Mythos in die Grenzräume des Wissens, meist nach Nordeuropa, Asien und Afrika, zu transferieren und die eine tiemde Realität tatsachlich bezeugenden Bestien und wundersamen Geschöpfe nach sorgfältiger Beurteilung ins Bild zu übertragen, Und da die Kartengröße die Anzahl der Eintrgge begrenzte, mußte - wie bei den biblisch-christlichen Motiven - eine bewußte und zielstrebige Selektion erfolgen. Vom ausgehenden 13. bis zum 15. Jahrhundert belebten einzlne "berühmte" Frauen die kartographischen Weltentwürfe. Auf dem fünften Doppelblatt des Katalanischen Weltatlas beherrscht die sagenumwobene Königin von Saba die reiche südarabische Provinz, genannt "Arabia Sabba" (Abb. 8), die bereits irn Alten Testament wegen ihres sagenhaften Reichtums Erwähnung fand. "Es gibt dort viele Wohlgerüche wie Weihrauch und Myrrhe, dazu Überfluß an Gold, Silber und ~delsteinen"~~ betont der Begleittext, dem zufolge diese Gegend zur Abfassungszeit des Atlas den Sarazenen unterstand. In Größe und Aufwand ähnelt die in voller Pracht illustrierte Königin den anderen Herrscherfiguren, darunter den auf der anderen Seite des Persischen Golfes und des arabischen Meeres beheimateten Königen von Persien ("Rey da1 Tauris") und von "Delhi" in Indien, die mit untergeschlagenen Beinen auf ihren Sitzkissen ruhen, während die legendäre Königin in fast europäischem Stil erhöht thront und eine Weltkugel hält. Zu untersuchen wäre freilich, inwieweit sie in der Folgezeit auch in andere stark ornamentierte, namentlich in kata- lanischer Manier gezeichnete Portulane Eingang fand. Zu denken wäre beispielsweise an die Valseca-Karte von 1439 mit der Abbildung eines farbigen zeltartigen Gebildes in Arabien, das eine gekrönte Figur umhüllt. Deutlich weniger illustrativ war jedenfalls zwei Jahrhunderte zuvor noch der einfache Schriftzug "Saba Ethiopie" in der Wolfenbütteler Weltkarte des Larnbert von Saint-Omer gewesen.63 Aber die skeptische Frage, ob die "formosissima regina e sibila Saba" (Abb. 9) überhaupt jemals existiert habe, beschäftigt erst einige Jahrzehnte später den kritischen Fra Mauro, der sie sicherheitshalber ohne ein Abbild "in ierusale[m] al te[m]po de ~a lamo[n] '~ historisch verortet, während er gleichzeitig mit "se dice" und an anderer Stelle mit "io no[n] l'afermo" in angemessener Form seine persönlichen Zweifel Außer biblisch ableitbaren Königinnen besaßen natürlich auch heilige Herrscherinnen eine besondere, gewissermaßen doppelte Legitimation, um in das Kartenbild aufgenommen zu werden. Im Rudimentum Noviciorum, einer Lübecker Minoriten-Weltchronik von 1475, befindet sich ein sehr früher, noch recht grober Holzschnitt einer 62 Der Katalanische Weltatlas. Hrsg. Freiesleben (wie Anm. 15), S. 31. 63 Miller: Mappaemundi, Bd. 3 (wie Anm. 9), S. 48. 64 I1 Mappamondo di Fra Mauro (wie Anm. 18), Tav. XVI, 33, S. 30: "Arabia sabea ... E de questa se dice venisse quela formosissima regina e sibila Saba in ierusale(m) al te(m)po de Salamo(n)." 65 LI Mappamondo di Fra Mauro (wie Anm. 18), Tav. XVI, 75, S. 31. Abb. 9: Weltkarte des Fra Mauro (1459), Ausschnitt mit Arabien und Text zur Königin von Saba; Venena, Biblioteca Nazionale Marciana (Faksimile: il Mappa- mondo di Fra Mauro. A cura di Tullia Gasparrini Leporace. Rom 1956). geosteten Weltkarte, deren Editio Princeps von 1475 in der Nähe der alten bithynischen Hauptstadt Nicomedia am östlichen Rande Europas nicht weit vom Kartenzentnim entfernt eine gekrönte, andächtig betende Frauengestalt zeigt, wahrscheinlich eine fromme Regentin, die im Gegensatz zu den zahlreichen europäischen Königen in voller Figur und ohne Szepter abgebildet ist. Nur der Papst in Rom ist ähnlich in ganzer Größe akzentuiert. Die Gestalt dürfte mit der 'Augusta7 Helena, Mutter Konstantins des Großen, zu identifizieren sein,66 deren Geburt im bithynischen Dtepanon, einer später unter Konstantin als Helenopolis zur Stadt erhobenen Ortschaft an der Südküste des Golfs von Astakos, lange Zeit für verbürgt galt. Ihre Frömmigkeit veranlaßte sie gegen Ende ihres Lebens zu einer Pilgerreise nach Palästina, wo sie nicht nur (ebenso wie in Rom) den Kirchenbau gefördert haben, sondern angeblich auch an der Aufindung des "Wahren Kreuzes" 66 Den Hinweis auf die M6glichkeit dieser Identifizierung verdanke ich einem Gesprgch mit Wesley Brown auf der "Mappa Mundi Conference" in Hereford (wie Anm. 49). Zur Rudimentum-Weltkarte V@. Anna-Dorothee von den Brincken: Universalkartographie und geographische Schulkenntnisse im Inkunabelzeitalter (unter besonderer Beriicksichtigung des "Rudimentum Noviciorum" und Hartmann Schedels). In: Studien aim stadtischen Rildungswesens des späten Mittelalters und der n2lhen Neuzeit. Bericht Ober Kolloquien der Kommission nir Erforschung der Kultur des Spätmittelalters 1978 bis 1981. Hrsg. von Bemd Moeller, llans P a t 7 ~ und Karl Stackmann. Gottingen 1983 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Gnttingen. Philologisch-histoiische Klasse. Dritte Folge 137). S. 398-429. bes. Abb. S. 428. beteiligt gewesen sein soll. Auf der Weltkarte blickt Helena deswegen in Richtung des großen, vor dem Papst stehenden h u z e s . Weibliche Größe und Religiosität wären kartographisch nicht besser zu inszenieren gewesen. Auch wenn die Forschung bisher nur sehr selten auf solche Konstellationen h'igewiesen hat, stellten die Kartographen die angeblichen Leistungen "großeryy Frauen immer wieder zwanglos neben die gewiß häufiger dargestellten Taten bedeutender Männer. Die Ebstorfer Weltkarte betont etwa die Iobenswerten Anstrengungen der sagenhaften Semiramis, Königin der Assyrer, um die gewaltigen Stadtmauern des mächtigen Babylon zu ~ergrößern:~ ohne freilich die ihr zugeschriebenen "Hangenden Gärtenyy auch nur beiläufig zu nennen. Sicherlich entsprachen die historischen Kenntnisse nicht unseren kritischen Anforderungen, und mächtige Frauen wurden nicht immer so unbefangen in das Weltbild integriert. In Skandinavien erinnerte uns Fra Mauro an die Herkunft der Langobarden, die von Pannonien nach Italien einfielen, um große Teile der Halbinsel zu erobern. Doch den Mönch fesselte nicht die große Politik, sondern die Rolle der perfiden Sophia, Gattin des oströmischen Kaisers Iustinus H., deren Intrigen angeblich zur Abberufung des Feldherrn und Eunuchen Narses aus Italien (567) führten.68 Trotz seines ausgeprägten Mißtrauens gegenüber Legenden gelang es dem Kamaldulenser letztlich nicht, Frauen vorurteilslos in seinen Weltentwurf zu integrieren und ihren Einfluß neben den Leistungen der positiv konnotierten männlichen Herrscher wie Tamberlan und Alexander gelten zu lassen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Kartenmachen fand der skeptische Fra Mauro jedoch keinen Gefallen an geheimnisvollen '' Miller: Mappaemundi, Bd. 5 (wie Anrn. 13), S. 45: "Babylonia civitas magna ... Hanc Nemroth gygas hndavit, sed Semiramis regina Assyriorum ampliavit murumquey'. I1 Mappamondo di Fra Mauro (wie Anm. 18), Tav. XLI, 13, S. 63: "'Nota che de questo luogo de scandinaria uene j longobardi i(n) italia, e q(ue)sti p(r)ima si diceuano himuli, i qual uene al te(m)po de uno Papa Pelagrio p(r)imo, e co(n) gra(n) difficulta e contrasto gonse i(n) panonia e 1i stete alguni anni, et in quel te(m)po regnaua Justin menor e Narses eunucho, el qual hauea el patriciato de roma, esse(n)doli fato inguria e torto da Sophia dona del predito Iustin, essend0 remosso da1 patriciato scrisse da napoli a j longobardi ch(erano i(n) panonia, persuade(n)doli hi aba(n)donnsse quela terra sterille e uignisse a le large pianure de italia e per questo j uene i(n) italia e subiugb tuta la lo(m)bardia e gra(n) p(ar)te del resto de italia." Abb. 10: Katalanischer Weltatlas (1375), sechs :lblatt, Ausschnitt mit "Sarena" im Indischen O m ; Paris, Biblioth*qu~ iuauonaie, Esp. 30 (Faksimile: Der Katalanische Weitatlas vom Jahn 3nfi3hnmg und Über- s e m g e n von Hans-Christian Freieslebe fies Doppe ri XI-.: - , ~ -.~- lit einer I t 1977). ien, die t hatten. lsentantir in früher Auf der i dieser I Fabelwesen wie Seejungfrauen und Sira .en Karten vomgsweise unbekannte Meere bevölker Hereford- karte residierte die Seejungfrau als Repri nythischen Weiber noch im östlichen Mittelmeer nahe det griechischen Insel Naxos (oben Abb. 2), während die abenteuerliche Sphinx in ihrer eigenartigen Kombination aus behelmtem Mädchenko~f, gefiederten vogelschwin- gen, Greifenklauen und Reptilienschwanz in die unbekannten Weitm Afrikas jenseits des Nils entrückt wurde. Und die Ebstorfer Weltkarte nutzte die kleinen entlegenen Atlantikinsein im äuDersten ~~~d~ Europas, um den legendären Frauemtyp der Sirenen einzubin -~ ~~~t der Katalanische Weltatlas veranschaulichte die si 'm Mischw- Indischen Ozean (Abb. 10). Abgebildet ist h ch von Sumatra, dem klassischen 'Tabrobana', eine "Sarena" mit dem stark sexuell konnotierten doppelten FischSchwanz und dem Ober- körper einer langhaarigen, begehrenswerten Fra& deren vermeintliche den?9 renenhafl iier we~tli @ Mi1lel-Z Mappaemundi, Bd. 5 (wie Anm. 13), S. 26: "Gadanmte in-., „, ,,,,,bus sirene." I Schönheit dem Zeichner nicht so recht glücken wollte.70 Die darüberstehende zugehörige Legende differenziert zwei Arten von Sirenen, deren Statur stets den Oberkörper einer Frau, aber den Unterleib scheinbar wahlweise von Fisch oder Vogel entlehnen ~ ü r d e . ~ ' In den Indischen Ozean beförderte auch die Genueser Weltkarte die wirkm'achtige Sirene, eine monströse Gestalt mit Frauenkopf und stacheligem Fischkörper, deren Illustration vom zugehörigen Text nach Plinius ein wenig abweicht." Die Sirenen verblieben dabei permanent in einem gleichsam äußeren Grenzstreifen der bekannten Welt, der mit den wachsenden Kenntnissen von der Fremde immer weiter in die Tiefen Asiens, Afrikas und des Indischen Ozeans verrutschte. Nur auf der Herefordkarte überraschen die ganz irn Süden am Erdrand angesiedelten kopflosen Blemmyae mit dem Gesicht auf der Brust schon frühzeitig dadurch, daß sie explizit in weiblicher und männlicher Form abgebildet sind und auf diese Weise die übliche Ge- schlechtslosigkeit der Erdrandvölker radikal d~rchbrechen.~~ Aber was fiihrte zur Aufnahme dieser Fabelwesen in die Kartographie? War es die mystische Märchenhaftigkeit oder die erotisch-sexuelle Wirkkraft imaginärer Verführerinnen? Fungierten die mißgestalteten Frauen als misogyne Allegorie verderblicher weiblicher Sinnenlust, wie sie in der mittelalterlichen Literatur vielfach verarbeitet wurde, oder repräsentierten sie einfach die lockende ~ e r n e ? ~ ~ In den Weltkarten erscheinen die ambivalenten Mischwesen distanziert und ohne einen moralisierenden Impetus. Sie belebten sozusagen die gefährliche, aber zugleich sehnsüchtig beäugte Fremde. Der Prozeß der Aneignung selbst war jedoch nicht vorgegeben, sondern er oblag nicht zuletzt aufgrund der vielgestaltigen Deutungsmöglichkeiten der Imagination des jeweiligen Betrachters. 70 Der Katalanische Weltatlas. Hrsg. Freiesleben (wie Anm. 15), S. 22. 71 Der Katalanische Weltatlas. Hrsg. Freiesleben (wie Anm. 15), S. 33: "Meer der indischen Inseln, wo die Spezereien sind ... Auch findet man drei Arten von Fischen, die man Serenas nennt, die eine halb Frau und halb Fisch, die andere halb Frau und halb Vogel." 72 Stevenson: Genoese World Map 1457 (wie Anm. 17), S. 26 f. Harvey: Mappa Mundi (wie Anm. 1)' S. 48 mit Abb. 74 ZU den verschiedenen Denk- und hterpretationsmustern vgl. Rüdiger Krohn: ccdaz si totfiorgiu tier sint". Sirenen in der mittelalterlichen Literatur. In: Dmonen, Monster, Fabelwesen. Hrsg. von Ulrich Müller und Wemer Wunderlich. St. Gallen 1999 (Mittelaltermythen 2), S. 545-563. Ähnliche Interpretationsspielräume gewährte die gängige Tendenz, Inseln, Länder und Kontinente zu feminisieren. Der Ebstorfer Weltkarte zufolge leitete sich der Name der Insel Korsika von einem Weib namens "Corsa7' ab:' Libyen von einer Nichte Jupiters, die später Afrika regierte:6 und Asien von einer diesen Kontinent regierenden, altorientalischen ~errscherin?~ Und selbst die Bezeichnung Europa wird in der Tradition Homers und Isidors von Sevilla auf die von Jupiter geraubte Tochter König Agenors z~rückgeführt?~ Allein der argwöhnische Fra Mauro modifiziert diese europäische Abkunftsthese sehr individuell mit einer alternativen Erklärung; er führt in maskuliner Dominanz den Namen Europa auf einen König namens "Europo" mrück, nicht ohne zugleich auch die weibliche Lösung m r Wahl zu stellen.79 Individuelle Begriffsbestimmungen gehörten offensichtlich zu seinem persönlichen Stil. An anderer Stelle deduziert der Venezianer bizarr die "insula Anglia", also England, von einer erfundenen Königin namens hgela.*' Alle diese Beispiele beweisen die Affinität der Kartographen, die Namen unbekannter Inseln und Kontinente bereits lange vor der Entdeckung der Neuen Welt mit mythologischen, historischen oder sogar fiktiven Frauengestalten zu erklären. Erforderte das neue ctjun~äuliche'' Land gleichsam feminine Namen? Die Feminisiemng fremder Länder besitzt auf jeden Fall, zuerst in schrifilichen Texten," I dann in kartographischen Einschüben und Illustrationen, eine längere I i 75 Miller: Mappaemundi, Bd. 5 (wie Anm. 131, S. 29: "Corsica insula. Corsica a C Corsa muliere". 76 Miller: Mappaemundi, Bd. 5 (wie h m . 13), S. 55. 77 Miller: Mappaemundi, Bd. 5 (wie Anm. 131, 8: "Asya ex nomine cuiusdm muli&s est appeiiata, que apud antiquos imperium tenuit orientis." vgl. ibid., ~d 5, S. 48: "Asya a regina eiusdem nominis est appellata". 78 Miller: Mappaemundi, Bd. 5 (wie h m . 1% 8: "Europa Agenoris regis filia dicta est, que idem nomen sortita est." Vgl. ibid., S. 11 mit einem langen zitat aus den Etymologiae des Isidor von Sevilla (W, 4,1). 79 11 ~ ~ ~ ~ a m o n d o di Fra Mauro (wie Anm. 181, Tav. XXXV, 33: "Europa fi nominata da Uno re dito Europo ouet da una fiola d'Agenore dita Europa" 11 Mappamondo di Fra Mauro (wie Anm. 18), Tav. XXXVI, 16, S. 60: "Nota la insula anglia ... e da una sua regina dita A(n)gela la nomib a(n)glia ..T 81 vgl. u.a. den Versuch von Margaret Clunies ROSS: Lad-Taking md T ~ ~ ~ - Making in Medieval Iceland. In: Text and Territory. Geo~aphical Imagination in the European Middle Ages. Hrsg. von Sylvia Tomasch und Sealy ~ill~,, Philadelphia 1998, S. 159-184 zur Kodierung von sozialem Raum als weiblich (häuslich), mmnlich (öflentlich) und heilig w'dhrend der tiefgreifenden prWessc von Migration und Kolonisation. und ausgedehntere Tradition als meist angenommen. Herausragendes, h e r wieder zitiertes Beispiel ist die bildliche Allegorisierung Europas und anderer Kontinente als weiblicher Körper. Diese Praxis setzte spätestens im Jahre 1336 ein, als der kuriale Kleriker Opicinus de Canistris (1 296- 13 5012) seiner mit insgesamt 52 Tafeln ausgestatteten Bilderhandschrift auch 25 symbolistische Landkarten einfugte. In einigen dieser rätselhaften Entwürfe zeichnete er Mika in Gestalt einer Frau neben den buckligen Mann Europa. Die Kombination beider Erdteile galt als besonders pikant, weil das rechte Ohr des Greises, dessen Kopf Spanien repräsentierte und dessen Beine in Italien und Griechenland endeten, gleichsam am geöffneten Mund der Frau ruhte; dies wurde gerne als Ausdruck sinnlicher Begierde und als Symbol unzüchtiger Sündhafligkeit gedeutet.82 Für unseren Zusammenhang wichtig ist die Personifikation eines Kontinents als Frau, sichtbar in der subtilen Überlagerung von weiblichem Körper und geographischem Raum. Kosmologisches Pendant war im Mittelalter wohl die Allegorie der "Frau Weltyy, vorne eine schöne Frau und auf der Rückseite mit Geschwüren bedeckt, gleichsam symbolischer Ausdruck des Dualismus zwischen Schönheit und Vergänglichkeit, zwischen Leib und ~eele. '~ Im 16. Jahrhundert setzten die Kartographen diese figürliche Körperlichkeit vor allem in der geographisch konzipierten "Königin Europa" fort; zu denken ist an die einander recht ähnlichen Entwürfe von Johannes Putsch, Matthias Quad und Sebastian ~ ü n s t e r . ~ ~ Dieser Prozeß der weiblichen 82 Vgl. Richard Salomon: Opicinus de Canistris. Weltbild und Bekenntnisse eines avignonesischen Klerikers des 14. Jahrhunderts. 2 Bde. London 1936 (Studies of the Warburg Institute IA), ND Nendeln 1969, Bd. 1, S. 65 £, 68-77 und Bd. 2, T. 35, 39 und 42 mit Abb. aus der Handschrift der Biblioteca Apostolica Vaticana, Pal. lat. 1993; Anna-Dorothee von den Brincken: " ... Ut describeretur universus orbis". Zur Universalkartographie des Mittelalters. In: Methoden in Wissenschaft und Kunst des Mittelalters. Hrsg. von Albert Zimmermann. Berlin 1970 (Miscellanea Mediaevalia 7), S. 249-278, hier S. 273. Zu Person und Werk des Opicinus vgl. H.-J. Becker: Artikel 'Canistris, Opicino de'. In: Dizionario biografico degli italiani 18 (1975), S. 116-1 19. 83 Sabine Poeschel: Studien zur Ikonographie der Erdteile in der Kunst des 16.-18. Jahrhunderts. München 1985, S. 16-20 und passim; Sabine Schülting: Wilde Frauen, fiemde Welten. Kolonisierungsgeschichten aus Amerika. Reinbek bei Hamburg 1997, S. 36. 84 Vgl. Jörg-Geerd Arentzen: Imago Mundi Cartographica. Studien zur Bildlichkeit mittelalterlicher Welt- und Ökumenekarten unter besonderer Berücksichtigung des Zusammenwirkens von Text und Bild. München 1984 (Münstersche Konnotierung von Raum knüpfte an antike Denkformen und Motive, insbesondere verschiedene Stadt-, Provinz- und Erdteilpersonifib- tionen (vor allem von Asien und Afrika), an,' die bereits die universelle Anpassungskraft geheimnisvoller Weiblichkeit zu nutzen verstanden. 3. Fremde Frauen, fremde Sitten In der Fremde schien zudem die europäische Ordnung der Geschlechter aus den Fugen zu geraten. Von den Geschichten der Asienreisenden sahen sich die Kartographen animiert, fi.emde Frauen und ihre Sitten in Text und Bild zu veranschaulichen, nicht ohne die Wahrnehmung weiblicher Lebensräume mit der geographischen, kulturellen und physischen Erfahrung der Fremde zu vereinen. Ergebnis war das diffuse Konstrukt einer widersprüchlichen oder sogar verkehrten, auf kultureller Alterität basierenden Geschlechterordnung, die noch von anderen, weniger fest umrissenen Zielvorstellungen geleitet war als später in der "Neuen Welt", deren Kolonisierung mit der sexuellen Dominanz des Mannes und der Eroberung des jungfräulichen Landes zusammenzuhängen scheints6 Ansätze zu einer moralisch begründeten Unterordnung des weiblichen Geschlechts zeigen sich in den Weltkarten selten, allenfalls vielleicht bei den Frauen der Psylli am südlichen Rand Mikas. Bei diesem Stamm überprüften, nicht nur der Herefordkarte zufolge, die Männer die eheliche Treue und die Keuschheit ihrer Gattinnen einschließlich der Legitimität ihrer Nachkommen dadurch, daß sie die Neugeborenen dem Urteil der Schlangen aussetzten, die über Leben und Tod Die Überzeugung von diesem sehr absonderlichen Treuetest der Psylli finden wir übrigens auch im Mittelteil der Aslake Mittelalter-Schriften 53), S. 19 f und Abb. 76 mit der figürlichen Europakarte des Johannes Putsch (1537); Schülting: Wilde Frauen, fiemde Welten (wie Anm. 83), S. 37 mit einer Abb. der Europa-Darstellung von Sebastian Münster (1588). Zu Matthias Quads Europae descriptio (1587) vgl. auch Folker E. Reichert: Gremn in der Kartographie des Mittelalters. In: Migration und Grenze. Hrsg von Andreas Gestrich und Marita Krauss. Stuttgart 1988 (Stuttgarter Beiträge m Migrationsforschung 4), S. 28 f mit Abb. 9. 85 Poeschel: Studien (wie Anm. 83), S. 11-1 5. 86 Schülting: Wilde Frauen, fiemde Welten (wie Anm. 83), S. 13 E und passim. 87 Barber: Visual Encyclopaedias (wie Anm. 7), S. 3 mit Abb; vgl. Terkla: Jinpassioned Failure (wie Anm. 49), S. 266. Weltkarte aus dem zweiten oder dritten Viertel des 14. ~ahrhunderts.~~ Diese exotisch anmutende Prüfung sicherte damit im fernen M i k a europäische Ideale und kirchliche Moralvorstellungen, nämlich weibliche Treue und eheliche Geburt. Und die älteste französische Version der Reisen des imaginären Asien- und Afrikareisenden Jean de Mandeville erklärt noch genauer, daß nur die aus einer legalen Verbindung Geborenen von den Schlangen nicht gebissen würden.89 Auf der Herefordkarte ist dieser Vorgang meisterlich ins Bild gesetzt: Die ängstliche Mutter beobachtet demütig und in sich gekehrt, fast in betender Haltung, ihr von gefährlich aussehenden, langzüngigen Schlangen umschlungenes Baby, das vorerst noch munter die Hand hebt; der erläuternde Begleittext zwischen beiden Figuren kommentiert das Geschehen. Eine solche Abbildung von Mutter und Kind mit Schlange bereichert auch die äthiopischen Erdrandvölker der Ebstorfkarte. Der Text beschreibt sie, in freier Modifikation von Solinus und Plinius, als immun gegen Schlangengift, wenn sie ehrenwert und nicht schändlich im Ehebruch gezeugt wurden.'' Die kartographischen Gegenwelten veranschaulichen damit aber weniger weibliche Unterordnung als die absonderliche Verwirklichung euro- päisch-christlicher Moralgebote. Den Typus der fremden, die europäischen Normen verletzenden Weiblichkeit symbolisieren am einprägsamsten die regierenden Frauen, auf der Herefordkarte in Indien situiert mit der kurzen Feststellung "Gens indie a feminis regitur7' (oben Abb. 3). Auf diese herrschenden und dadurch unweigerlich vermännlichten Frauen im Fernen Osten nahe dem Paradies richtete der europäische Betrachter auch in den anderen Weltkarten mit besonderer Vorliebe seinen Blick. Außer der Herefordkarte skizziert beispielsweise auch die EbstorFkarte das Konzept einer von Frauen regierten Volksgemeinschaft, dem Stamm der sogenannten Pangea rPangea gens, quae a feminis regitur")91. In der urchristlichen Literatur war die Metapher des 'Männlichwerdens' von einer moralischen und geistigen Vervolikornmnung begleitet; nach Vgl. Peter Barber und Michelle Brown: The Aslake World Map. In: Imago Mundi 44 (1992), S. 24-44, hier S. 36 und 38. 89 Vgl. Malcolm Letts: The Pictures in the Hereford Mappa Mundi. In: Notes and Queries for Readers and Writers 200 (1955), S. 2-6, hier S. 4; John Mandeville: Travels. I-irsg. von Malcolm Letts. 2 Bde. London 1953 (Hakluyt Society Ser. 2, W 101 und 102), Buch I, S. 40. Vgl, Miller: Mappaemundi, Bd. 3 (wie Anm. 9). S. 60. " Miller: Mappaemundi, Bd. 5 (wie Anm. 13), S. 49. den Vorstellungen der christlichen Anthropologie konnte die Mann gewordene Frau sogar zum vorbildlichen Mann avancieren, während die Verweiblichung, also der Frau gewordene Mann, unrnißverständlich den moralischen Verfall, den unaufhaltsamen Niedergang signali- ~ier te?~ Gerade die räumliche Nähe der regierenden Frauen zum Paradies in diesen beiden großen Weltkarten könnte deshalb auch auf eine Transzendenz der irdischen Geschlechtlichkeit bei der Erlangung des Heils deuten. Seit der Antike waren diese maskulinen oder Mann gewordenen Frauen jedoch faszinierendes Ideal und erschreckendes Kuriosum zugleich. Bestes Beispiel für die Umsetzung dieses widersprüchlichen Wahrnehmungsmusters in die Kartographie sind die im Mittelalter multifunktional verwerteten ~mazonen ,~~ sicherlich ein alter Topos, den Isidor von Sevilla in seinen Etymologien für den mittelalterlichen Leser rezipierte und er~chloß?~ Die männerrnordende Amazone in ihrem unzugänglichen Land war trotzdem kein Relikt langst überwundener Zeiten. In den mittelalterlichen Weltkarten figurierte sie gegenwartsnah als Imagination einer phantasmatischen Figur und als Personifikation eines tiefen Konflikts, denn in doppelter Verfremdung verwies sie auf das nicht vereinnahmbare Andere, auf die mit der 92 Vgl. Kari Vogt: "Männlichwerdenyy - Aspekte einer urchristlichen Anthropologie. In: Concilium 21 (1985), S. 434-442. Zur Verbindung mit Sündenfall und Sexualität vgl. Kerstin Aspegren: The Male Woman. A Feminine Ideal in the Early Church. Hrsg. von Ren6 Kieffer. Uppsala 1990, S. 14 und passim. 93 Vgl. Othmar Pollmann: Der Arnazonenmythos in der nachantiken Kunst bis zum Ende des Barocks. Wiedergeburt und Wandel eines antiken Mythos. Diss. maschinenschr. Würzburg 1952; Beate Wagner-Hasel: Männerfeindliche Jungfrauen. Ein kritischer Blick auf Amazonen in Mythos und Geschichte. In: Feministische Studien 5 (1986), Heft 1, S. 86-106; Vincent Dimarco: The Amazons and the End of the World. In: Discovering New Worlds. Essays on Medieval Exploration and Imagination. Hrsg. von Scott D. Westrem. London 1991, S. 69-90; Josine H. Blok: The early Ammns. Modern and Ancient Perspectives on a Persistent Myth. Leiden 1995, allerdings unter Umgehung der mittelalterlichen Rezeption; Claudia Brinker-von der Heyde: Er ist ein rehtez wiphere. Amazonen in mittelalterlicher Dichtung. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 119 (1997), S. 399-424. Vgl. Isidori Hispalensis Episcopi Etymologiarum sive originum. Hrsg. von Wallace Martin Lindsay. Oxford 1911, Bd. 1, Lib. D(, 2, 62 und 64-65 ZU den Amazonen; Edition mit ~anzösischer übersetmng: Isidore de Siville: ~tymolo~ies Livre W. Les langues et les groupes sociaux. Texte etabli, traduit et comrnent6 par Marc Reydellet. Paris 1984, S. 72-75. Kulturauseinandersetzung verbundenen Gefahren und auf den Prozeß der kulturellen ~ssirnilation?~ Klarer kartographischer Ausdruck war die geographische Verortung dieses zwischen männlicher Äquivalenz und geschlechtlicher Differenz angesiedelten Mythos in der Peripherie der bekannten Welt, also in einem Landstrich, in dem die europäisch-abendländische Ordnung gleichsam umgekehrt wurde und in dem sich der Umbruch von der christlichen Ausstrahlung des Abendlandes zum Nicht-Christlichen der unerforschten Weiten Asiens vollzog. Spätestens hier war die Grenze zwischen dem Eigenen und dem Anderen erreicht. Den zugehörigen Raum umreißen gewöhnlich Begriffe wie die Region der Amazonen ("Regio Amazonum") in der Münchner Isidor-Handschrift des 12. ~ahrhunderts,~ die Provinz der Amazonen ("Provincia Amazonumy') bei den eingeschlossenen Vöikern mit ihren 32 Reichen ("regna XXxU") in der Weltkarte Lamberts von St. ~ m e r ~ ~ oder, unter Zurückdrängung des personalen Konzeptes, einfach Amazonien ("Amazoniay') in der von vier Engeln gestützten, fälschlich Heinrich von Mainz zugeschriebenen Ökumenekarte mit über 200 Ortsnamen und ~e~enden." Und jenes geheimnisvolle Land Amazonien, verschrieben als "AviazonnaYy, findet sich selbst noch in der gegen Ende des 14. Jahrhunderts entstandenen Eveshamkarte, die den mythischen 95 Schülting: Wilde Frauen, fiemde Welten (wie Anm. 83), S. 16. % München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 10058, f. 154'; ~ a t i c k Gautier Dalchd: La "Descriptio Mappe Mundi" de Hugues de Saint-Victor. Texte inddit avec introduction et commentaire. Paris 1988, S. 194 und Abb. der Karte vor dem Titelblatt; Durchmesser 26,6 Cm. Eine Auflistung der in den Weltkarten erwähnten Amazonen bietet Anna-Dorothee von den Briricken: Mappa mundi und Chronographia In: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 24 (1968), S. 167, Tafel VII; vgl. zudem Arentzen: Imago Mundi Cartographica (wie Anm. 84), S. 92, S. 117 Anrn. 363, S. 174, S. 188 E. und Abb. 97 mit Karte von 1599. 97 Miller: Mappaemundi, Bd. 3 (wie Anm. 9), S. 48; Danielle Lecoq: La Mappemonde du Liber Floridus (wie Anm. 9)) S. 17. " Cambridge, Corpus Christi College, Ms. 66, S. 2; Miller: Mappaemundi, Bd. 3 (wie Anm. 9), S. 25; Lecoq: La mappemonde d'Henri de Mayence (wie Anm. 10), S. 162. Zur umstrittenen Zuschreibung der Karte vgl. Gautier Dalchd: La "Descriptio Mappe Mundi" (wie Anrn. 96), S. 183; Harvey: Mappa Mundi (wie Anm. I), S. 27 E und zuletzt Harvey: The Sawley Map (wie Anm. 10), der jegliche Verbindung zu dem im Vorsatzblatt genannten Kanoniker Heinrich an der Mnricnkirche von Mainz ablehnt und Air eine Entstehung der Karte in der Durham Cathcdral Priory pltldiert. Abb. I I : Ebstarfer Weltkarte (zweite Htllfie 13. Jh.), Ausschnitt mit den be- waffneten Kbniginnen Marpesia und Lampeta Frauenstaat trotz der nicht allzu dichten Beschriftung in ihr Design aufhimmt.* Eine anschauliche Präzisierung des Anderen half den Kartographen, das Eigene bewußt abzugrenzen und irn Entwurf einer Gegenwelt zu stabilisieren. Weniger der separierte Raum, sondern die Amazonen selbst hielten deshalb Einzug in die Londoner Psalterkarte, registriert mit dem kurzen Text "Die Amazonen verweilen hier" ("Arnazonas hic manent").'OO Und in der Ebstorfer Weltkarte sind sogar zwei solche personengebundenen Legenden verzeichnet, die kriegerischen Frauen mit ihrem Wohnsitz beim Kaukasus an der nördlichen Grenze zwischen Asien und ~ u r o ~ a ' ~ ' und das Bild zweier bewafieter Königinnen namens Marpesia und Lampeta in Asien neben einem zinnengekrönten Turm (Abb. 1 1).'02 Der Begleittext charakterisiert nun diese beiden 99 Barber: The Evesham World Map (wie Anm. 53), S. 21. '* Miller: Mappaemundi, i3d. 3 (wie Anm. 9), S. 39. 'O' Miller: Mappaemundi, FM. 5 (wie Anm. 13), S. 35: "Hunc habitant Ama~nn". Io2 Miller: Mappaemundi, Rd. 5 (wie AN^. 13), S. 32: "Ammnes. Haec regio Amazanum. Hec sunt mulicres ut viri preliantes. Duas namque quondam reginas pulchras gnarasque et elegantes instituemnt. Quarum una Marpesia vocabatur, altera Lamperta Masculos enim necantes, feminas vero servantes atque curiose wehrhaften, mit Helm, Schild und Schwert bzw. Spieß ausgerüsteten Gestalten als rnännergleich kämpfend, erfahren und bildschön, nicht ohne zugleich ihre Rücksichtslosigkeit anzuprangern, da sie angeblich ihre neugeborenen Silhne töteten und ihre rechte Brust dem Kampfgeist im Bogenschießen opferten. Als ihr Sitz galt Themiskyra, ein stark befestigter Platz, in der Karte umgeben und abgesondert durch einen JCreis.lo3 Und ihre er- schreckenden Utensilien wurden sogar zum Vergleichsmaßstab, denn die Blätter eines benachbarten Riesenbaumes sollen, der beigegebenen Erklärung zufolge, die Ausmaße eines Arnazonenschildes erreicht haben.Io4 Trotzdem sind die beiden Frauen durchaus fe*, ihre langen Haare und faltenreichen Röcke konstituieren einen reizvollen Gegensatz zum knielangen Waffenrock und betonen eine fiemde und doch in vielem vertraute Weiblichkeit. Wären nicht die Beschreibung des grausamen Handelns und die militante körperliche Erscheinung, so könnte die zierliche Schönheit durchaus auf geordnete höfische Lebensformen de~ten.'~' Doch fremde Frauen konnten sich offensichtlich nur profilieren, wenn sie ihr Geschlecht mit männlich konnotiertem Verhalten, also der Inszenierung von Kraft und Tapferkeit, überspielten. Verbunden war dies häufig mit der Versehrtheit des schwachen Frauenkörpers. Befilhigte deshalb speziell das Fehlen einer Brust zur Wahrnehmung männlicher Aufgaben? Eine Abweichung in Sitten und Gebräuchen korrespondierte zumindest nicht selten mit körperlicher Signifikanz. Ranulf Higden erwähnte in der Mitte des 14. Jahrhunderts neben dem männlichen Kampfstil ("viriliter militantes") insbesondere das Fehlen der rechten Brust als typisches Kennzeichen der in Asien angesiedelten nutrientes nec non cura belli imbuentes, dextrasque earum papillas, ne iaculo sagittarum lederentur, exusserunt." Vgl. Arentzen: Imago Mundi Cartographim (wie Anm. 84). S. 188 E; Pollmann: Der Ammnenmythos (Anm. 93), S. 37; SehUlting: Wilde Frauen, fremde Welten (wie Anm. 83), S. 54 £; Abb. bei Hahn- Wocrnle: Die Ebstorfer Weltkarte (wie Anm, 131, S. 57. '03 Miller: Mappacmundi, Bd. 5 (wie Anm. 13), S. 34: "Temiscerinum oppidum". I M Miller: Mappacmundi, Bd. 5 (wie Anm. 13), S. 49: "Arbores ..., hl ia vero eius magnitudinem Iiabe(a)nt peito Amwonum". 'Oa Vgl. Brinker-von der IIeyde: Br ist cin rchtez wfphere (wie Anm. 931, S. 406- 409. Arnazonen.lo6 Daneben stellte er noch die Hermaphroditen als Kreaturen beiderlei Geschlechts; gemäß Plinius und Isidor wiesen auch sie, wenngleich aus anderen Gründen, denselben korperlichen Defekt auf, denn sie waren dazu verurteilt, die rechte weibliche Brust zu entbehren.lo7 In der Herefordkarte gehören diese doppelgeschlechtlichen Wesen zu den Erdrandvölkern in Äthiopien, nicht weit entfernt von den Psylli, aber noch ohne eine Schilderung solch geschlechtlicher Merk- male.'08 Abb. 12: Weltkarte des Andreas Walsperger (1448), Ausschnitt mit den Amazonen; Biblioteca Apostolica Vaticana, Pal. lat. 1362 B (Faksimile: Weltkarte des Andreas Walsperger, Pal. lat. 1362 B. Erläuterung von Edmund Pognon. Zürich 1987). 106 Miller: Mappaernundi, Bd. 3 (wie Anrn. 9), S. 101: " A m m e s sunt femine sine mamillis dextris, per se ipsas [per sagittas?] viriiiter militantes." Die Klammerversion im Zitat klingt überzeugender. 107 Miller: Mappaemundi, Bd. 3 (wie Anm. 9), S. 103: "Hemifrodites utriusque sexus, dextram mammam habent virilem, sinistram rnuliebrern" in ~nknüpfung an Plinius 7,34 und lsidori Hispalensis Episcopi Etymolqrjamm sive originum (Anm. 94), Bd. 2, Lib. XI, 3, 11. 108 Miller: Mappaemundi, Bd. 4 (wie Anm. I), S. 38: "Gens uterque sexus innaturales multirnodus modis"; vgl. Bevan und Phillott: Medieval (ieography (wie Anm. 42), S. 102; Terkla: lmpassioned Failure (wie Anm. 49). S. 266. Abb. 13: Weltkarte des Andreas Walsperger (1448), Ausschnitt mit den b8itigen Frauen; Biblioteca Apostolica Vaticana, Pal. lat. 1362 B (Faksimile: Weltkarte des Andreas Walsperger, Pal. lat. 1362 B. Erlautenmg von Edmund Pognon. Zürich 1987). Trotz der wachsenden Skepsis der Kartographen besiedelten die Amazonen bis zum 15. Jahrhundert weiterhin die Mappae mundi. Die gesüdete Borgia-Karte bildete diese militanten Weiber nicht nur im Nordosten ab, sondern rechnete sie auch unter die berühmten Frauen; besonders hervorgehoben wird freilich die in jedem mittelalterlichen Trojaroman auffretende Kämpferin Penthesilea, die dem Griechen Achilleus vor Troja zum Opfer fie1.1°9 Andreas Walsperger verwies die Amazonen hingegen mit einem kurzen Text und ohne Illustration (Abb. 12) in die Weiten Asiens, in einen eigenen Landstrich ("Amazonum mulierum regio") auf halber Strecke zwischen Jemsalem und dem Paradies. In gewisser Entfernung davon verortete der Benediktiner in einem Text ohne Abbildung übrigens einen anderen spektakulären Frauentyp, die auf einer Halbinsel im Indischen Ozean lebenden bärtigen Frauen (Abb. 13), von deren Existenz er nicht nur durch die klassischen Autoren, sondern auch durch den ethnographisch I09 Miller: Mappaemundi, Bd. 3 (wie Anm. 9), S. 149: "Terra quondam illustrium mulierum" und "Pentesilea ad Troiarn multa bella et Grecos debellavit". interessierten Hamburger Erzbischof und Geschichtsschreiber Adam von Bremen erfahren haben k ö ~ t e . ' ' ~ Selbst der überaus kritische Fra Mauro konnte sich der Anfechtung nicht entziehen, die Provinz der Kriegerinnen ("provincia amazones") trotz aller sonst zur Schau gestellten Skepsis gewissenhaft zu verzeichnen (Abb. 14),'11 obwohl zweifellos viel bescheidener und weniger aumllig als zuvor beispielsweise im Katalanischen Weltatlas. Dort erscheint die zu diesem Zeitpunkt kartographisch fast obligate Frauenregion ("Regio Fernm'') als isoliertes Inselreich auf Ceylon, genannt "Illa Jana" (Abb. 15), auf der eine langhaarige weibliche Herrschergestalt thront, die h&hstens durch das übergroße Schwert in der Rechten an eine Arnazonenkönigin er+ A---nsten figuriert sie majestätisch in mittelalterlich europäischem it .einer goldenen Krone auf dem Haupt, einem Reichsapfel ,mken und einem Abb. 14: Weltkarte des Fra Mauro (1459), Ausschnitt mit den Amazonen; Venezia, Biblioteca Nazionale Marciana (Faksimile: ii Mappamondo di Fra Mauro. A cura di Tullia Gasparrini L.eporace. Rom 1956). 110 Miller: Mappecmundi, M. 3 (wie Anm. 9), S. 147: "Mulietes hic suni tmbatc*'; vgl. K m d Kretschmer: Eine neue mittelalterliche Weltkarte der vatikanischen Bibliothek. In: Zeitschrift der Gesellschaft lür Erdkunde m ßerlin 26 (1891), S. 371-406, bes. S. 387 und 399. I" I1 Mapparnondo di Fra Maum (wie Anm. 18), Tav. MMII, 192. Königin von llla Jana; Paris, Biblioth&que Nationale, Esp. 30 (Faksimile: Der Katalanische Weltatlas vom Jahre 1375. Mit einer EinRhning und fTbersetmgen von Hans-Chnstian Freiesleben. SMtgart 1977). faltenreichen Gewand in den prunkvollen Farben blau und rot."* Allerdings greifi die der Insel beigefügte Beschreibung dieses Thema nicht auf, sondern preist nur die üppige Vegetation und die erlesenen Gewürze. Die Vorstellung vom Amazonen- oder Frauenland als Umkehrung der eigenen kulturellen und sozialen Geschlechterordnung erscheint in nahezu allen mittelalterlichen Weltkarten vom 12. bis zum 15. Jahrhundert, auch wenn sich Kleider, Waffen und Herrschafiszeichen der Herrschafisträgerinnen der zeitgenössischen europaischen Lebens- art anpaßten. Zuletzt wurden die streitbaren Frauen gleichsam als wachsende Gefahr fit die europäische Ordnung im 16. Jahrhundert nach Südamerika transferiert. Ein Beispiel ist die 1599 erschienene Karte des kalvinistischen Kupferstechers und Frankfurter Bürgers Theodor de Bry, der den Flußnamen Amazonas mit dem Frauenvolk der Amazonen erklärt, die nur einen Monat pro Jahr mit Mämern 112 Der Katalanische Weltatlas. Hrsg. Freiesleben (wie Anm. 15). S. 2 1. zusammenleben, um auf diese Weise immerhin vergnügt fur den Nachwuchs, bevorzugt Töchter, zu sorgen.l13 Den angeblichen Grund und die vermutlichen Wurzeln fiir die Versetzung der Amazonen nach Südamerika sah die Forschung im historischen Kampf eingeborener Frauen gegen die europäischen ~r0berer.l'~ Die Amazonen wurden auf den Karten zuerst d e r weiter in den Norden Europas, den man gerne mit den grausamen und barbarischen Völkern besiedelte, und dann in die Steppen Asiens oder Atrikas verrückt, um zuletzt nach Südamerika an den Amazonas befördert zu werden. Ein solcher Transfer erfolgte vereinzelt auch mit anderen, vorher in Indien verankerten Merkwürdigkeiten oder Monstergestalten; zu erinnern ist z.B. an die Verschiebung der Kormoranfscherei nach Guayana oder auch der Kopflosen an den ~rinoko.'" Solche Translationen folgten dem aktuellen Erfah- rungshorizont und der literarischen Tradition, die das Vorkommen dieser Gestalten garantierte. Bei den Amazonen war es wohl sogar eine direkte Reaktion auf das verblüfft wahrgenommene Phänomen der kämpfenden Frauen, das man zuerst bei den zentralasiatischen Steppenvökern der Mongolen bemerkte, deren recht eigenständige Frauen an der nomadischen Kriegfbhng teilnahmen, nicht ohne die europäischen Beobachter durch größte Fertigkeiten im Bogenschießen und Reiten zu erstaunen.ll6 Das spätere Pendant in Südarnerika, genauer ein Gefecht mit kriegerischen Amazonen, beschrieb vor allem Gaspar de Carvajal, Teilnehmer an der Amazonas-Expedition von 1542."' "Erkenntnisleitendes Prinzip"118 bei dieser geographischen Arentzen: Imago Mundi Cartographica (wie Anrn. 84), Abb. 97 und S. 188 E: "Amazones daher diser große Fluß [SC. Amazonas] den nahmen hati ist eine Nation so furnemlich in Weibern bestehet welche im Jahr nur einen Monat haben in welchem si sich zu den Männern geselln alss im Aprillen in dißem Monat sind si lustig vnd gutter ding vndn einander mit Dantzen springen und banckenern als balt aber disa Monat auß ist gehen ein yder wider seinen weg. wen nun diße Weiber einen Sohn gebahren schicken si den selben seinem Vatter heim ist es aber ein Tochter behalten sie diselbe vnd schicken dem Vater eine Verehrung dafuhr." 114 Vgl. Arentzen: Imago Mundi Cartographica (wie Anm. 84), S. 188 ff.; Schtilting: Wilde Frauen, fiemde Welten (wie Anm. 83), S. 53-58. 'I5 Vgl. Folker E. Reichert: Columbus und Marco Polo - Asien in Amerika. Zur Literaturgeschichte der Entdeckungen. Iri: Zeitschrift fiir Historische Forschung 15 (1988), S. 1-63, hier S. 57-60. 'I6 Vgl. Reichert: Fremde Frauen (wie Anm. 8), S. 170 f, 1' Vgl. Reichert: Colurnbus (wie Anm. 115), S. 59. Verortung war, wie Folker E. Reichert bereits anschaulich demonstriert hat, die persönliche Erfahrung, die die Kartographen von den Berichterstattern übernahmen, ohne allerdings eine moralische Wertung und Deutung der Antagonismen einfließen lassen zu wollen. Der Mythos der Amazonen war eng verbunden mit der beerchteten Existenz separierter Frauen, meist auf einsamen Inseln im Indischen Ozean. Aber während Ranulf Higden bei den allein auf den Gorgaden lebenden rauen“^ noch keinerlei Gedanken zur Fortpflanzung entwickelte, versuchten die späteren Kartenautoren diese Frage bewußt zu klären. Fra Mauro schildert beispielsweise an zwei Stellen die Trennung von Männern und Frauen auf Inseln irn Indischen Ozean, nicht ohne zu betonen, daß sie drei Monate pro Jahr zusammenleben konnten.120 Dieses Motiv fand auch Eingang in die spätmittelalterliche Dichtung, zumindest in die Verse eines Reiseliedes Oswalds von Wolkenstek. "Vierhundert weib und mer an aller manne zal I vand ich ze Nio, die wonten in der insell smal; I kain schöner pild besach nie mensch in ainem ~al".'~' Die vierhundert oder noch mehr Frauen, die Oswald ohne alle Manner auf der kleinen Mittelrneerinsel Nios angetroffen haben will, boten ihm also angeblich einen so schönen Anblick, wie ihn noch nie ein Mensch auf einer einzigen Stelle sah. Die Kombination aus sinnlicher Schönheit und kollektiver sozialer Eigenstandigkeit faszinierte und erstaunte in der konsequenten Umkehrung der patriarchal strukturierten Ordnung Europas. Ergebnis war die geographische Verräumlichung dieser paradoxen Weiblichkeit in den variierenden Grenzregionen der individuellen Erfährung. Die imaginative Auseinandersetzung mit fremden Frauenräumen erstreckte sich auch auf das Ereignis der Geburt, einen für den 'I8 Vgl. Reichert: Columbus (wie Anm. 115), S. 63. 'I9 Miller: Mappaemundi, Bd. 3 (wie Anm. 9), S. 107: ccGorgades insula a feminis solis incolitur." lZ0 il Mappamondo di Fra Mauro (wie Anm. 18), Tav. III, 1, S. 24: "Queste do'isole sono habitade p(er) christiani. In una de le qual 906 in nebila habita le done e in l'altra dita mangla habita li lor homeni, i qual solamente tre mesi de I'ano stano con le done."; ibid., Tav. JV, 6, S. 24: "Circa hi ani del Signor 1420 una naue ouer goncho de india discorse per una trauersa per el mar de india a la uia de le isole de hi horneni e de le done de fbora da1 cauo de diab e tra le isole uerde e le oscuritade a la uia de ponente e de garbin". 12' Die Lieder Oswalds von Wolkenstein. Hrsg. von Kar1 Kurt Klein. 3. neubearb. und erw. Aufl. von Hans Moser, Norbert Richard Wolf und Notburga Wolf. Tübingen 1987 (Altdeutsche Textbibliothek 55), Nr. 18 ("Es fügt sich"), Str. VI, 81-83, S. 51 f. männlichen Kartographen wegen Kultur und Geschlecht doppdt fremden Handlungmum. Die ungeheure Macht der Frau bei der menschlichen Reproduktion dürfte die männlichen Denk- und Wahmehrnungskategorien enorm angeregt haben. In den Weltkarten diskutiert wurden Gebärverhalten, gebarfahiges Alter und, als machtvollstes Symbol, fast grenzenlose Fruchtbarkeit. Ranulf ~ i ~ d e n " ' und die unbekannten Schöpfa der ~bstortkar te '~~ schildern beispielsweise, nach Aussagen der Historia naturalis des älteren Plinius und der darauf aufbauenden Sammlung w n Merkwürdigkeiten des Caius Iulius Solinus, einen Stamm an der asiatisch-afrikanischen Grenze, dessen Frauen im Alter von fUnf Jahren Kinder gebaren, ehe sie mit zehn oder sogar sieben bereits starben. Abb. 16: Katalanischer Weltatlas (1375), dritt- Doppelblatt, Ausschnitt mit dem Text zur Geburt; Paris, Bibliothhue Nationale, Esp. 30 (Faksimile: Der lanische Weltatlas vom Jahre 1375. Mit einer Einfihnmg und fbemrmngen von Hans-Christian Freiesleben. ShMgart 1977). Aber das Ereignis der Geburt selbst, versteckt vor dem 6ffentlichen männlichen Auge, erscheint fast nur auf dem dritten Doppelblatt des 122 Miller: Mappaemundi, Bd. 3 (wie Anm. 9). S. 103: "Hic femine quinquennes @uni et X" annum non excedunt". In Miller: Mappaemundi, Bd. 5 (wie Anm. 13), S. 49: *Rem alia gms hic cst, cuiuq femine quinquennes pariunt ct Va non excedunt amium". Katalanischen Weltatlas, auf dem ein langer Text neben Irland (Abb. 16) den alten Brauch erklärt, die Schwangere zur Geburt von der Insel zu bringen.'24 Gerade der Rückzug zur Niederkunft gliederte die Geburt als reine Frauenangelegenheit aus dem Alltagsleben aus. Die Karten schildern eine Entbindung ohne dörflich-lokale Kontrolle, ohne männlichen Schutz fur das Neugeborene und für die im Kindbett liegende Wöchnerin, also eine, wie es Gabriela Signori so treffend formulierte, "'Frauenwelt" mit ausgeprägtem "~efensivcharakter'~~~~ in erhöhter Isolation und Absonderung. Dieser Ausschluß von Frauen, die geboren hatten, aus der sozialen und religiösen Gemeinschaft war geprägt von der Vorstellung der Gefährlichkeit der Wöchnerin; wir kennen ihn aus fast allen Kulturen der Welt, nach einer längeren Phase des Übergangs beendet durch eine rituelle Wiederathahrne zur sozialen Reintegration der jungen Mutter.126 Aber die vollkommene Isolation auf einer anderen Insel durchbrach rigoros die europäische Vorstellung von der Schutzbedüdtigkeit der Schwangeren und Gebärenden, die sich in anderen Passagen der Weltkarten selbst dann niederschlug, wenn der Prozeß der Fortpflanzung in der Tierwelt beschrieben wurde.127 Mit solchen Geschichten spiegeln die Kartenentwürfe eine Welt der matriarchalen Stärke und der weiblichen Unabhängigkeit. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang auch an das aus Solinus rezipierte Der Katalanische Weltatlas. Hrsg. Freiesleben (wie Anm. 15), S. 30: "'Auch gibt es dort eine andere Insel, wo die Frauen niemals ins Wochenbett kommen, aber wenn sie kurz vor der Geburt stehen, bringt man sie, der Sitte gemm, von der Insel weg". Gabriela Signori: Defensivgemeinschaften: Kreißende, Hebammen und "Mitweiber" im Spiegel spätmittelalterlicher Geburtswunder. In: Frauen- Beziehungsgeflechte im Mittelalter. Hrsg. von Hedwig Röckelein und Hans- Werner Goetz Frankfurt am Main 1996 (Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 2), S. 113-134, bes. S. 133. Zur Geburt besonders vom 16. bis 19. Jahrhundert vgl. Eva Labouvie: Andere Umstände. Eine Kulturgeschichte der Geburt, Köln, Weimar, Wien 1998. Zum Ritus der Reinigung nach der Niederkunft in den unterschiedlichen Religionen vgi. Hubertus Lutterbach: Sexualität im Mittelalter. Eine Kulturstudie anhand von Bußbüchern des 6. bis 12. Jahrhunderts. Köln, Weimar, Wien 1999 (Beihefte nun Archiv für Kulturgeschichte 43), S. 259. '" Selbst die Elefanten in &ika gewährten, der Ebstorikarte mfolge, ihren Weibchen diesen Schutz; vgl. Miller: Mappaemundi, Bd. 5 (wie AMI. 13), S. 59: "Cum autem venerit tempus pariendi, vadit in aquam usque ad ubera sua et ibi parit propter metum draconum quia insidiantur illis. Masculus non recedit a femina, sed custodit eam parturientem." Matriarchat der Garamanten irn erweiterten Libyen der Ebstorfkarte. Bei diesem Volk direkt an der Grenze zu den Erdrandsiedlern und in der Nähe der wilden Tiere Afrikas, darunter unbezähmbare Hunde, ein Panther und zahlreiche Phantasiegeschöpfe, soll die ganze Ehrfurcht der Kinder den Müttern, nicht den Vätern gegolten haben.128 Und die Borgia-Karte skizzierte an ähnlicher Stelle im südlichen Afrika die Geburt der wilden rauen,'^^ die ohne ihre Ehemä~er und in der Nähe von Abimichabal, dem König der Hundsköpfigen ("cynocephali"), ihren Kindern das Leben schenkten. Eine solch abstruse Welt, deren Bewohner alle zivilisatorischen Normen durchbrachen, konnte letztlich nur in der übermäßigen Hitze Afrikas, unweit des unerreichbaren vierten Kontinents, überleben. Leichter fiel den männlichen Kartographen eine differenzierte Auseinandersetzung mit den von Region zu Region divergierenden Heiratsbräuchen, denen sie sich enger verbunden fühlten. Trotzdem verführte gerade dieses ethnographische Thema dazu, vollkommen unterschiedliche Interpretationsansätze anzuwenden. Der Genueser Weltkarte von 1457 zufolge praktizierten die sündhaften und schmutzigen Männer von Java Polygynie mit beliebig vielen rauen,'^' während Monogamie in der reichen Provinz Südchina ("Macina") v~rherrschte.'~' Diesen Aussagen zufolge war die Anzahl der Ehefrauen offensichtlich ein Gradmesser für das Niveau der Zivilisation, verbunden ganz gewiß mit einem klaren Urteil zur Überlegenheit der monogam strukturierten Gesellschaft, die mit den europäischen Moralvorstellungen kongruierte. Doch dieses sittenstrenge Programm 128 Miller: Mappaemundi, Bd. 5 (wie Anm. 13), S. 55: "Garamantes ... Inde est, quod filii tantum matres recognoscunt, nam paterni nominis nulla est reverentia" Diese matriarchalische Struktur findet keine Erwähnung bei Erwin M. Ruprechtsberger: Die Gararnanten. Freiburg 1989 (Zeitschrift für Archäologie und Kulturgeschichte 20. Sondernummer), S. 8 K und 23 f ni Herodot und der Vorstellung der Dichter. 129 Miller: Mappaemundi, Bd. 3 (wie Anm. 9), S. 150: "Hic mulieres irsute ferocissime, sine maribus partum faciunt. Abimichabal cum populo suo habens faciem caninam." 130 Stevenson: Genoese World Map 1457 (wie Anm. 17), S. 22: "Mas nepharii et immundi habitant homines quibus hominem occidere pro ludo; uxores quotlibet sumunt." 131 Stevenson: Genoese World Map 1457 (wie Anm. 17), S. 52: "Hec provincia Macina dicta elephantos gignit, hugus inwle serpentibus vescuntur deliciose affatin et facies suas variis punctis et wloribus stiloque ferreo depingunt et S O ~ w r e sunt contenti." wird bei weitem nicht in allen kartographischen Inserten verfolgt. Den Eegenentwurf präsentierte unter anderem der Benediiinermönch Mathaeus Parisiensis in einer seiner Palästinakarten aus der Mitte des 13. Jahrhunderts. Er deutete die Polygamie nämlich als ein Zeichen a~)rmen Wohlstandes. Sein Modell sind die reichen Händler, die durch die Territorien der Beduinen von Akkon nach Damaskus zogen, denn sie verfUgten außer über Gold, Silber, Seide, Gewürze, Kamele, Pferde, Öl, Mandeln, Feigen und Zucker auch über so viele Frauen, wie sie nur ertragen konnten.'32 D a Antagonismus zwischen sehnsüchtigen G e danken an Liebesfreuden und moralisch-christlichen Zwängen ließe sich kaum besser verbalisieren. Besonderen Eindruck machte auf Asienreisende und Kartenmacher jedoch das sogenannte sati-Ritual, eine Totenfolge der Witwe in ritualisierter Form, die durch die Öffentlichkeit sanktioniert und gesellschaftlich legitimiert war.'33 Fremde Beobachter hatten die auf einem speziellen Jenseitsglauben basierende Totenfolge bereits in der Antike entdeckt, das Wissen darum wurde bald allgemeines Bildungsgut. Am verbreitetsten war die geschlechtsspezifische individuelle Totenfolge der Witwe sicherlich in Indien mit der engen Anbindung der Frau an den männlichen Leichnam bei der Verbrennurig, wobei die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Erscheinungsformen ungeklärt und die Ursprünge nicht greifbar sind.'Y Ziel dieses unnatürlichen Selbstopfers war die zeremonielle Wie derVereinigung mit dem Verstorbenen im ~enseits.'~' Mittelalterliche Reisende wie Ibn Ba#ii@, Marco Polo, Odorico da Pordenone und Niccolb de' Conti griffen das Thema begierig auf.136 Der fkeiwiilige Tod in den Flammen, insbesondere der Frauen der Kriegerkaste, konnte 132 Lewis: The Art of Matthew Paris (wie Anm. 12), S. 359 und S. 508, Anm. 91: "Tant unt de femmes curn poent sustenir." Vgl. ibid., S. 350, Figure 214 mit dem entsprechenden Kartenexemplar aus Carnbridge, Corpus Christi College 26, f: Inv. '33 Vgl. Jörg Fisch: Tödliche Rituale. Die indische Witwenverbrennung und andere Formen der Totenfolge. Frankfurt am Main, New York 1998, bes. S. 213 E; Gila Dharampal-Frick: Indien im Spiegel deutscher Quellen der Frühen Neuzeit (1500-1750). Studien zu eincr interkulturellen Konstellation. Tiibingen 1994, S. 132 i'f. izum satI-Ritual. '34 Fisch: Tödliche Rituale (wie Anm. 133), S. 152 E Vgl. Fisch: Tödliche Rituale (wie Anm. 133), S. 16-17, '36 Fisch: Tödliche Rituale (wie Anm. 133), S. 228 R; Reichert: Fremde Frauen (wie Anm. 81, S. 172 f: Abb. 17: Katalanischer Weltatlas (1375). sedtstes Doppelblatt, Ausschnitt mit der Feiserbestattung in Indien; Paris, Bibliotheque Nationale, Esp. 30 (Faksimile: Der Katalanische Weltatlas vom Jahre 1375. Mit einer Einfühnmg und über- setaingen von Hans-Chnstian Freiesleben. Stuttgat 1977). sierung c i M a m Unterwt schlosser .. f i n g bi iheit der der der %, der entweder als Zeichen der vollständigen is ins Jenseits oder wegen der Standhaftigkeit und Ent Ehehuen als geschlechtsspezifisches Heldentum interpretiert weraen. Folge war entweder eine weibliche Heroii Blick auf die Frau als uneingeschränkter Besitz d a allein Anspruch auf Begleitung erheben konnte. Im Katalanischen Weltatlas wird die des verstorbenen Mannes einprägsam abgebildet (Al 8 Tote liegt gekrümmt in einer Art Taufbecken, das in gieicnsam bibilscher Tradition an die Verbindung der läuternden Kr ;ser und Feuer gemahnt. Daneben stehen drei Musikanten, die Bratsche und Blockfl6te vergnügt aufspielen, während ein omiger W B F ~ ~ ~ das Feuer entfacht. Der Begleittext schildert nicht nur d x der Angehörig- sondern auch den Umstand, daß sici 'itwen angeblich manchmal in das Feuer stüraen, wiihrmd die onemanner in äfie Was mit Lyra L%.-?- .- stattung !er greise . .. .. - . ..V. .." ie Traue i die W PI. .. dieser Weise niemals ihren verstorbenen Frauen nachf01gten.l~~ Diww plastische Konzept vermischt zwei verschiedene Passagen aus dem Divisament dou monde des Venezianers Marco ~ 0 1 0 : ' ~ ~ Einerseits soll das Zeremoniell der Leichenverbrennungen am Saum der Wüste Gobi in der inneren Mongolei vom Lärm vieler Instrumente begleitet worden sein. Andererseits beobachtete Polo das sati-Ritual selbst erst auf der Reise durch die Maabar-Frovinz an der Südspitze Vorderindiens. Sein Versuch, über die bewunderte, fur freiwillig gehaltene Selbstver- brennung aus Liebe zum verstorbenen Gatten zu informieren, endete in der schlichten Feststellung, daß die satis von allen Leuten sehr gepriesen würden, während die Frauen, die ihren Gatten nicht folgten, verachtet und beschimpft würden. Solche Informationen kamen sicherlich von einheimischen Gewährsleuten, die diese Sitte billigten und sogar idealisierten. Und vielleicht war Indien noch "zu fiemd, m an europäischen Maßstäben gemessen zu werden".'39 Aber spätestens der Franziskanermönch Odorico da Pordenone und der venezianische Handelsreisende Niccoli, de' Conti, von denen der eine 16, der andere fast 25 Jahre in Asien unterwegs war, dürften persönlich am Geschehen teilgenommen haben; sie hinterfragten den makabren Brauch und erkannten den enormen Druck sozialer ~anktionen.'~~ Diese immer differenzierteren Beobachtungen spätmittelalterlicher Indienfahrer wurden irn Laufe der Zeit auch in einzeine Weltkarten übertragen. In der Mitte des 15. Jahrhunderts verweist die Genueser Weltkarte auf die sozialen Zwänge bei der indischen Witwen- '37 Der Katalanische Weltatlas. Hrsg. Freiesleben (wie A m . 15), S. 23 und 32: "Wißt, daß man die Männer und Frauen, wenn sie gestorben sind, mit Musikinstrumenten und vergnügt zum Verbrennen irägt? obwohl die Angehörigen weinen. Und bisweilen, aber selten, kommt es vor, daß die Frau eines Verstorbenen sich mit dem Gatten ins Feuer stürzt, dagegen werfen sich die Gatten niemals zu ihren Frauen ins Feuer." '38 Vgl. M w Polo: Ii Milione. Prima edizione integrale a c u a di Luigi Foscolo Benedetto. Florenz 1928 (Comitato Geografico Nazionale Italiano. Pubblicazione nr. 3), C. 58, S. 44 f. und C. 175, S. 181; in gekürzter deutscher Übersetzung: Marco Polo: Von Venedig nach China. Die größte Reise des 13. Jahrhunderts. Neu hrsg, und kommentiert von Theodor A. Knust. Tübingen, Basel 1973. ND Darmstadt 1983, Buch I C. 38, S. 95 und Buch III C. 20, S. 281. 13' Fisch: T6dliche Rituale (wie Anm. 133), S. 355. Iteichert: Fremde Frauen (wie Anm. 8), S. 173 E; zu Odorich vgl. auch Folker E. Reichert: Eine unbekannte Version der Asienreise Odorichs von Pordenone. In: Deutsches Archiv Alr Erforschung des Mittelalters 43 (1987), S. 53 1-573, hier S. 562 E. verbrennung: "Hier gesellen sich die Frauen lebendig zur Leichen- verbrennung ihrer Ehemänner, aber wenn sich irgendwelche aus Furcht weigern, werden sie dazu gezwungen."'41 Selbst wesentlich spätere Reisebeschreibungen verwerteten das dramatische Motiv fur die Gestaltung von Text und Illustration: Die aus dem Jahre 1515 stammende Augsburger Ausgabe der Orientreisen des Ludovico de Varthema zeigt die Witwe in einer Feuergrube, umgeben von diabolisch wirkenden Priestern, die auf sie einschlagen, während der Priesterkönig seine Befehle gibt und im Hintergrund ein Teufel assistiert. Diese ambivalenten Vorgaben wurden weiter rezipiert, beispielsweise in der 1535 erschienenen Lyoner Ausgabe der Geographie des Claudius Ptolemäus, in der die betende Witwe in der Feuergrube von einem hüpfenden Teufel mit Stab bewacht Eine solche Ausgestaltung des Themas aus europäischer Sicht hplizierte natürlich vermehrt ein Werturteil, verbunden mit dem Verweis auf die grausamen Gewohnheiten und barbarischen Sitten, zu denen nur die Anderen, die "Unzivilisierten", fähig waren. Aber die dabei sichtbare patriarchale Struktur, die "Dominanz des einen Geschlechts über das andere (konkret der Männer über die rauen)"'^^, thematisierte bis zum 15. Jahrhundert ausdrücklich wohl nur der kastilische Adelige Piero Tafur, der den aus Indien kommenden Niccolb de' Conti 1436137 auf dem Sinai befragt haben wollte und dessen Erlebnisse au£zeichnete, nicht ohne seine eigenen Wahrnehmungs- muster dur~hnisetzen.'~~ Die Aussagen in den Weltkarten bleiben hingegen kurz und möglichst sachlich; weitere Wertungen blieben höchstens dem kenntnisreichen und literarisch vorgebildeten Betrachter überlassen. Eine ähnliche Adaption bestimmte auch die Aufnahme anderer phantastischer Geschichten, die das in der europäischen Gesellschaft 141 Stevenson: Genoese World Map 1457 (wie Anm. 17), S. 48 f.: "Hic uxores virorum suorum exequias ignitas vive comitantur et si que pavide renuunt ad id compelluntur." 142 Folker E. Reichert: Von Mekka nach Malakka? Ludovico de Varthema und sein Itinerar (Rom 1510). In: Beschreibung der Welt. Zur Poetik der Reise- und Länderberichte. Vorträge eines interdisziplinaen Symposiums vom 8. bis 13. Juni 1998 an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Hrsg. von Xenja von Ertzdorff unter Mitarbeit von Rudolf Schulz. Amsterdam 2000 (Chloe. Beihefte zum Daphnis 3 I), S. 273-297, hier S. 294-296 mit Abb. 6 und 7. 143 Fisch: TUdliche Rituale (wie Anm. 133), S. 25. Vgl. Reichert: Fremde Frauen (wie Anm. 8), S. 173. vorgeprägte Geschlechterverhaltnis verdrehten oder sogar ins Gegenteil verkehrten, aber manchmal auch bestätigten. Symptomatisch für diese Ambivalenz der kartographischen Einträge ist die Queiie der Geschlechtsumwandlung vom Mann zur Frau in der Ebstorfkarte; im frühchristlichen Sinne dürfte sie den moralischen Abstieg und die Entfernung vom Heil signalisiert haben, aber angesichts der in den Weltkarten vielfach bewunderten willensstarken Frauen könnte sie eine positive Konnotation erlangt und in Umkehrung des christlichen Ideals eine eher extravagante Vervollkommnung verkündet haben.145 Die kulturellen Differenzen halfen dabei, den engen europäischen Moralvorstellungen eine ambivalente und zugleich offene Gegenwelt gegenüberzustellen, in der den fremden Frauen alle nur erdenklichen Charaktereigenschaften zuzuschreiben waren. Im Blick auf diese exotischen, wilden Frauen wurden konträre Welten umrissen, einerseits mangelnde Zivilisiertheit, animalische Triebhaftigkeit, physische Häßlichkeit und barbarische Sitten, andererseits höchst bewunderte Fähigkeiten wie Mut, Selbständigkeit, Klugheit und unbeschreibliche Schönheit, gepaart mit männlich geballter Kraft. Der Mythos der wilden Weiblichkeit erfUI1te eine doppelte Funktion: Neben den beiden Bildern der Wildheit zwischen dem Guten und dem Bösen, dem Beneideten und Gefürchteten stand der Blick auf das andere Geschlecht, das aus jeglicher Konvention befreit war. Und in der fremdartigen Welt jenseits der Grenzen der abendländischen Zivilisation konnten Frauen männliche Aufgaben und männliche Verhaltensweisen übernehmen, ohne die europäische Geschlechterordnung zu stören. Die kartographische Selektion orientierte sich bei der Perzeption fremder Weiblichkeit und femininer Räume vorrangig an alten Traditionen und antiken Motiven mit einem möglichst offenen Interpretationsangebot. Nur in diesem Rahmen fühlten sich die Kartenzeichner verpflichtet, auch Anregungen aus individuelleren Geschichten aufZugreifen und aktuellere Berichte über fiemde Frauen und ihre geographischen Räume zu berücksichtigen. Dabei ließen die Miller: Mappaemundi, Bd. 5 (wie Anrn. 13), S. 34: "Salmacis fons, quem qui ingreditur vir, exit femina". Zum Ansatz der heutigen Forschung vgl. Was sind Frauen? Was sind Männer? Geschlechterkonstruktionen im historischen Wandel. Hrsg. von Christiane Eifert, Angelika Epple, Martina Kessel, Marlies Michaelis, Claudia Nowak, Katharina Schicke und Dorothea Weltecke. Frankfurt am Main 1996. Kartenschöpfer seit jeher persönliche Modifikationen einfließen und setzten immer bewußt eigene Akzente. Vom ausgehenden 13. bis zum 15. Jahrhundert erweiterte sich höchstens das Themenspektnim deutlich, und die Zweifel an den vorgegebenen Traditionen vergrößerten sich. Aber der Modus der Ausgestaltung bestimmte in jeder Phase die kartographischen Schwerpunkte. Zu fragen wäre in diesem Zusammenhang sicherlich noch, ob und wie der Geschmack des zeitgenössischen Publikums die Auswahl der Themen beeinflußte. Die Kartographen konzentrierten sich stark auf Motive, die antike und fnihchristliche Autoren, insbesondere Autoritäten wie der ältere Plinius, Solinus oder Isidor von Sevilla, längst vorgegeben hatten. Gegenüber diesem festen Kanon hatten aktuelle Entdeckungen nur eine äußerst beschränkte Chance. Gerade die von Augenzeugen fassungslos, aber interessiert wahrgenommenen Sexual- und Liebesbräuche asiatischer Völker, sei es die Gast- prostitution oder das Füßebinden der hine es innen,'^^ fanden deshalb keinerlei Rezeption in den Weltkarten. Zusammenfassung Das abschließende Fazit richtet sich auf den Umgang mit Nachrichten über biblische, mythische und fremde Frauen und auf die in der Vielfalt erkennbaren Selektionsprinzipien mittelalterlicher Weltkarten. Da die Aufiiahmefähigkeit des Mediums begrenzt war und deshalb bewußte Entscheidungen zu treffen waren, ist nach den Leitmotiven bei der Anfertigung dieses heterogenen und facettenreichen Kartenbildes aus Phantasien, Mythen und Fakten, aus tradierten Topoi und neueren empirischen Kenntnissen zu fragen, zumal es von großen inneren Widersprüchen und Antagonismen geprägt war. Die angewendeten Selektionsprinzipien sollen deshalb zuletzt in vier Punkten kurz angerissen und zusammengefaßt werden: 1. Die Perzeption von Weiblichkeit konzentrierte sich in der mittelalterlichen Kartographie auf eine relativ beschränkte Anzahl von Motiven, wobei die Illustrationen niemals als bloße Lückenfüller zu betrachten sind, sondern, wie an vielen Beispielen zu zeigen war, eine bewußte Auswahl repräsentieren. Neben der 146 Folker E. Reichert: Goldlilien: Die europäische Entdeckung eines chinesischen Schönheitsideals. Bamberg 1993 (Kleine Beitage air europäischen Obersee- geschichte 24). Stammutter Eva im Paradies und einigen weiblichen Heiligen waren es pseudo-historische Königinnen, sirenenhafte Fabelwesen, regierende und vermännlichte Frauen, die immer wieder Text und Bild der Weltkarten bereicherten. Daneben beschäftigten Matriar- chat und weibliche Unterordnung, Geburt und Heiratsverhalten die Autoren. Im Zentrum standen die Kuriositäten, Sensationen und Absonderlichkeiten, die im biblischen, klassisch-antiken und frühchristlichen Erbe, besonders in der Bibel, bei Plinius dem Älteren und Isidor von Sevilla, vorgegeben waren, während misogyne Wertungen mittelalterlicher Autoren kaum das Kartenbild beeinflußten. Das Vertrauen der Kartenzeichner galt alten autoritativen Motiven, deren Gehalt, wie bei Lots Frau oder beim sati-Ritual in Indien, durchaus aktualisiert werden konnte. Aber gegen die Überlebenskraft des antiken Erbes konnten sich die empirischen Reiseberichte nur vereinzelt durchsetzen. Denn Voraussetzung für die kartographische Rezeption war im allgemeinen der Rückgriff auf bewährte antike, biblische oder frühchristliche Stoffe, die fkeilich individuell verarbeitet werden konnten. 2. Die Selektion der Kartographen orientierte sich also vorrangig an traditionellen Topoi und tief verwurzelten Vorstellungskomplexen. Anthropologische Wahrnehmungen und verdrehte weibliche Welten hatten nur selten eine Chance, ausgiebiger reflektiert zu werden. Der Platz reichte im allgemeinen nur für einige kurze, wenig differenzierte Sätze, vielfach leicht abgewandelte Zitate, in die nuancierte Wertungen kaum einfließe11 konnten und nicht einmal sollten. 3. Die Kartographen bevorzugten deshalb Motive mit einem relativ offenen Interpretationsangebot, das auch im Begleittext kaum konkretisiert wurde. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang daran, daß sowohl die biblischen und antiken Vorlagen als auch die zeitgenössischen Reisebeschreibungen mannigfaltig nutzbar waren. Beide dienten nicht nur der Erweiterung der geographischen und ethnographischen Kenntnisse abendländischer Leser, sondern auch als Spiegel der Ordnungs- und Moralvorstellungen im christlichen Abendland, als Ausdruck der Sehnsucht nach dem Unbekannten und als Anknüpfungspunkt für die Selbstdeutung der ~ u r 0 ~ ä e r . l ~ ~ Diese weitgehende Offenheit von Illustrationen und Kurzeinträgen 14' Vgl. Reichert: Goldlilien (wie Anrn. 146), S. 20 zu den Reiseberichten. eignete sich deshalb hervorragend dazu, den Antagonismus biblischer, mythischer und fiemder Frauen hervorzukehren und die Phantasie zeitgenössischer Betrachter allseitig zu beflügeln. 4. Bei diesem Vorgang Iäßt sich, wie eingangs angedeutet, keine lineare Entwicklung erkennen; die Abbildung Evas im Paradies erfolgte neben dem Mythos der kriegerischen Amazonen, die Gräber weiblicher Heiliger ergänzten das sati-Ritual in Indien. Allerdings lassen sich vorsichtig Schwerpunkte erkennen: Die iniheren Karten akzeptierten die Frau nur irn Paradies im biblischen Kontext. In den spätmittelalterlichen Karten erweiterte sich das Themenspektrum deutlich; die Verarbeitung antiker Motive gewann an Bedeutung. Größere Zweifel an der Tradition ergaben sich im 15. Jahrhundert, als die Bilder an Einfluß verloren, während narrative Texte einen größeren Spielraum erhielten. Bei diesem Prozeß hatte die Kartengröße nur eine bedingte Relevanz fur die Aufhahme und die Auswahl der Motive. Dies gilt gleichermaßen fur die Perzeption biblischer, mythischer und fiemder Frauen.