aus: Zeitschrift für Sozialreform 46 (2000), S. 189-200. „Der Übel größtes.“ Das Verbot der Nachtarbeit von Arbeiterinnen in Deutschland (1891-1992) Von Privatdozent Dr. Wolfgang Ayaß, Universität Gesamthochschule Kassel I. Das in Deutschland 1891 eingeführte Nachtarbeitsverbot für Arbeiterinnen geht auf eine Novelle der aus dem Jahr 1869 stammenden Gewerbeordnung zurück. In dieser Novelle wurde im Rahmen eines umfassenden Pakets zum Ausbau des Arbeiterschutzes auch die Nachtarbeit von Arbeiterinnen in Fabriken (bzw. in mit diesen gleichgestellten Betrieben) verboten. Das Verbot blieb bis zur Aufhebung durch das Bundesverfassungsgericht im Jahr 1992 bestehen. Die Nachtarbeit von Männer unterlag in Deutschland – mit Ausnahme des mittlerweile ebenfalls wieder abgeschafften Nachtbackverbots – keinerlei Beschränkungen. Die Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund von 1869 (die spätere Reichsgewer- beordnung) unterschied zunächst nicht zwischen Männern und Frauen.1 Eine Novelle des Jahres 1878 durchbrach dieses Prinzip durch Einführung eines dreiwöchigen Arbeitsverbots für Wöchnerinnen in Fabriken, dem Verbot der Untertagearbeit für Frauen und der Befug- nis für den Bundesrat, Frauenarbeit in Produktionszweigen einzuschränken, „welche mit besonderen Gefahren für Sittlichkeit und Gesundheit [S. 190] verbunden sind“. Ausdrück- lich benannte die Gewerbeordnung in diesem Zusammenhang die Möglichkeit, Nachtarbeit von Fabrikarbeiterinnen zu verbieten. Von dieser Möglichkeit machte der Bundesrat jedoch in den 13 Jahren bis zum endgültigen Verbot der Frauennachtarbeit nie Gebrauch. 1 Allerdings waren im Vorfeld bzw. bei der Verabschiedung der Gewerbeordnung bereits Forderun- gen nach einem Verbot der Frauennachtarbeit laut geworden. Das Programm der liberal- demokratischen Deutschen Volkspartei vom 20.9.1868 forderte das Verbot der Nachtarbeit von Frauen in Fabriken; vgl. Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, I. Abteilung: Von der Reichsgründungszeit bis zur kaiserlichen Sozialbotschaft (1867- 1881), 3. Band: Arbeiterschutz, bearbeitet von Wolfgang Ayaß, Stuttgart/ Jena/ New York 1996, Nr. 14 (im folgenden zitiert: Quellensammlung Bd. I, 3). Der Sozialdemokrat Johann Baptist von Schweitzer stellte bei der Debatte über die Gewerbeordnung im Norddeutschen Reichstag den - abgelehnten - Antrag, die Arbeitszeit von Lohnarbeiterinnen auf „8 Stunden der Tageszeit“ zu be- grenzen (30. Sitzung vom 29.4.1869; Sten. Ber. RT, 1869, S. 627). Die Frage der Frauenarbeit in Fabriken war in Deutschland im Jahr 1872 erstmals Unter- suchungsgegenstand der Behörden. In einem Runderlass vom 27. April 1872 forderte der preußische Handelsminister Heinrich Graf von Itzenplitz die Bezirksregierungen zur Stel- lungnahme über eventuelle gesetzliche Regelungen der Frauenfabrikarbeit auf. Verfasst hatte diesen Erlass Theodor Lohmann, ein protestantisch geprägter ehemaliger hannover- scher Beamter, der zu diesem Zeitpunkt seit einigen Monaten im preußischen Handelsmini- sterium das Referat für gewerbliche Arbeiterfragen leitete.2 Dieser Erlass zeigt bereits die Begründungsmuster für den besonderen gesetzlichen Frauenarbeitsschutz auf: „Das weibliche Geschlecht vermag sich Schutz gegen inhumane Ausbeutung der Arbeitskraft nicht in gleicher Weise selbst zu verschaffen wie das männli- che Geschlecht und es möchte recht eigentlich der Beruf des Gesetzgebers sein, ihm diesen Schutz seinerseits zu gewähren. Die übermäßige Anstrengung der Frauen in den Fabriken äußert ihre nachteiligen Wirkungen weit in die Zukunft hinaus, denn sie hat nicht bloß die Schädigung des eigenen Körpers, sondern oft genug auch die Verkümmerung ganzer Gene- rationen zur Folge. Endlich liegt auf der Hand, dass selbst da, wo so bedenkliche Erschei- nungen nicht zu befürchten sind, durch die andauernde Beschäftigung in Fabriken während der vollen täglichen Arbeitszeit die Hausfrauen und Mütter der Wahrnehmung ihres Haus- wesens sowie der Pflege und Erziehung der Kinder, das heranwachsende weibliche Ge- schlecht aber der Ausbildung für den Hausfrauenberuf in bedenklicher Weise entzogen werden und dadurch der wichtigsten Vorbedingung der wirtschaftlichen, geistigen und sittlichen Hebung des Arbeiterstands, der fortschreitenden Entwicklung eines geordneten Hauswesens und eines befriedigenden Familienlebens ein wesentliches Hindernis entgegen- gestellt wird.“3 Gesundheit der Arbeiterin, Sorge um den Nachwuchs, gestörtes Familienle- ben und die Sittlichkeit des Arbeiterstandes – hier finden wir bereits die gesamte Argu- mentationspalette der Begründungen für den spezifischen Frauenarbeitsschutz. Gleichzeitig 2 Theodor Lohmann (1831-1905) war seit 1871 Regierungsrat im preußischen Handelsministerium. Lohmann blieb in den zwei Jahrzehnten bis zum allgemeinen Verbot der Nachtarbeit von Frauen in Fabriken der für diese Frage zuständige Referent sowohl im preußischen Handelsministerium wie auch ab 1881 gleichzeitig im Reichsamt des Innern. Zu Lohmann vgl. (mit weiteren Nachwei- sen) Florian Tennstedt, Sozialreform als Mission. Anmerkungen zum politischen Handeln Theo- dor Lohmanns, in: Jürgen Kocka/ Hans-Jürgen Puhle/ Klaus Tenfelde (Hrsg.), Von der Arbeiter- bewegung zum modernen Sozialstaat, München 1994, S. 538-559; Renate Zitt, Zwischen Innerer Mission und staatlicher Sozialpolitik. Der protestantische Sozialreformer Theodor Lohmann (1831-1905), Heidelberg 1997. 3 Vgl. Quellensammlung Bd. I, 3, Nr. 30. taucht bereits hier ein in der Folge oft wiederholtes Argumentationsmuster auf: Die politi- sche Entmündigung der Frauen mache einen besonderen Frauenarbeitsschutz notwendig.4 [S. 191] Obwohl in dem Runderlass nicht explizit nach der Nachtarbeit gefragt worden war, sprachen sich die Bezirksregierungen in ihren Antworten „ziemlich allgemein“ für deren Verbot aus, so lautete jedenfalls das Fazit des von Theodor Lohmann im preußischen Handelsministerium verfassten Gesamtberichts.5 Beispielsweise schlug die Bezirksregie- rung Aachen ein Verbot der Frauenarbeit in Fabriken zwischen 22 und 5 Uhr vor.6 Auch die Bezirksregierung Düsseldorf befürwortete eine Beschränkung der Frauenfabrikarbeit „auf Tagesarbeit“.7 Diese preußische Umfrage des Jahres 1872 wurde inhaltlich fortgeführt und ausgeweitet durch eine Anfang 1874 beschlossene nunmehr reichsweite Regierungsenquete8 zur Frau- en- und Kinderarbeit in Fabriken9, deren Ergebnisse 1877 veröffentlicht wurden.10 Die Nachtarbeit bildete in der Fragestellung dieser Expertenbefragung (und somit auch in den Antworten) nur einen Aspekt unter vielen anderen. Von negativen Auswirkungen der – zu diesem Zeitpunkt ohnehin kaum beobachteten – Frauennachtarbeit berichteten die veröf- fentlichten Enquete-Ergebnisse nur vereinzelt. Gleichwohl sprachen sich einige der be- fragten (ausschließlich männlichen) Experten für eine Beschränkung der Frauennachtarbeit aus11, andere forderten – insbesondere in den Nachtschichten – eine Trennung von Männern und Frauen an den Arbeitsplätzen, „da die größere Tätigkeit der Phantasie um die Nachtzeit und die durch mangelhafte Erleuchtung erschwerte Aufsicht die Gefahren für die Sittlich- keit erhöhe“.12 Frauennachtarbeit stellte nach den Ergebnissen dieser Untersuchung kein gravierendes Problem dar, im Mittelpunkt standen Erörterungen über Frauenfabrikarbeit im Allgemeinen, Lohnfragen, Arbeitsbedingungen (Arbeitszeiten, Räumlichkeiten, sanitäre Anlagen) und insbesondere Klagen über Vergiftungen durch Arbeit mit Blei und Phosphor. Nicht zuletzt aufgrund der aus dieser Enquete zur Frauen- und Kinderarbeit gewonnenen Erkenntnisse wurden ab 1876 innerhalb der Regierungsbürokratie (konkret im preußischen 4 Vgl. hierzu auch die Rede von Lujo Brentano auf dem Gründungskongress des Vereins für Sozial- politik, in: Verhandlungen der Eisenacher Versammlung zur Besprechung der socialen Frage am 6. und 7. October 1872, Leipzig 1873, S. 17 f. 5 Die Berichte der Bezirksregierungen sind überliefert in: GStA Berlin Rep. 120 BB VII 3 Nr. 2 Sgl. I. Vgl. Quellensammlung Bd. I, 3 Nr. 32, Nr. 34, Nr. 36-38. 6 Vgl. Quellensammlung Bd. I, 3 Nr. 38. 7 Vgl. Quellensammlung Bd. I, 3 Nr. 37. 8 Befragt wurden durch mittlere Verwaltungsorgane u. a. örtliche Behörden, Handelskammern, Pfarrer, Fabrikinspektoren, aber auch Arbeitervereine. 9 Vgl. Quellensammlung Bd. I, 3 Nr. 57 und Nr. 63. 10 Ergebnisse der über die Frauen- und Kinder-Arbeit in den Fabriken auf Beschluß des Bundesrates angestellten Erhebungen zusammengestellt im Reichskanzler-Amt, Berlin 1877. 11 Vgl. Ergebnisse, S. 71 (für Preußen), S. 87 (für Sachsen), S. 94 (für Baden und Hessen). Handelsministerium und im Reichskanzleramt) Gesetzentwürfe zur Reform der Fabrik- gesetzgebung ausgearbeitet, die dann zur Novelle der Gewerbeordnung von 1878 führten.13 Eine im Sommer 1876 von Theodor Lohmann ausgearbeitete Entwurfsfassung enthielt auch ein allgemeines Verbot der Nachtarbeit von Fabrikarbeiterinnen.14 [S. 192] Als der preußische Handelsminister bei der Vorlage dieses Entwurfs in einer von Theodor Lohmann verfassten Denkschrift für das preußische Staatsministerium vom 30. Juni 1876 mögliche Einschränkungen der Frauenarbeit erörterte, schrieb Reichskanzler Bismarck an den Rand der Denkschrift ablehnend, dies sei eine „Beschränkung der Erwerb- fähigkeit“.15 Konkret zum Verbot der Nachtarbeit von Fabrikarbeiterinnen, das mit „Rück- sicht auf die Gesundheit und der Fürsorge für die Sittlichkeit der Frauen“ eingeführt werden sollte, vermerkte der Reichskanzler: „Warum nicht auch die Tagarbeiten [verbieten]? Die Gründe treffen da auch zu.“16 Den Fingerzeig dieser Randbemerkung setzte Bismarcks Mitarbeiter Christoph Tiedemann17 dann in einem Votum Bismarcks für das preußische Staatsministerium vom 30. September 1876 in folgende Formulierung um: „(...) warum nur von der Nachtarbeit, von dieser aber unbedingt, Nachteile für die Sittlichkeit der Frauen zu befürchten sein sollten, ist nicht ersichtlich. Es wird hierbei doch sehr auf die Art der Be- schäftigung ankommen. Wenn in der Denkschrift behauptet wird, dass ein wirklich geord- netes Hauswesen kaum denkbar sei, wo die Hausfrau selbst nachts außer Haus arbeite, so ist hierauf zu erwidern, dass nicht alle Arbeiterinnen [Ehe-] Frauen sind und dass ein wirk- lich geordnetes Hauswesen mit der Arbeit der Frauen in den Fabriken überhaupt nicht zu vereinbaren ist. Die Gründe, welche gegen die Nachtarbeit sprechen, treffen auch für die Tagesarbeit zu.“18 Innerhalb der Regierungsbürokratie musste daraufhin das geplante Verbot der Nachtar- beit von Fabrikarbeiterinnen wieder aus den Gesetzentwürfen herausgenommen werden. Die dem Reichstag dann 1878 zugeleitete Regierungsvorlage des Gesetzentwurfs enthielt somit keine Bestimmungen zur Frauennachtarbeit. Die erwähnte Bundesratsermächtigung zum Verbot in einzelnen Produktionszweigen hat erst der Reichstag im Gesetzgebungsver- fahren aufgrund einer Empfehlung der nach der ersten Plenumslesung eingesetzten Parla- 12 Vgl. Ergebnisse, S. 68. 13 Die verwickelte Genese dieser Novelle ist ausführlich dokumentiert in Quellensammlung Bd. I, 3. 14 Vgl. Quellensammlung Bd. I, 3 Nr. 89. 15 Vgl. Quellensammlung Bd. I, 3 Nr. 89, Anm. 20. 16 Vgl. Quellensammlung Bd. I, 3 Nr. 89, Anm. 21. 17 Christoph (von) Tiedemann (1836-1907), 1876 Geheimer Regierungsrat im preußischen Staatsmi- nisterium, 1878-1881 Chef der Reichskanzlei, 1881-1899 Regierungspräsident in Bromberg, 1873-1876 u. 1879-1903 Mitglied des Abgeordnetenhauses (freikonservativ), 1898-1907 MdR (Deutsche Reichspartei). 18 Vgl. Quellensammlung Bd. I, 3 Nr. 93, S. 375. mentarierkommission in seinen Beschluss aufgenommen,19 nachdem sich in erster Ple- numslesung nur der linksliberale Max Hirsch20 und der Sozialdemokrat Ignaz Auer21 für ein diesbezügliches Verbot [S. 193] ausgesprochen hatten.22 Das Reichstagsplenum nahm die Kommissionsempfehlung zur Frauennachtarbeit in zweiter bzw. dritter Lesung ohne weite- re Diskussion an. Der Bundesrat hatte an der Änderung nichts auszusetzen, so dass sie Gesetz werden konnte. Fast beiläufig war die Ermächtigung für den Bundesrat gemäß § 139 a der Gewerbeordnung, Frauennachtarbeit verbieten zu können, in die Fabrikgesetz- gebung geraten, ohne Regierungsvorlage, ohne Parteianträge oder einschlägige Debatten im Reichstagsplenum. Vier Jahre später wurden die regierungsinternen Untersuchungen über die Frauennacht- arbeit wieder aufgenommen. Anlass waren die Zustände in der „Düsseldorfer Kammgarn- spinnerei“, die kurz zuvor Nachtarbeit ohne Schichtwechsel eingeführt hatte. Dem Düssel- dorfer Regierungspräsidenten Robert Eduard von Hagemeister23 waren Gerüchte über „Zuchtlosigkeit“ der oft sehr jungen Nachtarbeiterinnen dieser Spinnerei zugetragen wor- den, worauf er den für Düsseldorf zuständigen Fabrikinspektor Gustav Wolff24 beauftragte, die Angelegenheit zu untersuchen. Der Fabrikinspektor berichtete im Oktober 1882, er halte es für zweifellos, dass die Nachtarbeit ungünstig auf die Arbeiter einwirke. Sein Bericht zeigt, wie sehr für ihn anhand der in dieser Spinnerei eingeführten Nachtarbeit ein allgemeiner Verfall von Moral und Sitte erkennbar wurde. Er sei der Ansicht, „dass die Nachtarbeit nicht nur körperliche, son- dern vornehmlich sittliche Schädigungen, namentlich bei den Arbeiterinnen, im Gefolge haben würde (...) Die körperliche Schädigung wird, abgesehen vom Einfluss der Nachtar- beit an sich, im Wesentlichen bedingt dadurch, dass die Spinnereiräume mit heißer, dunsti- 19 Dies geschah erst in der zweiten Kommissionslesung. Die „Zusammenstellung des Gesetzes, betreffend die Abänderung der Gewerbeordnung mit den Beschlüssen der IX. Kommission in er- ster Lesung“ enthält die betreffende Passage (zu diesem Zeitpunkt noch § 138) noch nicht (BArch R 101 Nr. 469, fol. 113). Das handschriftliche Protokoll der zweiten Kommissionslesung erwähnt die Ergänzung zur Frauennachtarbeit nicht (BArch R 101 Nr. 469, fol. 162-164). Die Änderung ging wohl nicht von den Zentrumsabgeordneten aus, diese stellten zur zweiten Plenumslesung so- gar zunächst einen - wieder zurückgezogenen - Antrag, die Bestimmung zur Frauennachtarbeit wieder zu streichen (Sten. Ber. RT 3. LP II. Session 1878, Drucksache Nr. 195, I 6). 20 Dr. Max Hirsch (1832-1905), liberaler Gewerkschaftsführer, „Anwalt“ der deuschen Gewerk- vereine, 1869-1871, 1877-1878 u. 1881-1884 MdR (Fortschrittspartei), 1890-1893 MdR (Deut- sche Freisinnige Partei), 1899-1905 Mitglied des Abgeordnetenhauses. 21 Ignaz Auer (1846-1907), Sattler, sozialdemokratischer Parteiführer, 1877-1878, 1880-1881, 1884- 1887 u. 1890-1907 MdR. 22 13. Sitzung vom 13.4.1878, Sten. Ber. RT. 3. LP II. Session 1878, S. 304 u. S. 305. 23 Robert Eduard von Hagemeister (1827-1902), 1877-1883 Regierungspräsident in Düsseldorf, 1883-1889 Oberpräsident der Provinz Westfalen. 24 Dr. Gustav Wolff (1842-1914), Chemiker, 1876-1888 Fabrikinspektor in Düsseldorf, 1888-1906 Gewerbedezernent beim Ministerium für Elsass-Lothringen in Straßburg. ger, feuchter, übelriechender Luft gefüllt sind und der Luftwechsel in ihnen, weil der Be- trieb Tag und Nacht ohne wesentliche Unterbrechung weitergeht und genügende Ventilati- onseinrichtungen nicht vorgesehen sind, nur in ganz unzureichender Weise erfolgt. Dazu kommt im vorliegenden Fall noch, dass auch die Abortgase in die Arbeitsräume dringen und die Luft verderben helfen. Die Luftbeschaffenheit in einem der Spinnereiräume war derart, dass es mich, der ich doch durch die Aufgaben meines Dienstes in dieser Hinsicht nicht verwöhnt bin, Überwindung kostete, den Saal zu durchwandern. Unmittelbar aus dieser Luftbeschaffenheit lassen sich auch die Gründe für eine Schädigung der Sittlichkeit ableiten. Die männlichen wie weiblichen Arbeiter suchen dem Einfluss der heißen, mit Wasserdampf übersättigten Luft durch eine möglichst weitgehende Entblößung des Körpers zu begegnen, in ähnlicher Weise, wie man es in heißen Klimaten oder bei Landarbeitern zur Erntezeit beobachten kann. Sie arbeiten mit- und nebeneinander, die feuchte warme Luft wirkt erschlaffend, sinnlich-reizend auf sie ein, die Körperformen werden zum Teil nackt oder schlecht verdeckt sichtbar, da ist es kein Wunder, wenn selbst bei strenger Aufsicht innerhalb der Fabrik, wie sie, wie ich höre, hier gehandhabt wird, die Arbeiter sittlich ver- wildern oder nur sittlich tief stehende Personen diese Arbeit suchen. Das Benehmen, na- mentlich der jüngeren [S. 194] Weibsleute, beim Verlassen der Fabrik ist dementsprechend. Rohes Lachen und Gebaren und wüste Redensarten habe ich bei der Gelegenheit vielfach gehört und gesehen.“25 In dem Bericht des Fabrikinspektors ging es nur nebenbei um Aus- wirkungen der Nachtarbeit. Im Mittelpunkt standen Klagen über allgemeine „sittliche Ver- wilderung“ der Arbeiterinnen, also ihre Sexualmoral, und die Beschreibung von Arbeitsbe- dingungen, die in der betreffenden Fabrik auch in der Tagesschicht vorhanden gewesen sein müssten. Dies bestätigt auch ein weiterer Bericht, den Fabrikinspektor Wolff gemeinsam mit dem zuständigen Sanitätsrat nach einer erneuten Revision dieser Spinnerei erstattete. Die Be- amten wollten die Frauennachtarbeit in allen Spinnereien untersagt wissen, „einerseits, weil die Sittlichkeit und andererseits, weil die Gesundheit darunter leiden muss. Namentlich werden diese üblen Folgen hervortreten bei den noch nicht völlig entwickelten jüngeren Arbeiterinnen. Die anormalen Lebenszustände, welchen sie in diesen Spinnereien ausge- setzt sind, übermäßige Wärmezufuhr, Unterdrückung der Hautsekretionen und besonders der Hautatmung, rasche Arbeit bei fortwährender Bewegung und im Stehen, endlich die 25 Vgl. Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, II. Abteilung: Von der kaiserlichen Sozialbotschaft bis zu den Februarerlassen Wilhelms II. (1881-1890), 3. Band: Arbeiterschutz, bearbeitet von Wolfgang Ayaß, Darmstadt 1998, Nr. 19 (im folgenden zitiert: Quellensammlung Bd. II, 3). Abwesenheit natürlichen Lichts und die Verkehrung der natürlichen Schlafzeit zur Arbeits- zeit – müssen den heranwachsenden Körper der Mädchen schädigen und Krankheits- und Elendskeime in ihnen zurücklassen, welche vielleicht erst später zur Entwicklung gelangen, wenn das Mädchen die Fabrik verlassen hat, während es vorher scheinbar nur an Bleich- sucht, schlechter Blutmischung und deren Folgezustände zeitweise litt. Dass die Sittlichkeit junger Mädchen [leidet], wenn sie Nacht für Nacht außerhalb des Elternhauses und ohne elterliche Aufsicht zusammen mit älteren, sittlich vielleicht verdorbenen Frauenzimmern, mit jüngeren Burschen und Männern verbringen müssen, scheint uns so klar zu liegen, dass wir uns einer weiteren Auseinandersetzung enthalten. (...) Wir sind der Ansicht, dass das Mädchen und die Frau überhaupt nicht und am allerwenigsten nachts in die Fabrik gehört. Ihr Beruf ist ein anderer und diesem muss sie zugeführt, erhalten bleiben.“26 Als Gesund- heitsgefährdung durch Nachtarbeit benannten die Beamten nur die „Abwesenheit natürli- chen Lichts und die Verkehrung der natürlichen Schlafzeit zur Arbeitszeit“, als eine ge- schlechtsspezifische Belastung beschrieben sie dies allerdings nicht. Die Frage der sittli- chen Gefährdung der jungen Frauen schien den beiden Beamten so offensichtlich zu sein, dass sie diese überhaupt nicht mehr näher begründeten. Mit Bezug auf diese Berichte beantragte die Bezirksregierung Düsseldorf beim preußi- schen Handelsministerium Anfang 1883 ein allgemeines gesetzliches Verbot der Nachtar- beit von Fabrikarbeiterinnen.27 Der Antrag, dem die beiden zitierten Berichte als Anlage beigefügt waren, hatte weit reichende Folgen, denn er führte zu einer reichsweiten Untersu- chung über Frauennachtarbeit durch das Reichsamt des Innern, bei der die Verbreitung der Frauennachtarbeit in Fabriken erstmals syste-[S. 195]matisch erfasst wurde. Mit Schreiben vom 3. April 1884 forderte das Reichsamt des Innern die Bundesregierungen auf, über die Verbreitung der Frauennachtarbeit zu berichten und sich zu einem eventuellen Verbot zu äußern: „Nach einer Mitteilung der königlich preußischen Regierung ist neuerdings die nächtliche Beschäftigung von Arbeiterinnen von einzelnen Unternehmern in Industriezwei- gen eingeführt, in welchen sie bisher nicht stattgefunden hat. Es knüpft sich daran die Be- sorgnis, dass dieses Vorgehen unter dem Druck der Konkurrenz bald Nachahmung finden und dass auf diese Weise die Nachtarbeit von Arbeiterinnen, welche bisher in Deutschland, soweit bekannt, nur in einzelnen Industriezweigen, und auch hier, wie z. B. in Zuckerfabri- ken, nur zeitweise stattgefunden hat, eine allgemeinere Verbreitung finden könnte. Bei den unverkennbaren Gefahren, welche daraus für die Gesundheit und die Sittlichkeit der Ar- beiterinnen und für das Familienleben der Arbeiterbevölkerung erwachsen würden, wird die 26 Vgl. Quellensammlung Bd. II, 3 Nr. 21. Frage zu prüfen sein, ob es nicht gegenwärtig an der Zeit ist, gegen die weitere Verbreitung der Nachtarbeit von Arbeiterinnen auf dem in § 139 a der Gewerbeordnung bezeichneten Weg oder durch Herbeiführung gesetzlicher Bestimmungen einzuschreiten, zumal nicht zu verkennen ist, dass ein solches Vorgehen, welchem zur Zeit bei dem verhältnismäßig ge- ringen Umfang der weiblichen Nachtarbeit erhebliche Interessen noch nicht entgegenstehen dürften, mit großen Schwierigkeiten verbunden sein würde, sobald die nächtliche Beschäf- tigung von Arbeiterinnen erst in einer Reihe bedeutender Industriezweige zur Regel gewor- den sein sollte.“28 Die Untersuchung ergab, dass 1884 im gesamten Deutschen Reich nur etwa 13.000 Fa- brikarbeiterinnen in der Nacht arbeiteten. Nachtarbeit von Fabrikarbeiterinnen war also kaum verbreitet; sie kam als Saisonarbeit mit 7.796 Arbeiterinnen hauptsächlich in der Zuckerindustrie vor. In der Textilindustrie existierte durch Überstunden verursachte unre- gelmäßige Nachtarbeit. Von ganzjähriger regelmäßiger Nachtschichtarbeit waren Mitte der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts nur etwa 4.000 Fabrikarbeiterinnen betroffen, bei damals insgesamt 1,5 Millionen gewerblichen Arbeiterinnen.29 Theodor Lohmann sorgte Anfang 1886 dafür, dass diese Untersuchungsergebnisse den Abgeordneten der Arbeiterschutz- kommission des Reichstags in Druckform mitgeteilt wurden.30 Sozialdemokratische Mit- glieder der Kommission gaben den Text sofort an ihre Parteipresse weiter, womit die Er- gebnisse dieser zunächst regierungsinternen Untersuchung allgemein bekannt wurden.31 Die von den preußischen Regierungsbezirken eingereichten Einzelberichte dieser Unter- suchung sind in den Akten des preußischen Handelsministeriums überliefert.32 Insgesamt enthalten diese Berichte über die Mitteilung der betroffenen Industriezweige und des zah- lenmäßigen Umfangs hinaus wenig Aussagen über tatsächlich beobachtete Folgen der Nachtarbeit, obwohl in der Erhebung explizit [S. 196] nach Auswirkungen der Nachtarbeit auf „Gesundheit und Sittlichkeit“ gefragt worden war. Gesundheitliche Schäden wurden – mit der bereits gezeigten Düsseldorfer Ausnahme – nur noch in einem Bericht über Brikett- fabrikation im Freien benannt33, dagegen wurde wiederholt – jedoch auch hier nur von einer Minderheit – von negativen Einflüssen auf die „Sittlichkeit“ berichtet. 27 Vgl. Quellensammlung Bd. II, 3 Nr. 23. 28 Vgl. Quellensammlung Bd. II, 3 Nr. 36. 29 Vgl. Quellensammlung Bd. II, 3 Nr. 74 u. Nr. 114. 30 Vgl. Quellensammlung Bd. II, 3 Nr. 111. 31 Vgl. Beilage zum Berliner Volksblatt Nr. 31 vom 6.2.1886. 32 Sammlung der Berichte betreffend die Beschäftigung von Arbeiterinnen in Fabriken zur Nachtzeit (Erlass vom 14.4.1884): GStA Berlin Rep. 120 BB VII 3 Nr. 2 Slg. II. 33 Der Landrat des Kreises Düsseldorf berichtete sogar: „Der Einfluss der Nachtarbeit auf die Ge- sundheit der Arbeiterinnen soll sich bisher als kein ungünstiger erwiesen haben, indem unter den betreffenden Arbeiterinnen weniger Krankheiten vorkämen als unter denjenigen, die nachts nicht Der Fabrikinspektor aus Frankfurt/Oder schrieb über Zuckerfabriken: „Der sittliche Punkt ist hier notorisch dunkel.“34 Der Amtsvorsteher der Landgemeinde Adlershof bei Berlin schrieb über Arbeiterinnen einer Textilfabrik: „Die Arbeiterinnen sind zum größten Teil unverheiratet und die Sittlichkeit derselben befindet sich wohl durchgehends auf einem Niveau, ab welchem nicht mehr viel zu verderben ist.“35 Der Erfurter Regierungspräsident führte aus: „Ein schädlicher Einfluss dieser Nachtarbeit auf die Gesundheit und Sittlichkeit der Arbeiterinnen ist im Allgemeinen nicht bemerkt worden, nur bei der einen der Ziegelei- en hat man eine Schädigung der Sittlichkeit wahrgenommen, was jedenfalls darin seine Erklärung findet, dass die lokalen Verhältnisse einer Ziegelei, die weite Ausdehnung der Räume, Läden, Trockenschuppen usw. die geringe Aufsicht während der Nacht und endlich die mangelhafte Beleuchtung eine gewisse Verführung zu unsittlichen Ausschreitungen in sich tragen.“36 Der Landrat des Kreises Neuss schrieb: „Erfahrungen über nachteiligen Einfluss dieser Nachtarbeit auf die Gesundheit der Arbeiterinnen liegen in Dormagen nicht vor. Auch stehen die Arbeiterinnen daselbst während der Arbeit unter strenger Kontrolle eines älteren Mannes. Die Arbeiter in den hiesigen Papierfabriken sind nach Geschlechtern getrennt und werden scharf überwacht, so dass besondere Gefahren für die Sittlichkeit in den Etablissements selbst wohl ausgeschlossen sind. Dagegen liegt eine Gefahr für die Sittlichkeit in dem nächtlichen Verweilen auf den Straßen, wobei sich den Arbeiterinnen auf dem Heimweg häufig Mannspersonen anschließen und den Angehörigen jede Kontrolle verloren geht.“37 Der Landrat des Kreises Grevenbroich berichtete: „In sittlicher Hinsicht sind Fälle vorgekommen, dass nicht in den Etablissements beschäftigte Personen die Ar- beiterinnen während der Nachtzeit aufgesucht haben.“38 [S. 197] Das Ergebnis der Auswertung dieser Originalberichte ist erstaunlich: Konkrete Erfahrungen hinsichtlich durch Nachtarbeit verursachte Beeinträchtigungen der Gesundheit arbeiten. Der Grund dafür wird darin gefunden, dass diejenigen Arbeiterinnen, die abwechselnd bei Tag und bei Nacht arbeiten, mehr Gelegenheit hätten, sich, wenn sie die Nachtschicht haben, bei Tage draußen in der freien Luft zu bewegen, was den übrigen Arbeiterinnen nur selten möglich würde. Was den Einfluss auf die Sittlichkeit anbelangt, so wird bemerkt, dass die Arbeiterinnen des genannten Etablissements [Brügelmann in Cromford] ohne Ausnahme in ihren Familien leben und deshalb Unzulänglichkeiten und Übelstände in sittlicher Beziehung, wie sie in den großen In- dustriezentren unter den alleinstehenden, als Kostgängerinnen oder in ähnlicher Art lebenden Ar- beiterinnen häufiger infolge der Nachtarbeit vorgekommen bzw. durch letztere gefördert wurde, nicht bemerkbar geworden seien. Ebensowenig soll sich ein schlimmer Einfluss der nächtlichen Frauenarbeit auf das Familienleben der Arbeiterbevölkerung zeigen“ (GStA Berlin Rep. 120 BB VII 3 Nr. 2 Slg. II, fol. 142 Rs.). 34 GStA Berlin Rep. 120 BB VII 3 Nr. 2 Slg. II, fol. 34. 35 GStA Berlin Rep. 120 BB VII 3 Nr. 2 Slg. II, fol. 37 Rs. 36 GStA Berlin Rep. 120 BB VII 3 Nr. 2 Slg. II, fol. 81-81 Rs. 37 GStA Berlin Rep. 120 BB VII 3 Nr. 2 Slg. II, fol. 139 Rs.-140. 38 GStA Berlin Rep. 120 BB VII 3 Nr. 2 Slg. II, fol. 141 Rs. finden wir in den preußischen Einzelberichten nur ausnahmsweise. Falls überhaupt Aus- wirkungen der Frauennachtarbeit festgestellt wurden, bewegten sie sich in einem eher eng- gefassten Sittlichkeitsbegriff durchgehend auf dem Gebiet unerwünschter sexueller Aktivi- täten am Arbeitsplatz bzw. auf dem Weg von und zu diesem. Beeinträchtigung des Familienlebens bzw. Vernachlässigung von Kindern monierte kei- ner der Berichte. Der Zusammenhang „Familie“ kam jedoch schnell ins Spiel, wenn nicht mehr unmittelbar über empirische Erfahrungen berichtet wurde. So betonte die Bezirksre- gierung Aachen, in deren Gebiet nur 61 Arbeiterinnen regelmäßig nachts arbeiteten, man habe im Bezirk keine schlechten Erfahrungen mit der Frauennachtarbeit gemacht. Trotzdem schrieb diese Bezirksregierung, „dass eine solche weitere Verbreitung [der Frauennachtar- beit] den in dem rubrizierten Erlass hervorgehobenen ungünstigen Einfluss auf die Gesund- heit und Sittlichkeit wie auf das Familienleben der Arbeiterbevölkerung äußern muss, na- mentlich wenn Ehefrauen während der Nächte in Fabriken arbeiten, wird kaum in Frage gestellt werden können“.39 An der Tatsache, dass Frauennachtarbeit kein sonderlich dringendes Problem war, kam auch der von Theodor Lohmann verfasste preußische Gesamtbericht vom 9. November 1884 nicht vorbei.40 Auch Lohmann sah in der Ausweitung der Frauennachtarbeit eine Gefahr. Man habe jedoch die Chance, präventiv einzugreifen und könne durch ein vorbeu- gendes Verbot eine absehbare Ausdehnung der Nachtarbeit verhindern, die – sollte sie zur Regel werden – „auf die Gesundheit und Sittlichkeit der Arbeiterinnen und auf die gesamte physische und moralische Entwicklung der Arbeiterbevölkerung einen nachteiligen Ein- fluss ausüben müsste und bei uns leicht Zustände herbeiführen könnte, wie sie in England vor dem Verbot der Nachtarbeit der Arbeiterinnen bestanden haben.“41 Innerhalb der Regierungsbürokratie machte man sich allerdings nicht viel Hoffnung auf ein Verbot. Theodor Lohmann schrieb am 6. November 1884 in einem Privatbrief an seinen Freund Ernst Wyneken42: „Möglicherweise werde ich ihm [Bismarck] nächstens noch mal wieder an den Wagen fahren, da mir die Aufgabe zugefallen ist, das Ergebnis der Erhebun- gen über die Nachtarbeit der Arbeiterinnen zu prüfen und zu begutachten. Obwohl ich seine ablehnende Stellung in diesen Dingen kenne, werde ich doch nicht umhin können, mich für ein Gesetz auszusprechen, durch welches die Nachtarbeit v[on] Arbeiterinnen der Regel 39 GStA Berlin Rep. 120 BB VII 3 Nr. 2 Slg. II, fol. 158. 40 Vgl. Quellensammlung Bd. II, 3 Nr. 44. 41 Vgl. Quellensammlung Bd. II, 3 Nr. 44, S. 156. 42 Dr. Ernst Wyneken (1840-1905), 1874-1883 Direktor der Höheren Töchterschule in Stade a.d. Schwinge, 1883-1905 Pastor in Edesheim/Leinetal. nach verboten und nur ausnahmsweise zugelassen wird. Was er dann sagen wird, darauf bin ich neugierig.“43 [S. 198] Im Reichsamt des Innern entstand im Sommer 1885 ein ausführlicher, wieder- um von Lohmann verfasster Gesamtbericht für das Reich mit dem Vorschlag eines allge- meinen Nachtarbeitsverbots für Fabrikarbeiterinnen. Von den nichtpreußischen Staaten hatte sich – mit einer interessanten Begründung – nur das Königreich Württemberg prinzi- piell gegen ein Verbot der Nachtarbeit von Fabrikarbeiterinnen ausgesprochen, „denn we- der die bloße Überzeitarbeit noch die volle Nachtarbeit wird im Allgemeinen für die weib- lichen Arbeiter anstrengender sein, als für die männlichen“. Solange man die Arbeitszeit männlicher Arbeiter nicht beschränke, sei man auch nicht berechtigt, die Frauenarbeitszeit einzuschränken.44 Die Regierungen der anderen Bundesstaaten hatten gegen ein Verbot nichts einzuwenden bzw. zeigten sich uninteressiert. Angesichts der bekannten prinzipiellen Ablehnung des Reichskanzlers zum Ausbau des Arbeiterschutzes wagte der Staatssekretär des Innern Karl Heinrich von Boetticher45 nicht, den Bericht Lohmanns seinem Vorgesetzten Bismarck vorzulegen. Als von Boetticher dem Reichskanzler die Angelegenheit schließlich am 21. Januar 1886 mündlich doch vortrug, erklärte Bismarck, er könne einer Einschränkung der Frauenarbeit nicht zustimmen, „weil er von einer solchen ungünstige Wirkungen auf die Lebenshaltung der Arbeiterfamilien besorgt, für welche die Regierung eine Verantwortung nicht zu übernehmen vermöge“.46 Damit war ein zweiter – regierungsinterner – Vorstoß Theodor Lohmanns zum Verbot der Frauennachtarbeit wiederum am Veto des Reichskanzlers Bismarck gescheitert. II. Mittlerweile hatte sich jedoch die Gesetzgebungsinitiative beim Arbeiterschutz und so- mit auch in der Nachtarbeitsfrage auf den Reichstag verlagert. „Nachtarbeit“ wurde damit (mit neuen Akteuren) ein Thema der politischen Öffentlichkeit. Ausgerechnet der ansonsten ziemlich bismarcktreue freikonservative Abgeordnete Arnold Lohren47 stellte im Dezember 43 BArch N 2179 Nr. 2, fol. 192 Rs. 44 Schreiben des württembergischen Außenministers an das Reichsamt des Innern vom 28.5.1884 (Ausfertigung: BArch R 1501 Nr. 106456, fol. 210-213, hier fol. 211 Rs.). 45 Karl Heinrich von Boetticher (1833-1907), 1880-1897 Staatssekretär des Innern, 1888-1897 Vize- präsident des preußischen Staatsministeriums, 1897-1906 Oberpräsident der Provinz Sachsen, 1866-1870 u. 1882-1893 Mitglied des Abgeordnetenhauses (konservativ), 1878-1879 MdR (Deut- sche Reichspartei), 1901-1907 Mitglied des Herrenhauses. 46 Vgl. Quellensammlung Bd. II, 3 Nr. 111. 47 Arnold Lohren (1836-1901), 1864-1880 Leitung der Berlin-Neuendorfer Kammgarnspinnerei bei Potsdam, 1881-1890 MdR (Deutsche Reichspartei), 1882-1893 Mitglied des Abgeordnetenhauses (freikonservativ), Mitbegründer und langjähriges Vorstandsmitglied des Zentralverbands Deut- scher Industrieller. 1884 im Reichstag einen Antrag auf Verbot der Frauennachtarbeit. Lohren forderte: „Weibliche Personen dürfen in Fabriken weder an Sonn- und Festtagen noch zur Nachtzeit zwischen 8 ½ Uhr abends und 5 ½ Uhr morgens beschäftigt werden.“ Bismarck schrieb auf die Druckfassung dieses Antrags: „Aber bezahlt? U[nd] von wem?“48 Auch hier wird schon auf der Ebene der Antragstellung die deutliche Gegnerschaft Bismarcks erkennbar. [S. 199] Im Januar 1885 stellte die Deutsch-Konservative Partei einen Antrag auf Verbot der Nachtarbeit von verheirateten Fabrikarbeiterinnen.49 Innerhalb der eingesetzten Reichstagskommission forderte einige Tage später auch die katholische Zentrumspartei im Rahmen eines umfassenden Gesetzentwurfs zum Arbeiterschutz das Verbot der Nachtarbeit für männliche und weibliche Fabrikarbeiter.50 Freikonservative, Konservative und Zen- trumspartei verfügten im 1884 gewählten sechsten Reichstag über 205 von 397 Reichtags- mandaten, man hätte also nicht einmal die 24 Stimmen der Sozialdemokraten benötigt, um zumindest das Verbot für verheiratete Arbeiterinnen beschließen zu können. Die Frage der Nachtarbeit war jedoch im Gesetzgebungsverfahren mit anderen Bereichen des Arbeiter- schutzes verknüpft, über die ein Konsens erst noch gefunden werden musste¸ insbesondere mit dem ebenfalls anvisierten Verbot der Sonntagsarbeit für alle gewerblichen Arbeiter. Aus diesem Grund kam es erst mit über zweijähriger Verzögerung am 17. Juni 1887 zu einem Reichstagsbeschluss über das Verbot von Nachtarbeit von Fabrikarbeiterinnen. Dieser im Rahmen eines umfassenden Pakets zur Frauen- und Kinderarbeit gefasste Be- schluss war nahezu einstimmig, auch die in Arbeiterschutzfragen oft gespaltenen Linkslibe- ralen51 und die beim Arbeiterschutz sonst eher zurückhaltenden Nationalliberalen hatten zugestimmt. Selbst die Sozialdemokraten, für die das Nachtarbeitsverbot eine alte Forde- rung war, trugen ihren Teil zu diesem einmütigen Beschluss bei. Im Reichstag hatte sich also Ende der 1880er Jahre eine alle politischen Lager umfassende Zustimmung zum Frau- ennachtarbeitsverbot durchgesetzt.52 48 Vgl. das Faksimile vor der Einleitung Quellensammlung Bd. II, 3 ; vgl. Quellensammlung Bd. II, 3 Nr. 47. 49 Vgl. Quellensammlung Bd. II, 3 Nr. 50. 50 Vgl. Quellensammlung Bd. II, 3 Nr. 57. 51 Vgl. zum Thema Frauennachtarbeit die Veröffentlichung des freisinnigen Reichstagsabgeordneten Karl Adolf Baumbach, Frauenarbeit und Frauenschutz, Berlin 1889, S. 28-29 und S. 35; vgl. auch dessen Äußerung zur Frauennachtarbeit am 15.1.1885 im Reichstag (Sten. Ber. RT 6. LP I. Session 1884/1885, S. 629). 52 Bereits der Gründungskongress der I. Internationalen sprach sich 1866 in Genf deutlich gegen die Nachtarbeit aus: „Nachtarbeit ist nur ausnahmsweise zu gestatten in Gewerben oder Ge- werbszweigen, die vom Gesetz genau bezeichnet sind. Die Tendenz muss dahin gehen, jede Nachtarbeit abzuschaffen. Dieser Paragraf bezieht sich nur auf erwachsene Personen, Männer oder Frauen, letztere sind jedoch aufs Strengste von jeglicher Nachtarbeit auszuschließen, ebenso von jeder Arbeit, die für den empfindlicheren weibliche Organismus schädlich ist oder den Körper gif- tigen oder anderen schädlichen Einwirkungen aussetzt.“ (Die I. Internationale in Deutschland, Auf seiten der Arbeitergeber hatte der Zentralverband Deutscher Industrieller, der an- sonsten Arbeitszeitbeschränkungen von erwachsenen Männern und Frauen strikt ablehnte, zuvor bereits erklärt, gegen ein Verbot der Frauennachtarbeit sei nichts einzuwenden.53 Auch der Verein Deutscher Wollkämmer und Kammgarnspinner, der im Mai 1887 in einer Petition an den Reichstag den zu diesem Zeitpunkt befürchteten Zehnstundentag für alle Fabrikarbeiterinnen, welche ein Hauswesen zu besorgen hatten, bekämpfte, erklärte sich in derselben Petition – trotz der damit verbundenen „schweren Opfer“ – ausdrücklich mit dem Nachtarbeitsverbot einverstanden.54 [S. 200] III. Auch die damals noch „Gewerbehygiene“ genannte Arbeitsmedizin unterstützte das Nachtarbeitsverbot nachhaltig. Der Breslauer Arbeitsmediziner Ludwig Hirt55 schrieb be- reits 1873 in einer viel zitierten Abhandlung über „Die gewerbliche Thätigkeit der Frauen vom hygienischen Standpunkte aus“: „Die Nachtarbeit in Fabriken usw. ist nach unserer Ansicht allen weiblichen Individuen ausnahmslos zu verbieten. (...) dieses Verbot erscheint sowohl vom moralischen als medizinischen Standpunkt so gut motiviert und so leicht er- klärlich, dass ein näheres Eingehen darauf wohl überflüssig ist.“56 In den zwei Jahrzehnten zwischen Reichsgründung und dem Verbot der Nachtarbeit war Frauenfabrikarbeit mehr- fach Thema medizinischer Kongresse. Soweit dabei auch die Frauennachtarbeit thematisiert wurde, forderten die Ärzte stets auch ein Verbot derselben – sei es in den Referaten, sei es in ausdrücklichen Entschließungen. 1875 forderte die Sektion Staatsarzneikunde der in Graz tagenden 48. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte: „Frauen und junge Leute sind von der Nachtarbeit, von der unterirdischen Arbeit in Bergwerken, dann von der Sonn- und Feiertagsarbeit auszuschließen“.57 Zwei Jahre später, auf der 5. Versammlung des Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege in Nürnberg, sprach der Schwei- Berlin 1954, S. 417). Im Gothaer Programm der deutschen Sozialdemokratie von 1875 befanden sich keine Forderungen zur Nachtarbeit, wohl aber in den 1877 und 1885 in den Reichstag einge- brachten Gesetzentwürfen zum Arbeiterschutz (vgl. Quellensammlung Bd. I, 3 Nr. 104 und Bd. II, 3 Nr. 58). 53 Vgl. Quellensammlung Bd. II, 3 Nr. 117. 54 Sächs. HStA Dresden Ministerium des Innern Nr. 6488, fol. 138. 55 Dr. Ludwig Hirt (1844-1907), Begründer der Arbeitsmedizin in Deutschland, veröffentlichte von 1871 bis 1878 das vierbändige Werk „Die Krankheiten der Arbeiter“, ab 1877 a.o. Professor an der Universität Breslau. Vgl. Gabriel Oelsner, Ludwig Hirt (1844-1907) und sein Werk über die Krankheiten der Arbeiter, Diss. Zürich 1968; K.-H. Karbe, Ludwig Hirt - ein Kämpfer für den ge- setzlichen Arbeitsschutz, in: Zeitschrift für die gesamte Hygiene 17 (1971), S. 685-690; Carola Bury, Ludwig Hirt - ein „wahrer Arbeiterfreund Deutschlands“, in: Zeitschrift für Sozialreform 34 (1988), S. 537-546. 56 Ludwig Hirt, Die gewerbliche Thätigkeit der Frauen vom hygienischen Standpunkte aus, Breslau/ Leipzig 1873, S. 40 f. zer Fabrikinspektor Fridolin Schuler58 „Über die praktische Durchführung der Fabrikhygie- ne“. Schuler führte aus: „Dass zum allermindesten der erwachsenen Arbeiterin derselbe Schutz gebührt wie jungen Leuten, geht schon aus der Erwägung hervor, welch einen gro- ßen Teil des Jahres sie sich in einem halb pathologischen Zustand befindet, abgesehen von Schwangerschaft und ihren Folgen. Zudem hat die überwiegende Mehrheit der Arbeiterin- nen Pflichten ihrer Familie gegenüber zu erfüllen, die zu Hause aufs Neue ihre Kraft bean- spruchen. Es braucht nicht hinzugefügt werden, wie demoralisierend die Nachtarbeit in ihren Konsequenzen oft wirkt, wie sehr sie den Ruin jeglicher Hausordnung herbeiführt und so indirekt das sanitäre Befinden der ganzen Familie beeinflusst“.59 In der sich anschlie- ßenden Debatte wurde von dem Mitglied des Reichsgesundheitsamts Karl Maria Finkeln- burg60 sogar die Position vertreten, dass Nachtarbeit für Frauen nicht [S. 201] schädlicher als für Männer sei, für ein Verbot sprächen weniger hygienische als sittliche Motive.61 Beschlossen wurde eine Forderung nach „Ausdehnung des für jugendliche Arbeiter beste- henden Verbots der Nachtarbeit auf sämtliche weibliche Arbeiter“.62 Bezeichnend ist auch eine Äußerung Fridolin Schulers auf dem 6. Weltkongress der Hy- giene in Wien im Jahr 1887: „Die Überzeugung, dass überall auch die Frauen und nicht nur die Kinder des gesetzgeberischen Schutzes bedürfen, drängt sich immer mehr auf. Vor allem ist es die Nachtarbeit, die überall als verderblich verurteilt wird. (...) Rücksichten der Gesundheit und Moral, die Sorge für ein geordnetes Familienleben sprechen gleich sehr dafür.“63 Der Weltkongress der Hygiene forderte auf Antrag Schulers: „Die Beschränkung der Arbeitszeit der Arbeiterinnen und vor allem das Verbot der Nachtarbeit muss aus hy- gienischen wie moralischen Gründen verlangt werden.“64 57 Vgl. Quellensammlung Bd. I, 3 Nr. 79. 58 Dr. Fridolin Schuler (1832-1903), Arzt, 1867 erster kantonaler Fabrikinspektor in Glarus/ Schweiz, ab 1878 erster eidgenössischer Fabrikinspektor. Schuler war im Gegensatz zu den deut- schen Fabrikinspektoren Arzt und daher gefragter Referent medizinischer Kongresse; vgl. Fridolin Schuler, Erinnerungen eines Siebenzigjährigen, Frauenfeld 1903; vgl. Fridolin Schuler, Ausge- wählte Schriften. Auf Veranlassung von Freunden desselben hrsg. von Dr. H. Wegmann, Karlsru- he 1905. 59 Beyer/ Feustl/ Schuler, Über die praktische Durchführung der Fabrikhygiene, in: Deutsche Vier- teljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege 10 (1878), S. 158. 60 Dr. Karl Maria Finkelnburg (1832-1896), seit 1872 a.o. Professor der Universität Bonn, seit 1876 Mitglied des Reichsgesundheitsamts. 61 Deutsche Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege 10 (1878), S. 167. 62 Vgl. Quellensammlung Bd. I, 3 Nr. 128. 63 Fridolin Schuler, Fabrikhygiene und Fabrikgesetzgebung, in: VI. Internationaler Congress für Hygiene und Demographie zu Wien 1887, Heft 14, Wien 1887, S. 30; vgl. auch Deutsche Viertel- jahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege 20 (1888), S. 291. 64 Fridolin Schuler, 1887, S. 53; vgl. auch Deutsche Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheits- pflege 20 (1888), S. 298. IV. Die großen Auseinandersetzungen innerhalb der deutschen und europäischen Frauenbe- wegung um frauenspezifische Arbeitsschutzbestimmungen fanden erst nach der Gewerbe- ordnungsnovelle von 1891 statt.65 Frauenäußerungen zum Arbeiterinnenschutz im Allge- meinen und zur Nachtarbeit im Besonderen sind daher vor dem Verbot der Frauennachtar- beit im Jahre 1891 vergleichsweise selten. Allerdings agitierten Frauen aus der bürgerlichen wie aus der entstehenden sozialistischen Frauenbewegung gegen die im Reichstag in den 1880er Jahren diskutierten frauenspezifischen Arbeitszeitbeschränkungen, insbesondere wenn diese ein Hinausdrängen der Arbeiterinnen aus den Fabriken implizierten.66 Die Nachtarbeitsfrage war von dieser Ablehnung bemerkenswerterweise jedoch fast immer ausgenommen. Die Frauenrechtlerin Louise Otto-Peters67, Präsidentin des „Allgemeinen Deutschen Frauenvereins“ und erklärte Befürworterin der wirtschaftlichen Selbständigkeit von Frauen, polemisierte Anfang 1885 angesichts einschlägiger Anträge im Reichstag in den „Neuen Bahnen“ (der Zeitschrift ihres Vereins) vehement gegen – wie sie schrieb – „heuchlerische“ Einschränkungen der Frauenarbeit. Das Nachtarbeitsverbot (und nur dieses!) nahm sie von ihrer Ablehnung aus.68 Im Jahr 1890 [S. 202] nahm Louise Otto-Peters dann positiv zu den Empfehlungen der Internationalen Arbeiterschutzkonferenz Stellung, die für Fabrikarbeite- rinnen den Elfstundentag und ein Verbot der Nacht- und der Sonntagsarbeit beinhalteten.69 Äußerungen aus der frühen sozialistischen Frauenbewegung zur Nachtarbeitsfrage fin- den sich (in der Zeit vor dem Nachtarbeitsverbot) bei Gertrud Guillaume-Schack.70 Die sozialdemokratische Gräfin sprach sich 1885 im „Berliner Volksblatt“ noch gegen ein Ver- bot der Frauennachtarbeit aus.71 Sie gab jedoch bereits in der von ihr ein Jahr später für einige Monate herausgegebenen Zeitschrift „Die Staatsbürgerin“ diese Ablehnung wieder 65 Vgl. Sabine Schmitt, Der Arbeiterinnenschutz im deutschen Kaiserreich. Zur Konstruktion der schutzbedürftigen Arbeiterin, Stuttgart 1995, S. 62-69. 66 Vgl. Quellensammlung Bd II, 3, Nr. 54, Nr. 60-62. 67 Louise Otto-Peters (1819-1895), Schriftstellerin, 1865 Gründerin und seitdem Präsidentin des „Allgemeinen Deutschen Frauenvereins“. Zusammen mit der Leipziger Lehrerin Auguste Schmidt Herausgeberin des Vereinsorgans „Neue Bahnen“. 68 Louise Otto, Frauenarbeit in den Fabriken, in: Neue Bahnen. Organ des Allgemeinen deutschen Frauenvereins 20 (1885), Nr. 2, S. 9-11; vgl. Quellensammlung Bd. II, 3 Nr. 60. 69 Vgl. Louise Otto, Von der internationalen Arbeiterschutz-Konferenz, in: Neue Bahnen 25 (1890), S. 73-75. 70 Gertrud Gräfin von Guillaume-Schack, geb. Gräfin Schack zu Wittenau (1845-1903), Schriftstelle- rin, vgl. Hartwig Gebhardt/ Ulla Wischermann, Gertrud Guillaume-Schack und ihre Zeitschrift „Die Staatsbürgerin“, in: Die Staatsbürgerin. Offenbach a.M. 1886. Originalgetreuer Nachdruck der ersten Arbeiterinnenzeitschrift Deutschlands, herausgegeben und erläutert von Hartwig Geb- hardt und Ulla Wischermann, München/ New York/ London/ Paris 1988, S. 7-37. 71 Vgl. Quellensammlung Bd. II, 3 Nr. 62. auf. In der „Staatsbürgerin“ wurden die Regierungsenquete zur Frauennachtarbeit und die Reichstagsverhandlungen zum Frauenarbeitsschutz sorgfältig registriert. Ein Verbot der Frauennachtarbeit wurde an mehreren Stellen der Zeitschrift explizit begrüßt.72 Auch in einem namentlich nicht gekennzeichneten, „von einer Parteigenossin“ verfassten Artikel des in Zürich gedruckten Zentralorgans „Der Sozialdemokrat“ vom 11. August 1886, wird die Forderung nach Verbot der Frauennachtarbeit implizit zugestanden.73 Ein Verbot der Nachtarbeit könne, ähnlich wie das Verbot von Untertagearbeit bzw. der Arbeit von Frauen auf Hochbauten als „Sanitätsverwaltungsmaßregel“ aufgefasst werden, die die Frauenarbeit nur wenig einschränke. Auf dem sozialdemokratischen Parteitag des Jahres 1890 brachten Berliner Delegierte den Antrag ein, dass alle frauenspezifischen Arbeiterschutzforderungen aus dem künftigen Parteiprogramm beseitigt werden sollten – mit ausdrücklicher Ausnah- me einer Forderung nach Verbot der Nachtarbeit verheirateter Frauen.74 Auch nach dem Verbot der Nachtarbeit im Jahr 1891 sah die Arbeiterinnenbewegung hierin nicht Diskriminierung sondern Schutz. In der von Clara Zetkin75 redigierten Zeit- schrift „Die Gleichheit“ wurden 1892 die neuen Frauenschutzbestimmungen der Gewerbe- ordnung zwar als „karg“ eingeschätzt, gleichzeitig wurde der besondere Frauenarbeits- schutz als notwendig bzw. als Abschlagszahlung (erst Kinder, dann Frauen, schließlich Männer) auf dem Weg zu einem umfassenden Arbei-[S. 203]terschutz bezeichnet.76 Der gesetzliche Arbeiterinnenschutz sei eine „hygienische Notwendigkeit“. Nachtarbeit schädi- ge den menschlichen Organismus, „weil sie die schädlichen Einflüsse verstärkt und ver- schärft, mit denen die Industriearbeit in der kapitalistischen Gesellschaft verquickt ist“. Besonders schädlich sei Nachtarbeit jedoch für die Gesundheit der Frauen: „Einmal ist der weibliche Organismus infolge der Rolle der Frau für die Fortpflanzung der Art anders be- 72 Vgl. Die Staatsbürgerin. Offenbach a.M. 1886. Originalgetreuer Nachdruck der ersten Arbeiterin- nenzeitschrift Deutschlands, München/ New York/ London/ Paris 1988, S. 2, S. 23, S. 33, S. 37, S. 50, S. 53, S. 63, S. 71. 73 Die Sozialdemokratie und die Frage der Frauenarbeit, in: Der Sozialdemokrat Nr. 33 vom 11.8.1886. Dieser Artikel wird Clara Zetkin zugeschrieben; vgl. Fritz Staude, Clara Zetkins Posi- tionen zur Rolle der Frauenberufsarbeit, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1977 Teil III, S. 117. 74 Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Halle a.S. vom 12. bis 18. Oktober 1890, Berlin 1890, S. 183. 75 Clara Zetkin, geb. Eißner (1857-1933), Erzieherin, Journalistin; sozialdemokratische, später kom- munistische Parteiführerin; 1920-1933 MdR (KPD); vgl. Karin Bauer, Clara Zetkin und die pro- letarische Frauenbewegung, Berlin 1978. 76 Vgl. § 137 der neuen Gewerbeordnung und die Unterstützung der Wöchnerinnen, in: Die Gleich- heit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen 2 (1892), Nr. 13 vom 29.6.1892, S. 105; Ar- beiterinnenschutz und Frauenrechtelei, in: Die Gleichheit 3 (1893), Nr. 16 vom 9.8.1893, S. 124- 126; Das Prinzip der Gleichberechtigung der Frau und der gesetzliche Arbeiterinnenschutz, in: Die Gleichheit 3 (1893), Nr. 19 vom 20.9.1893, S. 151; zu den Auseinandersetzungen um den spezi- ellen Frauenarbeitsschutz innerhalb der Sozialdemokratie vgl. Karin Bauer, 1978, S. 125-134. schaffen wie der männliche Organismus, wird er durch diese Rolle in weit höherem Maß in Anspruch genommen als dieser. Im Mutterschaftsfall, in Vorbereitung und in Verbindung mit diesem, muss der Körper der Frau ertragen und leisten, was der Mann körperlich nie zu leisten hat. Andererseits schlägt mit Beendigung der Berufsarbeit der Frau noch nicht die Feierstunde. Hat sie des Nachts als Fabriksklavin übermäßig geschanzt, so muss sie sich des Tags über als Haussklavin abrackern.“77 Die Zustimmung zum Frauennachtarbeitsverbot konnte sich auf einen breiten Konsens innerhalb der internationalen sozialistischen Bewegung stützen. Der Züricher Sozialisten- kongress des Jahres 1893 forderte – auf Antrag der Österreicherin Louise Kautsky78 – das Frauennachtarbeitsverbot ausdrücklich, nachdem bereits 1889 der Gründungskongress der II. Internationalen in Paris einen ähnlichen Beschluss gefasst hatte.79 V. Quer durch die Parteien, Interessenverbände, Ärztekongresse und bis hinein in die Krei- se der Frauenorganisationen – niemand verteidigte in den 1880er Jahren die Frauennachtar- beit, wenngleich aus unterschiedlichen Motiven. Einzig Reichskanzler Bismarck blieb ablehnend (und damit der Bundesrat, der einem Gesetz ebenfalls zustimmen musste). Bis- marcks Reaktion ist auch hier aufgrund seiner Randbemerkungen in Regierungsakten über- liefert. Bereits im Mai 1886, als sich eine Beschlussfassung des Reichstags zur Einschrän- kung der Fabrikarbeit verheirateter Arbeiterinnen andeutete, hielt der Reichskanzler dies für eine „Erschwerung des Erwerbs und Einmischung der Behörde in die Häuslichkeit“ bzw. „eine bürokratische Einmischung in das Familienleben und den freien Willen des Einzel- nen“.80 Für eine [S. 204] präventive Abwendung „künftiger Gefahren“ der Frauennachtar- beit war der Reichskanzler nicht zu gewinnen. Angesichts der Tatsache, dass Nachtarbeit von Fabrikarbeiterinnen insgesamt ja eher ein absehbares als ein akutes Problem war, schrieb Bismarck auf eine entsprechende Vorlage: „abwarten“. Zur Formulierung „künftige Gefahren [der Frauennachtarbeit]“ schrieb Bismarck: „Doch nicht ganz gewisser [Gefah- ren]“. Auch hier Fragen Bismarcks in Randbemerkungen: „Wer entschädigt diese Frauen 77 Der gesetzliche Arbeiterinnenschutz, eine hygienische Nothwendigkeit, in: Die Gleichheit 3 (1893), Nr. 18 vom 6.9.1893, S. 139. 78 Ludowika Josefa (Louise) Kautsky, geb. Strasser (1860-1950), österreichische Sozialistin, 1883- 1889 mit Karl Kautsky verheiratet, ab 1890 Sekretärin von Friedrich Engels. 79 Vgl. Quellensammlung Bd. II, 3 Nr. 193; vgl. Protokoll des Internationalen Sozialistischen Ar- beiterkongresses in der Tonhalle Zürich vom 6. bis 12. August 1893, Zürich 1894, S. 37; vgl. Ulla Wikander, Some „Kept the Flag of Feminist Demands Waving“: Debates at International Con- gresses on Protecting Women Workers, in: Ulla Wikander/ Alice Kessler-Harris/ Jane Lewis (Eds.), Protecting Women. Labor Legislation in Europe, the United States, and Australia, 1880- 1920, Urbana/ Chicago 1995, S. 29-62. für den Verdienst, den das Verbot ihnen nimmt?“ und „Warum sollen die nicht erwerben, wenn sie es könn[en]? Ohne Bedürfnis nach Lohn arbeiten sie nicht des Nachts“.81 Über ein Jahr reagierte der Bundesrat nicht auf die Beschlüsse des Reichstags zur Frau- en- und Kinderarbeit vom 17. Juni 1887, die – wie gezeigt – auch das Nachtarbeitsverbot für Fabrikarbeiterinnen beinhalteten. Auf eine schriftliche Anfrage des Staatssekretärs des Innern vom 30. Oktober 1888, wie die Angelegenheit behandelt werden sollte, schrieb Bismarck: „an Bundesrat vorlegen, aber dort ablehnen“.82 Der Bundesrat lehnte daraufhin am 19. November 1888 die Reichstagsbeschlüsse zur Frauen- und Kinderarbeit ab.83 Nur das Großherzogtum Hessen stimmte gegen die Mehrheit. Damit war – diesmal am bis- marckabhängigen Bundesrat – auch ein dritter, nunmehr parlamentarischer Vorstoß zum Verbot der Frauennachtarbeit gescheitert. Die regierungsseitige Ablehnung des Verbots der Frauennachtarbeit überdauerte Bis- marcks Sturz ganze sieben Tage. Mitten in der Entlassungskrise hatte in Berlin am 15. März 1890 die von Kaiser Wilhelm II. initiierte Internationale Arbeiterschutzkonferenz unter dem Vorsitz des neuen preußischen Handelsministers Hans Freiherr von Berlepsch84 begonnen. Am 27. März 1890 – Bismarck hatte zu diesem Zeitpunkt Berlin noch nicht Richtung Friedrichsruh verlassen – beschloss die Konferenz mit deutscher Zustimmung eine Empfehlung für das vom Reichsgründer so ausdauernd bekämpfte Verbot der Frauen- nachtarbeit.85 Nach Bismarcks Sturz erarbeitete das preußische Handelsministerium unter Rückgriff auf die unter Bismarck gescheiterten Initiativen in kurzer Zeit einen umfassenden Regie- rungsentwurf zur Novellierung der Gewerbeordnung.86 Der Entwurf enthielt für Fabrikar- beiterinnen die Begrenzung der täglichen Arbeitszeit auf elf Stunden, ein Beschäftigungs- verbot samstags nach 17.30 Uhr, das Recht auf eine verlängerte Mittagspause und – nun endlich – das Verbot der Nachtarbeit. In der Begründung des bereits im Mai 1890 dem Reichstag vorgelegten Gesetzentwurfs hieß es zum Thema Nachtarbeit lapidar: „Das Ver- bot der Beschäftigung von Arbeiterinnen während der Nachtzeit empfiehlt sich aus Rück- sichten der Gesundheit und des Fa-[S. 205]milienlebens.“87 Mehr schien zur Begründung 80 Vgl. Quellensammlung Bd. II, 3 Nr. 124, Anm. 17 und Anm. 33. 81 Vgl. Quellensammlung Bd. II, 3 Nr. 124, Anm. 46 und Anm. 51. 82 Vgl. Quellensammlung Bd. II, 3, Nr. 173. 83 Vgl. Quellensammlung Bd. II, 3 Nr. 154-155, Nr. 158, Nr. 162, Nr. 173-174, Nr. 176-177. 84 Hans Freiherr von Berlepsch (1843-1926), 1883-1889 Regierungspräsident in Düsseldorf, 1889- 1890 Oberpräsident der Rheinprovinz, 1890-1896 preußischer Handelsminister. 85 Vgl. Die Protokolle der internationalen Arbeiterschutzkonferenz, Leipzig 1890, S. 132. 86 Vgl. Hans-Jörg von Berlepsch, „Neuer Kurs“ im Kaiserreich? Die Arbeiterpolitik des Freiherrn von Berlepsch 1890 bis 1896, Bonn 1987, S. 152. 87 Sten. Ber. RT, 8. LP I. Session 1890/1892, Drucksache Nr. 4. nicht notwendig. Ansonsten breiteten die Gesetzesmotive ausführlich das 1884 erhobene Zahlenmaterial aus, nicht ohne hinzuzufügen, dass das Nachtarbeitsverbot präventiven Charakter habe. In den Debatten des Reichstagsplenums über die Regierungsvorlage wie in der einge- setzten Kommission war das Nachtarbeitsverbot unumstritten, es wurde inhaltlich nur ver- einzelt thematisiert. Allerdings entfernte der Reichstag eine Klausel der Regierungsvorlage, nach der in denjenigen Fabrikationszweigen, in denen bisher Frauennachtarbeit üblich war, diese unbefristet auch weiterhin gestattet werden könne. Der Reichstag ließ dagegen nur eine zweijährige Übergangsregelung zu.88 Längerfristige Übergangsregelungen wurden für die Zuckerindustrie und die Montanindustrie des Regierungsbezirks Oppeln erlassen.89 Ansonsten war in Deutschland – abgesehen von einigen Ausnahmeregelungen – Nachtar- beit von Fabrikarbeiterinnen zwischen 20.30 Uhr und 5.30 Uhr gemäß § 137 Abs. 1 der Gewerbeordnung mit Wirkung vom 1. April 1892 untersagt.90 VI. In den regierungsinternen, parteipolitischen und arbeitsmedizinischen Diskussionen stand bei Einführung des Nachtarbeitsverbots überraschenderweise nicht der Körper der Frau im Mittelpunkt. Auf der Ebene unmittelbarer Empirie wurde in erster Linie die „Zuchtlosigkeit“ junger Frauen beklagt, auf einer allgemeineren, vermittelteren Ebene der marode Zustand der Familie. Auf beiden Ebenen wurde der zerrüttete Frauenkörper nur selten thematisiert. Selbst in den Stellungnahmen der Ärzte stand nicht die Gesundheit der Arbeiterinnen, sondern die allgemeine Sorge um Sitte, Familienleben und Haushaltsführung im Zentrum. Sofern man die Beeinträchtigung durch Nachtarbeit nicht ohnehin als selbst- verständlich unterstellte, rekurrierten die Begründungen auf die allgemeine biologische Schwäche der Frau, bestenfalls auf ein Konglomerat von notorischer Überlastung durch Fabrikarbeit, Menstruation, Geburten und Haushaltsführung. Der Blick der Gewerbehygie- ne beschränkte sich nicht auf die Gesundheit der Arbeiterin. Mit großer Selbstverständlich- keit bezog man sich auch auf Sittlichkeit, Moral und Familienleben. 88 Artikel 9 des Gesetzes (Übergangsregelung in Kompetenz der Landeszentralbehörden). 89 Zu den Ausnahmeregelungen vgl. Fuchs, Die gesetzliche Regelung der Frauennachtarbeit in Deutschland, in: Stephan Bauer (Hrsg.), Die gewerbliche Nachtarbeit der Frauen, Jena 1903, S. 4 f.; Max Hirsch, Verbot der Frauennachtarbeit in Deutschland, in: Stephan Bauer (Hrsg.), 1903, S. 20-68; vgl. Sabine Schmitt, 1995, S. 153-180. 90 Zu konkreten, mit Entlassungen verbundenen Auswirkungen in der Textilindustrie vgl. Marlene Ellerkamp, Industriearbeit, Krankheit und Geschlecht. Zu den sozialen Kosten der Industrialisie- rung: Bremer Textilarbeiterinnen 1870-1914, Göttingen 1991, S. 166-169. In den Quellen fällt die häufige Verbindung der Begriffe „Sittlichkeit“ und „Gesundheit“ auf.91 Die „sittliche Gefährdung“ durch Nachtarbeit wurde dabei nur ver-[S. 206]einzelt als Gefahr sexueller Übergriffe männlicher Arbeitskollegen oder Vorgesetzter beschrieben. Die unmittelbaren Berichte sprechen vielmehr von „sittlich tief stehenden“ Frauen, die die spe- zifischen Möglichkeiten der Nachtarbeit zu „unzüchtigem“ Verhalten nutzten. Die Nacht- arbeit ist in dieser Sicht nicht Ursache der Unsittlichkeit, sondern sie offenbart diese nur. Wichtiger scheint jedoch der (zeitgenössisch weit verbreitete) umfassendere Aspekt „sittlicher Gefährdung“, der bei Erörterungen über Nachtarbeit regelmäßig angeführt wur- de, sobald die Ebene der unmittelbar beobachteten Zustände verlassen wurde: Die Nachtar- beit von Fabrikarbeiterinnen mache ein geordnetes Familienleben unmöglich, die Ehefrau müsse zwangsläufig ihren Haushalt und die Kindererziehung vernachlässigen. Begreift man „Sittlichkeit“ in diesem weiteren Sinn, fällt also auch Haushaltsführung und Familienleben darunter, dann rückt der Sittlichkeitsbegriff eng an den Gesundheitsbegriff heran, galten doch für die frühe Sozialhygiene Krankheiten weithin als Resultat von unsauberen Ge- wohnheiten und mangelnder Hygiene.92 Durch die beeinträchtigte „Häuslichkeit“ untergra- be Frauennachtarbeit nicht nur die Reproduktionsfähigkeit der Frau, sondern auch die des männlichen Arbeiters. Die Sorge um „Gesundheit und Sittlichkeit“ der Nachtarbeiterin zielte letztendlich auf soziale Aufgaben. Theodor Lohmann schrieb 1885 in einem anonym veröffentlichten Arti- kel zur Frauenarbeit in Fabriken: „Vor allem wird die Frau von der industriellen Arbeit für diejenige Zeit auszuschließen sein, während welcher sie im Haus anwesend sein muss, wenn überhaupt von einem geordneten Familienleben die Rede sein soll. Daraus folgt das Verbot der Nachtarbeit, weil ein Familienleben da kaum noch denkbar ist, wo die Frau die Nacht außer dem Haus zubringen muss und folgeweise auch den Tag mit den ihrigen weder anfangen noch beschließen kann.“93 Bezugspunkt des Frauenarbeitsschutzes war die Frau als tatsächliche oder künftige Mutter, alle Schutzbestimmungen richteten sich hieran aus. Die Furcht vor der Erosion des traditionellen Geschlechterverhältnisses ist unverkennbar. Schutz vor Gefährdung von „Sittlichkeit und Gesundheit“ der Arbeiterin waren auf „Kin- deraufzucht“ und „Familie“ ausgerichtet. Konzeptionell ging das Nachtarbeitsverbot vom 91 Die Verbindung dieser Begriffe ist bereits in § 106 der Gewerbeordnung von 1869 zu finden (bei der Beschäftigung von Lehrlingen sei „gebührende Rücksicht auf Gesundheit und Sittlichkeit“ zu nehmen). Auch das Gothaer Programm der Sozialdemokratie von 1875 forderte: „Verbot aller die Gesundheit und Sittlichkeit schädigenden Frauenarbeit.“ 92 Vgl. Ute Frevert, Krankheit als politisches Problem 1770-1880, Göttingen 1984, S. 229-231. 93 (Theodor Lohmann), Die Frauenarbeit als Gegenstand der Fabrikgesetzgebung. Von einem Sach- verständigen, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich 9 (1885), S. 91. Bild der doppelbelasteten Frau aus. Die Debatte wurde geführt, als wäre jede Frau Hausfrau und Mutter. Dies entsprach der Wirklichkeit jedoch nur begrenzt: Eine vom Reichsamt des Innern 1899 durchgeführte Untersuchung ergab, dass nur 28 Prozent der Fabrikarbeiterin- nen verheiratet waren.94 Auffallend ist, wie häufig in den Quellen behauptet wird, man könne sich eine weitere Begründung ersparen, weil die Gefährdung von „Gesundheit und Sittlichkeit“ durch Nacht- arbeit ja hinreichend bekannt sei. Die Forderung nach Verbot der Frau-[S. 207]en- nachtarbeit war ein partei-, klassen- und geschlechtsübergreifender Konsens, der einen empirischen Nachweis einer speziellen Gefährdung nicht benötigte. Quer zu diesem Konsens stand nur Reichskanzler Bismarck, dessen nüchterner Scharf- sinn in der Frage auffällt. Zur Frauenarbeit hatte Bismarck im Reichstag bereits am 9. Janu- ar 1882 in seiner ersten öffentlichen Äußerung zum Arbeitsschutz erklärt, er halte es „im höchstem Maß wünschenswert“, dass Fabrikarbeiter genug verdienten, damit ihre Ehefrau- en zu Hause bleiben könnten.95 Bismarck, der ohnehin ein prinzipieller Gegner des Aus- baus von Arbeiterschutzbestimmungen war, war jedoch strikt dagegen, die Erwerbsmög- lichkeiten von Arbeitern – Männern wie Frauen – gesetzlich einzuschränken. Bismarck sah darin staatlich verordnete Arbeitszeitverkürzung ohne garantierten Lohnausgleich, letztlich also eine Lohnfrage. Er bezeichnete den Arbeiterschutz insgesamt als „Arbeiterzwang, um den Zwang, weniger zu arbeiten“.96 Dies galt bei allgemeinen Arbeitszeitbeschränkungen, bei der Sonntagsarbeit und eben auch bei der Nachtarbeit von Arbeiterinnen. Bismarck kam mit dem Thema Frauennachtarbeit in erster Linie nicht über den geschilderten Sittlichkeits- und Familiendiskurs in Berührung, sondern über das Themenfeld Arbeitszeitbeschränkung männlicher wie weiblicher Arbeiter, die aus seiner Sicht eine Eingrenzung von Erwerb- schancen beinhalteten. Das Verbot der Frauennachtarbeit hatte hohen Symbolcharakter. Frauennachtarbeit fun- gierte als Chiffre für die industrielle Pathogenität. Hier bündelte sich der Skandal 16- jähriger Fabrikarbeiterinnen (die sogar nachts der Aufsicht ihrer Angehörigen entzogen waren), die Angst vor der Auflösung der Familie (die nicht einmal nachts zusammenfand) und schließlich das Untergangsszenario einer gesundheitlich und moralisch degenerierten 94 Vgl. Die Beschäftigung verheirateter Frauen in Fabriken. Nach den Jahresberichten der Gewerbe- aufsichtsbeamten für das Jahr 1899 bearbeitet im Reichsamt des Innern, Berlin 1901; vgl. Hen- riette Fürth, Die Fabrikarbeit verheirateter Frauen, Frankfurt/M. 1902; vgl. Rose Otto, Über Fa- brikarbeit verheirateter Frauen, Stuttgart/ Berlin 1910. 95 Vgl. Quellensammlung Bd. II, 3 Nr. 6. 96 Bismarck, Die gesammelten Werke, Band 15, S. 492. Arbeiterschaft. Konservative Modernitätsgegner fürchteten die rund um die Uhr lärmende Großindustrie, die mit neuartigem elektrischem Licht die Nacht zum Tag machte. Nur: Das hätte man auch anhand der Nachtarbeit von Männern thematisieren können. Skandalisiert wurde jedoch nur die Nachtarbeit von Frauen. Frauennachtarbeit galt als die fürchterlichste aller Fabrikarbeiten, hier (Fabrik – Frau – Nacht) verdichtete sich alles Übel der Industrialisierung. Der Reichstagsabgeordnete Arnold Lohren drückte dies 1885 bei der Begründung seines Verbotsantrags so aus: „Ist schon die Frauenarbeit in den Fabriken überhaupt ein großes soziales Übel, das der moderne Fortschritt der Technik uns gebracht hat, so muss man die Frauenarbeit zur Nachtzeit als der Übel größtes bezeichnen“.97 VII. Die 1891 eingeführte Regelung des Nachtarbeitsverbots blieb über Jahrzehnte ohne jede Modifikation Bestandteil der Gewerbeordnung. Erst das Jahr 1934 brachte eine [S. 208] Veränderung.98 Die §§ 64 Abs. 2 und 68 Abs. 3 des „Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit“ vom 20. Januar 193499 und § 25 Abs. 2 des „Gesetzes zur Ordnung der Arbeit in öffentlichen Verwaltungen und Betrieben“ vom 23. März 1934100 ermächtigten den Reichs- arbeitsminister und den Reichswirtschaftsminister zu einer Änderung der Arbeitszeitrege- lungen der Gewerbeordnung. Eine daraufhin am 26. Juli 1934 erlassene Neufassung der Arbeitszeitverordnung101 hob unter anderem § 137 der Gewerbeordnung (der das Nachtar- beitsverbot enthielt) auf und ersetzte ihn durch § 19 der Arbeitszeitverordnung. Danach durften in Betrieben mit mehr als zehn Beschäftigten bzw. in mit solchen gleichgestellten Betrieben jugendliche Arbeiter und Arbeiterinnen nicht in der Zeit von 20.00 Uhr bis 6.00 Uhr beschäftigt werden. Der als „Nacht“ definierte Zeitraum wurde somit abends und mor- gens um jeweils eine halbe Stunde verlängert. Die bis zur Aufhebung durch das Bundesver- fassungsgericht gültige Fassung erhielt das Nachtarbeitsverbot in § 19 der Arbeitszeit- ordnung vom 30. April 1938, die das Nachtarbeitsverbot auf alle gewerblichen Arbeiterin- nen in Betrieben und Verwaltungen jeglicher Art unabhängig von der Betriebsgröße aus- weitete.102 Für weibliche Angestellte und Beamtinnen existierte jedoch nach wie vor kein gesetzliches Nachtarbeitsverbot. 97 24. Sitzung vom 14.1.1885, Sten. Ber. RT 6. LP I. Session 1884/1885, S. 610. 98 Vgl. Karl-Georg Loritz, Nachtarbeitsverbot (für Arbeiterinnen) und Verfassung, in: Zeitschrift für Arbeitsrecht 22 (1991), S. 623-624. 99 RGBl I, S. 45. 100 RGBl I, S. 220. 101 RGBl I, S. 803, S. 804. 102 RGBl I, S. 447. Auch in den anderen europäischen Industriestaaten hatte sich – in unterschiedlicher Ausprägung – das Frauennachtarbeitsverbot bereits vor dem Ersten Weltkrieg weitgehend durchgesetzt. Vor Deutschland hatten schon England (1844), die Schweiz (1877), Öster- reich (1885) und die Niederlande (1889) die Frauennachtarbeit verboten; Frankreich folgte 1892, Russland 1897.103 1906 traten 13 europäische Staaten dem Berner „Abkommen über das Verbot der Nachtarbeit der gewerblichen Arbeiterinnen“ bei.104 Schweden verbot 1909 die Frauennachtarbeit nach ablehnenden Protesten von Frauenorganisationen unter direk- tem Bezug auf dieses Abkommen.105 Die Internationale Arbeitsorganisation beschloss 1919 auf ihrer ersten Tagung ein „Übereinkommen über die Nachtarbeit der Frauen“. Dieses Übereinkommen wurde in den Jahren 1934 und 1948 modifiziert.106 [S. 209] Das Verbot der Frauennachtarbeit schien gesichert, es gehörte über Jahrzehnte zum festen Bestandteil der Arbeitsgesetzgebung europäischer Staaten. Doch seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts zeigte sich eine gegenläufige Tendenz.107 Verschiedene Staaten – zuerst die Niederlande – hoben ihre gesetzlichen Regelung zum Verbot der Nachtarbeit von Frauen wieder auf. Auch die Europäische Gemeinschaft rückte vom geschlechtsspezifi- schen Nachtarbeitsverbot ab. Die EU-Kommission konstatierte 1987 bezüglich der Frauen- nachtarbeit zwar zahlreiche Nachteile in gesundheitlicher, sozialer, familiärer und kulturel- ler Hinsicht. Die Kommission empfahl jedoch als Idealfall ein Nachtarbeitsverbot für Frau- 103 Vgl. Stephan Bauer (Hrsg.), 1903; Mary Lynn Stewart, Women, Work, and the French State. Labour Protection and Social Patriarchy, 1879-1919, Kingston/ Montreal/ London 1989, S. 121- 148; Ulla Jansz, Women or Workers? The 1889 Labor Law and the Debate on Protective Labor Legislation in the Netherlands, in: Ulla Wikander, 1995, S. 188-209; Sabine Ziegler, Frauennacht- arbeitsverbot in Österreich, Linz 1997; zur Entwicklung des Frauenarbeitsschutzes allgemein vgl. Ulla Wikander, 1995. 104 RGBl 1911, S. 5-15. Unterzeichner der Berner Konvention waren: Belgien, Dänemark, Deutsch- land, Griechenland, Großbritannien, Frankreich, Irland, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Österreich-Ungarn, Schweden und die Schweiz. 105 Vgl. Lynn Karlsson, The Beginning of a „Masculine Renaissance“: The Debate on the 1909 Prohi- bition against Women`s Night Work in Schweden, in: Ulla Wikander, 1995, S. 235-266; vgl. Te- resa Kulawik, Wohlfahrtsstaat und Mutterschaft. Schweden und Deutschland 1870-1912, Frank- furt/ New York 1999, S. 253-264. 106 Internationale Arbeitsorganisation (Hrsg.), Übereinkommen und Empfehlungen 1919-1991, Band I (1919-1966), Genf 1993, S. 17-19. Dieses Übereinkommen Nr. 4 ist 1921 in Kraft getreten und 1934 durch das Übereinkommen Nr. 41 bzw. 1948 durch das Übereinkommen Nr. 89 abgeän- dert worden. In Europa gehörten die Bundesrepublik Deutschland, Dänemark und Großbritannien nicht zu den Unterzeichnern. Das Übereinkommen wurde mittlerweile von allen Staaten der Euro- päischen Union und der Schweiz gekündigt. Zu den internationalen Abkommen zur Nachtarbeit vgl. Birgitt Haller, Zwischen Paternalismus und „Gleichmacherei“ - Frauennachtarbeit im europäi- schen Vergleich, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 22 (1993), S. 280. 107 Vgl. Internationales Arbeitsamt Genf, Bericht V (1). Nachtarbeit. Fünfter Punkt der Tagesord- nung, Genf 1989 (= Internationale Arbeitskonferenz, 76. Tagung 1989); Internationales Arbeits- amt Genf, Bericht V (2). Nachtarbeit. Fünfter Punkt der Tagesordnung, Genf 1989 (= Internatio- nale Arbeitskonferenz, 76. Tagung 1989); Internationales Arbeitsamt Genf, Bericht IV (1). Nacht- arbeit. Vierter Punkt der Tagesordnung, Genf 1990 (= Internationale Arbeitskonferenz, 77. Ta- gung 1990). en und Männer mit geschlechtsneutralen Ausnahmeregelungen, da sie die Nachtarbeit von Männern für gleichermaßen schädlich hielt.108 Derselbe Trend lässt sich auch in der Inter- nationalen Arbeitsorganisation feststellen, die 1990 ein „Übereinkommen über Nachtarbeit“ beschloss, das sich auf Männer und Frauen erstreckt.109 Anfang der neunziger Jahre exi- stierten in Europa noch in Belgien, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Italien, Öster- reich und Portugal frauenspezifische Nachtarbeitsverbote.110 Mittlerweile sind – in Anpas- sung an das europäische Recht – diese Bestimmungen überall beseitigt worden.111 In Belgi- en, den Niederlanden, Schweden und der Schweiz gelten heute Verbote für Männer und Frauen, wobei Ausnahmeregelungen bei männlichen Arbeitnehmern in der Regel leichter zu erlangen sind. VIII. Auch in Deutschland geriet das Nachtarbeitsverbot in die Kritik. Arbeitgeberverbände sahen im Nachtarbeitsverbot ein Beschäftigungshindernis. Ein Teil der wieder erwachten Frauenbewegung lehnte einen besonderen Frauenarbeitsschutz rundweg ab.112 Bei Gewerk- schafterinnen war die Haltung angesichts des Doppeleffekts [S. 210] des Frauenarbeits- schutzes von Diskriminierung und Schutz ambivalent.113 Ab Mitte der 80er Jahre betrieb die CDU/FDP-Regierung unter Helmut Kohl im Rahmen der Neugestaltung des Arbeits- 108 Vgl. Martina Csillag/ Julia Eichinger, Frauennachtarbeitsverbot und Gleichbehandlung im EG- Raum: Anmerkungen zum Urteil des EuGH vom 25.7.1991, „Rs Stoeckel“, in: Zeitschrift für Ar- beitsrecht und Sozialrecht 27 (1992), S. 20; siehe auch Schlussfolgerungen des Rates vom 26. Mai 1987 bezüglich der Gesetze zum Schutz der Frauen in den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft (87/ C 178/04), in: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, Reihe C, vom 7.7.1987. 109 Übereinkommen Nr. 171, vgl. Internationale Arbeitsorganisation (Hrsg.), Übereinkommen und Empfehlungen 1919-1991, Band II (1967-1991), Genf 1993, S. 1980-1984. 110 Die Regelungen der Arbeitsbedingungen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft, Band 1, in: Soziales Europa, Beiheft 4/1992, S. 43-46. 111 In Österreich, das 1995 der Europäischen Union beitrat, gilt eine Übergangsfrist bis 2001. 112 Vgl. Hildegard Demmer/ Bettina Küpper/ Edelgard Kutzner, Frauenarbeitsschutz: Gesundheits- schutz oder Ideologie?, in: Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis 6 (1983), S. 24-31; vgl. Christiane Gibiec, Lüge vom Arbeitsschutz entlarvt!, in: Emma. Zeitschrift für Frauen von Frauen 10 (1987), Nr. 2, S. 68 (anlässlich einer Rezension von: Dagmar Müller, Der Frauenarbeitsschutz in der Bundesrepublik Deutschland, Wuppertal 1986). 113 Vgl. Marliese Dobberthien, Schutz der oder Schutz vor weiblicher Arbeitskraft? Der Frauenar- beitsschutz, in: WSI-Mitteilungen 34 (1981), S. 233-242; Herta Däubler-Gmelin, Frauenarbeits- schutzvorschriften - Rechtlicher Schutz oder (ungewollte) Diskriminierung?, in: Ulrich Battis/ Ul- rike Schulz (Hrsg.), Frauen im Recht, Heidelberg 1990, S. 163-179; vgl. Ulrike Peretzki-Leid, Ist Frauenarbeitsschutz noch zeitgemäß? Die Alibifunktion muß umfassendem betrieblichem Ge- sundheitsschutz weichen, in: Soziale Sicherheit 40 (1991), S. 164-169; vgl. Bettina Küpper/ Bri- gitte Stolz-Willig, Frauenarbeitsschutz - noch zeitgemäß in einem vereinten Deutschland?, in: WSI-Mitteilungen 44 (1991), S. 555-565; Für die Niederlande vgl. Anja Meulenbelt, Die Wahl zwischen Regen und Traufe. Nachtschicht-Probleme, in: dies., Feminismus. Aufsätze zur Frauen- befreiung, München 1982, S. 133-150; vgl. Barbara Nemitz/ Gabriele Runge/ Sieglinde von Wa- sielewski, Die arbeitsschutzbedürftige Frau. Recht, Medizin und Politik des Frauenarbeitsschutzes, in: Das Argument, Bd. 147, 1984, S. 699-718. zeitrechts Gesetzesvorhaben, die zunächst (1984) eine Einschränkung des Frauennachtar- beitsverbots, später (1991) dann sogar dessen völlige Abschaffung beinhalteten.114 Das deutsche Frauennachtarbeitsverbot ist dann jedoch nicht über die Mehrheitsverhält- nisse im Bundestag gefallen, sondern durch höchstrichterliche Entscheidungen des Euro- päischen Gerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts in den Jahren 1991 und 1992.115 1991 hatte sich der Europäische Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfah- rens mit der Frage zu befassen, ob das in Frankreich nach Artikel L 213-1 des „Code du travail“ bestehende, durch Ausnahmeregelungen abgeschwächte Nachtarbeitsverbot im Hinblick auf die Richtlinie des Rates vom 9. Februar 1976 zur „Verwirklichung des Grund- satzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zuganges zur Be- schäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Ar- beitsbedingungen“ (RL 76/207/EWG)) zulässig sei.116 Ziel dieser Richtlinie ist, dass die Gesetzgebungen der Einzelstaaten Frauen und Männern unter anderem hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung und der Arbeitsbedingungen gleich behandeln. Widersprechen- de einzelstaatliche Bestimmungen – so die Richtlinie ausdrücklich – müssen beseitigt wer- den. Die französische und die italienische Regierung machten – noch ganz im Sinn des „Schutzgedankens“ – im Verfahren geltend, das bestehende Nachtarbeitsverbot entspreche der allgemeinen Zielsetzung, die weiblichen Arbeitskräfte zu schützen. Es [S. 211] entspre- che den besonderen sozialen Erwägungen, die beispielsweise mit der Gefahr von Überfäl- len und mit der höheren Arbeitsbelastung von Frauen innerhalb der Familie zusammenhin- gen. Doch zur Gefahr der Überfälle (gemeint waren wohl sexuelle Angriffe auf dem nächtli- chen Weg von und zum Arbeitsplatz) erklärte der Europäische Gerichtshof in der Entschei- dung vom 25. Juli 1991 nur lapidar, man könne dieser Gefahr „durch geeignete Maßnah- men“ begegnen, ohne den Grundsatz der Gleichbehandlung zu gefährden. 114 Vgl. Susanne Schunter-Kleemann, Frauenbefreiung à la Blüm. Neue Gesetzesvorhaben aus Bonn und ihre Folgen, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 29 (1984), S. 1101-1113; vgl. Thomas Blanke/ Helga Diederich, Das Ende des Nachtarbeitsverbots, in: Arbeit und Recht 40 (1992), S. 166 f. 115 Vgl. Sibylle Raasch, Gleichstellung der Geschlechter oder Nachtarbeitsverbot für Frauen?, in: Kritische Justiz 25 (1992), S. 427-436; vgl. Monika Ende, Soziale Schutzgebote im Europäischen Arbeitsrecht - anhand der Beispiele geschlechtsneutraler Schutzvorschriften bei der Nachtarbeit und Gleichstellung von Mann und Frau im Arbeitsleben, 2. Auflage, Aachen 1998. 116 Richtlinie des Rates vom 9. Februar 1976 (76/207/EWG), in: Amtsblatt der Europäischen Ge- meinschaften Nr. L 39/40 vom 14.2.1976; Abdruck des Urteils: Europäische Grundrechtezeit- schrift 18 (1991), S. 421-423; vgl. Martina Csillag/ Julia Eichinger, 1992, S. 17-24; Zur Gleich- stellung vom Mann und Frau im europäischen Recht vgl. Thomas Oppermann, Europarecht, 2. Auflage, München 1999, S. 710-714. Zu den Familienpflichten erklärte das Gericht, die europäische Gleichbehandlungsricht- linie für das Arbeitsleben habe nicht die Aufgabe, „die internen Verhältnisse der Familie zu regeln oder die Aufgabenteilung zwischen den Eltern zu ändern“. Das Frauennachtarbeits- verbot des französischen Arbeitsrechts sei daher unvereinbar mit dem Gleichheitsgrundsatz und müsse aufgehoben werden. Der Gerichtshof stellte fest, dass die Gefährdung der Frau- en durch Nachtarbeit sich nicht grundsätzlich von der Gefährdung der Männer unterscheide und verneinte die Notwendigkeit frauenspezifischer Schutzmaßnahmen. Das Frauennacht- arbeitsverbot diskriminiere vielmehr Frauen hinsichtlich ihrer Erwerbsmöglichkeiten. Der Schutzgedanke, aus dem heraus das Verbot der Frauennachtarbeit ursprünglich entstanden war, sei nicht mehr begründet. Kurze Zeit nach diesem Urteil des Europäischen Gerichtshofs entschied das deutsche Bundesverfassungsgericht über die Vereinbarkeit des Nachtarbeitsverbots für Arbeiterinnen mit dem in Artikel 3 des Grundgesetzes verankerten Gleichheitsgrundsatz. Anlass waren mehrere bereits recht lange anhängige Verfahren. Es handelte sich um zwei Normenkon- trollverfahren und eine Verfassungsbeschwerde. Die Normenkontrollverfahren wurden mit Hinweis auf die vorangegangene Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs nicht zur Entscheidung angenommen, so dass nur über die Verfassungsbeschwerde entschieden wur- de. Da nationales Recht geändert werden muss, wenn es einer EG-Richtlinie widerspricht, blieb dem Bundesverfassungsgericht nach der eindeutigen Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs nicht viel Spielraum. In der Sache folgte das Bundesverfassungsgericht dem Europäischen Gerichtshof vollständig. Die Urteilsbegründung des Bundesverfassungsge- richts vom 28. Januar 1992117 unterschied sich von dem Urteil des Europäischen Gerichts- hofs in zwei Punkten: 1. Das Bundesverfassungsgericht erklärte das Nachtarbeitsverbot gewerblicher Arbeite- rinnen der deutschen Arbeitszeitordnung schon allein wegen der Ungleichbehandlung von Arbeiterinnen und weiblichen Angestellten für unvereinbar mit Artikel 3 des Grundgeset- zes. Das auf Arbeiterinnen beschränkte Verbot schloss Ende der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts mehr als 2,5 Millionen Arbeiterinnen von der Nachtarbeit aus, also nur etwa ein Viertel der abhängig beschäftigten erwerbstätigen Frauen. Nach der Mikrozensuserhe- bung des Jahres 1989 arbeiteten 478.000 [S. 212] von 6,2 Millionen weiblichen Angestell- ten und 29.000 von 511.000 Beamtinnen ständig, regelmäßig oder gelegentlich in der Nacht. Ein unterschiedliches Schutzbedürfnis von Arbeiterinnen und weiblichen Ange- 117 Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, 85. Band, Tübingen 1992, S. 191-214; vgl. Ninon Colneric, Konsequenzen der Nachtarbeitsverbotsurteile des EuGH und des BVerfG, in: Neue Zeit- schrift für Arbeits- und Sozialrecht 9 (1992), S. 393-399. stellten, das allein eine differenzierende Regelung der Nachtarbeit vor dem allgemeinen Gleichheitsgebot des Artikel 3 Abs. 1 Grundgesetz hätte rechtfertigen können, sei jedoch – so das Bundesverfassungsgericht – nicht zu erkennen. 2. Im Unterschied zum Urteil des Europäischen Gerichtshofs ging das Bundesverfas- sungsgericht in der Urteilsbegründung ausführlich auf die Frage der spezifischen gesund- heitlichen Belastungen der Nachtarbeiterinnen ein. Als Teilgebiet der Schichtarbeitsfor- schung sind die Auswirkungen von Nachtarbeit heute gut untersucht und in ihren Grund- aussagen unumstritten: Nachtarbeit ist schädlich, sie ist immer als pathologisches Ereignis anzusehen.118 Als Hauptursache gilt die Circadianperiodik der wesentlichen Körperfunktio- nen des Menschen. Fast alle Körperfunktionen des Menschen weisen eine tags auf „Lei- stung“, nachts auf „Erholung“ geschaltete Tagesperiodik auf. Die grundsätzliche Schäd- lichkeit der Nachtarbeit führe – so das Bundesverfassungsgericht – zu „Schlaflosigkeit, Appetitstörungen, Störungen des Magen-Darm-Traktes, erhöhter Nervosität und Reizbar- keit sowie zu einer Herabsetzung der Leistungsfähigkeit“. Zu entscheiden hatte das Bundesverfassungsgericht jedoch über die Frauennachtarbeit und deren spezifischen Folgen. So sicher sich die Arbeitsmedizin heute hinsichtlich der allgemeinen Schädlichkeit der Nachtarbeit ist, so wenig konnte sie bislang geschlechtsspe- zifische Belastungsunterschiede nachweisen.119 Der Arbeitsmediziner Joseph Rutenfranz120, der 1989 verstorbene Nestor der deutschen Schichtarbeitsforschung, kam in einem für das Bundesverfassungsgericht angefertigten Gutachten bereits 1987 zu dem Resümee, dass die internationale Schichtarbeitsforschung keine gesicherten arbeitsmedizinischen Erkenntnisse über eine erhöhte gesundheitliche Gefährdung von Frauen durch Nachtarbeit gewonnen 118 J. Carpentier/ P. Cazamian, Nachtarbeit. Ihre Auswirkungen auf Gesundheit und Wohlbefinden, Eschborn 1981 (zuerst: Night Work. Its Effects on the Health and Welfare of the Worker, Geneve 1977); Th. Hettinger, Nachtarbeit - Stand der arbeitsmedizinischen Forschung, in: Schriftenreihe Arbeitssicherheit der IG Metall 24 (1987), S. 203-235; Gine Elsner, Risiko Nachtarbeit, Bonn 1992; H. Hahn, Nacht- und Schichtarbeit I. Gesundheitliche Auswirkungen. Soziale Auswirkun- gen. Berufsverlauf, 5. Auflage, Dortmund 1992; H. Hahn, Nacht- und Schichtarbeit II. Belastun- gen durch Wechselschicht. Ökonomische Probleme der Schichtarbeit. Wichtige Rechtsvorschrif- ten für Nacht- und Schichtarbeit, Dortmund 1988; Joseph Rutenfranz/ Peter Knauth, Schichtarbeit und Nachtarbeit, 3. Auflage, München 1989. 119 Grundlegend: Josef Rutenfranz/ Beate Beermann/ Ingeborg Löwenthal, Nachtarbeit für Frauen, Stuttgart 1987; vgl. J. Carpentier/ P. Cazamian, 1981, S. 58-61; Regine Rohman, Frauen und Schichtarbeit, in: Frauenforschung 1 (1983), Nr. 3/4, S. 58-71; vgl. den Tagesordnungspunkt 1 „Women and Nightwork“ des internationalen Symposiums über Nacht- und Schichtarbeit in Ve- rona 1989 in: Giovanni Costa/ Giancarlo Cesana/ Kazutaka Kogi/ Alexander Wedderburn (Eds.), Shiftwork: Health, Sleep and Performance, Frankfurt/M. 1990, S. 39-164; Beate Beermann/ Fried- helm Nachreiner, Zur Frage differenzieller Effekte von Nacht- und Schichtarbeit bei Frauen und Männern, in: Zeitschrift für Arbeitswissenschaft 46 (18 NF), 1992, S. 199-207. 120 Dr. Dr. Joseph Rutenfranz (1928-1989), 1968 Professor für Arbeitsmedizin in Gießen, ab 1972 Direktor des Instituts für Arbeitsphysiologie an der Universität Dortmund. habe.121 Mit hoher Wahrscheinlichkeit beträfen die negativen Auswirkungen der Nachtar- beit [S. 213] Männer wie Frauen gleichermaßen in „bemerkenswerter Rigidität“. Allerdings gäbe es einen „begründeten Verdacht“, dass Nachtarbeiterinnen kürzere Schlafzeiten als Männer hätten, insbesondere wenn kleine Kinder zu versorgen seien.122 Geschlechtsspezifische Unterschiede der Auswirkung von Nachtarbeit vermitteln sich damit über Wirkungszusammenhänge, die außerhalb des Arbeitskontextes zu suchen sind. Wenn Frauen durch Nachtarbeit stärker belastet sind als Männer, ergebe sich dies nicht aus einer besonderen biologischen Konstitution, sondern aus einer zusätzlichen außerberufli- chen Belastung durch Kinderbetreuung und Hausarbeit. Auf diese Feststellung – so das Bundesverfassungsgericht – könne jedoch ein für alle Arbeiterinnen geltendes Nachtar- beitsverbot nicht gestützt werden, denn die zusätzliche Belastung sei kein hinreichend ge- schlechtsspezifisches Merkmal.123 Das Bundesverfassungsgericht schloss sich dem Stand der arbeitsmedizinischen For- schung vorbehaltlos an: „Nachtarbeit ist grundsätzlich für jeden Menschen schädlich“. Diese Position teilten im übrigen alle vom Bundesverfassungsgericht angehörten Organisa- tionen. Weder Arbeitgeberverbände, noch Gewerkschaften oder Frauenorganisationen wollten das Nachtarbeitsverbot in der bestehenden geschlechtsspezifischen Form auf- rechterhalten. 1956 hatte das Bundesverfassungsgericht eine Verfassungsbeschwerde verworfen, in der geltend gemacht worden war, das auf Arbeiterinnen beschränkte Nachtarbeitsverbot be- nachteilige Männer gegenüber Frauen und verstoße deshalb gegen den Gleichheitsgrund- satz von Artikel 3 Abs. 2 und 3 des Grundgesetzes. Das Bundesverfassungsgericht stellte damals fest, „objektive biologische oder funktionale Unterschiede von Mann und Frau nach der Natur des jeweiligen Lebensverhältnisses“ könnten besondere rechtliche Regelungen erlauben oder notwendig machen. Das Nachtarbeitsverbot sei eine Regelung, „die der bio- logischen Besonderheit der Frau im Rahmen ihres Arbeitsverhältnisses schützend Rech- 121 Josef Rutenfranz/ Beate Beermann/ Ingeborg Löwenthal, 1987, S. 55. 122 Josef Rutenfranz/ Beate Beermann/ Ingeborg Löwenthal, 1987, S. 56; vgl. auch Gine Elsner, 1992, S. 97; vgl. Verena Peykan, Zur Situation von Nachtschichtarbeiterinnen - eine empirische Unter- suchung, Bremen 1991, S. 63; vgl. Andreas Tautz, Frauen in Schicht- und Nachtarbeit. Eine Un- tersuchung zu einer möglichen höheren Empfindsamkeit der Frau gegenüber durch Schicht- und Nachtarbeit ausgelöster Schäden, unter besonderer Berücksichtigung des weiblichen Schlaf- und Gesundheitsverhaltens, Med. Diss. Düsseldorf 1997. 123 Nach der Rechtsprechung des BVG kann „Doppelbelastung“ allein kein Grund für geschlechts- spezifische Regelungen im Arbeitsrecht sein (Entscheidung des BVG zur Verfassungswidrigkeit von Hausarbeitstagen vom 13.11.1979, Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 52. Band, Tübingen 1980, S. 369). nung trägt“.124 Vom Begründungszusammenhang „biologische Besonderheiten der Frau“ ist das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung des Jahres 1992 ganz abgerückt. Das Bundesverfassungsgericht forderte den Gesetzgeber auf, geschlechtsneutrale Schutzbe- stimmungen zur Nachtarbeit zu erlassen. Handlungsbedarf für den Gesetzgeber war jedoch bereits unabhängig von der Rechtspre- chung des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts entstanden. Seit dem Beitritt der fünf östlichen Bundesländer galt hinsichtlich der Frauennachtarbeit in den alten und neuen Bundesländern unterschiedliches Recht. [S. 214] In der DDR war die Frau- ennachtarbeit nicht verboten gewesen. Nachtschichtarbeiter erhielten einen Lohnzuschlag, ihre Wochenarbeitszeit war etwas kürzer und sie erhielten Zusatzurlaub. Der Einigungsver- trag nahm die von der Bundesregierung ohnehin auch für die alte Bundesrepublik geplante Aufhebung des Frauennachtarbeitsverbots vorweg, indem in den neuen Bundesländern das Nachtarbeitsverbot nicht eingeführt wurde. § 19 Arbeitszeitordnung war nach Artikel 8 in Verbindung mit I Kapitel VIII Sachgebiet C Abschnitt III Nr. 7 b des Einigungsvertags vom 31. August 1990125 und des Einigungsvertragsgesetzes vom 23. September 1990126 in den neuen Bundesländern nicht anzuwenden. Das Arbeitszeitgesetz vom 6. Juni 1994 beseitigte diesen ungleichen Zustand. Gleich- zeitig kam der Gesetzgeber dem Auftrag des Bundesverfassungsgerichts nach, das nur für Arbeiterinnen geltende Nachtarbeitsverbot abzuschaffen.127 Bei der Neuregelung des Ar- beitszeitrechts wurde das Nachtarbeitsverbot für Arbeiterinnen gestrichen, weder für Frau- en noch für Männer existierten nunmehr grundsätzliche Einschränkungen der Nacht- und Schichtarbeit. Als „Nacht“ gilt im Arbeitszeitgesetz ohnehin nur noch der Zeitraum zwi- schen 23.00 Uhr und 6.00 Uhr. Nachtarbeiter sind berechtigt, sich vor Beginn der Beschäf- tigung und danach in regelmäßigen Abständen arbeitsmedizinisch untersuchen zu lassen. Außerdem können sich Nachtarbeitnehmer – solange nicht dringende betriebliche Erforder- nisse entgegenstehen – auf Tagesarbeitsplätze umsetzen lassen, wenn ihre Gesundheit ge- fährdet ist oder ein Kind unter zwölf Jahren bzw. ein schwerpflegebedürftiger Angehöriger zu versorgen ist. Vorstellungen der Partei DIE GRÜNEN, die Nachtarbeit für Männer und Frauen verbieten wollte, und der SPD, die für Nachtarbeiter eine sechsstündige Höchstar- 124 Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 5. Band, Tübingen 1956, S. 9 ff. 125 BGBl II, S. 889, S. 1031. 126 BGBl II, S. 885. 127 BGBl I, S. 1171. beitszeit mit Lohnausgleich, verlängerten Ruhepausen und zusätzlichen arbeitsfreien Tagen einführen wollte, hatten sich nicht durchsetzen können.128 IX. Grundlage der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (und damit auch des Bun- desverfassungsgerichts) war die Gleichbehandlungsrichtlinie der Europäischen Gemein- schaft aus dem Jahr 1976. Diese wirkungsmächtige Richtlinie, die auch Grundlage der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zu „Frauen in der Bundeswehr“ im Januar 2000 war, begünstigte nachhaltig die Verlagerung der internationalen Debatte zur Frauen- arbeit vom Schutzgedanken auf das Prinzip Chancengleichheit. [S. 215] Nach der verfassungsmäßigen Gleichstellung der Frauen, der Ausstattung der Arbeiterinnen mit Wahl- und Koalitionsrechten und der Beseitigung diskriminierender Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs, verlor der besondere, aus dem 19. Jahrhun- dert stammende Frauenarbeitsschutz seine Existenzberechtigung, der ja häufig mit der besonderen Wehrlosigkeit der rechtlosen bzw. unorganisierten Arbeiterin begründet worden war. Oder anders ausgedrückt: Der bereits im Kaiserreich von Frauenrechtlerinnen formu- lierte Standpunkt, dass der besondere Frauenarbeitsschutz gegen Frauengleichheit gerichtet sei, konnte erst nach der verfassungsrechtlichen Durchsetzung der Chancengleichheit ge- staltende Kraft gegen als diskriminierend empfundene Frauenschutzbestimmungen erlan- gen. Mit der rechtlichen Gleichstellung der Frau wurde das auf Frauen beschränkte Nacht- arbeitsverbot zu einem Relikt vergangener Zeiten, das immer weniger als Schutzmaßnah- me, sondern zunehmend als Diskriminierungsfaktor begriffen werden musste. Das Nachtarbeitsverbot implizierte eine Erhaltung bzw. Verstärkung der Rollenzuwei- sung von Arbeiterinnen. Das Verbot der Frauennachtarbeit war Teil des umfassenden Pro- zesses, nach Kindern und Jugendlichen auch Frauen als schutzwürdige Arbeiterkategorie zu definieren. Alfred Weber hat diesen „vormundschaftlichen Arbeiterschutz“ 1897 folgen- dermaßen umrissen: „Wer sich im Kampf um die Arbeitsbedingungen nicht selbst zu schüt- zen vermag, den hat der Staat zu schützen. Und wie er daher in erster Linie einen vormund- schaftlichen Arbeiterschutz für Kinder und jugendliche Arbeiter zu übernehmen und die Gesetzgebung hier möglichst weit auszubilden hat, so darf er sich auch den Frauen gegen- 128 Vgl. den Entwurf eines Arbeitszeitgesetzes der Fraktion DIE GRÜNEN vom 13.11.1987 (Sten. Ber. Deutscher Bundestag, 11. Wahlperiode, Drucksache 11/1188); vgl. Ulla Schmidt/ Heide Pfarr, Für eine humane Gestaltung der Nachtarbeit für Frauen und Männer, Bonn 1992; vgl. den Entwurf eines Arbeitszeitgesetzes der SPD-Fraktion vom 28.6.1993 (Sten. Ber. Deutscher Bun- destag, 12. Wahlperiode, Drucksache 12/5282); vgl. die zu Protokoll gegebenen Reden der ersten Lesung des Entwurfs eines Arbeitszeitgesetzes (Sten. Ber. Deutscher Bundestag, 12. Wahlperiode, S. 15897-15905). über dieser Pflicht nicht entziehen. Gesundheit und Sittlichkeit gerade der Frauen bedürfen vielmehr im Interesse der Nation eines besonderen Schutzes.“129 Auf die Dauer hat sich die 1878 begonnene und 1891 ausgeweitete geschlechts- spezifische Differenzierung der Arbeitsgesetzgebung jedoch nicht durchgesetzt (mit Aus- nahme der Bestimmungen im stetig verbesserten Mutterschutz). Bei den täglichen Arbeits- zeiten egalisierten für Männer wie Frauen gleichermaßen geltende tarifliche Arbeitszeitre- gelungen bereits in der Weimarer Republik die Unterschiede der gesetzlich zugelassenen Maximalarbeitszeiten. Auch die Bestimmung über die verkürzte Samstagsarbeit wurde im Zug der allgemeinen Arbeitszeitverkürzungen bedeutungslos.130 Das Nachtarbeitsverbot für Arbeiterinnen fiel schließlich durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1992. Das deutsche Arbeitszeitgesetz vom 6. Juni 1994 unterscheidet nun nicht mehr zwischen Frauen und Männern. [S. 216] Literatur: Arbeiterinnenschutz und Frauenrechtelei, in: Die Gleichheit. 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