aus: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 89 (2002), S. 400-426. Wolfgang Ayaß Bismarck und der Arbeiterschutz. Otto von Bismarcks Ablehnung des gesetzlichen Arbeiterschutzes – eine Analyse der Dimensionen und Hintergründe Abstract The eighteen-eighties under Chancellor Otto von Bismarck saw the establishment of statutory workers‘ insurance in Germany. Germany remained backwards, however, in the statutory protection of workers at their workplace, the prevention of dangers arising from industrial work, and the limitation of hours of work for children, young persons, women or even workers in general. The protection of young workers, for example, remained until 1891 as it had been in 1853. That was due to the fundamental refusal of all improvments in matters of regulations for the protection of workers on the part of Bismarck, who blocked all relevant initiatives. Along with other sources this article draws on previously rarely used marginalia of Bismarck’s in ministerial documents on factory inspection, children’s and women’s labour, the prohibition of Sunday work, and the introduction of a standard working day. The investigation deals with the Chancellor’s motives and the arguments deployed in his prevention of measures of workers‘ protection, which he called an infringement of workers‘ freedom of action. I. Gesetzliche Regelungen zur Arbeitszeit von Arbeiterinnen und Arbeitern seien „Arbeiterzwang“, schrieb Otto von Bismarck in seiner Autobiografie „Erinnerung und Gedanke“: „Es widerstrebte meiner Überzeugung und Erfahrung, in die Unabhängigkeit des Arbeiters, in sein Erwerbsleben und in seine Rechte als Familienoberhaupt so tief einzugreifen wie durch ein gesetzliches Verbot, seine und der Seinigen Arbeitskräfte nach eigenem Ermessen zu verwerten.“1 Solche gesetzlichen Arbeitszeitregelungen nannte die politische Öffentlichkeit damals jedoch nicht „Arbeiterzwang“, sondern im Gegenteil „Arbeiterschutz“. Unter diesem Begriff, der in den 1880er Jahren allmählich den engeren Begriff „Fabrikgesetzgebung“ ablöste, verstand man vor allem die gesetzliche Begrenzung der Arbeitszeit in einem sogenannten „Normalarbeitstag“ bzw. – synonym verwendet – „Maximalarbeitstag“ für erwachsene Arbeiter und weitergehende Bestimmungen im Hinblick auf die Begrenzung der Arbeit von Kindern, Jugendlichen und Frauen. Administrative und [S. 401] gesetzliche Normen wie Einschränkung oder Verbot der Kinderarbeit, Verbot der Nachtarbeit von Frauen und Jugendlichen, Verbot der Sonntagsarbeit und Wöchnerinnenschutz, das alles subsumierte man unter „Arbeiterschutz“. Mit diesem Begriff (im 20. Jahrhundert wurde daraus nach der Einbeziehung von Angestellten und Beamten „Arbeitsschutz“) wurde aber auch zunehmend der Schutz vor den spezifischen Gefahren der rasch zunehmenden Fabrikarbeit gekennzeichnet: Verhüten von Arbeitsunfällen und Arbeiterkrankheiten, also Schutz durch angemessene Kleidung, genügende Beleuchtung oder Schutzvorrichtungen an Maschinen und Vorbeugung gegenüber eher langfristig wirkenden Beeinträchtigungen der Gesundheit etwa durch Staub, mangelnde Lüftung oder giftige Substanzen, während dagegen Schädigungen durch Lärm erst recht spät thematisiert wurden. Als „Arbeiterschutz“ wurden staatliche Maßregeln bezeichnet, die abhängig beschäftigte Arbeiter vor Schädigungen schützen sollten, denen sie in einem gewerblichen Arbeitsver- hältnis ausgesetzt waren. Diese Maßregeln durchbrachen das Prinzip der Vertragsfreiheit. „Arbeiterschutz“ ging von einem ungleichen Kräfteverhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern aus und sprach letzteren durch staatlichen Eingriff besonderen Schutz zu.2 Vertragsfreiheit gewerblicher Arbeiter wie auch einige rudimentäre Schutzbestimmun- gen waren in der Gewerbeordnung geregelt. Die Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund vom 21. Juni 18693, die dann 1871 als Reichsgewerbeordnung übernommen wurde, enthielt in ihrem VII. Titel insbesondere die aus preußischem Recht übernommenen Jugendarbeitsschutzbestimmungen. Diese – in dieser Form seit 1853 geltenden – Regelun- 1 Otto von Bismarck, Die Gesammelten Werke, 15 Bde., Berlin 1924-1935, hier: Bd. 15, Erinnerung und Gedanke, hg. v. Gerhard Ritter/Rudolf Stadelmann, Berlin 1932, S. 489. 2 Zum zeitgenössischen Diskussionsstand vgl. Lujo Brentano, Zur Reform der deutschen Fabrikgesetzgebung, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 19 (1872), S. 168-212; Max Quarck, Die Arbeiterschutzgesetzgebung im Deutschen Reiche, Stuttgart 1886; Arbeiterschutzgesetzgebung, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 1, Jena 1890, S. 400-499; Kuno Frankenstein, Der Arbeiterschutz. Seine Theorie und Politik, Leipzig 1896. 3 Bundesgesetzblatt für den Norddeutschen Bund, 1869, S. 245. gen verboten die regelmäßige Fabrikarbeit für Kinder unter zwölf Jahren, begrenzten die Arbeitszeit der 12- bis 14-Jährigen auf sechs Stunden und die der 14- bis 16-jährigen „jungen Leute“ auf zehn Stunden täglich. Nacht- und Sonntagsarbeit waren für Kinder und Jugendliche verboten. Für über 16-jährige Arbeiterinnen und Arbeiter enthielt die Gewerbeordnung keinerlei Arbeitszeitbegrenzungen. Vergleichsweise allgemein gehalten waren die Bestimmungen der Gewerbeordnung zum Schutz der Arbeiter vor den Gefahren für Leben und Gesundheit. Erste Ansätze zu einer gesetzlichen Regelung des Schutzes vor den spezifischen Gefahren der Arbeitswelt sind in Preußen bereits im Jahr 1845 zu finden. Die Allgemeine Gewerbeordnung legte in § 136 fest, dass die Arbeitgeber „gebührende Rücksichtnahme auf Gesundheit und Sittlichkeit der Gesellen, Gehilfen und Lehrlinge“ zu nehmen hätten.4 Bei dieser sehr allgemeinen Klausel blieb es zunächst; es gab weder Konkretisierungen noch spezielle Aufsichtsorgane. Gewerbe- bzw. Fabrikaufsicht war zunächst Aufgabe der örtlichen Polizei. Das preußische „Gesetz über die Polizeiverwaltung“ vom 11. März 18505 nannte als Gegen- stand ortspolizeilicher Vorschriften u.a. die „Sorge für Leben und Gesund-[S. 402]heit“ der Bevölkerung. Unter Hinweis auf dieses Gesetz, in dem die „Sorge für Leben und Gesundheit“ (allgemein und nicht nur in Fabriken) als Aufgabe der Ortspolizei festgelegt war, konnten einzelne Bürgermeister und Bezirksregierungen zum Schutz vor arbeits- bedingten Gefahren Verordnungen erlassen, die an bekannte konkrete Gefährdungen durch spezifische Produktionen anknüpften.6 Zum Schutz der Arbeiter vor den unmittelbaren Gefahren der Produktionstätigkeit ent- hielt § 107 der Gewerbeordnung die interessante Generalklausel, dass ein Gewerbeunter- nehmer alle Einrichtungen zu unterhalten habe, „welche mit Rücksicht auf die besondere Beschaffenheit des Gewerbebetriebs und der Betriebsstätte zu tunlichster Sicherung der Arbeiter gegen Gefahren für Leben und Gesundheit notwendig sind“. Dies galt im Gegen- satz zu den Jugendarbeitsschutzbestimmungen im gesamten Gewerbe, nicht nur in Fabriken.7 4 PrGS, 1845, S. 41. 5 PrGS, 1850, S. 265. 6 Vgl. Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, I. Abteilung: Von der Reichsgründungszeit bis zur kaiserlichen Sozialbotschaft (1867-1881), Bd. 3: Arbeiterschutz, bearbeitet von Wolfgang Ayaß, Stuttgart/Jena/New York 1996, Nr. 5, Nr. 12, Nr. 66. (im Folgenden abgekürzt „Quellensammlung GDS I. Abt. Bd. 3“). 7 Diese Gefahrenschutzbestimmung der Gewerbeordnung ging auf das sächsische Gewerbegesetz vom 15. Oktober 1861 zurück (Gesetz- und Verordnungsblatt für das Königreich Sachsen, 1861, S. 187). § 75 lautete: „Jeder Gewerbsunternehmer ist verbunden, auf seine Kosten alle diejenigen Einrichtungen herzustellen und zu unterhalten, welche mit Rücksicht auf die besondere Die zur Zeit der Reichsgründung vorhandenen gesetzlichen Schutzbestimmungen zugunsten der gewerblichen Arbeiter waren somit recht begrenzt, jedoch war ein durchaus ausbaufähiger Anfang staatlicher Intervention auf diesem Gebiet gemacht. Das grund- sätzliche Recht des Staats zur Kontrolle der Industrie im Allgemeinen und zum Festsetzen von Schutzvorkehrungen im Besonderen war durch die Gewerbeordnung anerkannt. Gleichzeitig war die Notwendigkeit der präventiven „Sicherung gegen Gefahren für Leben und Gesundheit“ in allgemeiner Form festgelegt. In den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurde in Deutschland unter Bismarck mit dem Krankenversicherungsgesetz von 1883, dem Unfallversicherungsgesetz von 1884 und dem Alters- und Invaliditätsversicherungsgesetz von 1889 die gesetzliche Arbeiterver- sicherung aufgebaut. Bei der versicherungsförmigen Versorgung kranker, verunglückter oder aus Altersgründen arbeitsunfähig gewordener Arbeiter war Deutschland im europäischen Vergleich am Ende der Kanzlerschaft Bismarcks Pionierland.8 Beim Schutz der Arbeiter in ihren Arbeitsverhältnissen bzw. an ihren Arbeitsplätzen dagegen, also bei der Verhütung bzw. Eindämmung der von industrieller Arbeit ausgehenden Gefahren und der Begrenzung der Arbeitszeit von Kindern, jugendlichen Arbeitern, Arbeiterinnen oder sogar aller Arbeiter, war Deutschland während der Bismarckzeit jedoch eher zurück- geblieben, insbesondere gegenüber den Nachbarländern Schweiz und Österreich. Für die Absicherung der typischen Risiken der Arbeiterexistenz war in Deutschland unverkennbar besser gesorgt als für die Minderung oder gar Vermeidung der Risiken in ihrem betrieb- lichen Entstehungszusammenhang. Insgesamt ist ausgerechnet in den Jahren der Industria- lisierung Deutschlands ein bemerkenswerter jahrzehntelanger Stillstand in fast allen Be- reichen des gesetzlichen Arbeiterschutzes festzustellen. Im Wesentlichen galten beim Abgang Bismarcks im Jahr 1890 noch dieselben Bestimmungen, die dieser 28 Jahre zuvor bei seinem Regierungsantritt als preußischer Ministerpräsi-[S. 403]dent vorgefunden hatte. Dieser Stillstand ist Otto von Bismarck selbst zuzuschreiben, der den Ausbau des gesetzlichen Arbeiterschutzes in allen seinen Varianten verhinderte. Bismarcks Ablehnung des Arbeiterschutzes war seit seiner einschlägigen Reichstagsrede vom 9. Januar 1882 allgemein bekannt. In dieser Rede hatte sich der Reichskanzler vehement gegen allgemeine Arbeitszeitverkürzungen ausgesprochen.9 Seine Abneigung Beschaffenheit des Gewerbebetriebs und der Lokalitäten zu tunlichster Sicherung der Arbeiter gegen Gefahren für Gesundheit und Leben erforderlich sind.“ 8 Vgl. Gerhard A. Ritter, Bismarck und die Entstehung der deutschen Sozialversicherung (= Pforzheimer Hefte 8), Pforzheim 1998, S. 16. 9 Bismarck äußerte sich im Reichstag in drei Debatten ausführlich zu Arbeiterschutzfragen: am 9.1.1882 in einer Antwort auf eine Interpellation des Zentrumsabgeordneten Georg Freiherr von gegen Arbeitsschutzbestimmungen lässt sich jedoch schon Jahre zuvor nachweisen. Mündliche Äußerungen gegen das Verbot der Sonntagsarbeit (dem von Bismarck per- horreszierten „englischen Sonntag“) sind schon aus der Zeit des deutsch-französischen Kriegs überliefert. Schriftliche Äußerungen Bismarcks gegen den Ausbau der Fabrik- inspektion und die Einschränkung der Frauenarbeit lassen sich in Regierungsakten seit dem Sommer 1876 nachweisen. Seit dieser Zeit widersetzte sich Bismarck aktiv dem Ausbau des Arbeiterschutzes, gegen vielfache Vorstöße aus den Reihen seiner eigenen Ministerial- bürokratie, gegen zum Teil einstimmige Reichstagsbeschlüsse, gegen die politische und wissenschaftliche Öffentlichkeit. Noch in seinen Memoiren war sein Kampf gegen den angeblichen „Arbeiterzwang“ ein großes Thema. Aber warum war Bismarck überhaupt gegen den gesetzlichen Arbeiterschutz? Die Ver- besserung der Lage der Arbeiter war doch – aus welchen Gründen und mit welchen Hintergedanken auch immer – ein großes Anliegen des Reichsgründers. Immerhin umging Bismarcks Arbeiterpolitik mit der Ablehnung des gesetzlichen Arbeiterschutzes ziemlich genau den Bereich, der für die Arbeiterbewegung gleich welcher Couleur erklärtermaßen ein Hauptanliegen war. So gesehen fehlte der oft als „Zuckerbrot“ apostrophierten Bismarckschen Arbeitergesetzgebung ausgerechnet diejenige Komponente, die am ehesten für eine aussöhnende Politik geeignet erscheinen konnte. Für die sozialdemokratische Arbeiterbewegung hätte das „Zuckerbrot“ in allgemeinen Arbeitszeitverkürzungen be- standen und gerade nicht in der von den Sozialdemokraten bis 1911 weitgehend abge- lehnten staatlichen Zwangs-Sozialversicherung. Bismarcks eigensinniger und oft illoyaler Mitarbeiter Theodor Lohmann10 hat dies bereits 1886 scharfsinnig gesehen: „Alle öffent- lichen Kundgebungen, welche aus Arbeiterkreisen vorliegen, lassen wenigstens erkennen, dass die sogenannte Arbeiterschutzgesetzgebung das vornehmste Desiderium aller der- jenigen Arbeiter ist, welche überhaupt am öffentlichen Leben teilnehmen und für die Hertling (Sten. Ber. RT 5. LP I. Session 1881/1882, S. 484-489), am 15.1.1885 (Sten. Ber. RT 6. LP I. Session 1884/1885, S. 630-632) und schließlich mit fünf Debattenbeiträgen am 9.5.1885 (Sten. Ber. RT 6. LP I. Session 1884/1885, S. 2675-2677, S. 2680 f., S. 2683-2685, S. 2688 f., S. 2692). 10 Theodor Lohmann (1831-1905) war seit 1871 Regierungsrat im preußischen Handelsministerium. Lohmann blieb trotz des im Oktober 1883 aufgrund unüberbrückbarer Differenzen bei der geplanten Unfallversicherung erfolgten Bruchs mit Bismarck der für Arbeiterschutzfragen zuständige Referent sowohl im preußischen Handelsministerium als auch ab 1881 gleichzeitig im Reichsamt des Innern. Zu Lohmann vgl. (mit weiteren Nachweisen) Florian Tennstedt, Sozialreform als Mission. Anmerkungen zum politischen Handeln Theodor Lohmanns, in: Jürgen Kocka/Hans-Jürgen Puhle/Klaus Tenfelde (Hg.), Von der Arbeiterbewegung zum modernen Sozialstaat, München 1994, S. 538-559; Renate Zitt, Zwischen Innerer Mission und staatlicher Sozialpolitik. Der protestantische Sozialreformer Theodor Lohmann (1831-1905), Heidelberg 1997. politische Haltung der Arbeiterbevölkerung in Betracht kommen. Von den Führern der Arbeiterbewegung – und zwar nicht bloß von den sozialdemokratischen – wird auf die Befriedigung der Forderungen der Arbeiterschutzgesetzgebung ein ungleich größeres Gewicht gelegt als auf die Arbeiterversicherung. (...) Ohne ein Entgegenkom-[S. 404]men auf diesem Gebiet wird eine Versöhnung der Arbeiter mit der bestehenden Ordnung auch bei weiterem Ausbau der Versicherungsgesetzgebung schwerlich zu erhoffen sein.“11 Warum ein Entgegenkommen Bismarcks beim Arbeiterschutz im Sinne Lohmanns ver- söhnender Arbeiterpolitik unterblieb, soll im Folgenden untersucht werden, wobei die Aspekte des Arbeiterschutzes jeweils getrennt behandelt werden. Ein Hauptaugenmerk wird dabei auf die unmittelbaren Äußerungen Bismarcks gelegt. Bismarcks negative Stellung zum Arbeiterschutz war bereits zeitgenössisch bekannt und ist auch von der neueren Bismarckforschung vielfältig thematisiert worden.12 Sieht man von den Vorgängen im Zusammenhang der vergleichsweise gut erforschten Ent- lassungskrise ab,13 begrenzte sich die Quellenbasis für Bismarcks negative Position zum Arbeiterschutz bis in die jüngste Zeit hinein in erster Linie auf die einschlägigen Reichs- tagsreden des Reichskanzlers, seine Memoiren und insbesondere zwei bereits 1890 veröffentlichte innerministerielle Schreiben Bismarcks aus den Jahren 1877 und 1878.14 11 BArch R 1501 Nr. 106393, fol. 123 Rs. - 125; abgedruckt in: Quellensammlung GDS, II. Abt.: Von der kaiserlichen Sozialbotschaft bis zu den Februarerlassen Wilhelms II. (1881-1890), Bd. 3: Arbeiterschutz, bearb. v. Wolfgang Ayaß, Darmstadt 1998, Nr. 124, Anm. 20. 12 Vgl. u.a. Lothar Gall, Bismarck. Der weiße Revolutionär, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1980, S. 605; Ernst Engelberg, Bismarck. Das Reich in der Mitte Europas, Berlin 1990, S. 411-416; Wolfgang J. Mommsen, Das Ringen um den nationalen Staat. Die Gründung und der innere Ausbau des Deutschen Reiches unter Otto von Bismarck 1850 bis 1890, Frankfurt a.M./Berlin 1993, S. 633ff; unter Auswertung bis dahin unbekannter Quellen (insbesondere des Reichskanzleramts) Otto Pflanze, Bismarck. Der Reichskanzler, München 1998, S. 29-38 (zuerst engl. Bismarck and the Development of Germany, 3 Vol., Princeton 1990). 13 Zur Entlassung Bismarcks vgl. zuletzt John C.G. Röhl, Wilhelm II. Der Aufbau der Persönlichen Monarchie 1888-1900, München 2001, S. 238-349; dort weitere Nachweise. Immer noch unverzichtbar: Ernst Gagliardi, Bismarcks Entlassung. Erster Teil: Die Innenpolitik, Tübingen 1927; zu den sozialpolitischen Aspekten der Entlassungskrise bis zu den Februarerlassen vgl. Quellensammlung GDS II. Abt. Bd. 1: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearb. v. Wolfgang Ayaß/Florian Tennstedt, Darmstadt 2004, in Vorbereitung. 14 Heinrich von Poschinger hat bereits 1890, nach der Bismarcks Entlassung unter dessen redigierender Mitarbeit, zwei Schreiben des Reichskanzlers vom 30. September 1876 und 10. August 1877 veröffentlicht, in denen er die Erweiterung des Arbeiterschutzes und den Ausbau der Fabrikinspektion vehement ablehnte (Heinrich von Poschinger, Aktenstücke zur Wirthschaftspolitik des Fürsten Bismarck, Bd. 1, Berlin 1890). Poschinger hat dabei ohne Kennzeichnung gekürzt, redaktionell „geglättet“ und darüber hinaus auch inhaltliche Abänderungen vorgenommen. So änderte Poschinger in Bismarcks Votum vom 30. September 1876 den Satz: „Verbietet man nun den jungen Mädchen beispielsweise, 12 Stunden zu arbeiten, so reduziert man faktisch ihre Arbeitszeit auf 6 Stunden“ in „Verbietet man nun den jungen Mädchen beispielsweise, über 6 Stunden zu arbeiten, so reduziert man faktisch die Arbeitszeit auf Über diese vielzitierten Quellen hinaus blieben weitere, unmittelbar Bismarck zuzu- schreibende Äußerungen zum Arbeiterschutz bisher weitgehend unbeachtet. Sie finden sich nur sehr verstreut und oft nur als kurze Bleistiftmarginalien in den Akten der Reichs- und der preußischen Ministerien.15 [S. 405] II. Der Arbeiterschutz lässt sich in zwei Hauptbereiche aufgliedern: erstens den unmittel- baren Schutz vor Gefahren des Produktionsbetriebs („Gefahrenschutz“) und zweitens Arbeitszeitregelungen. Der Ausbau des betrieblichen Gefahrenschutzes war bis Mitte der 1880er Jahre eng mit dem Begriff der Fabrikinspektion (der späteren Gewerbeaufsicht) verbunden. Das „Gesetz betreffend einige Abänderungen des Regulativs vom 9. März 1839 über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken“ vom 16. Mai 1853 ermöglichte zur Überwachung der Ausführung dieses Gesetzes die Anstellung besonderer Fabrikinspektoren.16 Dies geschah jedoch nur in den industrialisierten Regierungsbezirken Düsseldorf, Aachen und Arnsberg, wobei die Arnsberger Stelle seit 1860 unbesetzt blieb. Die aufgrund des Gesetzes von 1853 eingestellten Fabrikinspektoren hatten die dort festgelegten Arbeitszeitregelungen für Kinder und Jugendliche zu überwachen, aber auch auf Arbeitsbedingungen zu achten (jedoch nur bei Kindern bzw. Jugendlichen und nur in Fabriken). Theodor Lohmann betrieb ab 1872 im preußischen Handelsministerium nachhaltig den Ausbau der Fabrikinspektion. Neben der Einrichtung neuer Stellen wurde zugleich der Aufgabenbereich der Fabrikinspektoren erweitert. Sie hatten nun auch auf das „sittliche und körperliche Wohl der erwachsenen Arbeiter in den Fabriken“ zu achten.17 Mit dem neuen Aufgabenfeld Gefahrenschutz kam für die Fabrikinspektion ein Tätigkeitsbereich hinzu, für die Inspektoren alten Schlags – gewöhnliche Polizisten – nicht mehr ausreichend qualifiziert waren. Nun waren nicht mehr in erster Linie Arbeitszeiten und Altersangaben von Kindern und Jugendlichen zu prüfen, sondern es war technischer Sachverstand gefordert. 6 Stunden“. Hans Rothfels hat, als er 1925 diese Stücke erneut veröffentlichte, stillschweigend Verbesserungen vorgenommen (Hans Rothfels, Bismarck und der Staat, München 1925). 15 Es sind dies in erster Linie die Bestände der Reichskanzlei (BArch R 43), des Reichsamts des Innern (BArch R 1501) und des preußischen Handelsministeriums (GStA Berlin I. HA Rep. 120). Die genannten Bestände wurden zuerst von Hans Rothfels ausgewertet, ohne dass er die Ergebnisse umfassend veröffentlichte (vgl. BArch N 1213 [Rothfels]). Gestützt auf Auswertung von Ministerialakten zuerst: Walter Vogel, Bismarcks Arbeiterversicherung. Ihre Entstehung im Kräftespiel der Zeit, Braunschweig 1951. 16 PrGS, 1853, S. 225; abgedruckt in: Quellensammlung GDS I. Abt. Bd. 3 Anhang 2. Die früheste nachweisbare Äußerung Bismarcks zum Themenbereich Gefahrenschutz stammt aus dem Sommer 1876, als der preußische Handelsminister Heinrich Achenbach einen von Theodor Lohmann verfassten Gesetzentwurf zur Abänderung der Gewerbe- ordnung vorlegte, der unter anderem den quantitativen und qualitativen Ausbau der Fabrikinspektion vorsah.18 Bismarck versah diesen Gesetzentwurf, der neben dem Ausbau der Fabrikinspektion insbesondere auch Regelungen zur Frauen- und zur Kinderarbeit beinhaltete, mit einer Reihe ablehnender Randbemerkungen. Bei dem im Gesetzentwurf vorkommenden Begriff „Beamte der Fabrikinspektion“ assoziierte Bismarck „Kreisbau- meister? Erpressungen?“ und schrieb dies an den Rand des entsprechenden Paragraphen. Dies war die erste und zunächst auch einzige Äußerung des Reichskanzlers zum Bereich des betrieblichen Gefahrenschutzes. Bismarck lehnte den Gesetzentwurf mit Votum vom 30. September 1876 ab.19 Interessanterweise wird in diesem Votum der Themenbereich Gefahrenschutz bzw. Fabrikinspektion noch übergangen. [S. 406] Der weitere Verlauf ist ebenso anschaulich wie denkwürdig. Am 12. Juli 1877 inspizierte der Fabrikinspektor für Pommern, Robert Hertel, zwei Fabriken, deren Besitzer kein anderer als Reichskanzler Otto von Bismarck war. Es handelte sich um die Hammer- mühle und die Fuchsmühle, zwei kleine Papierfabriken in Varzin (heute Warcino, Polen), einem Landsitz Bismarcks. Der seit 1875 tätige Fabrikinspektor unterließ es dabei nicht, gegenüber den Pächtern der Fabriken allerhand Sicherheitsmängel zu monieren. Da war ein Pumpenbrunnen nicht richtig zugedeckt, waren verschiedene freilaufende Maschinenteile nicht geschützt, es war eine Kreissäge nicht abgedeckt, und in der Gasbereitungsanstalt herrschte Explosionsgefahr.20 Ob Bismarck, der sich am fraglichen Tag in Varzin aufhielt, einen persönlichen Zusammenstoß mit dem Fabrikinspektor hatte, kann nur vermutet werden. Ludwig Bamberger, dessen damaliger Parteifreund Rudolf von Bennigsen sich im Juli 1877 längere Zeit in Varzin befand und dabei den Vorfall mitbekommen haben könnte, berichtete, Bismarck habe Hertel „mit Grobheiten empfangen und nichts von seiner Ein- mischung wissen wollen“.21 Jedenfalls forderte der Reichskanzler noch am Tag der Revision die Dienstanweisung 17 Vgl. Quellensammlung GDS I. Abt. Bd. 3 Nr. 31. 18 BArch N 2308 [Tiedemann] Nr. 52, fol. 19-41; abgedruckt in: Quellensammlung GDS I. Abt. Bd. 3 Nr. 89. 19 Das Votum war vom Chef der Reichskanzlei, Christoph Tiedemann, entworfen worden, Bismarck zeichnete es „mit kleinen Abänderungen“ ab. Vgl. Christoph von Tiedemann, Sechs Jahre Chef der Reichskanzlei, Leipzig 1909, S. 57. 20 BArch R 43 Nr. 471, fol. 28-29 Rs.; abgedruckt in: Quellensammlung GDS I. Abt. Bd. 3 Nr. 113. 21 Ludwig Bamberger, Bismarcks großes Spiel. Die geheimen Tagebücher Ludwig Bambergers. Eingeleitet und hrg.v. Dr. Ernst Feder, Frankfurt a.M. 1933, S. 326. des Fabrikinspektors, dessen Jahresberichte und weitere Papiere an. Auf diesen Quellen- stücken sind ein gutes Dutzend Randbemerkungen Bismarcks zum Themenkomplex Gefahrenschutz überliefert, von denen drei hervorstechen: - Auf ein Schreiben des Fabrikinspektors, in dem dieser die Beseitigung der erwähnten Sicherheitsmängel in den Varziner Fabriken einforderte, schrieb Bismarck: „Wo ist überhaupt Gefahr jemals ausgeschlossen?“22 - Der Fabrikinspektor Hertel hatte in seinem Jahresbericht für das Jahr 1876 einen einfachen Schutzapparat für Kreissägen erwähnt, den er selbst entwickelt hatte. Dazu schrieb Bismarck zynisch: „Den muss jeder einführen, weil 'von mir'.“23 - Auf die Dienstinstruktion des Fabrikinspektors schrieb Bismarck: „Wer ent- scheidet darüber, was [bei Sicherheitsvorkehrungen, W.A.] notwendig ist?“24 Damit waren – noch vor jeder zusammenhängenden Äußerung Bismarcks – die Posi- tionen des Reichskanzlers zum Gefahrenschutz bzw. zur Fabrikinspektion abgesteckt. Jede Tätigkeit in Industrie, Handwerk und Landwirtschaft berge notwendigerweise auch Ge- fahren, die nicht völlig ausgeschlossen werden könnten. Und jede Kontrolle durch betriebs- ferne Staatsbeamte – sprich Fabrikinspektoren – führe unweigerlich zu bürokratischer Willkür, Wichtigtuerei und Bevormundung. Unglücklicherweise und völlig unabhängig vom Konflikt mit dem Fabrikinspektor Hertel erreichten Bismarck in Varzin nur einige Tage nach dem Auftauchen des Fabrikinspektors drei ihm bis dahin unbekannte Gesetzentwürfe zur Arbeitergesetz- gebung.25 Die Vorlagen stammten aus dem unter der Leitung von Karl Hofmann stehenden Reichskanzleramt. In einem dieser Gesetzentwürfe, dem „Entwurf eines Fabrikgesetzes“, war ein [S. 407] weitgehender Ausbau beziehungsweise eine konzeptionelle Aufwertung ausgerechnet der Fabrikinspektion vorgesehen. Bismarck versah diesen Entwurf mit gut zwei Dutzend äußerst bissigen Randbe- merkungen.26 Der Begriff „Willkür“ taucht allein viermal auf. In einem vielzitierten Schreiben an Handelsminister Heinrich Achenbach vom 10. August 1877 äußerte sich Bismarck daraufhin zum ersten und zum letzten Mal zusammenhängend zum betrieblichen Gefahrenschutz. Bismarck kam dabei auch auf die ominösen Kreisbaumeister und ihre 22 BArch R 43 Nr. 471, fol. 32; abgedruckt in: Quellensammlung GDS I. Abt. Bd. 3 Nr. 117. 23 BArch R 43 Nr. 471, fol. 6-27. 24 BArch R 43 Nr. 471, fol. 2. 25 Es waren dies der Entwurf eines Gesetzes betreffend die Abänderung der Gewerbeordnung, der Entwurf eines Fabrikgesetzes und der Entwurf eines Gesetzes betreffend die Entscheidungen in Streitigkeiten der Gewerbetreibenden. Vgl. Quellensammlung GDS I. Abt. Bd. 3 Nr. 116 und I. Abt. Bd. 4 Nr. 179. 26 BArch R 43 Nr. 356, fol. 23-31; abgedruckt in: Quellensammlung GDS I. Abt. Bd. 3 Nr. 116. angeblichen Erpressungen zurück. Die preußischen Kreisbaumeister, deren Hauptaufgabe die Kontrolle von Hoch- und Wasserbauten der Landkreise war, hatten häufig als Neben- aufgabe auch die gesetzlich vorgeschriebene Inspektion der explosionsgefährdeten Dampf- kessel. „Die Fabrikinspektoren sollen dem Vernehmen nach jetzt schon fast sämtlich technisch gebildete Männer sein, aber in welchem Maß sind sie das? (...) Haben sie, neben ihrer Eigenschaft als Techniker, das Maß von juristischer, politischer und sozialer Bildung, vor allem die Selbstbeherrschung, welche mit einer so eingreifenden Stellung notwendig verbunden sein müsste? Mir liegt in dieser Beziehung die Erinnerung nahe an die Kreisbau- meister, unter deren Aufsicht die Dampfkessel stehen, mitunter ohne dass dieselben auch nur die entfernteste Ahnung von der Zusammensetzung und dem Wesen einer Dampf- maschine haben. Nichtsdestoweniger besaßen und besitzen sie eine Machtvollkommenheit, die nicht selten zu Erpressungen, noch öfter und besonders bei den halbgebildeten zur Betätigung einer rechthaberischen Herrschsucht, jedenfalls zum Schaden der Industrie be- nutzt worden ist und benutzt wird. Ich fürchte, dass wir uns in dem Institut der Fabrikinspektoren auf einem etwas höheren Niveau eine ganz ähnliche Gefahr schaffen.“ 27 Für Bismarck war also ein Fabrikinspektor ein fachfremder Kreisbaumeister in Potenz, geradezu ein Sinnbild für dumpfe Beamtenwillkür. Einen dieser Kreisbaumeister hatte der Kanzler wohl einmal persönlich bei einer Dampfkesselrevision erlebt. Als im Jahr 1883 erwogen wurde, die Dampfkesselinspektion den Baubeamten wegzunehmen und endlich speziell ausgebildeten Beamten zu übertragen, schrieb Bismarck an den Rand des be- treffenden Berichts: „Auch über die primitivsten [Dampfkessel, W.A.] hab ich Baubeamte mit voller Ignoranz urteilen sehen.“28 Die Gleichsetzung der Fabrikinspektoren mit den Kreisbaumeistern war allerdings ganz unangemessen, denn der von Theodor Lohmann konzipierte Ausbau der Fabrikinspektion sah die Anstellung von studierten Chemikern und Technikern vor, die erst nach einigen Jahren praktischer Industrietätigkeit in den Staats- dienst treten sollten. Für eine „Prophylaxis durch Staatsbeamte“ war Bismarck jedoch nicht zu gewinnen. Die minder achtbaren Beamten könnten bestochen werden, die gewissenhafteren unter ihnen dagegen durch Übereifer „vielleicht noch größeren Schaden anrichten durch den unbe- dingten Glauben an die Überlegenheit eigener Einsicht, durch das Autoritätsbedürfnis, 27 GStA Berlin I. HA Rep. 120 BB VII 4 Nr. 1 Bd. 2, fol. 52-64 Rs.; abgedruckt in: Quellensammlung GDS I. Abt. Bd. 3 Nr. 121. Auch dieses Schreiben war vermutlich vom Chef der Reichskanzlei Christoph Tiedemann auf Grundlage der erwähnten Marginalien vorbereitet worden. 28 GStA Berlin I. HA Rep. 120 BB II a 5 Nr. 2 adh. 1 Bd. 2, fol. 11; abgedruckt in: Quellensammlung GDS II. Abt. Bd. 3 Nr. 29. welches sich mit der Zeit unserer besten Beamten in den mit dem Publikum in direkter Be- rührung stehenden Kategorien in krankhafter Weise bemächtigt, durch Rechthaberei, durch enthusiastischen Idealismus. Der Vorrat, innerhalb dessen wir geeignete [S. 408] Persön- lichkeiten zu einer solchen Stellung suchen können, ist bei uns ein sehr beschränkter...“.29 Ansonsten setzte sich Bismarck in diesem Schreiben ausführlich mit den angeblich sinn- losen Sicherheitsanordnungen zu Kreissägen des für seine Fabriken zuständigen Fabrikinspektors Hertel auseinander und betonte nachdrücklich, dass Gefahren der In- dustrieproduktion letztendlich nicht ausschaltbar seien, jedenfalls nicht ohne Behinderung der Produktion, und dass für die Menschen Gefahren nicht nur in der Industrie drohten, sondern auch im Handwerk, bei Schiffsreisen, im Haushalt und beim Verzehr verfälschter Lebensmittel. Kein Mensch käme jedoch auf die Idee, deswegen analog zu den Fabrik- inspektoren sog. „Hausinspektoren“ einzusetzen. Wenn von der Industrie „alle Gefahren, mit denen sie die Sicherheit und die Gesundheit des Arbeiters bedrohen kann, prophylaktisch ferngehalten werden“ sollten, müsste man so umfangreiche und kostspielige Vorrichtungen schaffen „dass sich nur selten und bei ungewöhnlichen Gewinnverhältnissen Unternehmer dazu finden würden“.30 Theodor Lohmanns Vorstoß zum Ausbau der Fabrikinspektion war somit vom Reichs- kanzler harsch ausgebremst worden. Der schließlich am 23. Februar 1878 dem Reichstag vorgelegte Regierungsentwurf zur Novelle der Gewerbeordnung sparte dann die Bereiche Gefahrenschutz und Fabrikinspektion völlig aus.31 Gegen den Willen Bismarcks, jedoch letztlich von ihm nicht blockiert, beschloss der Reichstag zu diesem Komplex zwei wichtige Neuerungen. Mit der Gewerbeordnungs- novelle vom 17. Juli 1878 wurde die Fabrikinspektion nicht nur im gesamten Reich obligatorisch, sondern sie bekam nun explizit Aufgaben bei der Konzessionierung gewerb- licher Anlagen und insbesondere auch die Überwachung des betrieblichen Gefahren- schutzes zugewiesen – ganz im Sinne Lohmanns, der dafür mit informeller Beeinflussung von Reichstagsabgeordneten im Hintergrund kräftig gewühlt hatte.32 Gleichzeitig beschloss der Reichstag, dass der Bundesrat für „alle Anlagen einer bestimmten Art“ allgemeine Gefahrenschutzbestimmungen erlassen konnte. Bismarcks Abneigung gegenüber der staatlichen Fabrikinspektion war damit allerdings nicht beseitigt. Theodor Lohmann, der im Dezember 1880 zu Besuch bei Bismarck in 29 Wie Anm. 27. 30 Ebenda. 31 Sten. Ber. RT 3. LP II. Session 1878, Drucksache Nr. 41. 32 Vgl. Quellensammlung GDS I. Abt. Bd. 3 Nr. 144, Nr. 147. Friedrichsruh war, berichtete einem Freund über eine ganz auf der oben gezeigten „Kreisbaumeister? Erpressungen?“-Linie liegende Bemerkung des Reichskanzlers: „Er kam auch auf d. Fabrikinspektoren u. sagte, er sei geg[en] d. ganze Institution, weil man nach seinen Erfahrungen Inspektoren keinen Einfluss einräumen könne, ohne der grässlichsten Korruption Tür u. Tor zu öffnen. Und dann erzählte er mir d. haarsträubendsten Dinge über d. Bestechlichkeit u. Erpressung der preuß[ischen] Baubeamten aller Branchen, der Steuer- beamten etc., die er alle selbst erlebt haben wollte. Daneben wären alle technischen Beamten, sobald sie ein Imperium bekämen, von dem gräulichsten Hochmut besessen u. machten gegenüber d. Publikum, das mit ihnen zu tun habe, die unerträglichsten Prä- tensionen. Das würde auch mit d. Fabrikinsp[ektoren] nicht anders sein, u. daneben hätten sie dann noch den Ehrgeiz, die Advokaten d. Arbeiter zu spielen u. dadurch d. Autorität d. Unternehmer zu untergraben.“33 Bismarck hat in der Folge die [S. 409] Erhöhung der Zahl der preußischen Fabrikinspektoren nachhaltig behindert – trotz gegenteiliger Forderungen des preußischen Abgeordnetenhauses.34 III. Im Jahr 1881 schien es, dass von Seiten des Bundesrats tatsächlich umfassende Sicher- heitsvorschriften geschaffen werden sollten, wie sie durch die Novelle zur Gewerbeordnung des Jahres 1878 möglich geworden waren. Unter Verwendung eines Entwurfs des Düssel- dorfer Fabrikinspektors Gustav Wolff, eines hochengagierten promovierten Chemikers, arbeitete Theodor Lohmann einen Entwurf von „Vorschriften zum Schutz gewerblicher Arbeiter gegen Gefahren für Leben und Gesundheit“ aus. Der Entwurf wurde auf Beschluss des Bundesrats amtlich veröffentlicht35 und rief einen Sturm entrüsteter, teilweise jedoch auch durchaus konstruktiver Stellungnahmen von Unternehmerverbänden, Handelskam- mern und Ingenieurvereinigungen hervor.36 Der Bundesrat setzte daraufhin zur Begutachtung eine hauptsächlich aus Industriellen und einigen Fabrikinspektoren bestehende Expertenkommission ein, die den Entwurf ent- 33 BArch N 1213 [Rothfels] Nr. 88, n.fol.; abgedruckt in: Quellensammlung GDS I. Abt. Bd. 3 Nr. 197. Friedrich Engels schrieb am 11.10.1884 an August Bebel, ihm sei zugetragen worden, dass Bismarck einen Fabrikinspektor (wohl Robert Hertel) nach seinem Gehalt gefragt habe. „Nun, dann sind Sie auf Bestechung angewiesen“ – soll Bismarck zu der Gehaltshöhe (1000 Taler) gesagt haben (Werner Blumenberg (Hg.), August Bebels Briefwechsel mit Friedrich Engels, London/The Hague/Paris 1965, S. 190). 34 Vgl. hierzu den Bericht Lohmanns vom 10.6.1887 (GStA Berlin I. HA Rep. 120 BB VII 4 Nr. 1 Bd. 4, fol. 165-180); abgedruckt in: Quellensammlung GDS I. Abt. Bd. 3 Nr. 149. 35 Deutscher Reichs-Anzeiger und Königlich Preußischer Staats-Anzeiger, Nr. 52 vom 1.3.1880. In der Folge wurde der Entwurf vielfach nachgedruckt, u. a. bereits am 6.3.1880, in: Wochenschrift des Vereins Deutscher Ingenieure, 1880, S. 78 f. 36 Vgl. Quellensammlung GDS I. Abt. Bd. 3 Nr. 187, Nr. 189-194, Nr. 199, Nr. 201-203. schieden abschwächte. Beispielsweise enthielt der Entwurf Lohmanns folgende Be- stimmung: „Die Arbeitsräume müssen so eingerichtet oder mit solchen Vorrichtungen versehen sein, dass die Luft von schädigenden Mengen giftiger oder unatembarer Stoffe oder Dünste jeder Art freigehalten wird.“37 Daraus wurde nach den Beschlüssen der Expertenkommission: „Die Arbeiter sind, soweit die Technik erprobte Einrichtungen bietet und die Eigenart des Betriebs es zulässt, gegen den schädigenden Einfluss einer giftigen, unatembaren oder staubigen Beschaffenheit der Luft zu schützen.“38 Doch auch der derart entschärfte Entwurf ging Bismarck zu weit. Der Reichskanzler versah die Druckfassung des Entwurfs der Expertenkommission mit einem Dutzend Rand- bemerkungen.39 Zur Bestimmung, dass Arbeitsplätze genügend beleuchtet sein müssen, schrieb er: „Wer entscheidet?“ Dieselbe Frage hatte Bismarck mehr als drei Jahre zuvor auf die Dienstinstruktion des Fabrikinspektors Hertel geschrieben. Der – abgeschwächte – Ent- wurf enthielt mehrfach Öffnungsklauseln wie „soweit die Technik erprobte Einrichtungen bietet“ oder „soweit es ohne erhebliche Störung des Betriebs durchführbar ist“. Doch auch hierzu schrieb Bismarck: „Mit jedem Aufwand?“ und „Was ist erheblich?“ – womit er seine Position bekräftigte, dass effektiver Gefahrenschutz letztlich zu Produktionsbehinderungen führe. Zu der Vorschrift, dass die Arbeiter gegen Stürze bzw. herunterstürzende Gegenstände zu sichern seien, schrieb Bismarck: „Aus allen Fenstern fallen Kinder.“ Bismarck trat [S. 410] den Gefahren der Arbeitswelt mit einem unübersehbaren Fatalismus gegenüber. „Wo überhaupt ist Gefahr jemals ausgeschlossen?“ hatte er schon 1877 per Blei- stiftmarginalie auf ein Schreiben des Fabrikinspektors Hertel geschrieben. Damit befand sich Bismarck allerdings im Widerspruch zu den gewerbehygienischen Fachkreisen, für die schon damals Konsens war, dass Arbeitsunfälle nicht zwangsläufig „passieren“, sondern (vermeidbar) verursacht werden. Interessanterweise hat sich Bismarck zum Gefahrenschutzaspekt des Arbeiterschutzes – mit einer Ausnahme – nicht öffentlich geäußert, auch nicht in seinen Memoiren. Dieser Aspekt der Ablehnung des Arbeiterschutzes blieb den Zeitgenossen weitgehend verborgen, wenngleich der Vorfall mit dem Fabrikinspektor für Pommern bald kolportiert wurde.40 37 Vgl. Quellensammlung GDS I. Abt. Bd. 3 Nr. 187. 38 Vgl. Quellensammlung GDS I. Abt. Bd. 3 Nr. 195. 39 BArch R 1501 Nr. 106715, fol. 8, 49; abgedruckt in Quellensammlung GDS I. Abt. Nr. 195, dort vor der Einleitung zusätzlich als Faksimile. 40 Vgl. (Berliner) Volkszeitung vom 14.10.1887; abgedruckt in: Quellensammlung GDS II. Abt. Bd. 3 Nr. 157, Anm. 7. Lujo Brentano berichtete in seinen Erinnerungen: „Man erzählte sich damals, Bismarck habe dem Pächter seiner Papierfabrik in Varzin, der sich beklagte, dass ein Fabrikinspektor in der Fabrik die Einfriedung einer Kreissäge angeordnet habe, geantwortet: Die erwähnte Ausnahme ist eine kurze Passage in der bereits angeführten Reichs- tagsrede vom 9. Januar 1882, in der Bismarck die Möglichkeit der betrieblichen Sicher- heitskontrolle durch Unternehmervereinigungen andeutete. Diese – im Übrigen nicht neue – Idee ging in das Unfallversicherungsgesetz des Jahres 1884 ein, in dem geregelt war, dass die von den Unternehmern gebildeten Berufsgenossenschaften auch Unfallverhütungs- vorschriften herausgeben konnten, die dann von „Beauftragten“ (heute: „Technische Auf- sichtsbeamte“) der Berufsgenossenschaften kontrolliert werden konnten.41 Dies sollte die Unfallzahlen senken und damit die Beitragsbelastung in Grenzen halten.42 Das war nun eine Form des Gefahrenschutzes, wie Bismarck sie für sinnvoll hielt. Zwar machten die „Beauftragten“ der Berufsgenossenschaften eigentlich nichts anderes als die staatlichen Fabrikinspektoren. Sie suchten unangemeldet Fabriken auf, ließen sich vom Besitzer oder dessen Stellvertreter durch das „Etablissement“ führen und gaben dabei An- weisungen, deren Befolgung sie beim nächsten Besuch kontrollierten. Der entscheidende Unterschied war, dass die „Beauftragten“ der Berufsgenossenschaften keine industrie- fremden, hausrechtsverletzenden Staatsbeamten waren, sondern abhängig Beschäftigte einer Unternehmervereinigung. Bismarck favorisierte – zumindest in diesem Bereich – also keine Staatskontrolle, sondern Selbstkontrolle.43 [S. 411] Einen ersten Kristallisationspunkt der berufsgenossenschaftlichen Unfall- verhütung bildete die von den Berufsgenossenschaften initiierte „Allgemeine Deutsche Unfallverhütungsausstellung“ des Jahres 1889. Der seit Juni 1888 regierende Wilhelm II. übernahm im September 1888 das Protektorat und eröffnete schließlich Ende April 1889 Schmeißen Sie den Kerl hinaus.“ (Lujo Brentano, Mein Leben im Kampf um die soziale Entwicklung Deutschlands, Jena 1931, S. 156). 41 Entsprechendes praktizierte die Mülhausener „Association pour prévenir les accidents de machines“ schon seit 1867 (vgl. die Jahresberichte: Association pour prévenir les accidents de machines, compte-rendu 1868 ff.). Zur (frühen) Berichterstattung über die „Association“ in Deutschland vgl. Mülhausener Gesellschaft zur Verhinderung der Unglücksfälle in Fabriken, in: Der Maschinenbauer 2 (1867), S. 350; A. Emminghaus, Der Mülhäuser Verein zur Verhütung von Verletzungen durch Maschinen, in: Der Arbeiterfreund 8 (1870), S. 46-61; Der Mülhäuser Verein zur Verhütung von Verletzungen durch Maschinen, in: Concordia 1 (1871), S. 20 f. 42 Vgl. Quellensammlung GDS, II. Abt.: Von der kaiserlichen Sozialbotschaft bis zu den Februarerlassen Wilhelms II. (1881-1890), Band 2.1.: Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884, bearb. v. Florian Tennstedt/Heidi Winter, Stuttgart/ Jena/ New York 1995 und Bd. 2.2: Die Ausdehnungsgesetzgebung und die Praxis der Unfallversicherung, bearb. v. Wolfgang Ayaß, Darmstadt 2001. 43 Bismarck verband mit den von ihm favorisierten „Korporationen“ die weitergehende Absicht, langfristig den Reichstag als zentrales Organ der Gesetzgebung auszuschalten; vgl. Karl Erich Born, Staat und Sozialpolitik seit Bismarcks Sturz, Wiesbaden 1957, S. 24. die Ausstellung mit einer Ansprache.44 Der technikbegeisterte Kaiser hat sich die Aus- stellung auch danach noch mehrmals angesehen, die in fünfeinhalb Monaten von über einer Million Menschen besucht wurde, darunter mehr als 300.000 Arbeitern. Reichskanzler Bismarck dagegen nahm an der Eröffnung nicht teil und hat die Aus- stellung auch später nicht besucht, obwohl er sich während der Ausstellungszeit mehrere Wochen lang in Berlin aufhielt. Zwar hatte Bismarck in der Planungsphase an den Initiator der Ausstellung, den Generaldirektor der Berliner Schultheiss-Brauerei Richard Roesicke, geschrieben, das Vorhaben habe seine „volle Teilnahme, weil ich in ihm ein Mittel sehe, die Fürsorge für die Arbeiter zu fördern und denselben durch Augenschein darzutun, dass ihr Wohl den Arbeitgebern am Herzen liegt“.45 Regierungsintern lässt sich jedoch eine Förderung der Ausstellung durch Bismarck nicht nachweisen, wohl aber eine herbe Rüge an den Präsidenten des Reichsversicherungsamts Tonio Bödiker, weil dieser „entgegen dem Rat seiner Vorgesetzten“ den Ehrenvorsitz der Ausstellung angenommen hatte.46 Hier wird bereits – Monate vor den Februarerlassen des Jahres 1890 – ein gewisser Dissens zwischen Bismarck und Wilhelm II. über den Stellenwert des Arbeiterschutzes im Allgemeinen bzw. des betrieblichen Gefahrenschutzes im Besonderen erkennbar. IV. Der zweite große Bereich des Arbeiterschutzes waren Arbeitszeitregelungen, die zu- nächst nur für Kinder und Jugendliche in Fabriken existierten. Entsprechende gesetzliche Regelungen hatte Bismarck 1862 bei seinem Regierungsantritt als preußischer Minister- präsident bereits vorgefunden. Regelmäßige Fabrikarbeit war nach diesen Bestimmungen für unter 12-Jährige verboten, die 12- bis 14-Jährigen durften unter bestimmten Be- dingungen täglich sechs Stunden, die 14- bis 16-Jährigen täglich zehn Stunden arbeiten; Nacht- und Sonntagsarbeit war für Kinder und Jugendliche verboten. Ein 14-Jähriger konnte somit legal 60 Stunden pro Woche in einer Fabrik arbeiten. Außerhalb der Fabriken, also im Handwerk, im Handel, in der Landwirtschaft und in der Hausindustrie war die Arbeitszeit von Kindern und Jugendlichen nur durch die Schulpflicht begrenzt. Dies galt in dieser Form in Preußen seit 1853, als die Bestimmungen des Kinderschutzregulativs des Jahres 1839 verschärft worden waren. Diese Vorschriften waren dann 1869 in die Gewerbe- ordnung für den Norddeutschen Bund übernommen worden. Kinder und Jugendliche waren hinsichtlich der Arbeitszeitregelungen zunächst die einzige schutzwürdige Arbeiter- 44 Deutscher Reichs-Anzeiger und Königlich Preußischer Staats-Anzeiger vom 30.4.1889, abgedruckt in: Quellensammlung GDS II. Abt. Bd. 2.2 Nr. 353. 45 Vgl. Quellensammlung GDS II. Abt. Bd. 2.2 Nr. 331, Anm. 3. 46 Vgl. Quellensammlung GDS II. Abt. Bd. 2.2 Nr. 330-331. kategorie. Zur Frage der Regelung der Arbeit von Kindern und Jugendlichen hielt sich Bismarck mit Äußerungen öffentlich fast ganz und regierungsintern merklich zurück; sie finden sich nur sehr verstreut, sind jedoch durchweg kritisch gegenüber dem geltenden Recht, [S. 412] das Bismarck bei den 14- bis 16-Jährigen als zu weitgehend einschätzte.47 Zu den geltenden Vorschriften bezüglich der eigentlichen Kinderarbeit der unter 14-Jährigen findet sich aller- dings keine einzige kritische Bemerkung. Kinder scheint Bismarck früh als schutzwürdig im Sinne der vorhandenen Regelungen akzeptiert zu haben. Ganz anders jedoch war seine Position hinsichtlich der schulentlassenen Jugend. Es finden sich eine Reihe von Äußerungen Bismarcks zum „erzwungenen Müßiggang“ der 14- bis 16-jährigen jugendlichen Arbeiter48, die aufgrund der bestehenden Gesetzesbe- stimmungen angeblich nicht eingestellt werden würden und darum den Eltern zur Last fielen,49 und für die ein Sonntag ohne Beschäftigung „oft gefährlich“ sei.50 Im April 1889 erklärte der Reichskanzler auf einer Kronratssitzung sogar explizit, dass er die gesetzliche Beschränkung der Beschäftigung dieser Jugendlichen für einen Fehler halte.51 Die einzige öffentliche Äußerung Bismarcks zum Jugendarbeitsschutz fiel in der Reichs- tagsrede vom 9. Januar 1882: „Ich erinnere mich aus meinen eigenen Erlebnissen, als zuerst die Einrichtung zum Schutz der jugendlichen Arbeiter bei uns erfolgte,52 dass die Mütter auf dem Land zu mir gekommen sind, mir Vorwürfe gemacht und verlangt haben, ich sollte ihnen angeben, was sie mit diesen unbeschäftigten und ihnen zur Last liegenden Jungen zu Hause machen sollen; früher habe er etwas verdient, jetzt verfalle er dem Müßiggang und anderen schlimmeren Lastern mit den übrigen Kameraden. Es hat ja diese sehr humane und vortreffliche Einrichtung, die Jugend und die zartere Konstitution schützen zu wollen, auch 47 Auch Theodor Lohmann berichtete über das bereits zitierte Gespräch in Friedrichsruh, dass Bismarck auf Lohmanns Ausführungen zum Jugendarbeitsschutz wesentlich konzilianter reagierte als auf das Reizthema Fabrikinspektion (BArch N 1213 [Rothfels] Nr. 88, n.fol.; abgedruckt in: Quellensammlung GDS I. Abt. Bd. 3 Nr. 197). 48 In der Reichstagsrede vom 9.1.1882; abgedruckt in: Quellensammlung GDS II. Abt. Bd. 3 Nr. 6. 49 BArch R 43 Nr. 356, fol. 58 Rs.; abgedruckt in: Quellensammlung GDS I. Abt. Bd. 3 Nr. 116, Anm. 82. 50 BArch R 1501 Nr. 106393, fol. 90 Rs.; abgedruckt in: Quellensammlung GDS II. Abt. Bd. 3, Nr. 124, Anm. 10. 51 GStA Berlin I. HA Rep. 120 BB VII 1 Nr. 4 Bd. 6, fol. 160-162 u. fol. 172-175; abgedruckt in: Quellensammlung GDS II. Abt. Bd. 3 Nr. 184. 52 Gemeint ist das Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken vom 9.3.1839 (abgedruckt in: Quellensammlung GDS I. Abt. Bd. 3 Anhang 1). Das Regulativ verbot regelmäßige Fabrikarbeit von Kindern vor dem neunten Lebensjahr. Fabrikarbeiter unter 16 Jahren durften höchstens zehn Stunden täglich beschäftigt werden, Nachtarbeit und Arbeit an Sonn- und Feiertagen war ihnen untersagt. Otto von Bismarck bewirtschaftete zur Zeit der Einführung des Regulativs zusammen mit seinem Bruder Bernhard das Gut Kniephof bei Massow, Kreis Naugard in Pommern. ihre Kehrseite, wie sich hier jeder vergegenwärtigen kann, der weiß, was für Neigungen in einem Jungen, der sich in den sogenannten Flegeljahren befindet, von 12 bis 16 Jahren, auftauchen, wenn er zum Müßiggang gesetzlich verurteilt wird.“ Bismarck war auch bei der eigentlichen Kinderarbeit nicht für Verbesserung zu ge- winnen, obwohl gerade die Fabrikarbeit schulpflichtiger Kinder auch in Industriellen- kreisen kritisiert wurde. Als sich im Mai 1886 innerhalb einer Reichstagskommission ein Beschluss zum völligen Verbot der Beschäftigung von Kindern unter zwölf Jahren gegen Lohn abzeichnete, vermerkte Bismarck auf dem entsprechenden Bericht ablehnend (mit einem für ihn typischen Bezug auf die nichtindustrielle Arbeitswelt): „Auch nicht, [um] Eicheln zu sammeln?“53 [S. 413] Eine Verschärfung der völlig unzureichenden, seit 1853 bestehenden Be- stimmungen zur Begrenzung der Arbeitszeit von Kindern und Jugendlichen in Fabriken lehnte Bismarck ab. Er hat allerdings auch nie versucht, die bestehenden Regelungen wieder zu verschlechtern. Seine kritischen Stellungnahmen zum Jugendarbeitsschutz dienten stets als Warnung vor weiterem Ausbau des Arbeiterschutzes. Als zum Beispiel Ende des Jahres 1887 die Handelskammer Lennep einen in der damaligen Diskussion sehr weitgehenden Vorschlag zum völligen Verbot der Kinderarbeit (auch außerhalb von Fabriken!) und zur Beschränkung der Frauenarbeit machte, untersagte Bismarck die bloße Weiterverbreitung des Vorschlags mit folgender Randbemerkung: „Nein; es würde das den Eindruck einer Befürwortung weiterer Beschränkungen der Freiheit der Verwertung eigener Arbeitskräfte machen; die zwangsweisen Einschränkungen, denen die ‚jugendlichen‘ Arbeiter (14-16 Jahre) unterliegen, wirken schon schädlich auf die Erwerbsfähigkeit ihrer Familien u. auf Zwang zum Müßiggang der jungen Leute.“54 Der Reichstag sah dies anders. Das Parlament verabschiedete am 17. Juni 1887 eine Novelle zur Gewerbeordnung, die das Schutzalter für Kinderarbeit in Fabriken von 12 auf 13 Jahre anhob und die Beschäftigung noch schulpflichtiger Kinder in Fabriken verbot. Auf ausdrückliche Anweisung Bismarcks lehnte der Bundesrat am 19. November 1888 die Novelle ab, die auch Einschränkungen der Frauenfabrikarbeit enthielt; nur das Großherzog- tum Hessen stimmte gegen die Mehrheit.55 Es blieb daher bis zum Sturz Bismarcks bei der Beschränkung der Fabrikarbeit von Kindern und Jugendlichen bei dem – überaus niedrigen 53 BArch R 1501 Nr. 106393, fol. 90; abgedruckt in: Quellensammlung GDS II. Abt. Bd. 3 Nr. 124, Anm. 9. 54 BArch R 43 Nr. 493, fol. 249 Rs.; abgedruckt in: Quellensammlung GDS II. Abt. Bd. 3 Nr. 165, Anm. 3. 55 Zu den Beschlüssen des Bundesrats vom 19.11.1888 vgl. Quellensammlung GDS II. Abt. Bd. 3 Nr. 174-177. und zunehmend kritisierten – Niveau aus dem Jahr 1853. V. Bei der Frauenarbeit widersetzte sich Bismarck vehement allen Versuchen zur Einführung auch nur der geringsten Arbeitszeitregelung für erwachsene Arbeiterinnen. Für über 16-jährige Frauen enthielt die deutsche Gewerbeordnung bis 1891 keinerlei Be- schränkungen der Arbeitszeit. Es gab zunächst auch keine Bestimmungen zum Mutter- schutz, erst 1878 wurde auf Initiative des Reichstags ein dreiwöchiger Wöchnerinnenschutz für Fabrikarbeiterinnen eingeführt. Die frühesten Äußerungen Bismarcks zur Frauenarbeit stammen – wie beim Thema Gefahrenschutz – ebenfalls aus dem Jahre 1876. Als im Begleitschreiben zu dem oben bereits erwähnten Gesetzentwurf des Handelsministeriums mögliche Einschränkungen der Frauenarbeit erörtert wurden, vermerkte Bismarck am Rand ablehnend: „Beschränkung der Erwerbfähigkeit.“56 Einige Abschnitte zuvor hatte das Handelsministerium in einer längeren Passage eine fallweise Lockerung in bestimmten Industriezweigen des für Fabriken längst geltenden Verbots der Nachtarbeit Jugendlicher angeregt. Bezeichnenderweise las Bismarck hier selektiv nur die Formulierung „Verbot der Nachtarbeit“ und vermerkte am Rand: „un- tunlich. Eingriff in persönl[iche] Freiheit“. Arbeitszeitbegrenzungen waren also für Bis- [S. 414]marck „Beschränkung der Erwerbfähigkeit“ und ein „Eingriff in die persönliche Freiheit“. Der Gesetzentwurf sah unter anderem auch ein Verbot der Nachtarbeit von Fabrik- arbeiterinnen vor, das – wie es in der Begründung hieß – mit „Rücksicht auf die Gesundheit und der Fürsorge für die Sittlichkeit der Frauen“ eingeführt werden sollte. Dazu schrieb der Reichskanzler zynisch: „Warum nicht auch die Tagarbeiten [verbieten]? Die Gründe treffen da auch zu.“57 In dem daraufhin erarbeiteten, oben bereits erwähnten Votum für das preußische Staatsministerium vom 30. September 1876 stellte Bismarck ausführlich die „gegenwärtige ungünstige Lage der Industrie“ dar, die der Ruhe bedürfe.58 „Für Abänderungen unserer Gesetzgebung, welche auf den Geschäftsbetrieb störend einwirken oder gar die einheimische Industrie hinsichtlich ihrer Leistungsfähigkeit gegenüber der ausländischen in Nachteil setzen, dürfte daher der gegenwärtige Zeitpunkt so ungeeignet wie möglich sein.“ 56 BArch N 2308 [Tiedemann] Nr. 52, fol. 25; abgedruckt in: Quellensammlung GDS I. Abt. Bd. 3, Nr. 89, Anm. 20. 57 Ebenda, Anm. 21. Allenfalls „schreiende Notstände“ könnten eine Verschärfung der Gewerbegesetzgebung rechtfertigen, diese seien jedoch nicht nachgewiesen. Es habe wenig Sinn, zu den nur unzureichend befolgten Bestimmungen zum Jugendarbeitsschutz nun noch „eine neue Serie unausgeführter Bestimmungen“59 hinzuzufügen, eine Pause in der Gesetzgebung sei angebracht. Besondere Arbeitszeitvorschriften für Mädchen und Frauen lehne er ab, dies sei mit einem einheitlichen Produktionsrhythmus der Fabriken nicht zu vereinbaren. „Verbietet man nun den jungen Mädchen beispielsweise, 12 Stunden zu arbeiten, so reduziert man faktisch ihre Arbeitszeit auf 6 Stunden, eine Maßregel, deren Zweischneidigkeit um so fühlbarer wird, wenn man bedenkt, dass für die Gesundheitsgefährlichkeit einer Beschäf- tigung keineswegs immer die Dauer derselben maßgebend ist, dass vielmehr auch bei Beur- teilung dieser Frage Nebenumstände eine wesentliche Rolle spielen. Ist mit einer langen Arbeitszeit eine gute Ernährung verbunden, so wird sie der Gesundheit weniger schaden wie eine kurze Arbeitszeit, bei welcher es an der notwendigen Pflege des Körpers fehlt.“60 Auch ein Verbot der Nachtarbeit von Fabrikarbeiterinnen lehnte Bismarck ab: „Und warum nur von der Nachtarbeit, von dieser aber unbedingt, Nachteile für die Sittlichkeit der Frauen zu befürchten sein sollten, ist nicht ersichtlich. Es wird hierbei doch sehr auf die Art der Beschäftigung ankommen. Wenn in der Denkschrift [des Handelsministeriums, W.A.] behauptet wird, dass ein wirklich geordnetes Hauswesen kaum denkbar sei, wo die Haus- frau selbst nachts außer Haus arbeite, so ist hierauf zu erwidern, dass nicht alle Arbeiterinnen [Ehe]-Frauen sind und dass ein wirklich geordnetes Hauswesen mit der Arbeit der Frauen in den Fabriken überhaupt nicht zu vereinbaren ist. Die Gründe, welche gegen die Nachtarbeit sprechen, treffen auch für die Tagesarbeit zu.“61 Bismarck behielt diese 1876 gefundene Position zur Frauenarbeit in den folgenden Jahren unverändert bei. Der Reichskanzler war kein Anhänger eines rückwärtsgewandten Zurückdrängens der Frauenarbeit – ganz im Gegensatz zu vielen konservativen Politikern, der katholischen Zentrumspartei und so manchen Kreisen der Arbeiterbewegung. Zwar er- klärte Bismarck zur Frauenarbeit im Reichstag, er halte es „im höchstem Maß wünschens- wert“, dass Fabrikarbeiter genug verdienten, damit ihre Ehefrauen zu Hause [S. 415] bleiben könnten.62 Gleichzeitig war er jedoch strikt dagegen, die Erwerbsmöglichkeiten von Frauen gesetzlich einzuschränken. 58 GStA Berlin I. HA Rep. 120 BB I 1 Nr. 12 Bd. 9, fol. 85-87 Rs.; abgedruckt in Quellensammlung GDS I. Abt. Bd. 3 Nr. 93. 59 Ebenda. 60 Ebenda. 61 Ebenda. 62 In der Reichstagsrede vom 9.1.1882; abgedruckt in: Quellensammlung GDS II. Abt. Bd. 3 Nr. 6. Auf die Druckfassung eines im Dezember 1884 gestellten Antrags des freikonservativen Reichstagsabgeordneten und früheren Textilindustriellen Arnold Lohren zur Abänderung der Gewerbeordnung mit dem Wortlaut „Weibliche Personen dürfen in Fabriken weder an Sonn- und Festtagen noch zu Nachtzeit zwischen 8½ Uhr abends und 5½ Uhr morgens beschäftigt werden“ schrieb Bismarck: „aber bezahlt? Und von wem?“63 Im Januar 1886 erklärte Bismarck gegenüber dem Staatssekretär des Innern, Karl Heinrich von Boetticher, er könne „einer Einschränkung der Frauenarbeit“ nicht zu- stimmen, die Regierung könne für eine daraus eventuell resultierende „ungünstige Wirkung auf die Lebenshaltung der Arbeiterfamilien“ keine Verantwortung übernehmen.64 Als sich im Mai 1886 eine Beschlussfassung des Reichstags zur Einschränkung der Fabrikarbeit ver- heirateter Arbeiterinnen andeutete, hielt der Reichskanzler dies für eine „Erschwerung des Erwerbs und Einmischung der Behörde in die Häuslichkeit“ bzw. „eine bürokratische Einmischung in das Familienleben und den freien Willen des Einzelnen“.65 Zum Vorschlag des Verbots der Nachtarbeit von Fabrikarbeiterinnen, die insgesamt eher ein absehbares als ein akutes Problem war, schrieb Bismarck an den Rand des betreffenden Berichts: „ab- warten“. Für eine präventive Abwendung „künftiger Gefahren“ war der Reichskanzler nicht zu gewinnen. Zur Formulierung „künftige Gefahren“ schrieb er: „Doch nicht ganz gewisser [Gefahren, W.A.].“ Auch hier fragte Bismarck in Randbemerkungen: „Wer entschädigt diese Frauen für den Verdienst, den das Verbot ihnen nimmt?“ und „Warum sollen die nicht erwerben, wenn sie es können? Ohne das Bedürfnis nach Lohn arbeiten sie nicht des Nachts“.66 Bei einem Verbot der Nachtarbeit seien Arbeiterinnen „in vielen Fabriken überhaupt nicht [mehr, W.A.] verwendbar“.67 Nach langen Auseinandersetzungen beschloss der Reichstag am 17. Juni 1887 in der bereits erwähnten – auch Regelungen zur Kinderarbeit beinhaltenden – Novelle zur Ge- werbeordnung fast einstimmig folgende Schutzbestimmungen für Fabrikarbeiterinnen: einen Wöchnerinnenschutz von 4 Wochen nach einer Geburt, Möglichkeit von Arbeits- verboten in bestimmten Industriezweigen, Verbot der Arbeit an Sonn- und Feiertagen, 63 BArch R 1501 Nr. 106389, fol. 221; als Faksimile abgedruckt vor der Einleitung zu Quellensammlung GDS II. Abt. Bd. 3. 64 Vgl. Quellensammlung GDS II. Abt. Bd. 3 Nr. 111. 65 BArch R 1501 Nr. 106393, fol. 92 u. fol. 100; abgedruckt in: Quellensammlung GDS II. Abt. Bd. 3 Nr. 124, Anm. 17 und Anm. 33. 66 BArch R 1501 Nr. 106393, fol. 106 u. fol. 108 Rs.; abgedruckt in: Quellensammlung GDS II. Abt. Bd. 3 Nr. 124, Anm. 46 und Anm. 51. 67 BArch R 1501 Nr. 106393, fol. 91 Rs.; abgedruckt in: Quellensammlung GDS II. Abt. Bd. 3 Nr. 124, Anm. 15. Verbot der Nachtarbeit und einen Zehnstundentag für verheiratete Arbeiterinnen.68 Im Wesentlichen wollte der Reichstag also die für Jugendliche geltenden Bestimmungen auf erwachsene Frauen ausweiten; der erst 1878 eingeführte Wöchnerinnenschutz sollte um eine Woche verlängert werden. Wie bereits ausgeführt, hat Bismarck den Gesetzentwurf des Reichstags im Bundesrat zu Fall bringen lassen.69 [S. 416] Doch damit nicht genug. Im Juli 1889 untersagte Bismarck der Wissen- schaftlichen Deputation für das Medizinalwesen (durchweg angesehene Universitäts- professoren), über sanitätspolizeiliche Maßregeln zum Schutz von Arbeiterinnen überhaupt nur zu beraten: „Die theoretischen Erörterungen der Gelehrten sind in diesen praktischen Fragen nicht unbedenklich. Wenn die Beschäftigung der Frauen erschwert werden soll, so fragt es sich, wie der Ausfall des bisherigen Verdienstes der Frau im Haushalt des Arbeiters gedeckt werden soll. Wir haben schon mit dem Verbot bezüglich der 14–16-Jährigen viel Elend gemacht.“70 VI. Am nachhaltigsten hat sich Bismarck in der Frage der Sonntagsarbeit engagiert. Bismarcks Ablehnung gesetzlicher Arbeitszeitregelungen findet sich zuerst in diesem Zusammenhang – viele Jahre vor Äußerungen zu anderen Aspekten des Arbeiterschutzes. Polemik gegen den „englischen Sonntag“ war ein beliebtes Thema des Kanzlers.71 Moritz Busch berichtet von einem Tischgespräch während des deutsch-französischen Krieges in Versailles, in dem Bismarck die absolute Sonntagsruhe in England, die er dort 1842 erlebt hatte, als „Tyrannei“ bezeichnete. Er sei nicht gegen die Sonntagsheiligung, „doch wollte ich niemand dazu zwingen“.72 Während seiner Zeit als Bundesratsgesandter in Frankfurt habe er sonntags immer ganz einfach gegessen und „niemals anspannen lassen, der Leute halber“. Er könne es jedoch nicht übers Herz bringen, seinen landwirtschaftlichen Pächtern im Kontrakt jede Arbeit am Sonntag zu untersagen. Bismarcks Ablehnung des behördlichen bzw. gesetzlichen Eingriffs in Arbeitszeit- regelungen entstand also zunächst ganz außerhalb des industriellen und gewerberechtlichen 68 Zum Verbot der Nachtarbeit von Arbeiterinnen vgl. Wolfgang Ayaß, „Der Übel größtes“. Das Verbot der Nachtarbeit von Arbeiterinnen in Deutschland (1891-1992), in: Zeitschrift für Sozialreform 46 (2000), S. 189-220. 69 Vgl. Anm. 5. 70 BArch R 1501 Nr. 106457, fol. 144 Rs.; abgedruckt in: Quellensammlung GDS II. Abt. Bd. 3 Nr. 194. 71 Vgl. die Reichstagsrede vom 9.5.1885 (Sten. Ber. RT 6. LP I. Session 1884/1885, S. 2682); vgl. Sidney Whitman, Persönliche Erinnerungen an den Fürsten Bismarck, Stuttgart/Berlin/Leipzig 1902, S. 155 f. 72 Moritz Busch, Tagebuchblätter. Bd. 1: Graf Bismarck und seine Leute während des Krieges mit Frankreich 1870-1871 bis zur Beschießung von Paris, Leipzig 1899, S. 278 f. Kontextes. Im Gegensatz zu den anderen Aspekten des Arbeiterschutzes beschränkte sich die Frage der Sonntagsarbeit von vornherein nicht auf die Fabriksphäre, sondern umfasste das Arbeitsleben insgesamt. Auch reichte die Praxis eines arbeitsfreien Tages weit in vorindustrielle Zeiten zurück.73 Forderungen nach Verbot der Sonntagsarbeit waren fast durchweg eingebettet in Forderungen nach religiös begründeter allgemeiner Sonntagsruhe, die Gewerbe, Handel und Landwirtschaft gleichermaßen umfassen sollte. In der Frage der Sonntagsarbeit überlagerten sich somit religiöse und gewerbehygienische Aspekte, Gegner und Befürworter gruppierten sich folglich anders als bei anderen Aspekten des Arbeiter- schutzes. Darüber hinaus war die Sonntagsarbeit regional unterschiedlich verbreitet und in vielen Gebieten weitgehend untersagt. Beispielsweise war im Königreich Sachsen die Sonntagsarbeit seit 1870 gesetzlich verboten, in der preußischen Rheinprovinz war sie seit 1853 durch Verordnung des Oberpräsidenten untersagt.74 [S. 417] Die Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund enthielt zur Sonntagsarbeit in § 105 nur die wenig wirksame Regelung, dass zur Arbeit an Sonn- und Feiertagen niemand verpflichtet werden konnte. Dies galt im Gegensatz zu den Bestimmungen des Jugendarbeitsschutzes jedoch im gesamten Gewerbe, nicht nur in Fabriken. Schon bei der Beratung der Gewerbeordnung im Jahr 1869 waren hierzu von konservativer und sozialdemokratischer Seite – von der Reichstagsmehrheit abgelehnte – Anträge nach einem allgemeinen Verbot der Sonntagsarbeit gestellt worden. Auch bei den Beratungen anlässlich der Novelle zur Gewerbeordnung im Jahr 1878 war die Sonntagsarbeit – neben der Fabrikinspektion – ein zentrales Thema. Die Regierungsvorlage hatte zur Sonntags- arbeit nur eine etwas griffigere Formulierung des geltenden § 105 der Gewerbeordnung vorgesehen. Auf Vorschlag der eingesetzten Kommission hat der Reichstag dann ein Ver- bot der Sonntagsarbeit in zweiter Lesung mit 123 gegen 117 Stimmen angenommen. Abgeordnete der Nationalliberalen und der linksliberalen Fortschrittspartei stellten darauf- hin Anträge auf Wiederherstellung der Regierungsvorlage, worauf in dritter Lesung mit der Zufallsmehrheit von 132 zu 131 das Verbot der Sonntagsarbeit wieder aus der Novelle 73 Vgl. Wilhelm Stieda, Sonntagsarbeit, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 3. Auflage, Jena 1911, Bd. 7, S. 556-568. 74 Gesetz, die Sonn-, Fest- und Bußtagsfeier betreffend, vom 10.9.1870 (Sächs. GVBl., S. 313); Polizei-Verordnung, die äußere Heilighaltung der Sonn- und Festtage betr., vom 14.12.1853 (Amtsblatt Regierung Düsseldorf, 1853, S. 682). Vgl. Die in den deutschen Bundesstaaten geltenden Gesetze und Verordnungen betreffend die Ruhe an Sonn- und Feiertagen (Sten. Ber. RT 6. LP II. Session 1885/1886, Drucksache Nr. 71); vgl. Systematische Übersicht der im Deutschen Reich geltenden gesetzlichen und polizeilichen Bestimmungen über die Vornahme gewerblicher Arbeiten an Sonn- und Feiertagen (Sten. Ber. RT 6. LP II. Session 1885/1886, Drucksache Nr. 290). gestrichen wurde.75 Bismarck hatte zuvor gegenüber dem Präsidenten des Reichskanzler- amts, Karl Hofmann, erklären lassen, die Novelle müsse gegebenenfalls im Bundesrat vollständig abgelehnt werden.76 In der Frage der Sonntagsarbeit konnte vor diesem Hintergrund bei einem erneuten An- lauf durchaus mit einem positiven Reichstagsbeschluss gerechnet werden. Entsprechende Anträge brachten die Sozialdemokraten und das Zentrum in der ersten Session des 1884 gewählten sechsten Reichstags ein. Auch die Konservativen traten für eine allgemeine Sonntagsruhe ein, legten hierfür jedoch – sieht man von einem zusammen mit Zentrums- abgeordneten eingebrachten, jedoch wieder zurückgezogenen Gesetzentwurf vom Dezember 1884 ab – keine eigenen Anträge vor, sondern stimmten in dieser Frage jeweils mit dem Zentrum. Mit Hans Hugo von Kleist-Retzow befand sich in den Reihen der konservativen Abgeordneten ein überzeugter Verfechter der christlichen Sonntagsruhe, der diese bereits 1853 als damaliger Oberpräsident der Rheinprovinz auf dem Verordnungsweg weitgehend durchgesetzt hatte. Kleist-Retzow hat seinen alten Freund Bismarck am 15. Februar 1888 in einer Reichstagsrede wegen der Sonntagsarbeit in den Varziner Papierfabriken persönlich angegriffen.77 Auch der Saarindustrielle und freikonservative Reichstagsabgeordnete Karl Ferdinand Stumm war ein entschiedener Gegner der Sonntagsarbeit, die im zur Rheinprovinz ge- hörenden Saarland schon seit Jahrzehnten eingeschränkt war. Stumm – ansonsten ein Verfechter Bismarckscher Sozial- und Wirtschaftspolitik – hatte sich schon 1878 in den Debatten anlässlich der Gewerbeordnungsnovelle nachhaltig für eine Begrenzung der Sonntagsarbeit eingesetzt.78 Eine Rede Stumms zum Verbot der Sonntagsarbeit auf der [S. 418] 2. ordentlichen Generalsynode der evangelischen Landeskirche Preußens führte zu heftigen, unmittelbar von Bismarck veranlassten Angriffen der offiziösen „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung“ auf den Saarindustriellen.79 Als am 9. Mai 1885 im Reichstag die Annahme eines Gesetzentwurfs zum Verbot der Sonntagsarbeit in zweiter Lesung drohte, trat Bismarck fünfmal vor den Reichstag, um dies zu verhindern. Die Arbeiter selbst – so Bismarck – befürworteten die Sonntagsarbeit, die ohnehin aufgrund technischer Schwierigkeiten nicht zu umgehen sei. Das Kernproblem sei 75 Dazu trug bei, dass von den zwölf sozialdemokratischen Abgeordneten einer (Bebel) inhaftiert war und vier weitere (Auer, Bracke, Liebknecht, Most) unentschuldigt fehlten. 76 BArch R 43 Nr. 490, fol. 143; abgedruckt in: Quellensammlung GDS I. Abt. Bd. 3 Nr. 153. 77 Sten. Ber. RT 7. LP II. Session 1887/1888, S. 913. Vgl. Herman von Petersdorff, Kleist-Retzow. Ein Lebensbild, Stuttgart/Berlin 1907, S. 497-504. 78 Vgl. Quellensammlung GDS I. Abt. Bd. 3 Nr. 146, Nr. 149, Nr. 152. 79 Vgl. Quellensammlung GDS II. Abt. Bd. 3 Nr. 98-102. jedoch, dass die Arbeiter auf den Sonntagslohn nicht verzichten könnten. „Was helfen dem Volke die höchsten Güter, wenn es Hunger leiden muss?“80 Bismarck bezifferte den Sonntagslohn wiederholt auf 14 Prozent des Jahreslohns, was natürlich nur für diejenigen Arbeiter zutraf, die regelmäßig sonntags arbeiteten. Bismarck wies selbst auf die ungleichmäßige Verbreitung der Sonntagsarbeit hin: „Die meisten feiern schon jetzt; es ist also nur ein Teil der Arbeiter, um den es sich handelt.“81 Der Umfang der Sonntagsarbeit und die Stellung der Arbeiter zu dieser könne nur durch eine – auch von den Nationalliberalen befürwortete – Enquete ermittelt werden, in der die Arbeiter „ohne ihre Führer und Vormünder“ vernommen werden könnten. Eine solche „Sonntagsenquete“ wurde dann vom Reichsamt des Innern durchgeführt. In die konkrete Ausgestaltung der am 5. Juli 1885 eingeleiteten Enquete griff Bismarck wiederholt ein.82 Beispielsweise ließ er anordnen, dass die Arbeiter an Ort und Stelle und nicht in den Kreisstädten angehört werden sollten.83 Außerdem wollte er nicht nur die Zahl der sonntags beschäftigten Arbeiter festgestellt haben, sondern auch „die Zahl derjenigen Arbeiter, welche schon jetzt überhaupt niemals am Sonntag arbeiten“.84 Als das Reichsamt des Innern die insgesamt 683 Seiten umfassenden drei Bände der „Ergebnisse“ der Sonntagsenquete am 13. Juni 1887 endlich vorlegen konnte85 – zwischen Einleitung der Enquete und der Vorlage der Druckfassung waren immerhin zwei Jahre (und drei Reichstagssessionen) verstrichen –, kam der Reichstag in der zweiten Session der siebten Legislaturperiode zu einer Beschlussfassung. Die Ergebnisse der Enquete waren zwar insgesamt widersprüchlich, bestätigten jedoch eher die Gegner der Sonntagsarbeit.86 Mit großer Mehrheit beschloss der Reichstag daraufhin am 7. März 1888 eine weitgehende Einschränkung der gewerblichen Sonntagsarbeit. Nur die sozialdemokratischen Abgeordneten, denen die Gesetzesvorlage nicht weit genug ging, stimmten dagegen.87 Bismarck hatte mit der von ihm 1885 initiierten Sonntagsenquete einen Beschluss des 80 Sten. Ber. RT 6. LP I. Session 1884/1885, S. 2677. 81 Sten. Ber. RT 6. LP I. Session 1884/1885, S. 2680. 82 Vgl. Quellensammlung GDS II. Abt. Bd. 3 Nr. 79-81, Nr. 84-85, Nr. 91, Nr. 93. 83 GStA Berlin I. HA Rep. 120 BB II b 1 Nr. 6 adh. 1 Bd. 1, fol. 94; abgedruckt in: Quellensammlung GDS II. Abt. Bd. 3 Nr. 91. 84 BArch R 43 Nr. 492, fol. 112a-112a Rs.; abgedruckt in: Quellensammlung GDS II. Abt. Bd. 3 Nr. 93. 85 Ergebnisse der Erhebungen über die Beschäftigung gewerblicher Arbeiter an Sonn- und Festtagen. Zusammengestellt im Reichsamt des Innern, 3 Bde., Berlin 1887. 86 Vgl. August Bebel, Die Sonntags-Arbeit. Auszug aus den Ergebnissen der Erhebung über die Beschäftigung gewerblicher Arbeiter an Sonn- und Festtagen, nebst kritischen Bemerkungen, Stuttgart 1888. 87 Vgl. die Rede August Bebels im Rahmen der dritten Lesung am 7.3.1888 (Sten. Ber. RT 7. LP II. Session 1887/1888, S. 1351-1354). Reichstags zur Sonntagsarbeit zunächst verhindern können, diesen Aufschub 1888 letztendlich jedoch mit einem fast einmütigen Parlamentsbeschluss bezahlen müssen. [S. 419] Der vom Reichstag angenommene Kommissionsantrag zum Verbot der gewerblichen Sonntagsarbeit stammte interessanterweise faktisch aus der Regierungsbürokratie. Der Text war heimlich und ohne Wissen Bismarcks von Theodor Lohmann ausgearbeitet und per Boten dem nationalliberalen Abgeordneten Fritz Kalle und dem konservativen Abgeordneten Hans Hugo von Kleist-Retzow in neutralen Briefumschlägen in ihre Hotels überbracht worden. Die beiden Parlamentarier brachten den Entwurf Lohmanns – ohne diesen als Autor zu nennen – als eigenen Antrag in die eingesetzte Reichstagskommission ein, wo er nur geringfügig abgeändert und schließlich einstimmig angenommen wurde. Das Reichstagsplenum folgte mit überwältigender Mehrheit dem Vorschlag seiner Kommission. Die Ablehnung durch den Bundesrat erfolgte erst am 19. November 1888 in derselben Sitzung, in der auch die Reichstagsbeschlüsse zur Frauen- und Kinderarbeit zurückgewiesen wurden. Nur Sachsen – dort war die Sonntagsarbeit längst verboten – sprach sich gegen die Verwerfung des Reichstags- beschlusses aus.88 Theodor Lohmann hatte am 31. Januar 1889 im Reichstag das zweifel- hafte Vergnügen, den von ihm heimlich formulierten Gesetzentwurf zur Sonntagsarbeit in amtlicher Rolle als Bundesratsvertreter als unannehmbar bezeichnen zu müssen.89 Zuvor hatte Bismarck am 4. Dezember 1888 in einem Erlass an Karl Heinrich von Boetticher seinen Standpunkt bekräftigt. Die verbündeten Regierungen seien nicht bereit, „die Verantwortung für den Zwang zu übernehmen, der geübt würde, wenn man denjenigen Arbeitern, die am Sonntag arbeiten wollen, dies bei Strafe verbieten und sie dadurch in der Freiheit, ihre Arbeitskraft nach eigenem Ermessen zu verwerten, beeinträchtigen wollte“.90 VII. Allgemeine Begrenzungen der Arbeitszeit in einem „Normalarbeitstag“ gehörten zu den Kernforderungen der Arbeiterbewegung. In den 1880er Jahren wurde dies jedoch im Reichstag nur von den Sozialdemokraten und dem Zentrum unterstützt. Die Sozialdemokra- ten forderten einen Zehnstundentag im gesamten Gewerbe, während das Zentrum für einen Elfstundentag eintrat, der jedoch nur in Fabriken gelten sollte. Eine positive Beschluss- fassung des Reichstags war in dieser Frage somit nicht zu erwarten, zumal die Ablehnung wirksamer Arbeitszeitbeschränkungen für erwachsene männliche Arbeiter eine 88 Vgl. Quellensammlung GDS II. Abt. Bd. 3 Nr. 173, 175-176. 89 Vgl. den Brief Theodor Lohmanns an Ernst Wyneken vom 3.2.1889 (BArch N 2179 [Lohmann] Nr. 2, fol. 242-242 Rs.); abgedruckt in: Quellensammlung GDS II. Abt. Bd. 3 Nr. 183. Grundposition der Industriellenverbände bildete. Bismarcks früheste Äußerung zum „Normalarbeitstag“ stammt vom 8. Januar 1882. Nachdem der Reichskanzler eine Bergarbeiterpetition mit einer diesbezüglichen Forderung erhalten hatte, schrieb er an den Minister der öffentlichen Arbeiten, Albert Maybach: „Nach meiner Auffassung ist jede Maßregel der Art eine zweischneidige. Sie kann auf der einen Seite zu einer Besserung der Lage der Arbeiter, auf der anderen Seite aber auch zu einer Verteuerung der Produktion und zur Herabminderung des Arbeitslohns führen, in ihren weiteren Folgen die Konkurrenz- und Exportfähigkeit der inländischen Industrie gefährden und schließlich Arbeitslosigkeit herbeiführen.“91 [S. 420] Die erste öffentliche Äußerung Bismarcks hierzu fiel am darauf folgenden Tag in der Reichstagsrede vom 9. Januar 1882. Er gestand in dieser Rede zu, dass in Arbeiter- kreisen die Klage über zu lange Arbeitszeiten weit verbreitet sei. Den Arbeitern seien jedoch keine durch Arbeitszeitverkürzungen verursachten Lohneinbußen zuzumuten. Gegen einen gleichmäßigen Normalarbeitstag führte Bismarck das Problem der Nachfrage- schwankungen ins Feld: „Jedes Geschäft hat seine Ebbe und Flut. Wir brauchen bloß an die Zeit der Festtage hinter uns zu erinnern. Welches Berliner Geschäft hat nicht seine Flut ge- habt im Monat Dezember vor Weihnachten? Und so ist bei anderen Geschäften in anderen Jahreszeiten in regelmäßiger Wiederkehr Ebbe und Flut. Wollte man dieselbe Arbeitszeit oder ein Maximum der Arbeitszeit ansetzen, was nicht überschritten werden darf, in einer Weihnachtszeit, wo die Leute, um zu verdienen, mit Vergnügen die Nächte daran setzen, um zu arbeiten, so würde man hart und störend in ihre freie Erwerbstätigkeit eingreifen.“ In dieser Reichstagsrede stellte Bismarck auch die Behauptung auf, ein gesetzlicher Normalarbeitstag (der von den Befürwortern als ein „Maximalarbeitstag“ konzipiert war) könne auch zu Arbeitszeitverlängerungen in bereits kürzer arbeitenden Betrieben führen.92 In der ersten Lesung der seit November 1884 eingebrachten Arbeiterschutzanträge bekräftigte Bismarck am 15. Januar 1885 im Reichstag seine Position zum Normalarbeits- tag, den er als undurchführbar bezeichnete.93 Hier wiederholte Bismarck auch seinen Hin- weis auf die Gefahr der Verlängerung der Arbeitszeit durch einen Normal- bzw. Maximal- arbeitstag: „Ein Maximalarbeitstag hat die Gefahr, dass nun ein jeder Arbeitgeber sich berechtigt hält, bis auf das Maximum heraufzugehen, auch der, welcher es früher nicht 90 BArch R 1501 Nr. 106394, fol. 107-109 Rs.; abgedruckt in: Quellensammlung GDS II. Abt. Bd. 3 Nr. 180. 91 GStA Berlin I. HA Rep. 120 BB VII 5 Nr. 1 Bd. 1, fol. 132-134 Rs.; abgedruckt in: Quellensammlung GDS II. Abt. Bd. 3 Nr. 5. 92 Reichstagsrede vom 9.1.1882; abgedruckt in: Quellensammlung GDS II. Abt. Bd. 3 Nr. 6. 93 Reichstagsrede vom 15.1.1885; abgedruckt in: Quellensammlung GDS II. Abt. Bd. 3 Nr. 51. getan. Wenn es heißt: ‚14 Stunden‘ – was ich für einen ungeheuerlichen Arbeitstag und für unzulässig halte – ‚dürfen nicht überschritten werden‘, so wird auch der Arbeitgeber, der bisher nur 10 oder 12 Stunden arbeiten ließ, sich sagen: Bis 14 Stunden kann ich gesetzlich gehen! Darin liegt die Gefahr für eine Maximalbestimmung.“94 Ein Normalarbeitstag mache auch einen Normallohn notwendig, „sonst laufen wir Gefahr, dass, wenn Sie den Arbeitstag um durchschnittlich 20 Prozent heruntersetzen, der Lohnsatz unaufhaltsam, ohne dass die Regierung es hindern kann, allmählich oder schnell ebenfalls um 20 Prozent fällt. Wer soll nun diesen Ausfall tragen? Wer ersetzt das? Wollen Sie das aus Staatsmitteln dem Arbeiter ersetzen, was er durch Lohnverminderung erleidet? Der Arbeiter hat in den meisten Fällen jetzt gerade so viel, wie er bei seinen Bedürfnissen braucht; sinkt der Lohn, so hat er weniger. Also das muss ihm auf irgendeine Weise ersetzt werden.“95 Der Industrie könnten jedoch aufgrund der internationalen Konkurrenz die Kosten nicht auferlegt werden. Nur eine globale Vereinbarung eines „Weltarbeitstags- vereins“ könne allgemeine Arbeitszeitregelungen konkurrenzfrei garantieren. Interessanterweise begann Bismarck ebenfalls im Januar 1885 im Auswärtigen Amt eine Initiative, um die Haltung der wichtigsten Industriestaaten zu internationalen Arbeits- zeitregelungen zu erkunden. Die Angelegenheit blieb jedoch im Stadium der Erlassent- würfe an die Gesandten und Botschafter stecken und wurde nicht weiter verfolgt.96 [S. 421] VIII. Für Bismarck waren Jugendarbeitsschutz, Einschränkung der Frauenarbeit, Verbot der Sonntagsarbeit und Einführung eines Normalarbeitstags im Kern Varianten ein und desselben Themas: staatlich verordnete Arbeitszeitverkürzung ohne garantierten Lohnaus- gleich. Im Reichstag erklärte er am 9. Januar 1882 „die Sonntagsarbeit, die Frauenarbeit und die Ausdehnung der Zeit der Männerarbeit – sie haben das miteinander gemein, dass sie die Zeitfrage betreffen, wenn man sie kumuliert“, und dass weder Arbeitgeber noch die Arbeitnehmer für den daraus entstehenden Lohnausfall aufkommen könnten, den Bismarck sogar in ausführlichen Rechenbeispielen zu quantifizieren versuchte. In seinen Lebens- erinnerungen bezeichnete er gesetzliche Arbeitszeitregelungen pauschal als „Arbeiter- zwang, um den Zwang, weniger zu arbeiten“.97 Bismarck reduzierte damit den facettenreichen Arbeiterschutz auf eine reine Lohnfrage, 94 Ebenda. 95 Ebenda. 96 BArch R 901 Nr. 35259/1, fol. 10-21 Rs.; abgedruckt in: Quellensammlung GDS II. Abt. Bd. 3 Nr. 53, Nr. 55. was allerdings sehr kurz griff, denn immerhin ging es beim Arbeiterschutz auch um Bereiche wie Gesundheit, Mutterschutz, Schaffung von Freizeit und Ermöglichen von Familienleben, also um zentrale Fragen der Reproduktionsbedingungen der Arbeiterschaft. Wiederholt behauptete Bismarck, die Arbeiterschaft sei gegen den Ausbau der Arbeiter- schutzbestimmungen.98 „Das Bedürfnis der Arbeiter ist eher mehr Lohn als mehr Schutz. Die Schutzeinrichtungen werden von den Arbeitern verdorben und vernachlässigt“, notierte er bereits 1877 an den Rand einer dem damaligen Entwurf eines Fabrikgesetzes beigefügten Denkschrift.99 Dort notierte Bismarck auch die Bemerkung, dass die Arbeiter eine „Ab- neigung gegen Beschränkung ihres Erwerbs“ hätten.100 Acht Jahre später, am 9. Mai 1885, führte er im Rahmen der erwähnten Reichstagsdebatte zur Sonntagsarbeit aus: „Wenn man nun die Arbeiter darüber abstimmen ließe: ‚wollt ihr, dass auch bei Strafe verboten wird, sonntags zu arbeiten?‘ so werden sie die Frage, ob sie ihrerseits bereit sind, 14 Prozent ihres Jahreslohns zu verlieren, ganz bestimmt verneinen ...“.101 Ein Jahr später vermerkte er zu den im Reichstag debattierten Arbeiterschutzanträgen: „Werden diese Maßregelungen wirklich den Arbeitern so erwünscht sein? Alle schwerlich.“102 Die Behauptung Bismarcks, die Arbeiter seien in ihrer Mehrheit eigentlich gegen den Arbeiterschutz, ist ohne empirische Grundlage und ziemlich erstaunlich, weil sowohl die christliche als auch die liberale und die sozialistische Arbeiterbewegung Verfechter des Ausbaus des gesetzlichen Arbeiterschutzes waren, wenngleich mit deutlich unter- schiedlichen Schwerpunkten. Doch dies berührte Bismarck wenig, das war aus seiner Sicht ohnehin nur Funktionärsgerede. Bismarck rekurrierte gern auf den „einfachen Arbeiter“, dessen Ansichten er als Gutsbesitzer und Eigentümer der kleinen Papierfabriken zu kennen glaubte. Zu Bismarcks Herrschaftstechnik gehörte nicht nur, dass er je nach Erfordernis als Reichskanzler, preußischer Ministerpräsident, Außenminister oder Handelsminister auftrat, sondern auch, dass er gern die Rolle des betroffenen Bürgers als [S. 422] Gutsbesitzer oder Unternehmer annahm, um als angeblicher Praktiker von dieser Position aus zu argumen- tieren. Im politischen Parteienspektrum war im Übrigen ironischerweise eine mit der „Freiheit 97 Otto von Bismarck, Die Gesammelten Werke, Bd. 15, S. 492 (wie Anm. 1). 98 Vgl. auch die Reichstagsrede vom 9.5.1885 (Sten. Ber. RT 6. LP I. Session 1884/1885, S. 2676). 99 BArch R 43 Nr. 356, fol. 50 Rs.; abgedruckt in: Quellensammlung GDS I. Abt. Bd. 3 Nr. 116, Anm. 46. 100 BArch R 43 Nr. 356, fol. 60 Rs.; abgedruckt in: Quellensammlung GDS I. Abt. Bd. 3 Nr. 116, Anm. 84. 101 Sten. Ber. RT 6. LP I. Session 1884/1885, S. 2676. 102 BArch R 1501 Nr. 106393, fol. 93 Rs.; abgedruckt in: Quellensammlung GDS II. Abt. Bd. 3 Nr. 124, Anm. 20. des Arbeiters“ begründete derart schroffe Ablehnung des staatlichen Arbeiterschutzes zu- nächst – neben Teilen der Nationalliberalen – in erster Linie bei den von Bismarck sonst so gehassten linksliberalen „Freisinnigen“ zu finden.103 Doch selbst diese widersetzten sich von Anfang an nicht geschlossen dem Ausbau der Fabrikinspektion und zeigten sich ins- besondere in den Fragen der Kinder- und der Sonntagsarbeit – weniger bei der Frauen- arbeit – wesentlich flexibler als der Reichskanzler.104 Etwas überraschend stand Bismarcks Sorge um die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Industrie nicht im Mittelpunkt seiner Ablehnung des Arbeiterschutzes. Natürlich führte er in diesem Zusammenhang auch gern die beschränkte Belastungsfähigkeit der heimischen Industrie an – vor allem in den einschlägigen Reichstagsreden. „Wo ist die Grenzlinie, bis an welche man die Industrie belasten kann, ohne dem Arbeiter die Henne zu schlachten, die ihm die Eier legt?“, führte er Anfang 1882 im Reichstag aus. Drei Jahre später wiederholte er diese Hennenmetapher in der Reichstagsrede vom 15. Januar 1885 fast wörtlich. Jede Verbesserung für die Arbeiter sei mit einer Belastung für die Industrie verbunden. In seinen unmittelbaren und ungeschützt niedergeschriebenen Marginalien in den Regierungsakten spielte bei Bismarck jedoch die Sorge vor Einkommensverlusten der Arbeiterfamilien eine weitaus größere Rolle als die ebenfalls zu findenden Warnungen vor einem eventuellen Verlust der Exportfähigkeit der deutschen Industrie. Im Arbeiterschutz sah Bismarck keine Lösung von Problemen der Industriegesellschaft, sondern eine Verschärfung der sozialen Frage. Es sei in diesem Zusammenhang nur an die erwähnte Marginalie erinnert, dass man mit der Beschränkung der Arbeitszeit Jugendlicher „viel Elend gemacht“ habe. Aus seiner Sicht war die Ablehnung des Arbeiterschutzes ein Stück Elend verhindernde positive Arbeiterpolitik! IX. In der Entlassungskrise Bismarcks, im Konflikt mit dem 44 Jahre jüngeren Kaiser Wilhelm II., spielte die Arbeiterschutzfrage eine wichtige Rolle. Der technikbegeisterte Kaiser hatte den Arbeiterschutz für sich entdeckt, wohl nicht zuletzt durch die erwähnte Unfallverhütungsausstellung der Berufsgenossenschaften. Anfang 1890 forderte Wilhelm II. – um sich als „Arbeiterkaiser“ zu profilieren und um sich von Bismarck abzu- grenzen – gesetzgeberische Schritte im Arbeiterschutz.105 Der Staatssekretär des Innern, Karl Heinrich von Boetticher, fuhr in dieser Angelegenheit vom 7. bis 10. Januar 1890 nach 103 Vgl. Wolther von Kieseritzky, Liberalismus und Sozialstaat. Liberale Politik in Deutschland zwischen Machtstaat und Arbeiterbewegung (1878-1893), Köln/Weimar/Berlin 2002. 104 Vgl. die Einleitung zur Quellensammlung GDS II. Abt. Bd. 3, S. XXVIII f. Friedrichsruh zu Bismarck. Von Boetticher berichtete in seinen im Jahr 1902 niederge- schriebenen Erinnerungen über diesen Aufenthalt: „Bei der Besprechung über den Ausbau der Arbeiterschutzgesetzgebung fand ich ihn [Bismarck, W.A.] den kaiserlichen Absichten gegenüber durchaus ablehnend. Er meinte, er könne keinen Wechsel unterschreiben, der mit seiner ganzen Vergangenheit und mit seinen wirtschaftlichen Anschauungen im Wider- spruch stehe; er vermöge es nicht zu verantworten, dem hun-[S. 423]gernden Arbeiter und der notleidenden Arbeiterwitwe die Gelegenheit zum Verdienst zu beschränken, er halte die Beschäftigung jugendlicher, der Schule entwachsener Arbeiter für sie und für ihre Familien für segensreich und werde niemals seine Zustimmung dazu geben, dass der Humanitäts- dusel auf diesem Gebiet zu Zuständen führe, welche die vaterländische Wirtschaft schädigen und Unzufriedenheit innerhalb der arbeitenden Klassen erzeugen müssten. Der Kaiser übersehe die Tragweite seiner Pläne nicht, er werde von unverantwortlichen Ratgebern beeinflusst, und er, der Fürst, werde, sobald er nach Berlin zurückgekehrt sein werde, den Kaiser hierüber ins Klare setzen. Das werde ihm unschwer gelingen. Meine Gegenvorstellungen hatten keinen Erfolg.“106 Der in der Folge wirksamste jener „unverantwortlichen Ratgeber“ war der Geheime Legationsrat im Auswärtigen Amt Paul Kayser, ein alter Bekannter der Familie Bismarck. Kayser versorgte den mit Wilhelm II. befreundeten Philipp Graf zu Eulenburg und Hertefeld (natürlich hinter dem Rücken der Bismarcks) mit einer sozialpolitischen Denk- schrift mit Vorschlägen zur Arbeitsschutzgesetzgebung und einem weiteren Schreiben ähnlichen Inhalts, die dieser – wohl ohne Wissen Kaysers – an den Monarchen weiter- gab.107 Abschriften beider Papiere legte Wilhelm II. als vorgeblich eigene Ausarbeitungen am 24. Januar 1890 auf einer Kronratssitzung vor, wobei er das erste Papier völlig unver- ändert gelassen und das zweite nur geringfügig bearbeitet hatte.108 Der Kaiser wünschte einen – zu veröffentlichenden – Erlass an das preußische Staatsministerium, mit dem dieses zu gesetzgeberischen Schritten im Arbeiterschutz aufgefordert werden sollte. Der unmittelbar zuvor nach Berlin zurückgekehrte Reichskanzler erklärte hierzu laut Staatsministerialprotokoll: „Bei dem jetzt so viel angewendeten Wort Arbeiterschutz frage es sich, gegen wen der Arbeiter geschützt werden solle, gegen den Arbeitgeber oder gegen 105 Vgl. John C.G. Röhl, Wilhelm II. (wie Anm. 13), S. 300-309. 106 Karl Heinrich von Boetticher, Zur Geschichte der Entlassung des Fürsten Bismarcks am 20. März 1890 (BArch N 1025 [Boetticher] Nr. 49, n.fol.; abgedruckt bei: Georg von Eppstein (Hg.), Fürst Bismarcks Entlassung, Berlin 1920, S. 36-39). 107 Vgl. John C.G. Röhl, Philipp Eulenburgs politische Korrespondenz. Bd. I: Von der Reichsgründung bis zum Neuen Kurs 1866-1891, Boppard 1976, S. 407 f., S. 415 f. 108 BArch R 43 Nr. 432, fol. 59-64 bzw. fol. 57-58 Rs. u. fol. 71. seine eigene Erwerbslust, die ihn veranlasse, auch sonntags und auch nachts zu arbeiten und Weib und Kind zur Arbeit anzuhalten. Es sei sehr fraglich, ob man durch Einschränkung der Gelegenheit zum Erwerb den Dank der arbeitenden Bevölkerung ernte. Bei den Strikebewegungen hätten die Fragen der Sonntags-, Frauen- und Kinderarbeit keine Rolle gespielt, sondern die Lohnerhöhung und die Einschränkung der Arbeitszeit. Solche Arbeits- verbote brächten daher auch die Gefahr mit sich, Unzufriedenheit unter den Arbeitern zu erregen und die einheimische Industrie gegen die ausländische in Nachteil zu setzen.“109 Der Vorstoß Wilhelms II. führte nach weiteren Sitzungen des preußischen Staats- ministeriums zu den beiden Aufsehen erregenden „Februarerlassen“, in denen eine internationale Arbeiterschutzkonferenz angekündigt und eine Revision der Arbeiterschutz- bestimmungen der Gewerbeordnung in Aussicht gestellt wurde.110 Bismarck hat die Ent- wurfsfassungen der beiden Erlasse, in denen mit Rücksicht auf den Kanzler sogar das Reizwort „Arbeiterschutz“ vermieden wurde,111 in mehreren Schritten eingehend red- [S. 424]igiert (und inhaltlich verschärft),112 jedoch dann die verfassungsmäßig notwendige Gegenzeichnung der Erlasse verweigert, wodurch der immer tiefer werdende Konflikt mit Wilhelm II. erstmals öffentlich ruchbar wurde. Zur Vorberatung der aufgrund der Februarerlasse nunmehr in Angriff genommenen Revision der Gewerbeordnung wurde auch der preußische Staatsrat einberufen, an dessen Sitzung am Vormittag des 26. Februar (in der über das Verbot der Sonntagsarbeit beraten wurde!) Bismarck – zu inhaltlichen Fragen – schweigend teilnahm.113 Die Hauptfrage, zu der der Staatsrat Stellung nehmen sollte, lautete: „Inwieweit sind die Bestimmungen des Titels VII der Gewerbeordnung abzuändern, um Zeit, Dauer und Art der Arbeit so zu regeln, dass die Erhaltung der Gesundheit, die Gebote der Sittlichkeit und die wirt- schaftlichen Bedürfnisse der Arbeiter gewahrt bleiben?“ In großen Buchstaben schrieb Bismarck – neben einer Reihe anderer Bemerkungen – „Humbug“ und „Quack“ zu dieser 109 GStA Berlin I. HA Rep. 90a B III 2c 3 Bd. 4, fol. 190-208 Rs. 110 Zur Genese der Februarerlasse vgl. Quellensammlung GDS II. Abt. Bd. 1. 111 Der bayerische Gesandte Hugo Graf von und zu Lerchenfeld-Koefering berichtete am 1.2.1890 nach München: „Eine große Schwierigkeit wird schon die redaktionelle Feststellung der beiden Erlasse bieten. Wie ich höre, soll[en] Entwürfe heute schon vorliegen, in welchen das Wort ‚Arbeiterschutz‘ in Rücksicht auf den Reichskanzler vermieden ist, der diese Bezeichnung nicht verträgt u. seinerseits in ‚Arbeiterzwang‘ übersetzt. Ob im Übrigen der Entwurf dem Fürsten Bismarck entspricht, ob der Kaiser ihn dann nicht wieder ändert u. den Arbeiterschutz hineinkorrigiert, wird abzuwarten sein.“ (Entwurf: HStA München Bayerische Gesandtschaft Berlin 1060, n.fol.). 112 BArch R 43 Nr. 431, fol. 204-205, fol. 211-222. 113 Vgl. Ernst Gagliardi, Bismarcks Entlassung (wie Anm. 13), S. 168 f. Frage auf die entsprechende Staatsratsdrucksache.114 Doch genau dieser „Humbug“ und „Quack“ bedrängte Bismarck nun von allen Seiten. Einige Tage später, zwei Wochen vor seiner Entlassung, erhielt Bismarck einen Entwurf für ein Arbeiterschutzgesetz, den das Königreich Sachsen in den Bundesrat einbringen wollte. Dieser Gesetzentwurf war durch eine langfristig eingefädelte Intrige entstanden. Schon 1887 und 1888 hatte der Staatssekretär des Innern von Boetticher dem sächsischen Gesandten Wilhelm Graf von Hohenthal und Bergen mehrfach hinter dem Rücken Bismarcks „privatim“ geraten, Sachsen solle in der Arbeiterschutzfrage mit eigenen Bundesratsinitiativen vorangehen.115 Durch einen in sozialpolitischen Fragen eher un- gewöhnlichen außerpreußischen Gesetzesantrag im Bundesrat sollte die Blockade Bismarcks im Arbeiterschutz aufgelöst werden. Konkret tätig wurde man in Dresden jedoch erst, nachdem auch Wilhelm II. persönlich im Januar 1890 dem sächsischen König Albert denselben Vorschlag gemacht hatte. Von Boetticher bot sich jetzt sogar an, hierfür Materialien aus dem Reichsamt des Innern bzw. dem preußischen Handelsministerium zur Verfügung zu stellen.116 Bismarck hatte so unrecht nicht, wenn er in seinen Lebens- erinnerungen in diesem Zusammenhang von Boetticher als „Hintertreppenintrigant“ bezeichnete.117 Das Dresdener Gesamtministerium nahm den Arbeiterschutzantrag am 18. Februar 1890 an. König Albert übermittelte ihn am 26. Februar mit einem eigenhändigen Anschreiben an Wilhelm II.118 Vom materiellen Gehalt war der sächsische Arbeiterschutzantrag nicht be- sonders innovativ. Der Antrag fußte weitgehend auf den von Bismarck [S. 425] blockierten Gesetzentwürfen des Reichstags zur Kinder- und Frauen- bzw. zur Sonntagsarbeit aus den Jahren 1887 und 1888, bei den Bestimmungen zur Kinderarbeit fiel er sogar hinter die Reichstagsbeschlüsse zurück. Für die Berliner politischen Kreise sensationell war jedoch, dass eine „verbündete Regierung“ sich in einer so wichtigen sozialpolitischen Frage offen gegen den erklärten Willen des Reichskanzlers stellte. Auf diesem sächsischen Arbeiterschutzantrag bzw. dessen Begründung – beides erhielt Bismarck vom Chef des Geheimen Zivilkabinetts Hermann von Lucanus erst am 5. März 114 BArch R 43 Nr. 432, fol. 9-10 Rs.; die Marginalien Bismarcks sind bereits in den „Gesammelten Werken“, Bd. 6c, S. 432 entziffert. 115 Vgl. Quellensammlung GDS II. Abt. Bd. 3 Nr. 152, Nr. 168, Nr. 174. 116 Vgl. den Bericht des Gesandten Graf von Hohenthal und Bergen vom 15.1.1890 (HStA Dresden Außenministerium Nr. 6184, n.fol.). Eine Herausgabe von Aktenmaterialien erfolgte jedoch nicht, weil – wie Hohenthal am 20.1.1890 berichtete – die entsprechenden Akten Ende der siebziger Jahre auf Anordnung von Karl Hofmann vernichtet worden waren (ebenda). 117 Otto von Bismarck, Die Gesammelten Werke, Bd. 15, S. 534 (wie Anm. 1). 118 GStA Berlin I. HA Rep. 89 Nr. 27775, n.fol. 1890 – befinden sich die letzten überlieferten Marginalien Bismarcks zum Thema Arbeiter- schutz. Diese Randbemerkungen bewegen sich zum größten Teil im Rahmen seiner schon Jahre zuvor gefundenen Positionen, lassen aber hinsichtlich der Kinderarbeit aufhorchen, weil der Reichskanzler hier erstmals andeutete, dass geltende gesetzliche Regelungen nicht ausreichen würden. Die sächsische Regierung wollte die gesetzlichen Bestimmungen zur in Sachsen vergleichsweise verbreiteten Kinderarbeit nicht verbessern – unter expliziter Ab- lehnung des diesbezüglichen Beschlusses des Reichstags aus dem Jahre 1887, der ein Verbot der Fabrikarbeit schulpflichtiger Kinder vorsah. Zu diesem Vorstoß des Reichstags (den der Kanzler 1888 vom Bundesrat noch hatte ablehnen lassen!) schrieb Bismarck jetzt in einer Randbemerkung: „scheint gerade nützlich“. Kinderfabrikarbeit führe zur „Ver- krüppelung der Kinder“. Zur Problematik der Verdrängung der Kinderarbeit in die Haus- industrie vermerkte er: „Auch dagegen sollte das Gesetz schützen“.119 In allen anderen Aspekten, insbesondere bei der Einschränkung der Frauenarbeit und bei der Frage der Sonntagsarbeit, blieb Bismarck bei seiner schroffen Ablehnung. Zum vorge- schlagenen Verbot der Nachtarbeit von Fabrikarbeiterinnen schrieb er: „Wer entschädigt die [Arbeiterinnen, W.A.], die dadurch brotlos werden?“120 Zum allgemeinen Verbot der Sonntagsarbeit, dessen reichseinheitliche Regelung – so der sächsische Antrag – ein dringender Wunsch sei, schrieb er: „Sicher nicht bei den beteiligten Arbeitern, denen ver- boten wird, selbst oder durch Frau und Töchter Geld zu verdienen.“121 Ein Sonntags- arbeitsverbot sei ein „Eingriff in seine [des Arbeiters, W.A.] Freiheit und Gewohnheit“. Der Kampf gegen den Arbeiterschutz war für den mittlerweile 75-jährigen Bismarck derart zur fixen Idee geworden, dass er in der Begründung des sächsischen Arbeiterschutz- antrags das Wort „Arbeiterschutz“ zweimal per Bleistiftmarginalie durch „Arbeiterzwang“ ersetzte. Angesichts des von Bismarck initiierten Aufbaus der gesetzlichen Arbeiterver- sicherung, die in allen Bereichen auf dem Zwang zur Mitgliedschaft beruhte, wirkt Bismarcks wiederholte Betonung der Freiheit des Arbeiters im Zusammenhang mit Arbeiterschutzfragen geradezu grotesk. Es ist frappierend, wie Bismarck seine Ablehnung jeder „Beschränkung der Erwerb- fähigkeit“ bzw. Ablehnung eines „Eingriffs in die persönliche Freiheit“ (wie er schon 1876, vierzehn Jahre zuvor, in den oben erwähnten ersten Marginalien zu Arbeitszeitregelungen geschrieben hatte) bis hinein in die Entlassungskrise mit fast unveränderten Formu- 119 Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, Berlin, R 598, fol. 79 Rs. 120 Ebenda, fol. 72 Rs. 121 Ebenda, fol. 78. lierungen durchhielt.122 Sowohl beim Gefahrenschutz als auch bei den Arbeitszeit- [S. 426]regelungen hatte Bismarck bereits mit der jeweils ersten Randbemerkung seine Linie gefunden, von der er dann nicht mehr abrückte – geschehe was wolle. Kein ein- stimmiger Reichstagsbeschluss, kein Antrag einer „verbündeten Regierung“, kein Votum des preußischen Staatsrats, kein Wunsch seines Kaisers konnte ihn hierin beirren. Während Bismarck die staatliche Sozialversicherung aufbaute, geschah – wie gezeigt – in zentralen Fragen des gesetzlichen Arbeiterschutzes fast nichts. Eine langfristig tief- greifende Weichenstellung bewirkte Bismarcks Ablehnung des Arbeiterschutzes jedoch nicht.123 Der Rückstand Deutschlands in Arbeiterschutzfragen blieb nicht bestehen. Dieses Zurückbleiben war ganz unmittelbar mit der Person Bismarcks verknüpft und schliff sich nach dessen Sturz beginnend mit der Novelle zur Gewerbeordnung vom 1. Juni 1891 schnell ab. Staatliche Arbeiterversicherung und Arbeiterschutzregelungen waren keine Alternativen und kein Scheideweg. Kompensation (durch Arbeiterversicherung) und Prä- vention (durch Arbeiterschutz) schlossen sich nicht aus. Im 20. Jahrhundert hatte Deutschland dann letztlich beides: gesetzliche Sozialversicherung und Arbeiterschutz. Anschrift des Autors: PD Dr. Wolfgang Ayaß, Geschichte der deutschen Sozialpolitik, Universität Kassel, Fachbereich 4, Arnold-Bode-Str. 10, Postfach 10 13 80, D-34109 Kassel. 122 Ähnliches hatten schon Zeitgenossen bemerkt. Der bayerische Gesandte Hugo Graf von und zu Lerchenfeld-Koefering schrieb in seinen Erinnerungen, ihm sei aufgefallen, „dass der Fürst nicht, wie viele geistreiche Leute, demselben Gedanken jedes Mal einen anderen Ausdruck gab, sondern ihn stets genau in dieselben Worte kleidete“ (Hugo Graf Lerchenfeld-Koefering, Erinnerungen und Denkwürdigkeiten, Berlin 1935, S. 182). 123 Dies im Gegensatz zu Lothar Machtan und Hans-Jörg von Berlepsch, die hier eine angebliche „Grundsatzentscheidung“ sehen, die „endgültig“ gewesen sei; vgl. Lothar Machtan/Hans-Jörg von Berlepsch, Vorsorge oder Ausgleich – oder beides? Prinzipienfragen staatlicher Sozialpolitik im Deutschen Kaiserreich, in: Zeitschrift für Sozialreform 32 (1986), S. 257-275 u. S. 343-358.