Heinrich Dauber Gindlertradition und Gestaltpädagogik Im Mittelpunkt unserer Arbeit steht nicht der menschliche Körper, sondern der Mensch. Der Mensch als Ganzes in all seinen Bezie- hungsmöglichkeiten zu sich, zu seinem Körper, zu seinem Leben und zu seiner Umwelt. Elsa GINDLER (1931) Wenn uns keine Arbeit zuviel wird, um mehr so zu werden, wie wir spüren, daß es sein will, dann haben wir uns verstanden. Elsa GINDLER (1955) Man meint gern, die Gegenwart sei nicht wissenschaftlich zu behan- deln, weil wir selbst in ihr mitkämpfen. Aber alle historische Arbeit ist im Grunde Vergegenwärtigung, und an dieser Vergegenwärtigung ist die eigene Person unentrinnbar und entscheidend beteiligt. Hermann NOHL (1933) Einleitung In seinem berühmten Handbuchartikel 'Die pädagogische Bewegung in Deutschland' stellt NOHL 1930 eine Art pädagogisches Gesetz auf: Pädagogische Bewegungen, so NOHL, 'bre- chen nicht unmittelbar frei aus der Fülle eines Ideals utopisch hervor', sondern entstehen, 'um sich gegenüber einer Not zu sammeln' und durchlaufen dabei verschiedene Entwicklungspha- sen. "Wo eine pädagogische Bewegung größeren Ausmaßes erscheint, wendet sie sich gegen eine abgelebte Form und macht ihr gegenüber die Forderung der Persönlichkeit des einzelnen gel- tend. Es folgt dann bald eine Bewegung, das neue Ideal in sozialpädagogischer Arbeit auf die Masse zu übertragen, und jedem einzelnen dieses neue Menschentum zugänglich zu machen. Bis sichtbar wird, daß solches Menschentum gegründet ist in dem Glauben an objektive Ge- halte und Mächte, denen sich der einzelne wieder unterwirft."1 Gilt dieses 'Gesetz' auch für die heutige Zeit? Die individuelle Bewegungserziehung und Körperarbeit einer Elsa GINDLER und ihrer Mitstreiterinnen2 ist zu sehen auf dem Hintergrund einer Zeit, in der die einzelnen Menschen unter dem Diktat einer rasant voranschreitenden Industrialisierung, Technisierung und Me- chanisierung und angesichts einer antiquierten historisierenden Kultur nach einer neuen geis- tigen Orientierung suchten. Aus verschiedenen Quellen gespeist, der Jugendbewegung, der Frauenbewegung, der Volkshochschulbewegung, der Kunsterziehungsbewegung, schließlich der Arbeitsschulbewegung, bildete sich in den pädagogischen Bewegungen im ersten Drittel dieses Jahrhunderts der Kern einer pädagogischen Überzeugung heraus, in deren Mittelpunkt der sich selbst erziehende schöpferische Mensch stand, Ideal der Bewegung einer Generation, deren letzter Sinn war: "aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, mit innerer 1Herman NOHL, Die pädagogische Bewegung in Deutschland, in: Handbuch der Pädagogik, hg. von Herman Nohl und Ludwig Pallat, Bd.1: Die Theorie und die Entwicklung des Bil- dungswesens, Langensalza (Ludwig Beltz), 1933, S. 302 2vgl. Karoline von STEINAECKER, Luftsprünge. Anfänge moderner Körpertherapien, Mün- chen (Urban & Fischer), 2000 1 Wahrhaftigkeit ihr Leben zu gestalten"3. Nach kurzer Blütezeit mündete die neuentdeckte Körperlichkeit der Individuen in die massenhafte nationalsozialistische Leibesertüchtigung, mit deren Hilfe in den Folgejahren eine ganze Generation kriegstüchtig gemacht wurde. Mehr als ein halbes Jahrhundert später scheint sich ein ähnlicher Umschlag einer pädagogi- schen Bewegung, der Gestaltpädagogik, in ein allgemeines individuelles und soziales Ertüch- tigungsprogramm für die Zwecke der postindustriellen Gesellschaft zu vollziehen. So folgt heute der (gestalt-)pädagogischen Zuwendung zur Person und ihrer individuellen Wahrnehmungs- und Ausdrucksfähigkeit in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts die all- seits akzeptierte Forderung einer massenhaften Ausbildung für neue Schlüsselqualifikationen der sozialen und personalen Kompetenz, von der die Standortsicherung des Industriestandorts Deutschland in einer globalisierten Ökonomie angeblich zentral abhängt. 'Kinder und ihre Ausbildung sind der wichtigste Rohstoff, auf den unser Land angewiesen ist', so kürzlich sinngemäß ein badenwürttembergischer Ministerialer im Radio am Sonntag mor- gen. Ihre Lernressourcen sollen durch optimierte Lernumweltarrangements gefördert werden. Wie ist es in diesen größeren historischen Zyklen zu verstehen, wenn das spärliche Rinnsal der Gindlerschen Tradition innerer Leibachtsamkeit heute in eigenartiger Verkehrung ihrer ursprünglichen Motive und Ziele als allgemeines 'Bewegungs- und Entspannungsprogramm für den Unterricht'4 propagiert wird, ohne daß sich deren Protagonisten in Wissenschaft und Bildungsverwaltung auch nur in Ansätzen der Tradition bewußt sind, in der sie stehen könn- ten?5 Über welche historischen 'Unter-'Strömungen und Seitenwege hat sich diese Tradition den- noch erhalten und wo hat sie Spuren bis in die heutige Zeit hinterlassen? Hat sie sich in der Gestalttherapie erhalten und ist über diese zur Gestaltpädagogik auf uns gekommen? Persönlicher und historischer Hintergrund Wer sich, wie NOHL schreibt, 'an den Kämpfen der Gegenwart beteiligt' und dabei die 'Betei- ligung seiner eigenen Person' nicht ausklammert, tut gut daran, sich der historischen Wurzeln dieser Auseinandersetzungen in der Gegenwart zu versichern. Und eben dies geschieht vor- nehmlich über die eigene Bildungsgeschichte. Mein eigener Weg zur Gestaltpädagogik (viel später zu Elsa GINDLER) verlief zunächst über eine gestalttherapeutische Weiterbildung in den 80er Jahren und deren pädagogische Umsetzung in meiner Lehrpraxis an der Hochschule. Damals galt, und mancherorts gilt bis heute, Gestaltpädagogik (ähnlich wie die Psychodramapädagogik u.a. Ansätze) als ein Able- ger der Gestalttherapie.6 Dies mag im Blick auf ihre Rezeptionsgeschichte in Deutschland richtig sein, gibt jedoch die historischen Zusammenhänge nicht richtig wieder. Als ich mich in den 90er Jahren für die 3Herman NOHL, Meißnerformel, a.a.O., s. 311 4Bewegung, Spiel und Sport in der Schule. Ein Bewegungs- und Entspannungsprogramm für den Unterricht von Gudrun Böttler u.a. im Auftrag des Ministeriums für Kultus und Sport Ba- den-Württemberg. Ähnliche Programme laufen in fast allen Bundesländern. 5Ein neuerer Tagungsband zum Thema bemüht sich in differenzierten theoretischen Begrün- dungen und überzeugenden praktischen Beispielen, die Idee und das Konzept einer Bewegten Schule darzulegen, geht aber an keiner Stelle auf die pädagogische Bewegungserziehung im ersten Drittel des letzten Jahrhunderts ein. Vgl. Ralf LAGING, Gerhard SCHILLACK (Hrsg.), Die Schule kommt in Bewegung. Konzepte, Untersuchungen und praktische Beispie- le zur Bewegten Schule, Baltmannsweiler (Schneider-Verlag), 2000 6Gestaltpädagogen empfanden sich lange Zeit - zumindest damals, z.T. bis heute - weithin als kleine, verhinderte Gestalttherapeuten, denen deren Ausbildung, die auf Ärzte und Klini- sche Psychologen beschränkt war, aus berufspolitischen Gründen verwehrt blieb. geistesgeschichtlichen Wurzeln der Gestalttherapie zu interessieren begann, wurde mir schrittweise klar, daß ihre Begründer selbst 'Zwerge waren, die auf den Schultern von Riesen standen', wie Robert MERTON es einmal ausgedrückt hat; nämlich auf den Schultern derer standen, die aus der Lebensreformbewegung um die Jahrhundertwende kamen und selbst die verschiedenen 'pädagogischen Bewegungen' der 20er und 30er Jahre mitgeprägt hatten.7 Viel später stieß ich selbst auf deren Spuren, nicht ganz zufällig wieder über einen biogra- phischen 'Umweg', nämlich meine lange zurückliegenden Kibbuz-Aufenthalte in Israel An- fang der 60er Jahre und die daraus entstandenen persönlichen Beziehungen, in denen ich als junger Mensch mit VertreterInnen dieser Generation in Berührung gekommen war, ohne zu jener Zeit zu begreifen, welchen Schatz von Erfahrungen sie mir beiläufig hätten erschließen können.8 Schrittweise wurde mir auch klar, warum weder ich noch viele meiner Generation, der zwei- ten Nachkriegsgeneration in Deutschland, diese Traditionen kannten, ja gar nicht kennen konnten. Viele der Repräsentanten dieser pädagogischen Aufbruchsbewegungen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts waren als Juden von den Nazis verfolgt, des Landes vertrieben oder er- mordet worden und hatten in Deutschland keine Schüler hinterlassen, die diese Tradition hät- ten weitergeben und unsere Lehrer sein können.9 - Die Arbeit ihrer deutschen, 'arischen' SchülerInnen wurde spätestens ab 1933 von der natio- nalsozialistischen Bewegung vereinnahmt und in den Folgejahren so mit 'brauner' Ideologie durchseucht, daß es nach der Befreiung durch die Alliierten 1945 keine Möglichkeit gab, sie unbefangen wiederaufzugreifen. - Soweit diese vertriebenen Reformer als Personen den Terror der Nazis überlebt hatten, zu- meist im Exil, waren sie zu verletzt oder auch zu alt, um ihre Arbeit in Deutschland wie- 7vgl. Heinrich DAUBER, Grundlagen Humanistischer Pädagogik. Integrative Ansätze zwi- schen Therapie und Politik, Bad Heilbrunn (Klinkhardt), 1997, insbes. Kap. 2.2.3, Humanisti- sche Pädagogik als dritte Welle der Reformpädagogik, S. 153 ff. 8Meine israelische Patenmutter, Ruth DAGAN, Kibbuz Ein Harod, gehörte zu den Pionierin- nen der Bewegungserziehung in Israel und hat die israelische Lehrerbildung durch ihre 16jäh- rige Lehrtätigkeit am Lehrerseminar in Beer-sheva in dieser Hinsicht nachhaltig geprägt. Im WS 1992 hat sie - zusammen mit Ursel BUREK, Lehrtherapeutin für Tanztherapie am Fritz- Perls-Institut Düsseldorf, an der Universität Gesamthochschule Kassel ein Seminar abgehal- ten. Vgl. Heinrich Dauber (Hrsg.) in Zusammenarbeit mit Stefan Lange, "... das ganze Leben ist im Grunde nichts anderes als einfach da-sein" (Ruth Dagan). Erfahrungen mit Integrativem Lehren und Lernen an der Hochschule, Gesamthochschule Kassel, Fachbereich 1, Erzie- hungswissenschaft, Humanwissenschaften, Kassel (Gesamthochschul-Bibliothek), 1993. Ihr “gymnastisches Credo”, wesentlich von GINDLER geprägt, faßte sie in einem Gespräch im Oktober 2000 in Israel so zusammen: "Der Körper kann sich selber helfen. Man muß nur wis- sen, was man tut und dies verstehen. Mit Kindern zu arbeiten, ist lebendige Anatomie. Gind- ler-Arbeit ist Arbeit am Charakter. Indem die Kinder selbst erleben, wie sie es machen, wie andere es machen, erziehen sie sich selbst. Dabei kommt es darauf an, anzuerkennen, was sie schon können, um es dann mit ihnen zu analysieren und zu besprechen. Der Ausgangspunkt ist immer das tägliche Leben: erleben, ausprobieren, sich in sich selbst ausbilden." 9In und um Heidelberg herum hatte sich diese Tradition teilweise erhalten. Dort, in Heppen- heim an der Bergstraße, lebten BUBER und GEHEEB, der Gründer der Odenwaldschule, vor ihrer Vertreibung. Durch Ernst MEYER und Hermann RÖHRS wurde das reformpädagogi- sche Vermächtnis über den Weltbund für Erneuerung der Erziehung wachgehalten, allerdings nicht an Studenten vermittelt. (Bei beiden habe ich in den 60er Jahren in Heidelberg studiert.). deraufnehmen zu können. - Weder im konservativ-restaurativen Klima der Adenauerzeit in der BRD noch in der an der Sowjetunion und ihrer Pädagogik und Psychologie orientierten DDR gab es in den 50er und 60er Jahren ein ernsthaftes wissenschaftliches, pädagogisches oder politisches Interes- se und Bemühen, an diese Traditionen anzuknüpfen. - Das persönliche und wissenschaftliche 'Vermächtnis' dieser VertreterInnen einer "ver- drängten Pädagogik"10 kam dann auf Umwegen in den 70er und 80er Jahren aus Amerika, Israel, Schweden etc. nach Deutschland zurück, wiederum oft über ihre dort im Exil ge- wonnenen Schüler, die ihrerseits wenig von der europäischen Tradition wußten, in der sie indirekt standen. Dies gilt in unterschiedlicher Weise für Jacob L. MORENO, Fritz und Laura PERLS, Kurt LEWIN u.v.a.11 Einige aus dieser Ahnenreihe erleben derzeit, wiederum von Amerika ausgehend, eine thera- peutische Renaissance, wie etwa Martin BUBER, auf den sich eine neue Richtung 'dialogi- scher Psychotherapie' beruft.12 Wieder andere, deren andauerndes Vergessenwerden die natio- nalsozialistische Politik der Ausgrenzung und Vernichtung in schmerzlicher Weise fortsetzt, sind im Bewußtsein der pädagogischen Profession bis heute noch weitgehend unentdeckt, wie z.B. Heinrich JACOBY13, der eng mit Elsa GINDLER zusammengearbeitet hat, oder wie die Mitbegründerin der Montessori-Pädagogik in Deutschland, Clara GRUNWALD14, die wie Ja- nusz KORCZAK, der polnische Arzt und Pädagoge, mit den ihr anvertrauten Kindern in Auschwitz in die Gaskammer ging. Dieses Schicksal, dem weitgehenden öffentlichen Vergessen, nicht zuletzt durch die päda- gogische Zunft, in Deutschland anheim gefallen zu sein, aber gleichzeitig andere, eher thera- peutische Ansätze und Strömungen außerhalb Deutschlands begründet oder wesentlich beein- flußt zu haben, ist kein Einzelfall, gilt aber in besonderem Maße für Elsa GINDLER.15 10So der Untertitel eines der wenigen Bücher, in denen diese Tradition zu einer Zeit wieder aufgegriffen wurde, in der es dafür nur begrenztes Interesse gab und noch kaum Verbindun- gen zu modernen Konzepten integrativer oder gestaltpädagogischer Arbeit gezogen werden konnten: Hildegard FEIDEL-MERTZ (Hg.), Schulen im Exil. Die verdrängte Pädagogik nach 1933, Reinbek (Rowohlt Tb.), 1983 11Von der Studentenbewegung wurden nur wenige von ihnen, und diese zumeist auch nur in Ausschnitten, wiederentdeckt, z.B. Siegfried BERNFELD, Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung (1925), Frankfurt/M. (Suhrkamp), 1967. Vgl dazu: Humanistische Pädagogik - Re- formpädagogik - Humanistische Psychologie, in: Heinrich DAUBER, Grundlagen Humanisti- scher Pädagogik, Integrative Ansätze zwischen Therapie und Politik, Bad Heilbrunn (Klink- hardt), 1997, S. 147 f. 12Maurice FRIEDMAN, Der heilende Dialog in der Psychotherapie, Köln (Edition Humanis- tische Psychologie), 1987 und Maurice FRIEDMAN, Begegnung auf dem schmalen Grat. Martin Buber - ein Leben, Münster (agenda Verlag), 1999 13Vgl. Georg BALLOD, Pädagogisches Handeln und individuelle Entfaltung. Heinrich Jaco- bys Bildungs- und Erziehungsverständnis im individualpädagogischen Kontext, Marnheim (Berg Verlag), 1997 14Vgl. Clara Grunwald, Das Kind ist der Mittelpunkt, hg. Axel Holtz, Ulmer Beiträge zur Montessori-Pädagogik, Ulm (Kinders-V.), 1995 sowie: Arnold KÖPCKE-DUTTLER, Clara Grunwald, in: Lebensbilder bedeutender Heilpädagoginnen und Heilpädagogen im 20. Jahr- hundert, hg. Maximilian Buchka, Rüdiger Grimm und Ferdinand Klein, München (Ernst Reinhard Verlag), 2000, S. 84-96 15Elsa GINDLER war selbst keine Jüdin. In Israel wird jedoch ein Jahr nach ihrem Tod 1962 bei Petach Tikwah ein 'Elsa Gindler Wald' gepflanzt, um ihren vielfältigen Einsatz für jüdi- In der von Franz HILKER herausgegebenen Monatszeitschrift für Pädagogik: Bildung und Erziehung, schreibt er (1961) in einem Nachruf: "An den Bestrebungen der Entschiedenen Schulreformer, nach dem Ende des ersten Welt- krieges ein organisches Bildungswesen für alle Volkskreise aufzubauen, nahm sie aktiven Anteil. Die Arbeit der neu entstehenden Versuchsschulen interessierte sie brennend... Die gymnastische Bewegung, deren Entwicklung Elsa Gindler in den ersten Jahrzehnten wesentlich mit bestimmt hat, gehört zu den geistigen Strömungen des beginnenden 20. Jahr- hunderts und hat insbesondere dem Gesicht der 'Zwanziger Jahre' charakteristische Züge ein- geprägt. Man versucht zwar heute, den Ruf dieser Zeit als Illusion hinzustellen. Aber das kann nur geschehen von Menschen, die sie nicht bewußt miterlebt haben. Aus der literari- schen Erbschaft vermag nur ein schwacher Abglanz aufzuleuchten. Und schließlich haben die Jahre des 'Tausendjährigen Reichs' das Ihrige getan, um die Kraftströme der voraufgegange- nen Zeit unwirksam oder vergessen zu machen... Elsa Gindler gehörte zu den Gründern des Deutschen Gymnastikbundes und zu den Mit- gliedern des Vorstandes bis zu seiner Auflösung (1933, H.D.). Ihr ist es im wesentlichen mit zu verdanken, daß die gymnastische Bewegung ihr Ziel in der Pflege von Bewegungsfähig- keit und Bewegungssinn des Menschen fand. Dadurch erhob sie sich einerseits über Körper- erziehung und Leibesübung in den Bereich der allgemeinen Menschenbildung und machte an- dererseits die Unterscheidung klar zwischen der Entwicklung der jedem Menschen gegebenen Möglichkeit der freien Bewegung und der Schulung des tänzerischen Ausdrucks für künstleri- sche Leistung. Elsa Gindler selbst hatte sich als Aufgabe die Befreiung der rhythmischen Quellen menschlicher Bewegung, Atmung, Spannung und Entspannung, gesetzt, um daraus die Bereitschaft für die Lösung im täglichen Leben zu entwickeln... Die Anwendung des in der Gymnastikstunde Erfahrenen im Leben und die Selbsttätigkeit des Schülers in der Gewin- nung von Erfahrungen waren von jeher die Charakteristika der von ihr gelehrten gymnasti- schen Arbeitsweise."16 Als Repräsentantin einer der kleineren reformpädagogischen Bewegungen, den frühen Pro- tagonistinnen von Atem- und Bewegungspädagogik im ersten Drittel dieses Jahrhunderts, war es ihr nach der nationalsozialistischen Gleichschaltung ab 1933 nicht mehr möglich, ihren Ansatz in einer breiteren Öffentlichkeit zu praktizieren und eine größere Zahl von Schülerin- nen auszubilden. Ihre eigenen Aufzeichnungen gingen im brennenden Berlin des Kriegsendes verloren. Nach dem 2. Weltkrieg nahm sie ihre Arbeit in großen Kursen in Berlin wieder auf, lehrte aber auch mit Heinrich JACOBY in der Schweiz, wo er nach seiner Emigration 1933 geblieben war. Während des 'Tausendjährigen Reiches' konnte ihre Arbeit in Deutschland zwar nur im Verborgenen fortgeführt werden, hatte aber im Ausland schon Wurzeln geschlagen. Eine gan- ze Reihe der vor den Nazis geflohenen deutschen Jüdinnen und Juden waren durch ihre 'Schule' gegangen und integrierten wesentliche Teile ihres Ansatzes in ihr eigenes, später ent- wickeltes pädagogisches und therapeutisches Konzept, so vor allem - Lore POSNER, die als Laura PERLS später eine der Begründerinnen der Gestalttherapie wurde, aber auch - Ruth COHN, die spätere Begründerin der themenzentrierten Interaktion. sche Mitmenschen während der Nazizeit zu ehren. Vgl. zu ihrer Biographie die Magisterar- beit von Jutta EMDE-MOSEBACH, Leben und Werk von Elsa Gindler (1885-1961). Eine vergessene Pädagogin, Kassel 2001. Sowie: Gabriele Maria FRANZEN, "Werden Sie wieder reagierbereit!" Elsa Gindler (1885-1961) und ihre Arbeit, in: Gestalttherapie, 9. Jg. Heft 2, Dez. 1995, S. 3-19 16Franz HILKER, Dem Andenken einer großen Pädagogin, in: Bildung und Erziehung, XIV. Jg. 1961, S. 65-69 Zu nennen sind hier ohne Anspruch auf Vollständigkeit17 weiter: - Elfriede HENGSTENBERG18 und über sie die ungarische Kinderärztin Emmi PIKLER19, - Frieda GORALEWSKI, Gertrud FALKE-HELLER und über sie Helmuth STOLZE, der Begründer der Konzentrativen Bewegungstherapie (KBT), - Lily EHRENFRIED, die Begründerin der Somato-Therapie20 und über sie in Paris Moshe FELDENKRAIS und Hilarion PETZOLD, Begründer der Integrativen Therapie, - Elsa LINDENBERG und über sie Wihelm REICH sowie Cläre NATANSOHN und ihr spä- terer Mann Otto FENICHEL und von ihm aus wiederum die beiden PERLS; Slast but not least: Charlotte SELVER (von ihr aus Erich FROMM und nochmals Fritz PERLS), aber auch später außerhalb der therapeutischen Szene berühmt gewordene Zeitgenossen wie der Zukunftsforscher Robert JUNGK, der bei Gindler Kurse besuchte. Charlotte SELVERs Gindler-Erbschaft wurde Ende der 70er- Jahre unter dem Namen 'Sen- sory Awareness' nach Deutschland reimportiert.21 Elsa GINDLERs wohl engste Mitarbeiterin, Sophie LUDWIG, die bis zu ihrem Tod 1961 mit ihr zusammen gearbeitet und gelebt hat, hat nach ihrem eigenen Tod 1997 ein unfertiges Manuskript hinterlassen, das jetzt verdienstvollerweise von Marianne HAAG im Auftrag der Heinrich-Jacoby/Elsa-Gindler-Stiftung bearbeitet wurde und im Erscheinen begriffen ist.22 Im pädagogischen Kontext wird diese Tradition u.a. fortgeführt durch den Freundeskreis 'Mit Kindern Wachsen'.23 Die Schwierigkeit einer historischen Rekonstruktion der Rezeptionsgeschichte liegt syste- matisch in GINDLERs Ansatz begründet: keine Lehre begründen zu wollen, sondern in der 'Arbeit' experimentell herauszufinden, was die Einzelnen jenseits aller pädagogischen oder therapeutischen Normierungen für sich selbst entdecken konnten.24 Den Spuren ihrer Arbeit 17vgl. Franzen, a.a.O., S. 14 18Mit Unterstützung von Charlotte SELVER hat Ute STRUB verdienstvollerweise die Arbei- ten von Elfriede HENGSTENBERG gesammelt, gesichtet und sich von ihr kommentieren lassen, so daß deren - stark von GINDLER beeinflußte - Praxis heute gut dokumentiert ist. Vgl. Elfriede Hengstenberg, Entfaltungen, Bilder und Schilderungen aus meiner Arbeit mit Kindern, hg. Ute Strub, Heidelberg (Verlag Ulrich Valentin), 1991 19Emmi PIKLER war stark von Elsa GINDLER beeinflußt. Diese wiederum hat nach dem 2. Weltkrieg in ihren Seminaren Fotos von Emmi PIKLER aus der Beobachtung von Kleinkin- dern verwendet. Vgl. Emmi PIKLER, Laßt mir Zeit. Die selbständige Bewegungsentwicklung des Kindes bis zum freien Gehen, München (Pflaum Verlag), 1988 20Lily EHRENFRIED, Körperliche Erziehung zum seelischen Gleichgewicht, Somato-Thera- pie ein vergessener Heilfaktor, Berlin (Westliche Berliner Verlagsgesellschaft Heenemann KG), 1957 21Charles V. W. BROOKS, Erleben durch die Sinne (Sensory Awareness), Paderborn (Jun- fermann), 1979 22Der Christians Verlag Hamburg hat mir im Juli 2001 freundlicherweise eine Vorabkopie zur Verfügung gestellt. Sophie LUDWIG, Elsa GINDLER - Von ihrem Leben und Wirken, Hamburg (Christians V.), 2001 23'Mit Kindern Wachsen' ist ein lockerer Zusammenschluß von Menschen, die sich beson- ders auf die Kindergarten- und Schularbeit von Rebeca und Mauricio Wild beziehen, die in indirekter Gindler-Tradition stehen. Adresse: Freundeskreis "Mit Kindern Wachsen", Linden- weg 19, 69126 Heidelberg. Vgl. auch: Rebeca Wild, Freiheit und Grenzen - Liebe und Res- pekt. Was Kinder von uns brauchen, Freiamt (Mit Kindern Wachsen Verlag), 1998 24In den Worten von Lily EHRENFRIED: "Unsere Aufgabe wird also letzten Endes nicht da- rin bestehen, einen Menschen 'besser atmen zu lehren', sondern vielmehr darin, ihn 'auf den in der heutigen therapeutischen und pädagogischen Szene nachzuforschen, ist mühsam, aber außerordentlich lohnend.25 Kurz zusammengefaßt ergibt sich aus diesen knappen historischen Andeutungen: Der Gestalt-Ansatz und die Gindlertradition sind - genealogisch betrachtet - eng miteinan- der verwandt. Die Atem- und Bewegungslehrerin Elsa GINDLER ist eine der gemeinsamen 'Großmütter' heutiger Gestaltpädagogik und Gestalttherapie, Atem-, Integrativer Leib- und Bewegungstherapie und einer Reihe verwandter therapeutischer und pädagogischer Ansätze. Inwieweit sie sich auch systematisch ergänzen, soll im nächsten Abschnitt geprüft werden. Gindler-Konzept und Gestaltansatz Im Folgenden kann nur versucht werden, einige der aus meiner Sicht wichtigsten gemeinsa- men Grundlagen zwischen dem Gindler-Konzept und dem Gestaltansatz eher stichwortartig als ausführlich zu benennen. Dazu wird Elsa GINDLER aus ihren beiden Vorträgen von 1926 und 1931 ausführlich zitiert. Schon ein grober Vergleich der Leitgedanken zeigt eine Reihe von Überschneidungen: Grundannahmen heutiger GESTALTPÄDAGOGIK26 und GINDLER - Arbeit: erkenntnistheoretische Grundannahmen anthropologische und ge- sellschaftstheoretische Grundannahmen Prinzipien der Gind- ler-Arbeit ......................................... . Konstruktivismus (Bedeutungsbildung) und Entwicklung (Prozeßorientierung) = experimenteller Charakter ......................................... . Körper-Seele-Geist-Ein- heit = LEIB-Subjekt als Prozeß direkter und ganz- heitlicher Begegnung zwischen Subjekten auf der Leib-, Gefühls- und Vernunftebene .......................................... experimentelles Vorge- hen keine feste Übungsform selbständige Arbeit Weg zu sich selbst zu bringen', ihm eine ich-gerechte Weiterentwicklung zu ermöglichen." a.a.O., S. 3. Elsa GINDLER selbst hat sich stets geweigert, ihrer 'Arbeit' einen Namen zu geben, auch nicht 'Arbeit am Menschen', wie gelegentlich zu lesen ist. Schon in den 20er Jahren hat sie aufgehört, Lehrerinnen in 'Harmonischer Gymnastik' auszubilden und ihnen Lehrberechti- gungen zu erteilen. 25Als ich persönlich Ende der 90er Jahre auf Elsa GINDLER stieß, kam mir vieles aus ihrer Arbeit aus meiner Weiterbildung in Integrativer Leib- und Bewegungstherapie am Fritz-Perls- Institut Düsseldorf vertraut vor. Auf Nachfrage entpuppte sich einer meiner Lehrtherapeuten aus den 80er Jahren, Bernward WEISS aus Berlin, als Schüler von Frieda GORALEWSKI, einer Schülerin von Elsa GINDLER. 26Vgl. Dauber, Grundlagen Humanistischer Pädagogik, a.a.O., S. 65 ..........................................Leibge- bundenheit der Wahrnehmung und der Er- kenntnis: implizites Wissen als phänomenologische Erfahrung ................................... ....... Verschränkung von innerem und äußerem Eindruck und Aus- druck, Atem und Bewegung ................................... ....... bewußte Konzentrati- on nach innen, Atemarbeit .......................................... formative und integrati- ve Tendenz: organismische Homöostase Selbstverwirklichungs- tendenz .......................................... mittlerer Modus von Gewahrsein, ganzheitliche Wahrneh- mung von Körperempfin- dungen, Gefühlen, Phan- tasien und Gedanken .......................................... organismische Selbstre- gulierung, Selbsterforschung und Selbsterziehung .......................................... Feldcharakter und Kontextbezo- genheit .......................................... Selbstverwirklichung in der Gemeinschaft .......................................... den Herausforderungen des Le- bens begegnen experimentelles Vorgehen, keine feste Form "Wir haben im Unterricht erfahren, daß es zur Fühlungnahme mit der Gesamtpersönlichkeit des Kindes schwerlich kommen kann, solange wir das Kind noch mit fertigen Übungen trak- tieren, solange wir es im Unterricht noch auf nachahmende Weise üben lassen. Damit unterbinden wir seine schöpferische Initiative, die zu selbständigem Vorgehen bereit und befähigt ist, die von Natur aus danach trachtet, sich der eigenen Kräfte im Lebenskampf bewußt zu werden und bedienen zu lernen. Aus dieser Einsicht heraus und gestützt auf die Er- fahrungen und Erkenntnisse besonders planvollen Vorgehens in der musikalischen und päda- gogischen Arbeit der Heinrich Jacoby-Kurse, kamen wir dazu, die Kinder grundsätzlich selb- ständig arbeiten zu lassen. Wir machten deshalb im Unterricht nicht die 'Übungen' zur Haupt- sache, sondern den 'Übeprozeß'."27 "Denn es ist klar, daß das bloße Erlernen und Können der gymnastischen Übungen nicht zu dem Erfolg des einheitlichen Bewußtseins führen kann. Wie kommen wir aber da heran? Eben dadurch, daß wir all unsern Geist und unser Gefühl dazu benützen, unsern Körper mittels der gymnastischen Übungen zu einem gefügigen Instru- ment für unser Leben zu machen. Wenn unsere Schüler arbeiten, achten wir darauf, daß sie nicht eine Übung erlernen, sondern versuchen, durch diese Übung die Intelligenz zu vermeh- ren. Wenn wir atmen, so erlernen wir nicht bestimmte Übungen, sondern bedienen uns dieser Übungen, um die Lunge zu kontrollieren, ihr Hemmungen zu geben oder Hemmungen zu be- seitigen."28 "Jedenfalls aber arbeitet jeder Kurs mit völlig andern Übungen und erfindet sich seine Übun- gen selbst. Wir erreichen dadurch sehr Wesentliches. Der Schüler fängt an zu spüren, daß er selbst et- was mit seinem Körper anfangen kann. Er fühlt plötzlich, daß er, wenn er nur will, sich genau so, wie eben den Schultergürtel, den ganzen Körper erarbeiten kann. Sein Selbstbewußtsein wird erhöht. Das Stoffgebiet verwirrt ihn nicht mehr, er ist ermutigt. Das kann aber mit Übun- gen, und mögen sie noch so durchdacht sein, nicht erreicht werden."29 "Bisher waren und sind alle Menschen daran gewöhnt, auf eine höchst mechanistische Weise Übungen gezeigt, erklärt, vorgemacht zu bekommen, die man mit der Zeit und bei vielem Training nachmachen kann. Man nimmt den Körper als eine Art 'Fertigware', der man seinen Verstand - oder, wie wir es lieber 'vornehm' sagen, den "Geist" - als eine Art Schulmeister, der es besser weiß, gegenüber stellt. Daß bei diesem mechanistischen Vorgehen die Men- schen nur so sein und werden können, wie wir sie heute vorfinden, wundert einen später, wenn man erst einige Erfahrungen mit einer anderen Arbeitsweise bekommen hat, nicht mehr. Denn, wie soll bei mechanisch durchgeführten Bewegungen etwas anderes herauskommen, als der von außen statt von innen bewegte Mensch! Wir vergessen nämlich immer wieder, daß wir im Menschen ein Ganzes, das selbst wieder nur Teil eines sozialen Organismus ist, vor uns haben, das man nicht plötzlich als "Nur-Körper" und "Nur-Individuum" ansprechen kann."30 bewußte Konzentration nach innen "Es ist für mich schwer, über Gymnastik zu sprechen, weil das Ziel meiner Arbeit nicht in der Erlernung bestimmter Bewegungen liegt, sondern in der Erreichung von Konzentration. 27Elfriede HENGSTENBERG, Gymnastik mit Kindern, in: Gymnastik, Nummer 1/2, Jg. 6, Januar 1931, S. 1-10 28Vortrag auf der Tagung des Deutschen Gymnastikbundes vom 27.-29. Mai 1926, in: Gym- nastik, 1. Jg. 1926, GINDLER, a.a.O., S. 84 29GINDLER (1926), a.a.O., S.84 f. 30GINDLER (1931), zitiert nach: Sophie LUDWIG, Elsa Gindler, a.a.O., S. 83 Nur von der Konzentration her kann ein tadelloses Funktionieren des körperlichen Apparates im Zusammenhang mit dem geistigen und seelischen Leben erreicht werden. Wir halten da- rum unsere Schüler von der ersten Stunde dazu an, ihre Arbeit mit Bewußtsein zu verfolgen und zu durchdringen."31 "Unsere Mittel sind: Atmung, Entspannung, Spannung... Eines der heikelsten und schwierigsten Gebiete unserer Arbeit ist die Atmung. Man wird finden, daß der Hals von der Körpermitte, also etwa vom Zwerchfell aus, einen bedeutenden Zug nach innen erfährt. Wenn man diesen Zusammenhang längere Zeit beobach- tet, findet man, daß diese Verkrampfung eine ganz willkürliche ist, man läßt nach und spürt plötzlich, daß der Hals sich viel freier halten kann. Die Einengung des Luftstroms, die bei fast allen Menschen im Halse stattfindet, fällt plötzlich fort, man fühlt sich frei. Wenn man dies jederzeit bewußt herstellen kann, fühlt man, daß auch alle Bewegungen die Atmung nicht nur nicht stören, sondern immer mehr vertiefen können. Man ermüdet nicht, sondern wird fri- scher durch die Arbeit. Und nun übertrage man dies auf das Leben: daß wir immer frischer und leistungsfähiger werden sollten, je mehr man von uns verlangt... Es ist klar, daß wir nicht mit großen Bewegungen anfangen können, wenn schon die aller- kleinsten Störungen des Zusammenhangs hervorrufen. Man muß sich mal beobachtet haben, um zu wissen, was man alles macht mit der Atmung, wenn man sich die Zähne putzt, Strümp- fe anzieht oder gar ißt. So versuchen wir bei unsern Schülern erst einmal das Verständnis für diese Vorgänge zu wecken... Aber der Tummelplatz für die Übung ist nicht die Stunde. Hier läßt sich die Lösung der Atemverkrampfung verhältnismäßig leicht und schnell erzielen. Wir müssen aber im Leben darauf aufmerksam machen, bei welchen geringfügigen Anlässen die Atemverkrampfung ein- setzt, und müssen sie hier bekämpfen. Das Bekämpfen geschieht einfach schon dadurch, daß wir daran denken, und je öfter wir daran denken und je mehr wir uns daran gewöhnen, gerade bei kleinen Anlässen, die uns ja viel eher Zeit dazu lassen als große, nachzuforschen, ob die Störung nicht in der Atmung liegt, desto leichter und selbstverständlicher wird die Abhilfe... Das Anhalten des Atems in der Ausatmung ist die eine der üblichen Atemstörungen, eine zweite sehr häufige ist wie ein Gegenstück dazu, sie geschieht beim Einatmen, sie stellt sich dar als eine Art Luftanpumpung. Die gute ungestörte Atemtätigkeit ist an und für sich unwillkürlich. Wir können sie jedoch auch willkürlich machen und dadurch modifizieren und von ihrem natürlichen Lauf ablenken. Das geschieht, wenn wir die Ausatmung nicht vollständig ablaufen lassen und mit der Einat- mung nicht warten, bis sie von selbst durch den physischen Reiz angeregt wird. Wenn man die Atmung zur Vollkommenheit führen will, muß man die vier Phasen der At- mung gut durchführen können: Einatmung, Ruhelage, Ausatmung, Ruhelage."32 "Wir atmen fast alle nur mit einem kleinen Teil der Lunge, und wenn dieser kleine Teil gut funktioniert, wie vorgeschrieben, so können wir im Leben schon viel leisten. Aus unserer Ar- beit hat sich aber klar ergeben, daß wir unsere Leistungsfähigkeit bedeutend erhöhen können, wenn wir die ganze Lunge zur Arbeit bringen. Und hier muß die Erziehung der Ausatmung beginnen: sie muß ohne Druck erfolgen, elas- tisch, hauchartig sein und eine möglichst große Entleerung herbeiführen."33 "Denn immer, wenn eine Leistung durchdacht ausgeführt wird, wenn wir zufrieden mit uns sind, haben wir ein Bewußtsein. Ich meine damit das Bewußtsein, das immer in der Mitte steht, auf die Umwelt reagiert und denken und fühlen kann. Ich unterlasse es absichtlich, die- ses Bewußtsein als Seele, Psyche, Geist, Gefühl, Unterbewußtsein, Individualität oder gar 31GINDLER (1926), a.a.O., S. 89 32GINDLER (1926), a.a.O., S. 84 ff. 33GINDLER (1926), a.a.O., S. 88 Körperseele zu definieren. Für mich faßt das kleine Wort "ich" dies alles zusammen, und ich rate meinen Schülern immer, ihr eigenes Wort, mit dem sie sich anreden, an die Stelle meines Wortes zu setzen, damit sie nicht erst einen Knoten in die Psyche bekommen und stundenlang darüber philosophieren, wie es und was nun gemeint ist, denn in derselben Zeit kann man im- mer etwas Nützliches tun.34 Fünf Jahre später, in ihrem 2. Vortrag auf einer Tagung des Gymnastikbundes, präzisiert Elsa GINDLER: "Wir müßten zuallerst einmal versuchen, uns bei allen Tätigkeiten uns selbst gegenüber so forschend und interessiert zu verhalten, daß wir die Zustandsveränderungen, die uns vor und bei der Bewegung im Organismus widerfahren, 'bewußt' verfolgen können. Kaum einer mei- ner Schüler, - auch nicht die, die durch die moderne Körpererziehung gegangen sind-, benützt zunächst dieses 'Lauschen nach innen', das ihn wahrnehmen lassen würde, wenn et- was in der Bewegung oder Äußerung nicht so läuft, wie es laufen müßte. Immer wieder zeigt es sich, daß alle ihren Körper nur von außen 'andenken' wollen, anstatt ihn in all seinen orga- nischen Wechselbeziehungen sich zu erspüren und zu erfahren."35 "Dieses Geschehen ist sehr wichtig für mein praktisches Vorgehen in meiner Arbeit! Haben wir erst einmal gespürt, daß es uns trotz aller bestehender Schwierigkeiten möglich ist, so weit zu uns zu kommen, daß wir still werden, so merken wir auch bald, daß wir uns in sol- chem Zustand mit Menschen und Dingen in einer größeren Wachheit auseinandersetzen kön- nen, als es uns sonst in der uns gewohnten Unruhe möglich ist."36 organismische Selbstregulierung, Selbsterforschung und Selbsterziehung "Entspannung ist für uns ein Zustand der höchsten Reagierfähigkeit, eine Stille in uns, eine Bereitwilligkeit, auf jeden Reiz richtig zu antworten... Diese Entspannung suchen wir. Sie läßt sich am leichtesten erreichen durch Empfindung der Schwerkraft. Die Schwerkraft müssen unsere Glieder begreifen und fühlen lernen, ja jede Zelle in uns muß wieder die Fähigkeit erwerben, ihr folgen zu können... Wenn wir versuchen, die Schwere überall im Körper zu fühlen, auch im Kopf, dann kom- men wir in einen Zustand, wo die Natur die Arbeit für uns übernimmt: in dem Maße, wie wir uns in die physikalisch richtige Lagerung bringen, stellt sich die richtige Atmung ein, nicht die willkürliche Atmung mit großen Aktionen des Brustkorbes, sondern eine ruhige At- mung... Dann beim Stehen: wir müssen fühlen, wie wir unser Gewicht an die Erde abgeben, Pfund für Pfund, und wie dabei die Füße immer leichter werden. Es tritt das Paradoxon ein: je schwerer wir werden, desto leichter, ruhiger werden wir. Beim Sitzen müssen wir uns aufrecht halten; solange wir krumm sitzen, stören wir den ganzen inneren Betrieb... Als Wesentlichstes muß man festhalten: alles Korrigieren von außen her hat wenig Wert. Es muß eins mit dem andern so durchdacht, durchfühlt, mit den tausendfachen Vorkommnis- sen im Leben untrennbar verbunden werden, daß es zum Wesen des Menschen wird, daß es jeden Augenblick instinktiv ausgeführt wird. Nicht das ist erworbener Besitz, was wir auf Kommando ausführen können, sondern dasjenige, was bei plötzlicher Veranlassung ohne Überlegung sofort geschieht."37 "Heinrich Jacoby hat in seiner Arbeit und in seinen Schriften darauf hingewiesen, dass hier die Ursache für eine der grössten Störungen liegt, mit der wir uns dann ein ganzes Leben pla- 34GINDLER (1926), a.a.O., S. 83 35GINDLER (1931), a.a.O., S.92 36GINDLER (1931), a.a.O., S. 97 37a.a.O., S. 88 ff. gen müssen, nämlich: Die Störung und Ablenkung von der selbsttätigen, produktiven Ausei- nandersetzung mit der Umwelt bis zum völlig Unmöglichwerden eines schöpferischen Ver- halten. Kein Kind will von sich aus etwas "nachmachen". Es will sich die Welt "selbst" entdecken. Wenn das Erarbeiten einer Sache auch Schwierigkeiten mit sich bringt, so nimmt es die damit verbundenen Schwierigkeiten gern auf sich. Jedes Kind sagt: "selber" oder "auch machen", niemals sagt es "nachmachen"! In diesem "auch" oder "selber" liegt das schöpferische Ele- ment; denn wenn ein Kind es "auch" macht, so kommen alle organisch notwendig wer- den- den Funktionen in Bewegung und die Bewegungen oder die Sprache eines Kindes sind die notwendige äussere Erscheinung eines inneren Geschehens. Wenn wir aber statt dessen im- mer wieder Gesten und Worte vormachen und dann noch das Nachgemachte korrigieren, so brauchen wir uns nicht mehr zu wundern, wenn die ursprüngliche, wunderbare Geschlossen- heit eines kleinen Wesens immer mehr verschwindet. Denn ob man dem Kinde den Gebrauch der linken Hand verbietet, - schönes Händchen -, ob man ihm beim Gehen die Beinchen setzt oder sogar sagt, dass es mit dem linken Beinchen anfangen soll beim Gehen, immer mischen wir uns in einen Bewegungsprozeß ein, der dann nicht mehr ungestört verlaufen kann. All dies können wir immer wieder von den bestmeinenden Müttern erleben und dürfen uns darum nicht wundern, wenn bis auf wenige Ausnahmen, die Lust am eigenen Probieren, die Lust, selbst etwas herauszubekommen, uns schon in den ersten Jahren des Lebens abhanden kommt. Es wird uns abgewöhnt!"38 Die GINDLER-Schülerin Lily EHRENFRIED, die nach dem 2. Weltkrieg in Paris, wohin sie emigriert war, die sog. Somato-Therapie begründet hat, schreibt in Akzentuierung des ur- sprünglichen Ansatzes von GINDLER: "Unsere Arbeit zielt darauf, alle Funktionen des Körpers zum bestmöglichen Funktionieren zu bringen, um so durch Vermeidung unzweckmäßiger Anstrengungen Kraft einzusparen, die dann anders verwendbar wird - also Erhöhung der Leistungsfähigkeit ohne Mehranstrengung. Bei diesen Bemühungen erwächst uns eine unerwartete Hilfe: Es besteht im menschlichen Körper, wie jahrzehntelange Beobachtungen immer wieder lehren, eine 'ordnende' Tendenz, die, sobald technisch die Möglichkeit gegeben ist, die Teile an ihren richtigen Platz schiebt... Es handelt sich also nie darum, dem Schüler die 'richtige', 'korrekte' Haltung oder Bewe- gung zu lehren, indem man sie ihm zeigt, sondern vielmehr darum, ihn in den Stand zu set- zen, die für ihn bestmögliche von allen Haltungen selbst herauszufinden, - nämlich diejenige, die gerade seinem Körperbau am genauesten entspricht - und sie dann dauernd zu behalten. Also nicht Dressur, sondern Erziehung... Zunächst ändert sich die Körperform. Es ist, als ob alles seine Stelle findet, das Ganze wird harmonischer.... Nicht nur funktioniert alles besser: die Form wird schöner... Hand in Hand mit der körperlichen Änderung ging eine psychische Veränderung... Wieder zeigte sich dieses allem Lebenden innewohnende Streben nach einer optimalem Mitte, nach dem harmonischen Ineinander- und Miteinanderspielen aller Teile."39 "Eine interessierte forschende Beschäftigung mit diesen Zusammenhängen kann uns mehr Nutzen für unsere Leistungsfähigkeit bringen als jahrelanges intensi- ves Körpertraining. Schlafen, d.h. welches Verhalten zu einem erholungsbringenden Schlafen führt, kann einem deutlich werden. Allerdings, einen Fehler hat unse- re Arbeit! Auf Kommando und durch Kommando läßt sich so etwas nicht herbeiführen, genausowenig, wie es jemals gelungen ist, Entspannung und Frische auf Kommando hervorzurufen! Man kann niemanden zur Ruhe kommandieren, wie man auch niemanden zur Qualitätsarbeit zwingen kann."40 Eine unbekannte Berichterstatterin (G.B.) berichtet aus einem von GINDLER geleiteten Jugendpflege-Gymnastik-Kurs Dezember 1930 in Berlin: 38GINDLER (1931), a.a.O., S.88 f. 39a.a.O., S. 9 ff. 40GINDLER (1931), a.a.O., S. 101 "Am 1. Abend führte uns Fräulein Gindler in die Grundideen der Gymnastik ein. Das Ziel ist Beweglichkeit, aber nicht die Beweglichkeit, die sich durch Trai- ning erreichen läßt, sondern die Bereitschaft für eine Tätigkeit. Um dieses Bereitsein zu erwerben, ist es notwendig, 1. daß man sich auf sich selbst konzentrieren kann, 2. daß man Gefühl bekommt für seinen Körper und dessen richtige Funktion. Ich betone richtige Funktion, denn während des Arbeitens an den folgenden Tagen ist es mir klar geworden, wieviel Kraft unnütz verbraucht wird durch Verkrampfung der Glieder bei sehr vielen Bewegungen. Wir versuchten deshalb zur Entspannung zu kommen, und zwar arbeiteten wir jedesmal an einem anderen Körperteil: an Armen, Beinen, Rücken, Hals, Kopf usw. Schon nach kurzer Zeit waren Veränderungen bemerkbar, z.B. war beim Arbeiten an einem Bein das bearbeitete Bein ein wenig länger geworden, es lag viel flacher auf, die Hautfarbe hatte sich verändert und im Vergleich zu dem nicht bearbeiteten Bein war zu spüren, daß es sich viel leichter bewegen ließ. Dieses Wohlbehagen übertrug sich meist auf den ganzen Körper. Meines Erachtens liegt hierin, in dem allgemeinen körperlichen Wohlbefinden nach der Gymnastik, der Beweis für den Wert und die Notwendigkeit der Gym- nastik. Ein wenig ist es mir gelungen, tagsüber Beobachtungen zu machen, z.B. wie man seine Mappe krampfhaft festhält oder beim Reden die Schultern hoch- zieht u.a. Es wäre ja nun erstrebenswert, loszukommen von diesen Spannungen, dadurch freier und ungehemmter zu sein. Ganz besonders für den Umgang mit Menschen und die Arbeit ist die Ruhe und innere Bereitschaft notwendig, denn nur dadurch sind wir fähig, auf einen anderen Menschen richtig einzugehen."41 den Herausforderungen des Lebens wach begegnen - reagierbereit werden In einem Entwurf zu ihrem 2. öffentlichen Vortrag anlässlich der Generalversammlung des Deutschen Gymnastikbundes (1931) begründet Elsa GINDLER ihren Ansatz mit den Worten: "Und da wir vor der traurigen Tatsache stehen, daß fast ein Drittel der Bevölkerung Deutschlands durch die Arbeitslosigkeit betroffen ist, und daß ein großer Teil der noch Arbeitenden vor der Stunde zittert, die sie zum gleichen Los verurteilt, so haben wir vorläufig wenig Aussicht, unsere Sozialmaßnahmen aufrechtzu- erhalten, geschweige denn sie zu verbessern. Angesichts dieser Tatsachen könnte man zweifeln, ob überhaupt zur Zeit die Frage der Körpererziehung wichtig ist und ob es nicht viel gegebener wäre, erst einmal alle verfügbaren Kräfte dafür einzusetzen, eine Ordnung mit herbeiführen zu helfen, die in der Zukunft den Eintritt gleicher oder ähnlicher Zustände unmöglich macht. Denn wir dürfen nicht vergessen, daß das gegenwärtige Unglück nicht nur Deutschland allein trifft, sondern daß alle Länder der Erde davon mitbetroffen sind. Ganz gewiß muß sich heute jeder von uns mit dieser allerwichtigsten der Fragen auseinandersetzen und wir können es begreifen, wenn die Arbeit am eigenen Körper im Augenblick nicht aktuell erscheint. Und doch ist sie heute aktueller und wichtiger denn je! Wenn wir uns umschauen und uns anschauen, so muß uns auffallen, daß der Durchschnittsmensch in nur ganz wenigen Fällen mit den Anforderungen mitkommt, die das Leben an ihn stellt ..."42 Gilt dies nicht auch für unsere Zeit am Beginn des 21. Jahrhunderts? Manche dieser vor 70 Jahren von Elsa GINDLER geäußerten Gedanken scheinen derzeit, z.B. in der 'focusing orientierten Psychotherapie'43 gerade wieder neu entdeckt zu werden. Resümee Elsa GINDLERs ganzheitliches pädagogisches Konzept beruht auf experimentellem Vorgehen in selbständiger Arbeit mit dem eigenen Körper. Durch bewußte Konzentration nach innen versuchte sie, funktionale Leichtigkeit der Bewegung mit innerer Sammlung zu erreichen. GINDLER war davon überzeugt, daß der Kör- per (und mit ihm die ganze Person) sich selbst regulieren und regenerieren kann. Ermöglicht wird dies durch Selbsterforschung und Selbsterziehung, nicht jedoch durch mechanisches Üben auf Kommando. Ziel ihrer Arbeit war, die verborgenen oder durch falsche Erziehung verkümmerten menschlichen Potentiale wiederzu- entdecken, um den Herausforderungen des alltäglichen Lebens besser zu begegnen. Auf dem Hintergrund der Wiederentdeckung ihrer Arbeit (sowie des eng mit ihr verbundenen Heinrich JACOBY) sei nochmals an die eingangs zitierte These von Hermann NOHL erinnert: "Wo eine pädagogische Bewegung größeren Ausmaßes erscheint, wendet sie sich gegen eine abgelebte Form und macht ihr gegen- über die Forderung der Persönlichkeit des einzelnen geltend. Es folgt dann bald eine Bewegung, das neue Ideal in sozialpädagogischer Arbeit auf die Masse zu 41In: Gymnastik, 6. Jg., 1931, S. 26. Den Hinweis auf diesen anschaulichen Erfahrungsbericht verdanke ich Jutta Emde-Mosebach. 42GINDLER (1931), a.a.O., S. 78 f. 43Vgl. Eugene T. GENDLIN, Johannes WILTSCHKO, Focusing in der Praxis. Eine schulenübergreifende Methode für Psychotherapie und Alltag, Stuttgart (Pfeiffer bei Klett-Cotta), 1999. Dort schreibt der Begründer dieser Methode, der amerikanische Philosoph, Psychologe und Psychotherapeut GENDLIN, über sei- nen Ansatz: "Focusing nenne ich die Zeit, in der man mit etwas ist, das man körperlich spürt, ohne schon zu wissen, was es ist. Was man aber weiß ist, dass dieses kör- perliche Gefühl mit irgendetwas im Leben zu tun hat... Die Essenz von Focusing ist, dass der Körper unsere Situationen und unser Leben lebt. Und so weiß unser Körper über das, was vorgeht, immer mehr als wir wissen... Wir alle haben in den letzten zwanzig Jahren die Erfahrung gemacht, dass das Denken alleine nicht genug ist. Wir leben jetzt in einer Zeit, in der sich alle mit den Gefühlen beschäftigen. ... mit Focusing gehen wir zu einer tieferen Schicht in uns, einer Schicht, die tiefer ist als die Gefühle..." , S. 13 f. übertragen, und jedem einzelnen dieses neue Menschentum zugänglich zu machen." Daß Bewegungserziehung und der Körper als Erkenntnisinstrument heute erneut in den Mittelpunkt pädagogischer und therapeutischer Arbeit rücken, mag im An- schluß an GINDLER als Reaktion auf ungelöste gesellschaftliche Probleme begriffen werden. Die “moderne” pädagogische Antwort heißt jedoch offensichtlich nicht, die Person in ihrer Einzigartigkeit in den Mittelpunkt zu stellen und Raum zu schaffen für Selbsterforschung und Selbsterziehung, sondern bewegungsorien- tierte Schulprogramme und Schulprofile zu entwickeln, die nach den Kriterien der WHO präventiv dazu beitragen, ein ausgeglichenes, bewegtes und entspanntes Schulklima zu ermöglichen. Bei vielen äußerlichen Ähnlichkeiten scheint doch ein paradigmatischer Bruch zwischen diesen Konzepten und der GINDLERschen Arbeit zu bestehen. GINDLER ging es um Nachentfaltung durch Konzentration nach innen und Bewußtmachung der dabei erlebten Spannungen, um in einem individuellen Prozeß der Selbsterziehung die eigenen Potentiale, mit den Schwierigkeiten des Lebens fertig zu werden, wiederzuentdecken. Die moderne Gestaltpädagogik hat diesen zutiefst körper- (leib-)orientierten Ansatz gelegentlich zugunsten der gefühlsorientierten und kreativen Anteile des Erlebens etwas aus dem Auge verloren. Immer- hin stehen innere Prozesse und ihre Bedeutung für persönliches Wachstum im Mittelpunkt gestaltpädagogischer Praxis. Die moderne Bewegungserziehung dagegen setzt weithin auf die äußere Gestaltung ergonomischer Faktoren in optimierten Lernumwelten. Was allein zu zählen scheint, sind äußerlich beobachtbare Verhaltensänderungen in interobjektiven Systemen. Im Anschluß an Ken WILBER könnte man dies als 'Flachlandpädagogik' bezeichnen. Vielleicht kann die Besinnung auf die nahezu vergessene und erst in jüngster Zeit wiederentdeckte Arbeit von Elsa GINDLER dazu beitragen, in neu- er Weise 'reagierbereit zu werden'. * Anhang: Ruth Dagan Kibbuz Ein Harod Ichud, Israel "Ich war noch sehr jung, vielleicht 12 Jahre alt, da habe ich schon beschlossen, Turnlehrerin zu werden; da habe ich schon Kinder von der Straße gesammelt und mit nach Hause genommen und am Hängereck schön in Reih und Glied aufgestellt. Dann ging ich ins Lyzeum und war entsetzt über die Turnstunden. Nein, dachte ich, wenn ich einmal unterrichte, so nicht, auf keinen Fall."Eins, zwei, drei, vier!"- all diese Dinge, diese geordneten Dinge. In Israel kam ich in einen Kibbuz und habe erstmal überall gearbeitet, in allen Bereichen, im Blumengarten, auf dem Feld, nur nicht bei den Tieren. Und dann hat man mich 1934 in die Schule gebeten, denn ich hatte jeden Abend auf dem Sportplatz mit den Mitgliedern Sport getrieben und Spiele organisiert. Auch mit den Kindern. Also hat man beschlossen, da es keine Turnlehrerin gab, sie bitten mich, ich solle in der Schule Turnstunden geben. Natürlich konnte ich nichts anderes, als was ich gelernt hat- te, die schwedische Gymnastik. Also ganz aus der Luft greifen, konnte ich ja nicht. Ich kam in die Schule und habe gesehen: das geht nicht, so einfach geht das nicht.Also, Natur, die freie Natur, kein Dach über dem Kopf, dazu die Hitze und kein bißchen Schatten und keinerlei Geräte. Nicht einmal ein kleiner Ball. Also haben wir mit Spielen angefangen. Wir haben mit Steinen gespielt und bei den Kleineren ein bißchen auf-Bäume-Klettern. Das einzige Gerät war der Körper eines zweiten Kindes. Und dann, ich weiß nicht, wie das kam, habe ich plötzlich gespürt, ich erkläre zu viel. Das ging den Kindern hier rein und dort raus. Da dachte ich mir: sollen sie sich das selber erarbeiten, sollen sie selber drauf kommen, was richtig und wie es richtig ist. Einmal hat mir auch ein Kind, als ich etwas erklärt habe, gesagt: Ruth, Du vertrödelst unsere Zeit. Da habe ich den Ritschratsch zugemacht und habe die Kinder neugierig gemacht auf Dinge, die geschehen, was sich so tut. Warum mache ich so? Wenn ich so mache, was mache ich besser? Dann kam ich auf die Idee, die Kinder daran zu beteiligen, z.B. wenn wir Purzelbäume gemacht haben auf dem Rasen draußen. Bei einem Kind ging es ganz glatt und andere konnten es nicht. Da habe ich ihm gesagt: Guck mal, vielleicht kannst Du ihm helfen? Das hatte den Vorteil, daß das Kind, das es konnte, erstmal überlegen mußte: Ja, wie mache ich das eigentlich? Was mache ich eigentlich anders? Warum geht es bei mir? Dann mußte es sehen, was das andere Kind macht; erst dann hat es eingegriffen, d.h., dieses Kind hat eine Menge gelernt, ohne daß man etwas erklären mußte, nur aus seiner eigenen Erfahrung heraus... Das tägliche Leben ist eine schwierige Angelegenheit. Eigentlich könnten das alles ganz natürliche Situationen sein. Aber wir verderben sie. Wer sie verdirbt, ist der Mensch selbst. Bei den meisten ist es ja so, daß viel zuwenig Wert gelegt wird auf Kraftersparnis, auf Körperbewußtsein. Wenn wir dies vertiefen, finden wir auch andere Zugangsweisen zu uns selbst und zu anderen, werden wir andere Menschen. Wir werden bewußter und aufmerksamer, vor allem auch hilfsbereiter. Das ganze Leben ist im Grunde nichts anderes, als einfach da-sein ... Nochmals: Es geht um die Verantwortung für den Zugang/Umgang (hebräisch: jachas) zu dem und mit dem, was mich umgibt und mit mir ist. So ist es auch mit den Unterrichtsstunden. Die Zeit gehört Euch; mal sehen, was Ihr daraus macht - in jeder Beziehung ... Drei Dinge waren mir und sind mir immer wichtig geblieben: Erstens, ich lerne zuhören, denke nach und probiere selbst aus. Zweitens: Ich sehe und versuche zu verstehen, warum dieselben Vorschläge, etwas auszuprobieren, bei jedem, der es ausprobiert, zu anderen Ergebnissen führen. Damit setze ich mich zuerst einmal allein auseinander, ohne darüber zu reden. Drittens: Das Gemeinsame - die gegenseitige Hilfe in Wort und Tat. Jetzt hilft die Sprache mit, zu verstehen, auszuführen und zu lernen. Diese drei Punkte gelten für mich genauso wie für die Schüler, gleich welchen Alters, nur angepaßt. Sehr wichtig war mir, zuerst aus jeder Klasse eine Gemeinschaft zu bilden, in der allein, gemeinsam und in kleinen Gruppen neue Verhaltensweisen ausprobiert und gelernt werden können. Das Wichtigste dabei ist: Ich hatte nie eine Klasse von 30-40 Schülern, sondern 30-40 Schüler in einer Klasse. Ein Unterschied wie Tag und Nacht. Jeder Schüler hat sein Recht auf Achtung und seine momentane Fähigkeit, um davon ausgehend zu lernen und diese zu verbessern. Erst dann und auf dieser Grundlage gibt es die Erlaubnis zu helfen, um mit gutem Willen und viel Geduld "Erfolge" zu erzielen. Die gegenseitige Beziehung und die Freude am Erfolg ist beidseitig und formt sozusagen die Klasse als Ganzes. Wenn es keine guten Beziehungen zwischen allen Schülern gab, konnte ich nie unterrichten. Das war meine Basis. Alle verdienen daran und lernen fürs Leben. Das Sich-Wohlfühlen ist ein genauso oft auftretender Zustand wie das Sich-Nicht-Wohlfühlen. Es fragt sich nur, ob wir die Ursachen erkennen und ändern wollen. Wir können Gemütszustände auch annehmen, ohne uns zu martern, denn ganz gleich, ob wir den Grund dafür suchen oder nicht, solche Zustände ändern sich ja durch kleine und allerkleinste Einflüsse, wenn wir sie nur geduldig und bewußt wahrnehmen... Manchmal kann es seine Zeit dauern, bis wir zu einem 'Abschluß' kommen, d.h. ich lasse die Schüler ganz bewußt auch "falsch" arbeiten, bis sie selbst eine Vergleichsmöglichkeit gefunden haben. Es gibt keine vorgekauten Lö- sungen. Der Bewegungsablauf hat seine eigenen Gesetze, aber jeder hat seine eigene Art, die es nicht zu ändern gilt. Es geht darum, daß jeder durch alle Möglich- keiten der Bewegung verschiedene Wege ausprobiert und die verschiedenen Wirkungen auf Körper und Gemüt kennenlernt, - ein Prozeß von Jahren und nicht von Tagen! ..."44 * Es folgen drei Berichte von Studierenden aus einem Einführungsseminar in die Gestaltpädagogik (SS 1990): Seminar-Eindruck ausgedrückt Ich stehe auf und atme ein: da steh' ich nun unverwurzelt und zum Absprung bereit aufgeplustert und unruhig bis oben hin voll mit Luft gefüllt nicht mehr aufnahmefähig nur noch das Bestreben alles rauszulassen, was ich soeben in mich eingesogen. Hinsetzen für einen kurzen Moment. Wieder aufstehen dieses Mal halte ich die Luft an: ein ungeheurer Druck breitet sich in mir aus körperliches Unwohlsein Verspannungen machen sich breit zugleich ein Gefühl von Leblosigkeit von Stillstand - weder ein noch aus zu atmen. Ich setze mich erneut hin. Nun stehe ich auf und atme aus: da steh' ich nun fest verwurzelt mit dem Boden in Kontakt "HIER BIN ICH" offen und bereit, aufzunehmen. Was jetzt ist offen zu sein für das, was ist und das, was kommt entspannt und gelassen ganz im Hier und Jetzt. Ela Ritter, 27.6.2000 (nach dem Seminar) 44"... das ganze Leben ist im Grunde nichts anderes als einfach da-sein" (Ruth Dagan). a.a.O. Erinnerungen aus dem Jetzt an ein Selbsterfahrungsseminar zur Gestaltpädagogik: Ich erinnere mich an einen Spaziergang gestern, während dessen mir eine Idee aus dem Bauch in den Kopf schoß, der Mund mir offenstand, ich stehenblieb, die Augen aufriß - und zum Glück allein war. "Das Thema worüber ich schreiben möchte: Selbstblockade. Eine Reihe von Bildern und Gedanken regten sich. Ich bemerkte meine inneren Monologe und ihre Wirkung auf mich. Gerade das "du sollst", "du mußt" hindert mich am Handeln, verursacht ein mulmiges Gefühl. Darüber hinaus fiel mir auf, daß ich mich selbst mit "du" anspreche, obwohl ich doch eigentlich ich bin. Jetzt schreibe ich gerade, was ich schreiben möchte, weil ich es gerade schreibe. Während ich so vor mich hin ging und diese Gedanken bemerkte, begann ich herzlich über mich selbst zu lachen, fühlte mich so entspannt und frei wie schon lang nicht mehr. Schon verrückt: gerade das Gewahrwerden dieser Blockaden durch eine Selbstbewertung löst diese auf. Ich habe in diesem Moment gespürt, was da ist, was ich wirklich empfinde und nicht, was da sein soll oder ich empfinden will, muß... Es ist wirklich ein Paradoxon. Wenn ich mich z.B. zwinge, mich zu be- obachten, gut aufmerksam zu sein, sind es Regeln, die ich befolge, die mich daran hindern, genau das zu spüren, was ich spüre, dadurch, daß ich ein Bild, eine Vorstellung davon, was sein soll, über mein Empfinden schiebe. Ich lief und lief, des Laufens wegen. Jeder Schritt brachte mich ein weiteres Stück voran. Ich genoß die Spätsommersonne, sah die ersten bunten Blätter, freute mich über die Wärme. So ging ich eine ganze Weile, bis ich bemerkte, daß ich von einem anderen Stadtteil fast nach Hause lief, nicht in den Bus stieg und irgend- wo im Grünen auf der Hessenschanze stand und glücklich war. Nicht nur des gefundenen Themas wegen, vor allem des erlebten Momentes wegen, der eigentlich schwer in Worte zu fassen ist. [...] Ich nahm mich selbst unter die Lupe, um mich zu prüfen, im Sinne von Kontrollieren. Ich erschuf ein Bild von mir, wie ich sein möchte, aber nicht bin. Ich habe bemerkt, daß es tatsächlich möglich ist, auch unter dem Bewußtsein und dem Willen, Ich selbst zu sein, doch versuchte, ein künstliches Ich zu erschaffen, das ich sein soll oder will. Wie ein Hinterherrennen einer angehimmelten Statue, die sich aber immer weiter von mir entfernt. Erst wenn ich stehenbleibe und mich selbst anschaue, wie ich bin und das annehmen kann, wie ich bin, kann ich ich sein. Erst jetzt, einige Zeit nach dem Lesen, habe ich das Gefühl, Beissers "Paradoxon der Veränderung" be-griffen, er-fahren zu haben. Genau dadurch, daß mir dieser Prozeß an mir selbst gewahr wurde - in diesem Augenblick. Ich sehe mich auch wei- terhin nicht befreit von solchen Strukturen, aber auch das bin ja ich. Einen solchen Moment des Begreifens erlebte ich auf meinem Spaziergang gestern. Im Rückblick auf das Seminar sind mir am intensivsten die Momente des Gefühls der inneren Blockade in Erinnerung geblieben, dadurch, daß ich dieses Gefühl wieder erfahre, wenn ich mich er-innere. Warum also soll ich nach etwas anderem suchen, nur weil mir dies nicht gefällt, ich es nicht haben will, obwohl es da ist? Auch die Atemübungen haben mir wieder einmal gezeigt, wieviel der Atem mit der inneren Befindlichkeit, der Konzentration zu tun hat. Diese Blockaden jedoch, die im Moment des Erlebens vielleicht im Hintergrund lagen, da ich sie nicht wahrnehmen wollte oder konnte, sind auch jetzt hier und heute noch ein für mich wichtiges und bewegendes Thema. Seltsam, daß mir erst 3 Monate später wirklich bewußt wurde, daß es dieses Gefühl oder Gefühle überhaupt gab, die ich mir zum Zeitpunkt des Seminars noch nicht eingestehen konnte, weil ich nach etwas anderem suchte. Vielleicht kann ich solche Blockaden auch als dieses mulmige Gefühl beschreiben, das Unwohlsein im Bauch, eine Anspannung des Brustkorbs und einen unheimlichen Druck im Kopf. Ein Druck, den ich selbst auf mich ausübe, durch den Versuch, einem Bild zu entsprechen, das ich mir für mich selbst erstelle, oder eine Aufgabe besonders gut zu erfüllen, die eigentlich ein Experiment ist, bis hin zum Perfektionismus vor mir selbst. Jetzt wird mir auch verständlich, warum mir kein Thema einfallen konnte und mir stets unwohl war, wenn ich nur daran dachte. Ich suchte nach etwas, was nicht da war, aber da gewesen sein sollte (in meiner Vorstellung). Und was in Erinnerung ist, ist dieses mulmige Gefühl. Warum nicht genau darüber schrei- ben und den Weg, wie ich es vor mir selbst ent-deckte. Es gibt doch gar keine Richtlinie für meinen Erlebnisbericht, außer das Erlebnis selbst. Jetzt bemerke ich, wie ehrlich ich gerade zu mir und über mich bin, vielleicht hatte (habe) ich auch davor Angst. [...] Daniela Rieß * Reflexion Rückblickend auf das Seminar "Einführung in die Gestaltpädagogik" möchte ich zuerst erwähnen, daß ich die Veranstaltung interessant und gelungen fand und die vielseitigen Praxisphasen mitunter sehr genossen habe. Jedoch hat mich nicht nur die eine oder andere Übung im besonderen Maße angesprochen oder zum Nach- denken angeregt, sondern vielmehr die nach meinem Empfinden das Seminar begleitende Thematik des «da seins», der Aufmerksamkeitsfokusierung im Hier und Jetzt. In vielen Bereichen meines Lebens fällt es mir schwer, einfach nur bei dem zu sein, was ich gerade mache. Oft ist die Aufmerksamkeit überall, nur nicht bei dem, was ich tue und damit nicht im Hier und Jetzt. Dadurch entsteht in mir meist unnützer Streß und Unzufriedenheit und jede neue, noch so kleine Aufgabe scheint mich im ersten Moment zu überlasten, oder aber ich verliere gar das Verhältnis zwischen meinen Möglichkeiten und den Aufgaben, welche ich mir auferlege. Dies trägt dazu bei, zusätzlich die Kluft zwischen dem, was ich mache und dem Blickpunkt meiner Konzentration zu vergrößern, da die Gedanken dann z.B. bei dem sind, was noch erledigt werden muß. Ich finde es auch nicht leicht, Abstand von den für die jeweiligen Anforderungen unnützen Gedanken und Gefühle zu finden. Meist schaffe ich dies erst, wenn ich für eine Sache so begeistert bin, daß mir in diesem Moment nichts anderes mehr wichtig zu sein scheint, ich mich quasi im Tun verliere. [...] Allerdings sind alltägliche Probleme, Unerledigtes und Überforderungen nicht die einzigen Gründe, die es erschweren, einfach nur «da zu sein», sondern unbewußte Strukturen, in welchen wir uns meistens nichtsahnend bewegen, umgeben und beeinflussen uns in unserem alltäglichen Leben permanent. [...] Solche uns unbewußt beeinflussenden Strukturen stören auch bei der Aufmerksamkeitsfokusierung im Hier und Jetzt und damit beim «da sein». Wenn man fest davon überzeugt ist, daß die Realität so und so aussieht, dann handelt und fühlt man auch dementsprechend und ist damit in seinem Sein nicht frei. Zudem bestim- men diese persönlichen, familiären und gesellschaftlichen Muster auch die existierenden Werte und Normen und prägen damit die Erwartungshaltungen des Ein- zelnen. Zudem denke ich, daß unbewußte Beeinflussungen und Abhängigkeiten auch extrem ängstigen können. Während der Reflexion ist mir aufgefallen, daß ich in den letzten Jahren von Erwartungshaltungen an mich, auch in Bezug auf mein Studium, immer mehr von oktroyierten Vorstellungen und Ansprüchen infiziert wurde. Einfach mal etwas der Sache wegen zu tun, fällt mir, im Gegensätz zu früher, immer schwerer. Die an mich gerichteten Anforderungen und Aufgaben, auch jene, die ich selbst an mich stelle, nehmen mich mitunter so ein, daß ich dieses einfach-mal-sein oft vergesse oder mich nicht mehr in der Lage dazu fühle. Habe ich aber mal einen Moment Ruhe, merke ich, daß mir irgend etwas fehlt, und eine melancholische Stimmung nimmt Besitz von mir; meistens, so dachte ich bisher, ohne bestimmten Grund, oder besser gesagt, ohne daß ich einen bestimmten Grund dafür nennen könnte. Das ist dann oft der Punkt, an welchem ich mich wieder in Arbeit stürze oder aber vor dem Fernsehapparat oder sonstwo verliere. [...] Andreas Behnken