Präventionsstudie Psychoanalytische Prävention für Familien mit Kindern im Alter von null bis drei Jahre Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie im Fachbereich 01 Erziehungswissenschaft /Humanwissenschaften der Universität Kassel Vorgelegt von: Bernd Henke Kassel Dezember 2006 2 Inhalt 1. Einleitung 7 1.1 Zur Geschichte von ADHS 7 1.2 Kritische Anmerkungen 10 Diagnostik 10 Genetische Hypothesen 10 Neurobiologische Hypothesen und medikamentöse Therapien 11 Medikamentöse Therapie 14 Einige Ergebnisse der Säuglingsforschung 16 Psychodynamische und psychosoziale Überlegungen 18 Psychosoziale Überlegungen 19 Veränderung ethischer Strukturen 20 Verringerung des emotionalen Austausches 21 2. Entwicklung eines Frühpräventionsprogramms 22 2.1 Kontext 22 2.1.1 Psychoanalytische Anmerkungen zur psychodynamischen Entwicklung und ihren Folgen 22 2.1.2 Auswirkungen von emotionalen Verarbeitungsdefiziten auf Lernvorgänge, z.B. auf die Entwicklung der Motorik 27 2.1.3 Beeinträchtigung der Koordination von visueller und auditiver Wahrnehmung durch emotionale Überforderung 28 2.1.4 Auswirkungen von Abgrenzungskonflikten auf das mathematische Denken 29 2.2 Theoretische Überlegungen 29 2.2.1 Prävention – eine Möglichkeit, Hilfe frühzeitig anzubieten 29 2.2.2 Diskussion verschiedener Präventionsansätze: 33 Die Frankfurter Präventionsstudie 33 Prävention durch Versorgungsnetze 34 Präventionsprojekt STEEP 35 Betreuungsprogramm für Schreibabys mit Fütterungsstörungen: „Münchner Sprechstunde für Schreibabys“ 35 2.2.3 Zur Entwicklung eines Frühpräventionsprogramms 36 2.3 Methodische Überlegungen zur vorgestellten Studie 37 2.3.1 Vorbemerkungen zum methodischen Vorgehen 37 2.3.2 Interviews als hypothesengenerierendes Untersuchungsinstrument. 38 2.3.3. Kriterien zur Auswahl der vorgestellten Fallbeispiele 41 3. Illustration des Frühpräventionsprogramms durch fünf Einzelfälle 42 3.1 Fall 1: „Es ist wichtig, meinem Kind nicht alles von den Lippen abzulesen.“ 42 3.1.1. Fallbeschreibung: Ausgangssituation und Gespräche 42 3 Ausgangssituation: 42 1. Gespräch 42 2. Gespräch 44 3. Gespräch 46 3.1.2 Psychodynamische Überlegungen Fall 1 47 3.2. Fall 2: Das „Kiss-Syndrom“ und seine Folgen 50 3.2.1 Fallbeschreibung: Ausgangssituation und Gespräche 50 Ausgangssituation: 50 1. Gespräch 50 2. Gespräch 53 3. Gespräch 55 4. Gespräch 57 5. Gespräch 59 6. Gespräch 59 7. Gespräch 60 3.2.2 Psychodynamische Überlegungen Fall 2 62 3.3 Fall 3: Die jugendliche Mutter 68 3.3.1 Fallbeschreibung: Ausgangssituation und Gespräche 68 Ausgangssituation 68 1. Gespräch 68 2. Gespräch 70 3. Gespräch 72 4. Gespräch 73 5. Gespräch 75 6. Gespräch 76 7. Gespräch 77 8. Gespräch 78 9. Gespräch 80 10. Gespräch 80 11. Gespräch 81 3.3.2 Psychodynamische Überlegungen Fall 3 81 3.4 Fall 4: Der vermeintlich große kleine Rebell 88 3.4.1 Fallbeschreibung: Ausgangssituation und Gespräche 88 Ausgangssituation 88 1.Gespräch 88 2. Gespräch 90 3. Gespräch 90 4. Gespräch 91 5. Gespräch 91 4 6. Gespräch 92 7. Gespräch 93 8. Gespräch 93 9. Gespräch 94 10. Gespräch 95 11. Gespräch 96 3.4.2 Psychodynamische Überlegungen Fall 4 97 3.5 Fall 5: Die Folgen einer Trennung 103 3.5.1 Fallbeschreibung: Ausgangssituation und Gespräche 103 Ausgangssituation 103 1. Gespräch 103 2. Gespräch 104 3. Gespräch 106 4. Gespräch 107 5. Gespräch 108 6. und 7. Gespräch 109 3.5.2 Psychodynamische Überlegungen Fall 5 109 4. Auswertung der Fallbeschreibungen 114 4.1 Zusammenfassung der psychodynamischen Überlegungen 114 4.1.1 Fall 1 114 4.1.2 Fall 2 115 4.1.3 Fall 3 118 4.1.4 Fall 4 120 4.1.5 Fall 5 121 4.2 Überlegungen zu Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomenen, Widerständen und therapeutischen Interventionen 122 4.3 Ergebnisse der Präventionsinterventionen 134 4.3.1. Vorspann 134 4.3.2. Ausgangsituationen der Familien und Ergebnisse der Prävention im Vergleich 135 5. Resümee 141 5.1 Zusammenfassung psychodynamischer Überlegungen 141 5.2. Plädoyer für eine vernetzte Prävention 152 6. Kurz gefasst: Theorie Methode Ergebnisse 154 Literaturverzeichnis 159 5 Vorwort Unruhige, unaufmerksame Kinder – sie bevölkern die kinderärztlichen und kinderpsychiatrischen Praxen von heute, beunruhigen ihre Eltern, Lehrer und Erzieher, beschäftigen die Wissenschaftler und lösen heftigste Diskussionen in der breiten Öffentlichkeit aus. Handelt es sich bei dem als ADHS (Aufmerksamkeitsdefizithyperaktivitätssyndrom) bekannten Syndrom um eine eigenständige, auf einer angeborenen Stoffwechselstörung beruhende Erkrankung? Oder sind Bewegungsunruhe, geringe Impulskontrolle und Konzentrationsstörungen bei Kindern am Ende gar keine körperliche Krankheit, sondern Reaktionen auf individuelle, im Kind und seinem Umfeld liegende Ursachen? Während meiner klinischen Tätigkeit habe ich über 26 Jahre Kinder und deren Eltern zunächst in kinderpsychiatrischen und später in analytischen Kinderpsychotherapien begleitet, die u. a. durch gelegentliche Unaufmerksamkeit, Impulsivität und Bewegungsunruhe (Aufmerksamkeitsdefizithyperaktivitätssyndrom, ADHS) auffielen. Ich erfuhr Tag für Tag von ihren leidvollen Erlebnissen, ihren häufigen Irrwegen auf der Suche nach Hilfe und versuchte, die psychodynamischen Hintergründe ihrer bis in die frühe Kindheit hineinragenden Vorgeschichte in den aufwendigen Psychotherapien zu verstehen. Besonders seit Ende der 90`er Jahre nahm die Zahl der mit Medikamenten behandelten Kinder rasant zu. Meiner Erfahrung nach erhielten Eltern und Kind kaum noch die Gelegenheit ihre innere Not zu vermitteln; nach psychodynamischen Zusammenhängen wurde kaum geforscht, oder. sie wurden nur in Anteilen erfasst und allenfalls randständig und somit, unzureichend therapiert. Häufig wurden die medikamentösen Behandlungen u. a. damit begründet, dass sie schneller, effektiver und kostengünstiger zu Behandlungserfolgen führen würden. Angesichts solcher Befunde drängte sich die Frage auf, wie der anscheinend immer weiter fortschreitenden psychopathologischen Entwicklung bei Kindern schon im Vorfeld Einhalt geboten werden könnte. Dabei ging es mir nicht nur um solche Kinder, die mit besonders lärmenden und Unruhe stiftenden Symptomen auf sich aufmerksam machen, sondern generell um die Frage einer frühen, möglichst schon in der Säuglingszeit einsetzenden Interventionsmöglichkeit für bedürftige Familien. Wäre am Ende die Entstehung von belastenden psychischen Symptomen unter anderen ADHS sogar zu verhindern, wenn es geeignete Interventionen gäbe? Diese Frage veranlasste M. Leuzinger-Bohleber, G. .Hüther und mich selbst, ein bereits 6 bei Kindern im Klein- und Kindergartenalter einsetzendes Präventionsprogramm zu entwickeln; die Frankfurter Präventionsstudie, sowie die Hamburger Frühinterventionsstudie. Ausgehend von aus psychoanalytischen Therapien mit Kindern gewonnenen Erfahrungen wurden für die beiden Studien spezifische psychoanalytische Konzeptualisierungen entwickelt, die nicht lediglich die Entstehung von Symptomen bei Kindern verhindern, sondern darüber hinausgehend der Entfaltung einer stabilen altersgemäßen Persönlichkeit im Rahmen einer adäquaten, kindlichen, psychischen und körperlichen Entwicklung dienen sollten. Dazu war es notwendig, zentrale für die weitere Persönlichkeitsentwicklung entscheidende intra- und interpsychische Störfaktoren zu erkennen, den betroffenen Eltern und Kindern zu vermitteln und an ihrer Auflösung mitzuwirken. Diese an den psychischen Wurzeln und nicht am Verhalten ansetzende Maßnahme hatte das Ziel, den unterschiedlichsten Psychopathologien in statu nascendi entgegenzuwirken. Da Prävention auf der Basis psychoanalytischen Verständnisses der inneren Welt von Kindern angesichts des zunehmenden Ausmaßes pathologischer Entwicklungen gerade bei den Jüngsten der Gesellschaft von enormer Bedeutung wäre, ging es darüber hinaus darum, einen Nachweis für die Wirksamkeit dieser frühen Interventionen zu erbringen, um der Forderung nach früher psychodynamisch reflektierter Prävention auf breiter Ebene Nachdruck zu verleihen. In Frankfurt wurde von 2003-2006 die Frankfurter Präventionsstudie in Kindergärten durchgeführt (Siehe dazu u. a. Leuzinger-Bohleber, et. al. 2006). Ich selbst entwickelte ein Frühpräventionsprogramm für Familien mit Kindern von 0-3 Jahren in Hamburg, von dem im Folgenden berichtet werden soll. Im Zentrum stehen fünf ausführliche Falldarstellungen, an denen das Präventionsprogramm illustriert und kritisch reflektiert wird. 7 1. Einleitung 1.1 Zur Geschichte von ADHS Die Suche der medizinischen Wissenschaften nach körperlichen Ursachen für psychische und psychosomatische Erkrankungen hat eine lange Vorgeschichte. Am Beispiel des Krankheitsphänomens „ADHS“ soll exemplarisch dargestellt werden, zu welch spannenden, z. T. auch kontrovers geführten wissenschaftlichen Diskurs es dabei kommen kann. Schon Anfang der 80er Jahre, während meiner Tätigkeit als Assistenzarzt in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik war ich mit Kindern befasst, die in den diagnostischen Vorgesprächen durch Bewegungsunruhe, Unaufmerksamkeit, oppositionellen Verhalten, übermäßiger Aggressivität und Unruhe auffielen. Schon damals standen diverse z. T. seit Jahren bestehende psychiatrische Krankheitshypothesen zur Verfügung. Bereits in den 40er Jahren waren klinische Erfahrungen bekannt, dass an Enzephalitis erkrankte Kinder zum Teil mit auffälligem Verhalten, wie Hyperkinese, Unruhe und Konzentrationsstörungen reagierten. Dies war unter anderen der Anlass, auch für ähnliche Verhaltensauffälligkeiten von Kindern, die keine offenkundige, gängige Erkrankung des Gehirns aufwiesen, hirnorganische, pathologische Veränderungen als Ursache anzunehmen. So wurden diverse, auf neurologisch-psychiatrischer Grundlage basierende Krankheitsmodelle entwickelt, etwa die Enzephalopathische Psychopathie (Enke 1953), das hirnorganisch-psychische Achsensyndrom (Göllnitz 1954), das frühkindliche exogene Psychosyndrom (Lempp 1970), sowie aktuell das Aufmerksamkeitdefizithyperaktivitätssyndrom ADHS (Attention Deficit Hyperactivity Syndrom). Letzterem, so eine weit verbreitete Hypothese, liege eine genetisch bedingte Störung des Dopamin-Stoffwechsels im Gehirn zugrunde. Anlass für diese Hypothese waren die klinischen Erfahrungen, dass hyperkinetische und unaufmerksame Kinder auf Psychostimulierende Medikamente wie Methylphenidat zum großen Teil mit Symptomreduzierung reagierten. Da diese Medikamente in hoher Dosierung die extrasynaptische Dopaminkonzentration im Gehirn erhöhen, folgerte man, dass vermutlich ein Dopaminmangel die Ursache der Verhaltensauffälligkeiten sei. „Dieses war die entscheidende Voraussetzung für die American Psychiatric Association, die Bezeichnung ADHS für dieses Störungsbild einzuführen und sie in den Katalog psychischer Erkrankungen (Klassifikationssysteme ICD-10, DSM-IV) 8 aufzunehmen“ (Hüther, 2006). Gerade in den letzten Jahren hat die Fortentwicklung des Instrumentariums zur Untersuchung von neurobiologischen Aktivitäten des Gehirns zu einer enormen Erweiterung unserer Kenntnisse über die Hirnfunktionen beigetragen. Die Bild gebenden Verfahren erlauben über die Messung der Durchblutung Aussagen über das Auftreten von Aktivitäten und ihre Lokalisierung. Außerdem ermöglichen pharmakologische Mikroanalysen die Erfassung biochemischer Stoffwechselvorgänge, dies allerdings im Wesentlichen auf Tierversuche begrenzt. Die in Tierversuchen und durch Untersuchungen des menschlichen Gehirns gewonnenen, naturwissenschaftlichen Daten eröffnen nur einen lokal und zeitlich begrenzten Einblick in einen definierten Ausschnitt von Funktionsabläufen, die nur ein Teil eines sehr viel umfassenderen hoch komplex verschalteten neuronalen Netzwerkes von miteinander verbundenen und aufeinander abgestimmten Hirnfunktionen sind. Der hypothetische Charakter von Thesen, die auf solchen Beobachtungen beruhen, wird aber nicht selten vernachlässigt, indem von den auf diese Weise gewonnen Daten über Ursache und Wirkung generalisierend Aussagen über darüber hinausgehende, sehr viel umfangreichere Funktionsabläufe abgeleitet werden. So entsteht der Eindruck, dass auch für diesen, die Generalisierung betreffenden, Aussagenbereich ein objektiver Beweis vorliege, wie z. B. für die Hypothese einer genetisch bedingten Dopamin-Stoffwechselstörung als wesentliche (alleinige) Ursache für das ADHS. Dieser Beweis ist aber bisher nicht erbracht. Das hier skizzierte Krankheitsmodell einer eigenständigen auf einer angeborenen Stoffwechselstörung beruhenden Erkrankung mit den Leitsymptomen Aufmerksamkeitsdefiziten und Hyperaktivität teile ich auf Grund meiner Erfahrungen mit den Kindern nicht. Vielmehr gehe ich, wie viele andere psychoanalytisch orientierte Wissenschaftler, davon aus, dass Konzentrationsstörungen und Bewegungsunruhe an sich noch nicht als Anzeichen einer Erkrankung zu werten sind. Sie können vielmehr durch individuell im Kind oder auch im sozialen Umfeld zu lokalisierende Ursachen ausgelöst werden. Daher dürften individuelle Persönlichkeitsstrukturen ebenso wie Dynamiken in Familien und Bildungseinrichtungen dabei eine Rolle spielen und in der Behandlung zu berücksichtigen sein (Leuzinger-Bohleber, 2006). Nach meiner Auffassung sind sie, nach nicht lediglich an der Symptomatik orientierten, sondern einer die vielfältigen Ursachen berücksichtigenden Diagnostik adäquat zu 9 behandeln. Trotz dieser Einwände, die nun näher zu erläutern sind, verwende ich aus Gründen der leichteren Verständlichkeit in der vorliegenden Arbeit häufiger den Krankheitsbegriff ADHS gemäß ICD-10, wie oben dargestellt. Die Suche nach möglichen Ursachen für Desintegration und Verhaltensauffälligkeiten hat der Frage nach adäquaten Therapien voraus zu gehen. Hypothesen, denen hier nachgegangen werden soll, beziehen sich auf den neurobiologischen, psychodynamischen Bereich, insbesondere auf Ergebnisse der Säuglingsforschung und gesellschaftliche Zusammenhänge. Zunächst sollen einige Bedenken gegen die Hypothese einer angeborenen Stoffwechselstörung erläutert werden. 10 1.2 Kritische Anmerkungen Diagnostik Die folgenden kritischen Anmerkungen beziehen sich zunächst auf die Erfassung und das Verstehen der Symptome im Rahmen der Diagnostik. Heute stehen differenzierte und umfangreiche psychologische Tests und Fragebögen zur Diagnostik zur Verfügung, wie zum Beispiel der GFT (Göttinger-Formen-Reproduktions-Test), der Conners- Wells-Fragebogen (CWF) für Eltern, die Child-Behaviour-Check-Lists (CBC) für Kinder und für Lehrer (CTRF), sowie der K-ABC-Intelligenztest und der D2- Aufmerksamkeitstest, sowie die deskriptive Diagnostik von ADHS nach ICD-10 oder DSM VI. Trotz der Verfeinerung des Instrumentariums, wie in der multiaxialen Diagnostik von Döpfner im Vorfeld einer multimodalen Therapie vorgeschlagen (Döpfner, M. und Lehmkuhl, G. 1998), scheint aus klinischer Sicht auch dieses Vorgehen nicht ausreichend. Beispielsweise könnte nach der Durchführung einer solchen Diagnostik bei Kindern eine Konzentrationsstörung festgestellt werden, die als genetisch bedingte Stoffwechselstörung angesehen wird und daher überwiegend vorhanden sein müsste. Gleichzeitig liegt, wenn man danach fragt, die praktische Erfahrung der Bezugspersonen vor, dass die fraglichen Kinder in Wirklichkeit nur in Abhängigkeit von der gestellten Anforderung unkonzentriert sind und häufig selbst in lärmender Umgebung keine Aufmerksamkeitsprobleme aufweisen, sofern sie sich mit einer ausreichenden Eigenmotivation selbst gewählten Aufgaben zuwenden. Mir scheint, dass dieses Phänomen im klinischen Alltag häufig zu wenig erfasst wird und in der wissenschaftlichen Diskussion zu wenig Berücksichtigung findet, aber für die Diagnose und Therapie von zentraler Bedeutung ist. Genetische Hypothesen Es ist davon auszugehen, dass menschliches Verhalten auch genetischen Einflüssen unterliegt. Stern und Mitarbeiter (Stern, 1995) fanden in empirischen Studien heraus, dass Vitalität und Temperament in der frühen Mutter-Kind-Beziehung eine wichtige Rolle spielen und dies auf die psychische Entwicklung eine wesentliche Auswirkung hat. Bürgin führt zur Frage einer genetischen Beteiligung an, dass ADHS 4- bis 10-mal 11 häufiger bei Jungen auftritt als bei Mädchen. Er vermutet, dass unterschiedliche Muskelaktivitäten eine Rolle spielen könnten (Bürgin, D., 2006). Doch scheint inzwischen ein Konsens zu sein, dass Genkonstellationen erst durch bestimmte Umweltfaktoren „getriggert“ werden müssen, um ein Verhalten mitzubestimmen (Stassen, Begleiter, Beirut,et al. 2004a, Leuzinger-Bohleber, 2006). Dies weist auf die Bedeutung hin, die psychodynamische Prozesse, die später erörtert werden, bei der Entstehung von psychischen Erkrankungen spielen. Neurobiologische Hypothesen und medikamentöse Therapien In den weiteren Ausführungen beziehe ich mich überwiegend auf die Arbeiten von Hüther, Neurobiologe an der Universität Göttingen. Die neurobiologischen Forschungen vor allem der letzten Jahre haben belegt, dass eine Reihe von Fähigkeiten der Nervenzellen genetisch festgelegt ist. Diese sind: sich zu teilen, einem Signalstoffgradienten entlang zu wandern und Fortsätze zu bilden, Dendriten auf der postsynaptischen Seite und das Axon auf der präsynaptischen (Hüther, 1998). Genetisch programmiert ist auch ein zunächst postpartal vorhandenes Überangebot an dendritischen und axonalen Fortsätzen sowie synaptischen Verbindungen. Der Ausbau des Gehirns im Laufe der Entwicklung ist dann allerdings von der tatsächlich stattfindenden Nutzung ((Joseph, 1999), den vorhandenen Ausbaumöglichkeiten und den bereits ausgebildeten Verschaltungen, die die Grundlage der möglichen Aktionen und Reaktionen darstellen, abhängig. Eine fortwährende Anpassung der synaptischen Verschaltungen an die veränderten Nutzungsbedingungen ist dabei unverzichtbar (Mattson, 1989; Dawirs, 1992). Das bis etwa zum 6. Lebensjahr anhaltende Überangebot an Fortsätzen und Synapsen sollte zum Aufbau spezifischer Verschaltungsmuster entsprechend dem Gebrauch genutzt und durch Anwendung stabilisiert werden. Geschieht dies nicht, kommt es im Laufe der Zeit zum Abbau neuronaler Verschaltungen. Immer, wenn ein Kind mit einer Außenanforderung konfrontiert wird, die nicht durch den Einsatz von bereits bewährten Reaktionsmustern gelöst werden kann, weil ein Missverhältnis zwischen den äußeren Forderungen und den inneren Möglichkeiten besteht, werden subkortikale (stress-sensitive Systeme) Hirnregionen aktiviert. Diese sind das Limbische System, Kerngebiete im Mittelhirn und im Hirnstamm, sowie im 12 Hypotalamus. Die im Verlauf dieser sich ausbreitenden unspezifischen Aktivierung vermehrt ausgeschütteten Signalstoffe haben Auswirkungen auf die Komponenten, die an der synaptischen Signalübertragung beteiligt sind. Wie stark allerdings die emotionalen Zentren aktiviert werden, hängt wesentlich von der vorausgehenden inneren Bewertung der Belastung ab. Diese subjektive, bewertende Empfindung wird stark beeinflusst vom Über-Ich, dem Ich-Ideal, vorherigen Erfahrungen mit Bewältigungsstrategien und der erwarteten und tatsächlich zur Verfügung stehenden emotionalen, gesellschaftlichen Akzeptanz. Ob die Ausbreitung unspezifischer Erregungsmuster in den limbischen und cortikalen Hirnarealen kontrollierend bewältigt werden kann, ist abhängig davon, ob es zu einer gemäßigten, aber ausreichenden Aktivierung stress-sensitive Systeme gekommen war. Im günstigen Fall kommt es zu einer solchen Ausschüttung von Hormonen, Transmitter und Modulatoren, dass es unter deren Einfluss zur Bahnung der neuronalen und synaptischen Verschaltungen kommt, die dann zur Wiederherstellung des emotionalen Gleichgewichtes eingesetzt werden Bei diesen Anpassungsprozessen des sich entwickelnden, ausbauenden Gehirns an die durch die Wahrnehmungen vermittelten Außenweltanforderungen, spielt das Frontalhirn eine wichtige Rolle. Die dort nutzungsabhängig aufgebauten und durch Wiederholung auch strukturell stabilisierten synaptischen Verschaltungsmuster werden später als innere Repräsentanzen zur Organisation und Planung von Verhaltensreaktionen benutzt. Vor allem der präfrontale Kortex ist unter anderen zuständig für die Regulation von Kognitionen, Steuerung von Verarbeitungsprozessen Aufmerksamkeit, die Verstärkung intentionaler Reaktionen und ihre Umsetzung in Handlungen. Dieser Hirnbereich ist damit unter anderem an der Antriebskontrolle maßgeblich beteiligt. Gelingt es einem Kind in dieser Entwicklungsphase daraufhin nur unzureichend, hochkomplexe, Störungen verarbeitende Anpassungs- und Bewältigungsstrategien herauszubilden, ist es später auch in seinen Möglichkeiten eingeschränkt, sein Verhalten weitgehend adäquat zu steuern Im Endeffekt kann es dann u. a. bei diesen Kindern zu einem Kreislauf von überstarkem Antrieb (z.B. durch psychischen Stress ausgelöst) und unzureichender Antriebskontrolle kommen, was zu einer übermäßigen, länger dauernden Aktivierung kortiko-limbischer Netzwerke und hypothalamischer 13 Regelkreise führen kann, die nicht so leicht kontrollierend bewältigt werden können. Damit wächst die Gefahr einer fortschreitenden Destabilisierung und Regression bereits etablierter Verschaltungsmuster, die sich für die Verarbeitung der Probleme als unzureichend herausgestellt haben. Schutz vor solchen unspezifischen, übermäßigen Erregungen bieten Halt und Sicherheit vermittelnde Beziehungserfahrungen (Hüther,, 2001, 2006). Ich möchte an dieser Stelle die bereits erwähnte Kritik an der in den ätiologischen Hypothesen enthaltenen Generalisierung wieder aufnehmen. Die extrasynaptische Dopaminkonzentration dopaminerger Projektionen hat auf die Fähigkeit, Aufmerksamkeit zu entwickeln, sicherlich auch einen Einfluss. Es fehlt aber trotz intensiver Forschungsbemühungen der Nachweis für die daraus abgeleitete Hypothese, dass eine genetisch bedingte Dopaminstoffwechselsstörung vorliege, die eine zu niedrige extrasynaptische Dopaminkonzentration zur Folge habe und dies die wesentliche (alleinige) Ursache für das Auftreten der Leitsymptome Konzentrationsstörung und Hyperkinese sei (Amft, 2006, Hüther 2006). Dies führte dazu, dass Ärzte, die sich auf diese These stützen, mit der Gabe von Methylphenidat die Dopaminkonzentration anzuheben versuchten, um die Aufmerksamkeitsstörung und die Hyperkinese zu reduzieren. Vermutlich ist aber das Auftreten von Gefühlen und Haltungen das Ergebnis eines höchst komplexen Prozesses, an dem alle Regionen des Gehirns mitbeteiligt sind und der sich nicht auf ein monokausal wirksames Reiz-Response-System reduzieren lässt (Damasio, 2003). Inzwischen konnten pharmakologische Forschungen in Tierversuchen in vivo durch Mikroanalyse nachweisen, dass die messbare Freisetzung von Dopamin an den Synapsen dopaminerger Projektionen nach Verabreichung von Amphetamin und Methylphenidat entscheidend von der Dosierung und Art der Anflutung der betreffenden Substanzen abhängig ist. Dabei zeigte sich, dass hohe Dosen, schnell anflutend verabreicht, zu der bereits bekannten starken Impuls-unabhängigen Dopaminfreisetzung führten, mit der Folge einer deutlichen Antriebssteigerung, Beim Menschen kann eine solche Dopaminfreisetzung Allmachtsgefühle, Potenzsteigerungen und Größenphantasien hervorrufen. In den Behandlungen eingesetzte, oral verabreichte, niedrigere Dosen von z.B. 14 Methylphenidat fluten wesentlich langsamer an. Unter diesen Bedingungen rufen sie eine Hemmung der Dopamin-Wiederaufnahme hervor, die zu einer leichten Erhöhung der extrasynaptischen Dopaminkonzentration führt. Dieses aktiviert präsynaptische Dopamin-Autorezeptoren und führt darüber zu einer Unterbindung weiterer Impuls getriggerter Dopaminfreisetzungen. Daher muss nach diesen Ergebnissen, im Gegensatz zur bisher vertretenen Ansicht, davon ausgegangen werden, dass die verabreichten Medikamente zu einer Hemmung der Impuls getriggerten Dopaminfreisetzung führen. Die durch äußere Reize aktivierten dopaminergen Neurone setzen an den distalen Zielgebieten ihrer Fortsätze dann kein Dopamin mehr frei. Das dopaminerge System von hyperkinetischen Kindern wird also nach oraler Einnahme quasi eher lahm gelegt. Nach Absetzen der Medikamente treten die Symptome in der Regel wieder auf. Diese Tatsache weist darauf hin, dass es unter der Medikation nicht zu einer Normalisierung des überstark entwickelten Aktivitätssteigernden, dopaminergen Systems gekommen ist. Legt man psychodynamische Hypothesen für das Auftreten von Verhaltensauffälligkeiten zugrunde, ist dies gut nachvollziehbar, da diese unter anderen von einem nicht bewältigten Konfliktgeschehen ausgehen, deren vielfältige Folgen auch zu einer Aktivitätssteigerung führen. So lange die psychische Problematik nicht bearbeitet und aufgelöst ist, ist mit einem Weiterbestehen von Symptomen zu rechnen. In meiner Hamburger Praxis wurden Kinder psychotherapeutisch behandelt, bei denen manchmal in vorwiegend medikamentös behandelnden Praxen unter Anwendung von multiaxialer Diagnostik ein ADHS vordiagnostiziert worden war. Ohne Einnahme von Medikamenten waren diese am Ende der Psychotherapie symptomfrei. Auch 5 Jahre nach dem erfolgreichen Abschluss waren die Symptome, wie katamnestische Befragungen zeigten, nicht wieder aufgetreten. Medikamentöse Therapie Laut BMGS (Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung, 2002) liegt die Prävalenz für ADHS bei 2 % bis 6 % aller Kinder. Die Drogenüberwachungsbehörde der UNO (International Narcotics Control Board) geht davon aus, dass inzwischen 10 Millionen an ADHS erkrankte Kinder und Jugendliche weltweit mit Psychostimulantien wie Methylphenidat behandelt werden. Einige Vertreter der „Stoffwechselhypothese“ wie Sowell (Sowell,. 2003) gehen soweit 15 zu behaupten, dass es ein medizinischer Kunstfehler sei, Kinder mit ADHS nicht mit Methylphenidat (Präparatename: Ritalin) zu behandeln. Amft, Gerspach und Mattner vertreten demgegenüber die Auffassung, dass „die Evidenz der medikamentösen Wirkung kein Beweis für die Gültigkeit einer Wirkhypothese einer angeborenen Stoffwechselstörung ist“, für die der neurobiologische Nachweis nach wie vor fehlt (Amft, 2004 und 2006). Er weist daraufhin, dass es zwischen 1990 und 2003 zu einer Steigerung der Verordnungsmenge von Medikamenten um den Faktor 100 gekommen ist. Geht man von der Hypothese eines genetisch bedingten Defektes, wie oben beschrieben, aus, ist es aber höchst unwahrscheinlich, dass Prävalenz- und Inzidenzrate in dieser Zeitspanne um einen Faktor 100 ansteigen. Selbst wenn man eine extreme Unterversorgung im Jahre 1990 annehmen würde, also z.B. nur jedes 10. erkrankte Kind „richtig“ behandelt worden wäre, dürfte man von, einer nicht unwesentlichen Steigerung um das 5- bis 10-fache ausgehen, aber nicht von einer 100-fachen. Dies zeigt, dass der erhebliche Anstieg der medikamentösen Behandlungen nicht mit einer früheren Unterversorgung erklärt werden kann. Daher vermutet Amft, dass allenfalls bei 5 bis 10 % der heute behandelten ADHS Kindern eine klare medizinische Indikation vorliegt (Amft, 2006). Er formuliert eine psychopharmakologische Behandlung bei Kindern unter dem Deckmantel einer medizinischen Diagnose (Amft, 2002). Diese Aussagen decken sich mit meinen Erfahrungen in der Hamburger Praxis. Außerdem hat die Begründung der Medikation, es handele sich um eine Krankheit gravierende Folgen für die psychodynamische Entwicklung der Kinder. Die Kinder fühlen sich in ihren Versuchen, ein schwieriges inneres Problem, die Regulierung belastender Affekte zu handhaben, nicht nur nicht verstanden, sondern mit Stigmatisierung und Distanzierung abgelehnt. Sie bekommen vermittelt, nicht gruppenfähige und inakzeptable Störenfriede zu sein. Sie gelten als nicht normal, hirnorganisch krank, unfähig, eigene Probleme ausreichend zu lösen. Die Kinder fühlen sich daher als Versager und schuldig, glauben, für ihre Probleme allein verantwortlich zu sein. Nur durch die Einnahme von Medikamenten seien zu liebenswert und aushaltbar. Dies hat weitreichende negative Auswirkungen für die Selbstentwicklung und die Internalisierung ihrer inneren Objektbeziehungen. Die Zuschreibung eigener positiver Fähigkeiten und Akzeptanz ist erheblich beeinträchtigt, das Über-Ich wird, 16 abgeleitet von den äußeren Verurteilungen, streng und fordernd, das Ich-ideal entsprechend den hohen Anforderungen, die die Kinder an sich gestellt fühlen, überhöht und mit omnipotenten Zügen ausgestattet. Damit rückt die Frage, welche nicht medikamentösen Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen und welche ursächlichen auslösenden Faktoren für das Auftreten der Symptome in Frage kommen, in den Vordergrund, da die Kinder wegen vielfältiger Gefährdungen nicht unbehandelt bleiben können. In einer Langzeitstudie, durchgeführt von Remschmidt und Mitarbeitern, wurde zum Beispiel nachgewiesen, dass 32 % bis 40 % der ADHS Kinder und Jugendlichen dissoziale bzw. antisoziale Aktivitäten aufweisen, wenn keine Therapie erfolgt (Remschmidt, 2004). Vor der Erörterung psychotherapeutischer Behandlungsmöglichkeiten sollen zunächst die Säuglingsforscher zur Sprache kommen. Einige Ergebnisse der Säuglingsforschung Geht man der Vermutung nach, dass psychodynamische Ursachen für das Auftreten von Desintegrations- und Verhaltensstörungen (mangelnde Konzentration und Bewegungsunruhe) maßgeblich in Frage kommen, bietet die empirische Säuglingsforschung wichtige Anhaltspunkte. Schon Winnicott hat in seinen Ausführungen über die „holding function“ auf die entscheidende Bedeutung der einfühlsamen, Halt und Sicherheit vermittelnden, liebenden Mutter für die seelische Entwicklung des Babys hingewiesen (Winnicott,1967/74). Stern (Stern,1984) spricht in seinen Beobachtungen vom „Affect Attunement“, der Fähigkeit einer wichtigen Bezugsperson (Mutter), sich auf die Emotionen eines Säuglings einstellen zu können Wenn dies gelingt, kann ein Gefühl entstehen, gefunden worden zu sein, akzeptabel zu sein, geschätzt zu werden (Bürgin, 2006). Aus sich wiederholenden Erfahrungen mit äußeren Objekten, entwickeln sich innere Objektbeziehungen und solche mit sich selbst. Wenn diese durch Stabilisierung zu einem festen inneren Bestand geworden sind, ermöglichen sie dem Kind, auch in Abwesenheit der Mutter in ersten Ansätzen auf äußere Ereignisse angemessen reagieren zu können. Das sich herausbildende Selbst wird sich so eigener Fähigkeiten bewusst. 17 Außerdem spielt die Möglichkeit, Andere auf emotionale Inhalte hin erkunden zu können, für den Emde (Emde, 1988) den Ausdruck des „social referencing“ verwendet, für Kleinkinder eine wichtige Rolle Dies beinhaltet den Versuch, emotionale Informationen, über die man selbst nicht verfügt, beim Gegenüber abrufen zu dürfen, also Kontakt aufnehmen, neugierig explorieren und erkunden zu können. Auf diesem Wege erhält das Kleinkind zugleich die Möglichkeit, sich der Fähigkeit sicher zu werden, bei anderen Menschen durch das Äußern von Emotionen etwas bewirken zu können. Diese interpsychische Kommunikation kann durch innere und äußere Einflüsse gestört werden und zu Defiziten führen, die nicht von kompensatorischen Beziehungserfahrungen, in einem „interactive repair“ (Leuzinger-Bohleber, 2006), ausgeglichen werden. Geschieht dies in leichterer Form, können sich daraus Motive zur Veränderung, zum neugierigen Einschlagen neuer Wege entwickeln, sodass solche Erlebnisse zu Entwicklung fördernden Faktoren werden können (Klitzing, 2002, Häußler, ,Hopf, 2002). Kommt es zu gravierenden, defizitären Kommunikationsstörungen, die zu einer überfordernden Belastung, heftiger Wut und Ablehnung führen, kann es zu so unerträglichen Zuständen im Inneren der Kinder kommen, dass sie gezwungen sind, negative Erfahrungsanteile auszustoßen, in dem sie sie nach außen projizieren. Darüber hinaus wird es für sie schwierig, die zunächst vermutlich getrennt gehaltenen positiv und negativ getönten Objekt- und Selbsterfahrungen zu einer einzigen zusammenzufassen, die dann sowohl die einen wie die anderen Anteile enthält, weil die positiven unter Umständen nur so vor den zu starken negativen geschützt werden können. Die Mutter-Kind-Beziehung muss so einfühlsam, stabil und Halt gebend sein, dass klare Abgrenzungen zwischen Außen (Mutter) und Innen (Kind) vorgenommen werden können, ohne dass das Kind deren Verlust oder Zerstörung fürchten muss. Dann sind auch zwischen den inneren Abbildern dieser Erfahrungen, den Objekt- und den Selbstrepräsentanzen, eindeutige intrapsychische Abgrenzungen möglich. Dieser Prozess der Internalisierung von Objektbeziehungen führt auch zu einer inneren Strukturierung, indem z.B. Gebote und Verbote von den Eltern übernommen werden und zum Aufbau des Über-Ich und Ich-ideal dienen (Kernberg,. 2001,Sandler,1999). Die Entwicklung integrierter Repräsentanzen, in klarer Abgrenzung zu einander und einer adäquaten Strukturbildung, ist verbunden mit der einer ausreichenden Symbolisierungs- und Mentalisierungsfähigkeit, für die sie gleichzeitig die 18 Voraussetzung sind. Unter andauernd ausreichend günstigen Bedingungen können sich dann auch gleichzeitig die Ich-Steuerungs -und Realität-Bewältigungsfunktionen auf einem Niveau entwickeln, das den inneren und äußeren Erfordernissen gerecht wird, und ihr Niederschlag im Selbst kann zur Entfaltung eines wahren, kohärenten Kernselbst führen (Fonagy, ;Target, 2002). Für eine günstige psychische frühkindliche Entwicklung ist es für das Kind außerordentlich hilfreich, wenn ihm neben der Mutter im Bedarfsfall zur Kompensation noch eine zweite Bezugsperson zur Verfügung steht. Die Funktion dieser dritten, außen stehenden Person besteht darin, einen Ausgleich zu fördern, Polarisierungen entgegen zu wirken und ein mittleres Handlungsniveau herbeizuführen. Dieser Prozess wird Triangulierung genannt. Die Möglichkeit eines Vaters, sein Kind vor Beeinträchtigungen in der mütterlichen Beziehung zu schützen und umgekehrt, ist von Anfang an gegeben. Dies wurde durch die empirischen Untersuchungen von Bürgin (Bürgin,1998) und Klitzing (Klitzing,2002) nachgewiesen. Psychodynamische und psychosoziale Überlegungen Die vorangehenden Ausführungen zeigen, wie sehr die Mentalisierung und damit die späteren Fähigkeiten der Kinder im kognitiven, emotionalen und sozialen Bereich von der frühkindlichen, psychodynamischen Entwicklung abhängig sind. Neurobiologisch betrachtet, werden objektive äußere Stimuli aufgenommen und in einem hoch komplexen neuronalen Netzwerk verarbeitet. Dabei werden unterschiedlichste Bereiche des Gehirns mit einbezogen, die wiederum mit den übrigen Organen des Körpers in enger rückmeldender Verbindung stehen (Damasio, 2003). Bei diesem Prozess der Wahrnehmung findet nicht nur eine bloße Datenerfassung statt, sondern eine aktive Verarbeitung und Interpretation, die über das Phänomen einer Reiz-Response-Reaktion, der eine monokausale Wirkweise unterstellt wird, weit hinausgeht. Gleichzeitig werden in diesen Verarbeitungsprozess unter anderem frühere Erfahrungen mit einbezogen und daraus Motive und Handlungsstrategien in Bezug auf die sozialen und psychodynamischen Beziehungsaspekte hin entwickelt, die zu äußeren Reaktionen veranlassen können. Ein dann nach außen sichtbar werdendes Verhalten dürfte in der Regel eine 19 Stellungnahme des betroffenen Kindes sein, mit der dieses versucht, auf die möglicherweise gestellten Anforderungen adäquat zu antworten. Besteht die gezeigte Aktivität z.B. darin, sich abzulenken und nicht aufmerksam zu sein, kann dies viele Gründe haben. Unter anderem könnte darin ein nach gründlicher innerer Abwägung gefasster „Entschluss“ zum Ausdruck kommen, auf diesem Wege einen versteckten passiven Protest gegen etwas Unangenehmes mitzuteilen. Aus den voran gehenden Ausführungen lässt sich ableiten, dass Verhaltensauffälligkeiten dieser Art, von einem hoch effizienten, komplizierten, vielschichtigen Mentalisierungsprozess abhängig sind, dessen Wurzeln bis in die frühe Kindheit reichen. Eine Zuordnung des beobachteten Verhaltens als typisches „ADHS“-Symptom würde demnach die Erfassung wesentlicher innerer, von außen nicht beobachtbarer Vorgänge eher erschweren oder zumindest davon ablenken Einen Hinweis auf die Bedeutsamkeit der beschriebenen Faktoren geben prospektive Studien, in denen nach Risikofaktoren für das spätere Auftreten von ADHS geforscht wurde. Unter 40 untersuchten, auf das Kind bezogenen Kriterien, ergab sich, dass allein die Beobachtung der Eltern-Kind-Interaktion bei sechs Monate alten Babys verlässliche Vorhersagen über das Auftreten eines späteren ADHS ermöglichten. Dabei waren die entscheidenden Kriterien, die auf Defizite in der Beziehung hinwiesen: eindringliches, überstimulierendes Verhalten, mangelnde Unterstützung, sowie Beziehungsprobleme der Eltern (Leuzinger-Bohleber, 2006, S.41). Psychosoziale Überlegungen Verschiedene Autoren (z. B. Gerspach, 2006) betonen, dass ein Modell einer genetisch bedingten Hirnaktivitätsstörung nicht ohne soziale normative Wertungen auskommt. Es wird ein adäquates, als „normal“ bezeichnetes Verhalten normativ festgelegt, welches von Kindern (solchen ohne Störung) quasi als Zeichen ihrer körperlichen Gesundheit auf bestimmte Anforderungen hin zuhause oder in der Schule gezeigt wird. Nach amtlichen statistischen Daten ist zwischen den Jahren 1997 und 2000 die Anzahl der an ADHS erkrankten Kinder um 270 Prozent angestiegen (Mattner, 2006; Amft, .2002). Da bisher keine gravierenden Störungen der genetischen Entwicklung von Kindern in Deutschland bekannt geworden sind, die Veränderungen in einem solchen Ausmaß 20 bewirken würden, müsste dieser drastische Anstieg auf eine entsprechende Änderung der Normen zurückzuführen sein. Tatsächlich spielen nach meinen Erfahrungen auch individuelle, subjektive Einflüsse in der Ätiologie eine entscheidende Rolle. Zum Beispiel ist die emotionale Abstimmung zwischen Kindern und Lehrern in der Entwicklung von Lernprozessen in der heutigen Gesellschaft für alle Bildungsbemühungen von entscheidender Bedeutung (Gerspach, 2006). Bei der Zunahme der ADHS Diagnose spielen aus meiner Sicht vermutlich auch gravierende qualitative und quantitative Veränderungen im emotionalen Austausch innerhalb der Familien eine zentrale Rolle. Da Kindern über ein gemeinsames Erleben die Erfahrung von Trost und Entlastung vermittelt wird, werden sie durch eine Reduktion dieser Möglichkeiten gezwungen, nach anderen Wegen zu suchen, was vermutlich mit zur Entstehung von Verhaltensauffälligkeiten beiträgt. Von den mannigfaltigen Ursachen dieser Veränderungen seien hier einige in Form folgender Hypothesen aufgeführt: Veränderung ethischer Strukturen Durch die größere individuelle Freiheit und die Veränderung der Werte in global vernetzten Gesellschaften ist es vielfach zu einer Lockerung von bis dahin fest gefügten ethischen Strukturen gekommen. Dies hat dazu geführt, dass individuell mehr eigene Entscheidungen und die Übernahme von Verantwortung möglich und erforderlich sind, was aber auch zu Verunsicherungen, Selbstzweifeln und Gefühlen von Ohnmacht führen kann. Die so entstandene Wertelücke versucht z.B. die Werbung mit permanenten Angeboten zu besetzen. Dabei wird die Übernahme von Haltungen suggeriert, die eine Reduktion dieser unliebsamen Affekte in Aussicht stellt und stattdessen Leichtigkeit, Entspannung und sicheres Dazugehören verspricht. Darüber hinaus wird die unterschwellige Botschaft vermittelt, als sei es möglich, einen Teil von eigener Verantwortung nach außen zu delegieren. Dies unterstützt die aus der Unsicherheit resultierende, bereits vorhandene Tendenz, Verantwortung abzugeben, zum Beispiel an Staat, Schule oder Kindergarten. Nicht selten vernachlässigen und oder vermeiden Eltern daher Erziehungsaufgaben, die sie sich nicht mehr zutrauen und nehmen sich und ihren Kindern meist unwissentlich die Chance, positive Erfahrungen im gemeinsamen Erleben von schwer aushaltbaren Affekten zu machen, eine 21 entlastende Erfahrung, die die Eltern oft aus der eigenen Lebensgeschichte kaum kennen. Verringerung des emotionalen Austausches Durch eine immer perfektere Rationalisierung der Berufswelt ist es zu einer zunehmenden Verdichtung und vielfach auch Versachlichung von Arbeitsabläufen und Leistungsanforderungen gekommen. Dieses führt in der Regel zu einer – meist auch gewünschten – Verringerung von emotionalen Mitteilungen. Dieser Ablauf stellt selbst einen Lernprozess da, der sich durch wiederholte positive Verstärkung weiter verfestigt, und sich somit auch auf den privaten Bereich auswirkt. So kommt es nicht selten zu einer Verringerung des emotionalen Austausches und zu einer häufigeren Vermeidung bestimmter als unangenehm bewerteter Affekte auch im familiären Umfeld. 22 2. Entwicklung eines Frühpräventionsprogramms 2.1 Kontext 2.1.1 Psychoanalytische Anmerkungen zur psychodynamischen Entwicklung und ihren Folgen Wenn man den diagnostischen Begriff „ADHS“ (nach ICD-10) benutzt und in der Ätiologie nicht nur von einer genetisch bedingten Hirnstoffwechselstörung, sondern von verschiedensten Einflüssen ausgeht, wird deutlich, dass es für die angegebenen Symptome keine monokausale Ursache gibt, da Kinder aus unterschiedlichsten, psychischen Gründen unaufmerksam, unruhig und impulsiv sein können. Daher kann aus dieser Sicht nicht von einem einheitlichen Krankheitsbild ausgegangen werden. Der Begriff „ADHS“ dient in diesem Zusammenhang der Beschreibung von beobachtbaren Symptomen und ist nicht mehr die Bezeichnung einer nosologischen Entität. In Anbetracht der Vielzahl der vermutlich anteilig wirksamen psychopathologischen Faktoren sollen im Rahmen dieser Arbeit nur einige heraus gearbeitet werden, die zwar häufig, aber nicht immer die angeführten Symptome auslösen; außerdem treten oft auch andere, zusätzliche auf. Darüber hinaus kommt es auch bei Kindern mit Psychopathologien, die hier nicht erwähnt werden und zu anderen Leitsymptomen führen, gelegentlich zum Auftreten von ADH-Symptomen. Kinder, die leicht unkonzentriert sind, mit ungezielter Bewegungsunruhe reagieren und zu überschießenden Gefühlsausbrüchen und Handlungen neigen, weisen manchmal Defizite in Teilbereichen ihrer Ich-Funktionen (Regulation und Kontrolle) auf. Es fehlt ihnen an einer ausreichenden Möglichkeit, sich innerlich und äußerlich von den aufkommenden Affekten einerseits berühren zu lassen und andererseits abgrenzen zu können. Das Ausmaß dieser Beeinträchtigungen ist bei den Betroffenen jedoch unterschiedlich. Ein großer Teil der meist schon älteren Schulkinder in der Latenzphase verfügt nach meiner Erfahrung über gut funktionierende, wichtige Abwehrmechanismen.. Kinder schweifen oft heimlich, wenn auch nicht bewusst, in eine selbst gewählte Phantasiewelt ab, in der sie sich wohler fühlen. Außerdem entwickeln einige von ihnen nach inneren unbewussten Anliegen ausgerichtete Vorstellungen von Bezugspersonen, bevor sie Kontakt mit der Außenwelt aufnehmen, (hierzu verweise ich auf die abschließende Psychodynamik im letzten Kapitel dieser Arbeit). Die 23 Erwachsenen können dies oft nur daran merken, dass sich die Kinder z.B. nicht auf den Schulstoff konzentrieren. Andere Kinder sorgen aktiv für einen Affektwechsel von Hilflosigkeit zu der für sie leichter erträglichen Wut, indem sie schnell nach einem entsprechenden Anlass hierfür suchen. Es gelingt ihnen häufig auch aufgrund guter Ich-Leistungen, körperliche Bewegungen auszuführen, die es ihnen mangels anderer Chancen ermöglichen, dem Gefühl von Ohnmacht, das Verspüren eigener Aktivität gegenüber zu stellen. Auch überschießende, der Situation scheinbar nicht adäquate Gefühlsausbrüche entpuppen sich oft als gezielt gesteuerte Aktionen, durch die sich die Kinder z.B. lärmend in eine Mittelpunktsrolle zu bringen versuchen. Es finden sich auch häufig auffällige Strukturbildungen bis in den Bereich des Selbst hinein. Die betroffenen Kinder stehen einerseits unter einem hohen Anspruch an sich selbst. Andererseits fehlt es an begrenzenden Einflüssen des Gewissens zur Abmilderung heftiger Reaktionen und dem Vermögen, um andere besorgt zu sein. Meist fehlt ein ausreichendes Gefühl der sicheren Akzeptanz und eigenen Fähigkeiten, in sich selbst kompetent zu sein. Damit im Zusammenhang stehend findet sich manchmal eine unzureichende Symbolisierungsfähigkeit, die auf das Fehlen von verlässlichen, wiederkehrenden, Halt gebenden Erfahrungen hinweist, die sich allmählich zu einem festen inneren Symbol hätten ausbilden können. Zu den frühen Ursachen dieser psychodynamischen Besonderheiten der Kinder schreibt M. Leuzinger-Bohleber : „Durch ein komplexes Ineinanderwirken von vermutlich genetischen und psychophysiologischen Faktoren einerseits (wie z.B. Risikogeburten, Temperamentsforschung, Emde, 1988; Stern, 1985, 1995) und psychischen und psychosozialen Determinanten andererseits (so z.B. frühe Traumatisierungen, depressive Mütter, vgl. Stern, 1995, Leuzinger-Bohleber , 2001) konnten sie (d.h. so genannte ADHS Kinder,B.H.) zu wenig stabile psychische Strukturen im Bereich des Selbst und der inneren Objekte aufbauen, eine Voraussetzung für eine altersgemäße Regulation von Stimmungen und Affekten. Viele dieser Kinder konnten kein sicheres Bindungsverhalten entwickeln. (vgl. u.a. Amft, Gerspach und Mattner, sowie von Lüpke in diesem Band, Bovensiepen, Hopf und Molitor, 2002, Garlichs und Leuzinger- Bohleber, 1999). Zudem fehlt ihnen, wie oben erwähnt, die Fähigkeit zur inneren und äußeren Triangulierung, d.h. zur Möglichkeit, auf ein stabiles, tragendes und 24 konfliktregulierendes inneres Objekt, den „Dritten“, zurückzugreifen und daher eine adäquate Distanz zur aktuellen Situation zu gewinnen, oft Voraussetzung für eine erfolgreiche Affektregulierung und Problembewältigung.“ (Leuzinger-Bohleber,2006 S.242) Bei der Darstellung psychopathologischer Entwicklungen in den beiden ersten Lebensjahren sollen sowohl psychodynamische wie auch neurobiologische Zusammenhänge einbezogen werden. Obwohl die neurowissenschaftlichen Begriffe sich von den psychodynamischen unterscheiden, gibt es teilweise doch Überschnei- dungen, die es ermöglichen, Einblicke aus beiden Perspektiven zusammen zu führen. Der psychodynamische Begriff, Gefühl, ist neurobiologisch vermutlich ein Prozess, in dem Körperzustände und Befindlichkeiten unter Berücksichtigung von Erfahrungen und Wahrnehmungen in den weiter verarbeitenden Hirnregionen in einem höchst komplexen Netzwerk eingebunden werden(„embodied“, Leuzinger-Bohleber, 2006). Das Ziel dieser Aktivitäten ist es, einen hömoostatischen Zustand des Ausgleichs herbeizuführen (Damasio, 2003). Das Resultat ist ein bewusstes Erleben, ein Gefühl. Wenn es der Mutter gelingt, dem Säugling bei der Herstellung des inneren Gleichgewichtes erfolgreich behilflich zu sein, werden mit dem Erreichen des Ausgleichs Endorphine ausgeschüttet. Dies erlebt das Baby mit dem Gefühl des Wohlbefindens als lustvoll. Wird aber der durch innere oder äußere Einwirkungen hervorgerufene Spannungszustand (neurobiologisch: Ungleichgewicht) nicht beseitigt, kommt es vermutlich im Säugling zu dem Empfinden von Schmerzen und dem Gefühl der Hilflosigkeit (fehlende Homöostase), auf die das Baby meist mit Schreien reagiert. Diese von Anfang an vorhandene Verbindung zwischen der körperlichen, hirnorganischen und Bewusstseinsebene erlaubt auch eine Rückkoppelung von der Gefühlsebene auf die Regulation und Befindlichkeit der Organe und den körperlichen Gesamtzustand. So kann die andauernde, wiederholte Hilfe der Mutter, zur körperlichen Entspannung und Homöostase beizutragen. Sie führen nicht nur, zu angenehmen Empfindungen, sondern auch zu Stabilisierungen, die sowohl die neuronale, wie die psychodynamische Ebene betreffen. Neuronale Netzwerke, die der Bewältigung dienen, werden gefestigt. Aus psychodynamischer Sicht werden innere Erfahrungen mit den Objekten und dem eigenen Selbst zu stabilen inneren Strukturen sowie zur Fähigkeit zur Symbolisierung. Während anfänglich vermutlich die Kombination von mütterlicher Zuwendung und 25 Reduktion eines körperlichen Mangelzustandes zu angenehmen Empfindungen führt, ändert sich dieses wahrscheinlich im Laufe zunehmender Erfahrungen verbunden mit ersten Symbolisierungen Die mütterliche Anteilnahme ruft dann die gleiche beruhigende Wirkung hervor, wie zuvor die Behebung des körperlichen Defizitzustandes. Die so im Laufe der Entwicklung in zunehmenden Maße durch die emotionale Zuwendung der Mutter auch ohne direktes Eingreifen in körperliche Mangelzustände ausgelösten angenehmen Gefühle im Kind, sind auf neurobiologischer Ebene immer ein Ausdruck der engen Verbindung von körperlichen Regulationsprozessen mit neuronalen Netzwerken. Daher ist davon aus zu gehen, dass die von der Mutter ausgelösten Einwirkungen auch auf der körperlichen Ebene einen Prozess in Gang setzen, der ausgleichend wirkt und in erneuter Rückwirkung das Gefühl der Entlastung vermutlich über die Ausschüttung von Endorphinen aufkommen lässt. Beispielsweise könnte eine Mutter auf diese Weise ihr Kind aufmuntern, wenn es, durch einen leichten gerade erst aufkommenden Durst, schon etwas Unmut äußern würde und ein Fläschchen noch nicht zur Verfügung steht. Eine ähnliche Wirkung wie eine körperliche Unterversorgung könnte auch eine Erfahrung mit einer Mutter bewirken, die unfähig ist, das Kind zu beruhigen. Auch solche psychischen und psychosozialen Erfahrungen, die für das Kind gegebenenfalls mit extremen Hilflosigkeitsgefühlen verbunden sind, beeinträchtigen die Homöostase. Das hierdurch entstehende Empfinden ist vermutlich das einer drückenden inneren Belastung. Diese Zusammenhänge könnten helfen, zu verstehen, warum Ohnmachts- und Hilflosigkeitsgefühle besonders schwer erträglich sind. Wenn dieses emotionale „Sich-einstellen“ der Mutter (bereits oben als affect attunement beschrieben) weder zu dürftig noch zu defizitär verläuft, sondern in einem mittleren, angemessenen Ausmaß stattfindet, also weder ein Mangel noch Überschwemmung mit affektiver Zuwendung besteht, kann es vom Kind immer wieder angenommen werden und zu einer stabilen inneren Erfahrung werden, die schließlich als inneres Symbol auch dann beruhigend zur Verfügung steht, wenn die Mutter nicht anwesend ist. Im Baby unterstützt dies wesentlich den Prozess, zwischen innen und außen zu unterscheiden, mit dieser Abgrenzung positive Erfahrungen zu machen und aus diesen heraus auch innere Grenzsetzungen abzuleiten, also Strukturen sowohl im Bereich des Ich, als auch des Selbst zu entwickeln. Dabei können sich als Folge beschämender Minderwertigkeitserlebnisse überhöhte Ansprüche an das Ich (hohes Ich-Ideal) herausbilden, wie sie häufig später bei „ADHS“ Kindern zu finden sind. Auch das sich 26 in der Säuglingszeit aus den übernommenen Ge-und Verboten der Eltern sich allmählich entwickelnde Regelsystem kann je nach erlebten Verhalten der Bezugspersonen angemessen oder auch überstreng und einfordernd sein. Aus den Erlebnissen mit sich selbst kann sich eine andauernde Gewissheit um eigene Fähigkeiten, Akzeptanz und Wertschätzung herausbilden. Diese inneren Strukturbildungen und Symbolisierungen sind dem Gehirn einerseits aufgrund seiner Verarbeitungs- und Integrationsfähigkeit möglich, andererseits bilden sie eine der Grundlagen für die Fortentwicklung der Fähigkeit zur Mentalisierung. Von Anfang an werden die hier beschriebenen Prozesse von den Chancen, über die duale Ebene hinaus eine dritte Person oder eine alternative Möglichkeit zur Verfügung zu haben, wesentlich beeinflusst (Triangulierung). Die Fähigkeiten von Säuglingen und Kleinkindern, die emotionale Befindlichkeit der Bezugspersonen zu erkunden (das oben erwähnte social referencing), dabei auf Resonanz zu stoßen und die Kompetenz zu entwickeln, auf andere Einfluss ausüben zu können, werden wesentlich gefördert, wenn durch triangulierende Möglichkeiten über die Dualbeziehung hinaus für ein mittleres, annehmbares, überfordernde Belastungen vermeidendes Beanspruchungsniveau gesorgt wird. Wird dieses Niveau über oder unterschritten, fehlen entweder die Anregungen oder es kommt zur „Ausstoßung“ von Erfahrungen durch Projektion nach außen bzw. im Falle von traumatischen Erlebnissen vermutlich zu einer gesonderten separaten Verarbeitung. Neben diesen, die Ich-und Selbst-Entwicklung betreffenden Prozesse, können aus meiner Erfahrung in den Kleinkindern in ersten Ansätzen bedeutende Konflikte entstehen. Ein großer Teil von den späteren „ADHS“ Kindern ist sich nicht sicher, ob sie sich an ihre Eltern in der Not des Überfodertseins durch Ohnmachtsgefühle, die sie nicht aushalten und verarbeiten können, wenden können. Diese Problematik baut auf gescheiterten Versuchen, sich den Eltern in diesen Affekten mitzuteilen, auf. In der Folge tendieren sie immer mehr zu der Annahme, dass Ohnmachtsgefühle nicht kommunizierbar seien und versuchen sich, auf anderen Wegen (indem sie z.B. in selbst gewählte omnipotente Phantasiewelten ausweichen) zu helfen. Dieser spezielle Konflikt hat aus meiner Erfahrung sehr zugenommen, weil vermutlich auch die Eltern dieser Kinder viel intensiver mit Gefühlen aus dem Bereich von Verunsicherung belastet und überfordert sind. Dies Phänomen hängt mutmaßlich mit der Wandlung von Wertesystemen durch gesellschaftliche Veränderungen besonders im letzten Jahrhundert zusammen (siehe Einleitung), die teilweise zu Verunsicherungen bis hin zur Orientierungslosigkeit geführt haben. 27 Die Schwierigkeiten, Hilflosigkeitsgefühle zu verarbeiten, wirken sich (nicht nur bei „ADHS“ Kindern) auch auf den Lernbereich aus, der für die kindliche Entwicklung von zentraler Bedeutung ist. 2.1.2 Auswirkungen von emotionalen Verarbeitungsdefiziten auf Lernvorgänge, z.B. auf die Entwicklung der Motorik Lernvorgänge sind der Motor jeder kindlichen Entwicklung. Das Lernen als solches ist ein Prozess, der mit emotionalen Erfahrungen einhergeht, die vom Kind zu bewältigen und zu verarbeiten sind. Dieser Vorgang ist unter anderen abhängig von dem Ausbau der Ich-Strukturen, der inneren emotionalen Konfliktwelt, den Objekt- und Selbstrepräsentanzen, der Symbolisierugsfähigkeit etc., also einer Vielzahl von den seelischen Apparat beeinflussenden Determinanten. Zu Beginn eines Lernvorganges weiß ein Kind noch nicht, in welchem Ausmaß der Lernvorgang bewältigt und angestrebte Ziele erreicht werden. Dieses Unsicherheitsgefühl, welches also dem Lernvorgang vorausgeht, ihn während der Ausführung aber auch begleitet, gehört in den Bereich von Affekten, die oft nicht leicht zu bewältigen sind. Sie stehen mit unangenehmen, oft auch schmerzhaften, Vorerfahrungen, in Verbindung. Unter diesen wiederum spielen Erlebnisse der mangelnden Akzeptanz und der damit verbundenen Frage eines möglichen und gewünschten emotionalen Austausches eine wesentliche Rolle. Hat also ein Kind nur wenige innere Strategien entwickeln können, das Erleben von Unsicherheitszuständen zu verarbeiten, wird es sich bemühen, sich diesen Affekten möglichst bald zu entziehen. Solche Kinder streben danach, Lernprozesse kurzfristig zu beenden, da sie Unlust auslösen. Sie versuchen aber nicht nur, ihn so weit es geht zu beschleunigen, sondern geben sich oft, schnell frustriert, auch mit unzureichenden Ergebnissen zufrieden. So finden sich bei diesen Kindern spezifische Veränderungen als Konsequenzen dieser quasi abgebrochenen Lernvorgänge zum Beispiel in der Entwicklung der Motorik. Eine Folge davon ist, dass sich die Grob- und Feinmotorik, die Körperkoordination, das Halten des Gleichgewichtes oft nur unzureichend entwickeln. Meist wird die eigentliche Ursache dieser Defizite aber nicht erkannt, was für die betroffenen Familien häufig zu unterschiedlichsten Therapieversuchen und nicht selten besonders für die Kinder zu einem langen Leidensweg führt. Einerseits wurde und wird nach neurologischen Ursachen gesucht, wie dies jahrelang unter dem Konstrukt der minimalen cerebralen Dysfunktion der Fall war (Mattner, 2006). 28 Ätiologische Erkenntnisse konnten nach meiner Kenntnis bis heute bei diesem Versuch nicht gewonnen werden. Andererseits konnten die meist bei diesen Kindern durchgeführten psychomotorischen Übungsprogramme zwar einzelne motorische Defizite aufarbeiten, aber das Lernverhalten als solches nicht ändern. Darauf zielen diese Behandlungen auch gar nicht ab. 2.1.3 Beeinträchtigung der Koordination von visueller und auditiver Wahrnehmung durch emotionale Überforderung Ähnlich wie die Motorik ist auch die Koordinierung von unterschiedlichen Wahrnehmungsmodalitäten, wie zum Beispiel die der visuellen und auditiven, von seelischen Prozessen abhängig. Manche Kinder können die Rolle des Zuhörenden, der sich einer Einflussnahme aussetzen soll, schlecht akzeptieren. Sie haben die Dominanz der erwachsenen Bezugspersonen real oder in projektiver Verkennung als bedrohlich einengend und entmachtend erlebt. Der Wunsch dieser Bedrohung etwas entgegen zu stellen, versetzt sie in kaum zu bewältigende innere Konfliktzustände, denen sich einige nur durch Manipulation ihrer Wahrnehmung glauben entziehen zu können. Sie stellen deshalb in diesen Situationen ihre Ohren so häufig „auf Durchzug“, dass außenstehende Beobachter nicht selten zunächst einen Hörschaden vermuten. Diese Kinder können in der Schule ebenfalls schlecht Zuhörende sein, sodass es manchen von ihnen dadurch schwer fällt, die visuellen und auditiven Wahrnehmungskanäle mit einander koordiniert offen zu halten. Dies hat Folgen für das Erlernen des Lesens und Schreibens, weil dafür der gleichzeitige Gebrauch des Sehens und Hörens notwendig ist, um z.B. anhand von optischem Erkennen gleich lautende gehörte Buchstabenabfolgen richtig wiedergeben zu können (Fahrer-Vater).Dieser hier beschriebene Mechanismus spielt bei der Entwicklung der Legasthenie aus meiner Sicht eine entscheidende Rolle. 29 2.1.4 Auswirkungen von Abgrenzungskonflikten auf das mathematische Denken Als ein weiteres Beispiel sei das für das Rechnen notwendige mathematische Denken angeführt. Kinder, die bei sich selbst und anderen kaum Abgrenzungen vornehmen dürfen, haben Schwierigkeiten analoge Operationen im abstrakten Denken zu vollziehen. Ist der Abgrenzungskonflikt gravierend, umfassend und lange genug andauernd, greift er behindernd in das Denken ein. Klinische Erfahrungen zeigen, dass solche Rechenstörungen nach der Aufarbeitung des Abgrenzungskonfliktes durch kurzfristiges Üben beheben lassen. Als Beispiel sei ein achtjähriges Mädchen angeführt, das mit weiteren Kindern in einer elterlichen Wohngemeinschaft lebte, in der die Eltern untereinander immer wieder die Partner getauscht hatten. Es war daher schon für den Therapeuten als Erwachsenen schwer, sich einen Überblick darüber zu verschaffen, wer von den anwesenden Erwachsenen jeweils Mutter bzw. Vater der vorgestellten Kinder war. Ein Versuch des betroffenen Mädchens, sich ihrerseits bei den immer wieder wechselnden „Elternfunktionen“ der Erwachsenen auf die genetischen Eltern „festzulegen“ bzw. diese abzugrenzen, war zum Scheitern verurteilt. Kein Wunder, dass das Kind Schwierigkeiten bei der Entwicklung des mathematischen Denkens zeigte. 2.2 Theoretische Überlegungen 2.2.1 Prävention – eine Möglichkeit, Hilfe frühzeitig anzubieten Zwanzig Jahre psychotherapeutische Erfahrung als niedergelassener Arzt mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen ließen in mir die Entscheidung wachsen, Eltern und Kindern im Alter von 0 bis drei Jahren eine gezielte Hilfe anzubieten, um Störungen im emotionalen Dialog zu verstehen und zu deren Auflösung beizutragen. Dabei spielt die in notwendigerweise oft aufwendigen und langwierigen Therapien gewonnene Erkenntnis, dass die Wurzeln psychischer Erkrankungen bis in die frühe Kindheit hineinreichen, eine wichtige Rolle. Die Umsetzung dieser Idee bedeutete für mich in doppelter Hinsicht, Neuland zu betreten. Zum einen war die Gestaltung der Prävention, für die ich in der psychoanalytischen Literatur nach meinen Kenntnissen kaum Vorgaben gefunden habe, die den Bedürfnissen heutiger Familien entsprechen, neu zu entwickeln. Zum anderen 30 bedeutet die Begegnung mit den Familien immer wieder von neuem ein Eintreten in ein mir unbekanntes Beziehungsgeschehen, von dem ich nicht wusste, was mich erwartet. Folgende spezifische Faktoren sind für eine effektive Durchführung erforderlich, die zugleich die psychoanalytische Prävention essentiell von allen anderen unterscheidet: 1) Über die bloße Verhaltensbeobachtung hinaus ist durch emotionale Anteilnahme und Verstehen auch die nonverbale szenische Gestaltung zu erfassen, um z. B. auch den der Sprache noch nicht mächtigen Säuglingen „Gehör „zu verschaffen. 2) Eine langjährige psychoanalytische Erfahrung schafft die Voraussetzung für eine einfühlende Teilnahme und Reflexion. Beides sind Voraussetzungen um auch unbewusste Vorgänge zu erfassen, die an der Beziehungsgestaltung in den Familien entscheidend mitwirken ohne dass sie den Eltern bewusst sind. Ein Bewusstmachen dieser Zusammenhänge (Deutung) erlaubt nicht nur häufig ein konfliktträchtiges Verhalten überhaupt erst zu verstehen, sondern trägt auch dazu bei, es aufzulösen. 3) Zur Anwendung kommen vielfältige aus therapeutischen Techniken abgeleitete Interaktionen, wie Schaffung einer tragfähigen emotionalen Basis, Stärkung der Steuerungsfähigkeit, Deutungen, Konfrontationen und Interventionen unter Berücksichtigung der zum Erhalt der Stabilität der Persönlichkeit notwendigen Abwehrmechanismen. Auch Beratungen sind, wenn auch eher selten, möglich und notwendig. 4) Ein zentrales Anliegen der Interventionen ist es, neue, das bisherige Verhalten korrigierende Erfahrungen zu ermöglichen. Solche Erfahrungen ergeben sich im aktuellen Geschehen und können nicht durch theoretische Erörterungen und auch nicht durch den Vorschlag von Trainingsmaßnahmen vermittelt werden. Da für eine hinreichend günstige psychodynamische Entwicklung eine tragfähige emotionale, verstehende Beziehung notwendig ist, muss eine solche auch in den Präventionsgesprächen zu allen Familienmitgliedern aufgebaut werden. Dieser Prozess der Begegnungen, der auch den nonverbalen Bereich mit einbezieht, sollte möglichst nicht von äußeren Normen bestimmt sein, im Sinne eines vorgegebenen „richtig“ oder „falsch“. Es geht vielmehr um ein „Sich einlassen“ auf eine emotionale Berührung, die es ermöglicht, die subjektive Sicht der einzelnen Betroffenen einschließlich ihrer Folgen zu begreifen und in dem jeweiligen Beziehungsgeflecht auch auf einer intellektuellen Ebene gemeinsam zu verstehen. Es handelt sich immer wieder nur um ein vorläufiges Erfassen mit der Bereitschaft zur dauernden kritischen Infragestellung. Hierbei sind aus meiner Sicht vielfältige, gezielte, psychotherapeutische Erfahrungen auch mit Kleinkindern erforderlich, die über die bloßen Alltagserfahrungen mit Säuglingen und 31 Kleinkindern hinausgehen. Auch die somatische und kognitive Entwicklung der Kinder ist mit zu berücksichtigen, um neurologische, interne, bzw. psychosomatische Erkrankungen auszuschließen oder zu erkennen, um z.B. Auffälligkeiten im Reflexstatus und Rückstände in der Entwick- lung im sensorischen, sensitiven, motorischen und sprachlichen Bereich in die Diagnostik und die Interventionen mit einzubeziehen. Meiner Meinung nach sind neben organmedizinischen und psychotherapeutischen Kompetenzen im Kinderbereich aber auch solche mit Erwachsenen erforderlich. Während sich bei den Säuglingen und Kleinkindern, die in eine Prävention aufgenommen werden, auffällige Entwicklungen gerade erst herauszubilden beginnen, verfügen die Eltern über bereits gefestigte Verhaltensweisen, die zu einer Beeinträchtigung des dialogischen Geschehens beitragen können und häufig von unbewussten Motiven und Konflikten stark beeinflusst werden. So wird es im Vorfeld der Frage, ob diese unbewussten Beweggründe bewusst gemacht werden können, also gedeutet werden sollen (Mertens,1990), um das Verstehen und die Berücksichtigung vielfältiger Faktoren gehen, die auf die jeweilige Persönlichkeit und das aktuelle Beziehungsgeschehen Einfluss nehmen. Hierbei ist zu berücksichtigen, ob der Vorgang der Bewusstwerdung von dem Betroffenen überhaupt gewünscht, als hilfreich empfunden und verarbeitet werden kann. (Siehe auch Kapitel 4.2. dieser Arbeit) Um das Verhalten der Eltern auch in ihren Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung zu verstehen und, um im Verlauf der Sitzungen einschätzen zu können, ob sich Chancen für Verhaltensänderungen ergeben, bedarf es wiederum intensiver psychothera- peutischer Erfahrungen mit Erwachsenen selbst, die meines Erachtens anteilig über diejenigen hinausgehen sollten, die in den begleitenden Elterngesprächen im Rahmen von Kinderpsychotherapien erworben werden. Einerseits können Kinder durch Missbildungen, intrauterin oder postpartal erworbenen Erkrankungen affektiv so stark belastet sein, dass ein emotionaler Austausch für die Eltern eine besondere Herausforderung darstellt. Andererseits ist das Verhalten der Erwachsenen in der Beziehung zu ihren Kindern von deren vorausgehenden Erfahrungen bis in ihre eigene Kindheit hinein geprägt. Wenn die Eltern häufig in dem Bereich bestimmter Empfindungen nicht über die Erfahrung einer emotionalen Begleitung verfügen und mit einer solchen Möglichkeit auch heute nicht rechnen, kommen sie häufig nicht einmal auf die Idee, diese ihren Kindern anzubieten. Daher 32 suchen sie unmittelbar nach anderen Möglichkeiten, ihre Kinder zu unterstützen, ohne dass ihnen ihre fehlende emotionale Anteilnahme überhaupt auffällt. Dieses Vorgehen mit den Eltern vor dem Hintergrund ihrer Lebensgeschichte und den Folgen, die sich daraus für den innerfamiliären Dialog ergeben, zu verstehen, ohne sie zu beschuldigen, ist eine zentrale Aufgabe in den Präventionssitzungen. Dadurch, dass die Gespräche in der Regel mit beiden Eltern, also zu dritt stattfinden, eröffnet sich eine über die Dyade hinausgehende triangulierende Perspektive (Bürgin, 1998). Dabei erfahren die Eltern häufig eine neue entlastende, emotionale Anteilnahme, die ihnen vorher kaum zur Verfügung stand, und die sie als Modell für den Umgang mit ihren Kindern auf die Beziehungen im häuslichen Umfeld übertragen können. Mit diesen verbesserten triangulierenden Fähigkeiten können sie häufig überstarke, überfordernde Affekte in der Beziehung mit ihren Kindern vermeiden, sodass diese leichter in der Lage sind, diese Erfahrungen mit den Bezugspersonen aufzunehmen. Sie können dadurch diese Objekterfahrungen internalisieren und dadurch feste innere Strukturen weiter ausbauen und zwischen innen und außen unterscheiden lernen. Dazu gehören auch die Ich- Strukturen, die zwischen den Ansprüchen von außen und innen vermitteln und dabei eigene Fähigkeiten erwerben, nach innen und außen zu kontrollieren und zu regulieren. Das Kind identifiziert sich mit den Primärobjekten und baut dadurch sukzessiv die Vorläufer der späteren Instanzen „Ich-Ideal und Über-Ich“ auf. Diese Zusammenhänge können bei Bedarf mit den Eltern und den Kleinkindern im unmittelbaren Erleben in Anteilen in den Sitzungen vermittelt und reflektiert werden. Auf diese Weise können, wenn die Familien dieses Verstehen und den daraus resultierenden Umgang übernehmen, Ansätze einer stabilen, eigenen, „autonomen“ Identität der Kinder herausgebildet und gefördert werden. Gleichzeitig können dabei sich gerade entwickelnde oder bereits vorhandene Konflikte im Inneren und in der Beziehung der Kinder mit ihren Eltern verstanden werden und nach Möglichkeiten der Bewältigung gesucht werden, um pathologischen Entwicklungen vorzubeugen. Dabei spielen häufig die Erfahrungen im Umgang mit inneren und äußeren Grenzsetzungen und die zu ihrer Bewältigung notwendigen psychischen Strukturen, Fähigkeiten und Beziehungskonstellationen eine zentrale Rolle in den Sitzungen. Wenn sich abzeichnet, dass die von den Eltern angestrebten Ziele im Laufe der angebotenen Präventionssitzungen nicht zu erreichen sind, wird es nach den bisher vorliegenden Erfahrungen vermutlich häufig möglich sein, sie zur Aufnahme einer eigenen Psychotherapie zu motivieren, um neue Spielräume zu gewinnen. 33 2.2.2 Diskussion verschiedener Präventionsansätze: Die Frankfurter Präventionsstudie Wie schon in der Einleitung dargestellt, sind die Hamburger Frühinterventionsstudie und die Frankfurter Präventionsstudie Teil eines gemeinsamen Forschungsprojektes. M. Leuzinger-Bohleber fasst die Frankfurter Studie wie folgt zusammen: „Die repräsentative, kontrollierte und prospektive Frankfurter Präventionsstudie befindet sich seit September 2003 in Durchführung und wird von der Zinnkan Stiftung, der Research Advisory Board der (RAB) der International Psychoanalytical Association und der Hertie Stiftung, Frankfurt gefördert. Um eine repräsentative Stichprobe von n= 500 Kindern und eine ebenso große Vergleichsstichprobe von n= 500 Kindern aus je 14 Städtischen Kindertagesstätten ziehen zu können, wurde im Herbst 2003 eine Basiserhebung in allen Städtischen Kindertagesstätten durchgeführt (insgesamt 4500 Kinder, 114 Einrichtungen). In der Studie wird die Hypothese überprüft, ob durch ein zweijähriges, psychoanalytisches (nicht medikamentöses) Präventions- und Interventionsprogramm die Anzahl der Kinder mit psychosozialen Integrationsstörungen (insbesondere mit ADHS) im ersten Schuljahr statistisch signifikant gesenkt werden kann. Im Frühling 2004 begannen wir mit der Durchführung des Präventions- und Interventionsprogramms in den 14 zufällig ausgewählten Kindertagesstätten. Es besteht aus verschiedenen Bausteinen: vierzehntäglichen Supervisionen durch erfahrene Supervisorinnen und Supervisoren, wöchentlichen psychoanalytisch-pädagogischen Angeboten durch MitarbeiterInnen der Studie, intensiver Elternarbeit sowie psychoanalytischen Einzeltherapien für besonders bedürftige Kinder. Falls notwendig wird mit dem Sozial- und Jugendamt sowie der Waisenhausstiftung zusammengearbeitet. Nach einer Anlaufzeit wurde das in allen Einrichtungen gut angenommen und etabliert. Die erste Welle der Kinder in unserem Zeitfenster ist im August 2006 in die Schule eingetreten. Eine zweite Phase der Datenerhebung ist abgeschlossen (Daten werden z.Zt. noch detailliert ausgewertet). Eine offene Frage unseres Projektes war, ob es uns gelingen wird, Kindergartenkinder 34 aus bildungsfernen Schichten, die dringend psychotherapeutische Hilfe benötigen, aber kaum die Schwelle zum niedergelassenen Therapeuten oder einer Ambulanz finden, durch unser Angebot zu erreichen. Inzwischen ist es gelungen, bei 17 solcher Kindern eine Therapie einzuleiten. Viele der Therapien finden in den Kindertagesstätten selbst statt und bieten daher therapeutische Hilfe für Kinder an, deren Eltern kaum den Weg zu niedergelassenen Therapeuten, Beratungsstellen oder anderen Institutionen finden würden. Bei 8 weiteren Kindern waren die Eltern nicht bereit, therapeutische Hilfe anzunehmen. Nach den Werten des Döpfner Fragebogens für Erzieher und Eltern, des Conners-Wells-Fragebogens für Eltern und Lehrer und den beiden Child Behaviour Check Lists (CBCL) für Eltern und Lehrer sowie dem Urteil von zwei weiteren unabhängigen Beobachtern zeigen die meisten dieser Kinder hyperaktiven Störungen nach ICD-10. Die Therapien werden nach einem Manual psychoanalytischer Behandlungen für Kindern mit hyperaktiven Störungen durchgeführt, das 2004 von einer Gruppe kinderanalytischer Kolleginnen erarbeitet wurde. Die Entwicklung und Überprüfung des Manuals basierte auf den Ergebnissen der Katamnesestudie psychoanalytischer Behandlungen hyperaktiver Kinder (federführend: Adelheid Staufenberg, unterstützt von der VAKJP). Die Studie wurde an verschiedenen nationalen und internationalen Kongressen vorgestellt (u.a. am internationalen Kongress. „Bindung, Trauma und soziale Gewalt“ in Frankfurt und am IPA Kongress in New Orleans, März 2005. Erste Publikationen liegen vor (vgl. u.a. in Leuzinger-Bohleber, Brandl und Hüther, 2006; Leuzinger-Bohleber, Goeppel und Hau, in press). 2007 werden die Ergebnisse der Studie vollumfänglich publiziert.“ (aus einem persönlichen Schreiben Oktober 2006). Prävention durch Versorgungsnetze Die Deutsche Liga für das Kind ging auf ihrem interdisziplinären Kongress „Ein guter Start ins Leben. Frühe Kindheit – Familie und Gesellschaft in gemeinsamer Verantwortung “ am 30. Mai 2006 in Berlin, von circa 250 Präventionsprojekten in Deutschland aus, von denen einige vorgestellt wurden Der überwiegende Teil von ihnen, hat das Ziel, die Zusammenarbeit zwischen den mit der Betreuung, Förderung und Behandlung von Säuglingen und Kleinkindern und ihren Eltern befassten Institutionen durch Einbindung in ein gemeinsames Versorgungsnetz zu verbessern. Wesentliche Ziele dabei sind die Verbesserung der Kommunikation der verschiedenen 35 beteiligten Gruppen untereinander und die Verkürzung der Wege zur Inanspruchnahme von Hilfsangeboten, sowie der Abbau von Hürden, die dieser entgegenstehen (Dokumentation, 2006, in Druck). Präventionsprojekt STEEP Ein weiteres verhaltenstherapeutisch, pädagogisch orientiertes Präventionsprojekt „Steep“ (Steps toward effektive and enjoyable parenting) wird in Hamburg von Gerhard J. Suess für Kinder im Alter von 0 bis drei Jahren angeboten (Suess, 2001, 2003). Es basiert auf der von Byron Egeland und Martha Erickson (Egeland, ,Erickson, ,2002,2006) in Minneapolis durchgeführten Langzeitstudie, in der sie die Effektivität von pädagogischen und behavioristischen, präventiven Maßnahmen zur Verbesserung des Bindungsverhaltens innerhalb einer sozial schwachen Gruppe aus der Bevölkerung von Minneapolis (definierten Armutsstichprobe) nachgewiesen haben. Ziele dieses Programms sind unter anderen eine Erfassung und Messung von unmittelbar beobachtbaren Verhaltensreaktionen bzw. Auffälligkeiten, Aufklärung über günstige Verhaltensweisen und deren Training nach verhaltenstherapeutischen Konzepten und eine hilfreiche pädagogische Anleitung der Familien. Die psychodynamische Vorgeschichte des Struktur- und Konfliktbildenden intrapsychischen Entwicklungs- prozesses, seine Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung und seine Auswirkungen auf das aktuelle Beziehungsgeschehen bleiben dabei weitgehend unberücksichtigt und fließen daher weitgehend auch kaum in den Verstehensprozess mit ein. Betreuungsprogramm für Schreibabys mit Fütterungsstörungen: „Münchner Sprechstunde für Schreibabys“ Ein weiteres Präventionsprogramm betrifft die Betreuung von Schreibabys mit Fütterungsstörungen und (im wesentlichen) ihre Mütter, denen durch Video gestützte anleitende Interventionen zu einer Änderung ihrer hauptsächlich auf die Nahrungsaufnahme fokussierten gestörten Interaktion verholfen werden soll. Dabei spielen psychoanalytisch und verhaltenstherapeutisch orientierte Verständigungs- konzepte, die einen zentrierten Rückblick auf relevante Ereignisse der Vergangenheit der Mutter ermöglichen, eine wichtige Rolle (Papoušek, 1998). 36 2.2.3 Zur Entwicklung eines Frühpräventionsprogramms Durch frühzeitige Interventionen in Familien sollen, Störungen der familiären Kommunikation zwischen den Eltern und ihren Säuglingen und oder Kleinkindern, die die Wurzeln einer späteren psychopathologischen Entwicklungen sein können, erkannt und gelindert werden. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei denjenigen Störungen der frühkindlichen Interaktion, die später zu Psychopathologien beitragen können, die zum Auftreten von hyperaktiven Verhaltensweisen und psychosozialen Anpassungsstörungen (ADHS) bei ihren Kindern führen. Wenn sich Eltern mit ihren Säuglingen und Kleinkindern in der Hamburger Praxis melden, wird bereits bei der Anmeldung abgeklärt, ob sie bereit sind, sich selbst mit ihren emotionalen Anliegen und Fragen ein zu bringen.. Davon abgeleitet ergeben sich folgende Teilziele:  Erhebung einer psychodynamischen, psychiatrischen, psychosomatischen Diagnose  Entwicklung eines psychoanalytischen Präventionsprogramms. Durch das Präventionsprogramm werden Störungen der familiären Interaktion bearbeitet, die zu später einsetzenden psychopathologischen Entwicklungen veranlassen können, um, sehr viel aufwendigere spätere Langzeittherapien zu vermeiden Als theoretische Konzepte dienen spezifische, psychoanalytische Entwicklungstheorien und Erkenntnisse, die in Langzeittherapien mit Kindern und Erwachsenen gewonnen wurden. Im Einzelnen handelt es sich dabei um das Erkennen von Störungen in der familiären Kommunikation und deren Auflösung, um ein emotionales Verstehen zu ermöglichen und zu verbessern. Dabei soll möglichen, drohenden Behinderungen und Missverständnissen im emotionalen Austausch vorgebeugt werden. Des Weiteren soll zum Verstehen von Motiven und möglicherweise daraus resultierenden Konflikten der Eltern und Kinder beigetragen werden. Unbewusste Einflüsse, die dabei eine Rolle spielen könnten, sollen, bewusst gemacht werden. Die Eltern sollen durch Verstehen, neue Beziehungserfahrungen und erklärende Interventionen rechtzeitig in ihren Fähigkeiten gestärkt werden, die psychische Entwicklung ihrer Kinder zum Aufbau einer adäquaten Autonomie zu unterstützen und zu fördern. 37 Aus den sich bei der Durchführung ergebenden Erfahrungen sind neue wissenschaftliche und versorgungspolitische Erkenntnisse ableitbar. 2.3 Methodische Überlegungen zur vorgestellten Studie 2.3.1 Vorbemerkungen zum methodischen Vorgehen In meinem methodischen Vorgehen stütze ich mich auf psychoanalytisch orientiert Interviews. Schon Freud (Freud, 1911) machte die Erkenntnis, dass das Unbewusste der Patienten nicht von außen erschlossen werden konnte, sondern nur von ihnen selbst, und zwar innerhalb eines Beziehungsgeschehens von Übertragung und Gegenübertragung, nach und nach zu Bewusstsein gebracht werden konnte – und dass also auch nur in Auseinandersetzung mit den Patienten selbst Hypothesen zu unbewussten Phantasien und Konflikten entwickelt und überprüft werden können. Die psychoanalytische Forschungsmethode folgt eigenen Kriterien um „Wahrheiten“ in Vermutungen, Hypothesen etc. zu überprüfen. Daher ist die Anwendung der psychoanalytischen Forschungsmethode an ihre Anwendung in der psychoanalytischen Situation gebunden. (M.Leuzinger-Bohleber, B.Rüger, U.Stuhr, M.Beutel, 2002) Wird sie in anderen Settings angewandt, führt dies zu anspruchsvollen methodischen und wissenschaftstheoretischen Problemen, auf die ich in diesem Rahmen nicht eingehen kann (vgl. dazu u.a. Leuzinger, Dreher, Canestri, 2003 ). Ich verwende hier Interviews als hypothesengenerierendes Instrument. psychoanalytisch reflektierte Interviews sind für mich das geeignete Forschungsinstrument, mit dem das je individuelle innere Erleben, das zugrunde liegt, erschlossen werden kann. In der vorliegenden Arbeit wird Neuland betreten, daher kann sie zunächst einmal nur eng umgrenzte Ergebnisse liefern. Es geht in einem ersten Schritt darum aufzuzeigen, wie ein durch ein therapeutisches, von psychoanalytischen Erstinterviews abgeleitetes Verfahren, das sich aus der Praxis entwickelt hat, zum Einen bestimmte ätiologische Schlüsse nahe legt, zum Anderen methodische Hinweise gibt zur Entwicklung eines im Anschluss daran systematisch zu erarbeitenden präventiv-psychotherapeutischen Verfahrens. Aus den praktischen Erfahrungen, die im Folgenden vorgestellt werden, soll ein Ansatz des zu entwickelnden Verfahrens ersichtlich werden, das im Anschluss weiter ausgearbeitet werden sollte. Ein weiteres Anliegen ist hier, die ätiologischen 38 Schlüsse zu systematisieren und so Vorarbeiten zur Formulierung von Hypothesen zur Ätiologie von kindlichen Störungen mit einer ADHS-Symptomatik zu leisten. Ausgangsfrage ist, wie sich durch das Verfahren der Dialog innerhalb der untersuchten Familien vor dem Hindergrund der individuellen Persönlichkeit jedes Einzelnen verstehen lässt und wie auf mögliche intrapsychische Beeinträchtigungen und Störungen der innerfamiliären Kommunikation hilfreich eingewirkt werden kann. Die Anwendung des dazu entwickelten Konzepts, das hier ausführlich zur Darstellung kommt, wird an fünf ausgewählten Einzelfällen erläutert. Für die Zukunft ist es sinnvoll und geplant, in einer nächsten Studie weitere Fallbeispiele einzubringen und die aus den Sitzungen gewonnenen Kenntnisse durch Erörterung mit außen stehenden Experten zu validieren. Um eine Aussage über die angestrebten Langzeitwirkungen der Prävention auf die Familien machen zu können, sind zudem katamnestische Erhebungen in den nächsten Jahren erforderlich. Der hier gegebene Erhebungszeitraum ist dafür nicht ausreichend. Wichtig wäre zudem, an Hand der vorgelegten und weiteren Fallbeispielen die Unterschiede zwischen den bereits vorhandenen Präventionsprogrammen, die z. B. – etwa auf behavioristischen und/–oder pädagogischen Überlegungen gegründete Verfahren, oder auch auf Video gestützte Interventionen zur Beseitigung spezieller Interaktionsstörungen (z. B. Fütterungsstörungen von Säuglingen) ausgerichtet sind, herauszuarbeiten. Die Vorzüge und Begrenzungen der unterschiedlichen Konzepte könnten dann erfasst und anhand der erreichten Langzeitergebnisse in ihren Auswirkungen verglichen werden. Ein solches Forschungsvorhaben übersteigt den Rahmen dieser Arbeit. 2.3.2 Interviews als hypothesengenerierendes Untersuchungsinstrument. Das Konzept der Sitzungen, in denen die Beobachtungen zum Präventionsprogramm gewonnen wurden, orientiert sich an psychoanalytischen Erstinterviews. Dabei handelt es sich um eine auf langjähriger Erfahrung beruhende, gut überprüfte, heuristische Methode. Der Psychoanalytiker entwickelt Fähigkeiten, in gleich schwebender Aufmerksamkeit zu zuhören, um die verbalen und nonverbalen Mitteilungen, die sich aus dem szenischen Geschehen einer Sitzung ergeben, aufzunehmen, um das Beziehungsfeld erfassen zu können, das zwischen ihm und seinem Gegenüber entsteht. 39 Die mitgeteilten Gefühle, die Phantasien, Einstellungen und Abwehrhaltungen dem Analytiker gegenüber werden als Übertragung bezeichnet. Dabei wird das Erleben durch unbewusste Aktualisierungen von Erfahrungen aus früheren Beziehungen verzerrt wahrgenommen, indem sich aus den damaligen Erlebnissen abgeleitete Prägungen auf die aktuelle Wahrnehmung auswirken (Mertens, 1990). Unter den dabei im Analytiker ausgelösten Reaktionen werden die spezifischen, nichtneurotischen Reaktionen des Analytikers auf die Übertragung des Patienten als Gegenübertragung bezeichnet (Möller, 1977). Dabei bemüht sich der Therapeut in einem Selbstreflexionsprozess, eigene neurotische Anteile in den in ihm hervorgerufenen Reaktionen zu erkennen und diese von den übrigen getrennt zu halten, um die bewussten und unbewussten Beziehungsaspekte zu analysieren und zu verstehen. Zum Beispiel könnte in einer solchen Sitzung eine Mutter, in dem Glauben, der Analytiker erwarte dies (Übertragung von Erfahrungen aus der Beziehung mit ihrem Vater, den sie gehorchend bedienen musste), sofort beginnen, viel, ausführlich und möglichst präzise zu erzählen. Der Analytiker könnte mit der Zeit deutlichen Ärger in sich aufkommen spüren (Gegenübertragung), den er nach Reflektion seiner eigenen Gefühle als von der Patientin kommend wahrnimmt. Dabei könnte es sich in diesem Fall um die von ihr abgewehrte unbewusste Wut handeln, die in ihr entstand, als sie davon ausging, wieder Bedienen zu müssen. Um die jeweils ablaufenden Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse zu erfassen und innerlich getrennt von den eigenen Empfindungen als solche zu verstehen, bedarf es einer speziellen, fachlichen Schulung, einer intensiven theoretischen Ausbildung und ausreichender therapeutischer Erfahrung. Dabei geht es in einem andauernden, komplizierten Wechselspiel darum, sich einerseits immer wieder emotional berühren zu lassen, um die Affekte der anderen Beteiligten zu verstehen, und sich andererseits immer wieder auf eine intellektuelle Ebene zu begeben, um analysierend probeweise Zuordnungen vorzunehmen und Wirkzusammenhänge zu verstehen. Die auf diese Weise zustande kommenden theoretischen Ableitungen sind Hypothesen, die der andauernden Überprüfung bedürfen. So entfaltet sich ein Prozess des fortgesetzten und sich ständig erweiternden Verstehens, bei dem immer ein Rest von Nichtverstehen übrig bleibt. Auf die vorliegende Studie angewandt ergibt sich in den Sitzungen mit den Eltern oder auch mit ihren Kindern ein sich ständig vertiefender Prozess des Erkennens. Es geht 40 dabei um die Bildung von Hypothesen über das bewusste und unbewusste Zusammenwirken von elterlicher und kindlicher Psychodynamik und ihre jeweiligen Folgen. Diese werden den Eltern in einer angemessenen Weise, so weit sie dieses wünschen, nahe gebracht. Dabei werden mit den Eltern in Anbetracht der begrenzten zur Verfügung stehenden Anzahl von Sitzungen (circa 10-15 Gespräche) Schwerpunktthemen (Focusbildung) herausgearbeitet, die näher beleuchtet werden können (Klüwer, 2005). Zum Teil werden den Eltern dabei neue Gesichtspunkte, auf die sie ihr Augenmerk noch nicht gerichtet hatten, auf der bewussten Ebene vermittelt. Zum Beispiel konnte ich aus der triangulierenden Position eines außen stehenden Dritten die Mutter, Frau D. (Fallbeispiel zwei), durch meine Hypothese, „vielleicht will ihre Tochter E., Sie mit dem Wegdrehen ihres Kopfes gar nicht ablehnen, sondern nur einmal vorübergehend nicht ansehen“, zu neuen Spielräumen in ihrer Sichtweise anregen. Dies eröffnete E. ebenfalls neue Möglichkeiten, die bisher nicht zur Verfügung standen. Durch Deutungen von unbewussten Konfliktanteilen werden darüber hinaus aber auch wesentliche Zusammenhänge erst bewusst gemacht, die Veränderungsmöglichkeiten eröffnen (Mertens, 1990). Die vorgestellten Hypothesen werden mit den Eltern und zum Teil auch mit den Kindern diskutiert, wenn nötig infrage gestellt und gegebenenfalls durch neue Erweiterungen ergänzt. Aufgrund von unbewussten Widerständen ist es häufig für die Betroffenen aber nicht leicht, Verdrängtes bewusst werden zu lassen, da es ja für ihre Verdrängung vormals gute Gründe gegeben hatte (Mertens, 1990). So sind häufig zunächst neue z.B. triangulierende Erfahrungen in den Sitzungen nötig, um in ersten vorsichtigen Ansätzen Deutungen zuzulassen und positiv anzunehmen. Auf diese Art und Weise werden, so lautet die These, die Eltern darin unterstützt oder zumindest auf den Weg gebracht, mögliche pathologische, psychische Entwicklungen z.B. die Entstehung von intrapsychischen Konflikten bei ihren Kindern, zu denen sie unbewusst beitragen könnten, zu durchschauen, um sie vermeiden zu können. Häufiger wird es zur Aufnahme einer eigenen Psychotherapie von zumindest einem Elternteil kommen, wenn sich für die Betroffenen herausstellen sollte, dass sie zum Beispiel zwar zu einem intellektuellen Begreifen, aber nicht zu einer selbst gewünschten, meist emotionalen Verhaltensänderung ausreichend in der Lage sind. Anhand der beabsichtigten Nachprüfungen im Zeitraum von bis zu drei Jahren soll dann überprüft 41 werden, ob die anvisierten Ziele auch tatsächlich durch die Interventionen erreicht wurden; ob es Abweichungen gab oder Misserfolge und womit diese zusammenhingen. Zu erwähnen ist noch, dass in den Sitzungen jeweils anteilig auch ein psychiatrischer Status bezüglich der kognitiven Funktionen erhoben wurde, um z.B. Auffälligkeiten in der Entwicklung der Wahrnehmung und Sprache zu erfassen. Auch eine grobe, klinisch, pädiatrische Diagnostik wurde unter Verzicht auf eine körperliche Untersuchung vorgenommen, um beispielsweise deutliche Auffälligkeiten in der Motorik festzustellen. Die diesbezüglichen Ergebnisse werden, soweit es sich nicht um Normalbefunde handelt, im Text dargestellt. 2.3.3. Kriterien zur Auswahl der vorgestellten Fallbeispiele Grundlage der Kriterienauswahl bildet meine 20-jährige, klinische Erfahrung in der Behandlung von psychisch und psychosomatisch kranken Kindern. Ziel meiner Fallauswahl war die möglichst breite Erfassung von typischen Erkrankungs- und Familienkonstellationen, um die Breite der Interventionsmöglichkeiten und- notwendigkeiten darzustellen. Folgende Kriterien sind aus meiner klinischen Erfahrung besonders relevant: Sozialer und Familien Status, Alter und Reife der Elternteile, Alter und Entwicklungsstand der Kinder, Komorbidität der Eltern und Schwere ihrer psychischen Beeinträchtigung, Vorhandensein einer körperliche Erkrankung bei den Kindern. 42 3. Illustration des Frühpräventionsprogramms durch fünf Einzelfälle Die vorliegende Darstellung basiert auf fünf exemplarisch ausgesuchten Einzelfällen. Alle beteiligten Personen haben ihr Einverständnis erklärt, den Inhalt der Sitzungen in anonymisierter Form zu veröffentlichen. Im folgenden wird der Verlauf der Sitzungen, der Widerstände, der charakteristischen Übertragungs-Gegenübertragungskonstellationen, der therapeutischen Interventionen, der Entwicklung der Vater/ Mutter/Kind-Beziehung, der Veränderungen der Kommunikation und der Symptomveränderungen dargestellt. 3.1 Fall 1: „Es ist wichtig, meinem Kind nicht alles von den Lippen abzulesen.“ 3.1.1. Fallbeschreibung: Ausgangssituation und Gespräche Ausgangssituation: Die 23 Jahre alte junge Frau A., wendet sich an die Praxis, da sie Schwierigkeiten habe, ihrem Sohn B. (2½ Jahre alt) Grenzen zu setzen. 1. Gespräch Zum ersten Gespräch erscheint eine freundliche, altersentsprechend wirkende, junge Mutter mit ihrem Sohn B. Sie vermittelt den Eindruck, dass sie gleich bereit sei, sich pflegeleicht, bedienend auf ihr Gegenüber einzustellen und sich dabei mit ihren eigenen Wünschen zurückzunehmen. B., der interessiert abwartend mit der Mutter das Spiel- und Gesprächszimmer betreten hatte, setzt sich sehr bald auf den Schoß der Mutter. In der anfänglichen Schweigepause beginnt er sich bald für die Spielzeuge im Regal zu interessieren, indem er intensiv zu ihnen hinüberschaut. Als ich ihn frage, ob er spielen möchte, bejaht er dies, bleibt aber zunächst auf dem Schoß der Mutter sitzen. Die Mutter, die meine Nachfrage als sofortige Aufforderung zum Spielen missversteht, drängt ihn, zum Regal zu gehen, ohne auf sein Zögern einzugehen. Ihr Sohn B. bleibt aber zunächst auf dem Schoß der Mutter sitzen. Er verlässt diesen erst, nachdem ich ihn gegen die drängenden Aufforderungen seiner Mutter zu spielen, in Schutz genommen 43 habe, indem ich der Mutter gesagt habe, „mein Eindruck ist, B. möchte vielleicht selbst bestimmen, wann er mit dem Spielen beginnt.“ Nach einigem Zögern verlässt er zwar den Schoß der Mutter und wendet sich den Spielsachen zu, mit denen er aber nicht spielt, sondern die er sich jeweils nur anschaut. Mir weist er dabei die Rolle des außen stehenden Zuschauers zu, der nicht mitspielen darf. Offensichtlich ist er nicht in der Lage, zwischen mehreren Angeboten eines auszuwählen. So entstehen immer nur sehr kurze Spielphasen, die gleich wieder von ihm unterbrochen werden. Er bezieht auch während der ganzen Stunde weder mich noch seine Mutter mit ein, obwohl ich ihn mehrfach behutsam anspreche. Ich muss einige Male eingreifen, um ihn vor drohenden Verletzungen zu bewahren (z.B. als er versuchte, am Regal hochzuklettern, um an ein Spielzeug zu gelangen). Die dabei von mir gesetzten Begrenzungen werden von ihm sofort angenommen. Des Weiteren fällt mir auf, dass B., wenn er überhaupt spricht, nur Ein- oder Zweiwortsätze verwendet und sich mit seiner Mutter mehr durch kleine Gesten als mittels Sprache verständigt. Diese offensichtlich reibungslos verlaufende Kommunikation deutet auf ein gut eingespieltes Verständigungsverfahren zwischen ihm und seiner Mutter hin. Während er sich selbst beschäftigt, versucht die Mutter, so ist mein Eindruck, darauf zu achten, mit mir in meinen vermeintlichen Anforderungen in Übereinstimmung zu bleiben. Zum Beispiel schaut sie ihm abwartend zu, nachdem sie festgestellt hat, dass ich dies auch tue. Schließlich beginnt sie, offensichtlich unter einem deutlichen Leidensdruck, zögerlich von ihrem Anliegen zu erzählen: Sie berichtet, dass B. auf ihre Versuche, ihm Grenzen zu setzen, mit anhaltendem Schreien und sich „Steifmachen" reagiert habe. Unter diesen Umständen sei es ihr dann nicht möglich gewesen, ihre Anforderungen an ihn aufrechtzuerhalten. Vielmehr sei es ihm gelungen, sich mit seiner Ablehnung der mütterlichen Grenzen durchzusetzen. So habe er nach und nach im häuslichen Alltag die Rolle des Bestimmenden übernommen, sodass die Mutter befürchtete, ihren Sohn nicht ausreichend schützen zu können. Da sie sich ihm gegenüber fast hilflos ausgeliefert fühlte und darüber sehr beschämt war, entstand in ihr außerdem ein starker Druck nach Veränderung. Obwohl ihr keine neuen Einfälle zum Handeln zur Verfügung standen, versuchte sie zunächst, ohne Inanspruchnahme von äußerer Hilfe zurechtzukommen. Als ich sie an dieser Stelle frage, ob sie häufig versuche, mit ihren Problemen allein fertig zu werden, bejaht sie dies und begründet ihr Handeln mit ihrer Angst vor erneuter Enttäuschung. Von dem 44 Vater des Kindes war sie bereits in der Schwangerschaft nicht unterstützt und inzwischen verlassen worden. Erst nachdem sie einige Monate vor dem Vorstellungstermin in der Praxis mit einem neuen Lebensgefährten zusammengezogen war, hatte sie sich, so ist mein Eindruck, getraut, über die bisherigen zaghaften Andeutungen hinaus, ihrer Kinderärztin gegenüber ihre Probleme zu offenbaren. Durch die Kinderärztin motiviert – und vermutlich quasi mit ihrer Erlaubnis – hatte Frau A. es gewagt, sich an die Praxis zu wenden. 2. Gespräch In der zweiten Stunde, zu der sie auf meinen Vorschlag hin allein, ohne ihr Kind, kommt, berichtet sie auf meine Nachfrage hin zunächst von ihren Hauptproblemen im Umgang mit ihrem Sohn und später von ihrer eigenen Lebensgeschichte. Als sie meine Anteilnahme und mein Interesse spürt, beginnt sie, durch die Erinnerung tief erschüttert, unter Weinen von ihren Erfahrungen mit ihrer Mutter zu erzählen. Ihre eigene Mutter habe ihr ständig schwierige Aufgaben übertragen und dabei hohe Erwartungen an sie gestellt. Dabei habe sie den Eindruck gehabt, dass die Mutter sich nur für die Ergebnisse, aber nicht für das innere Erleben interessierte, was ihr dabei abverlangt wurde. Stattdessen habe sie ihr ständig Vorhaltungen gemacht, sei selten mit ihren Leistungen zufrieden gewesen. So sei sie davon ausgegangen, dass sie es der Mutter trotz all ihrer Anstrengungen sowieso nie Recht machen könne. Sie habe ihre Mutter daher als hart und unnahbar erlebt. So laut und streng wie die Mutter wollte sie sich ihrem eigenen Kind gegenüber nie verhalten. Beschämt deutet sie damit an, dass sie diesen Vorsatz nicht habe durchhalten können und sich dafür selber verurteilt. Mein Eindruck ist, dass sie zunächst abwartet und die Fortsetzung ihrer Erzählung von meiner Reaktion abhängig macht. Als die von ihr vermutlich erwartete Verurteilung meinerseits nicht erfolgt, setzt sie ihre Schilderung fort: Wenn sie ihrem Kind gegenüber heftig und ärgerlich geworden sei, habe sie sich aus dem schlechten Gewissen heraus im Nachhinein bei ihm intensiv entschuldigen müssen und sei bei nachfolgenden Grenzsetzungen sehr milde vorgegangen. Auf ihre wiederholten Aufforderungen habe er mehrfach nicht wie gewünscht reagiert, sodass sie schließlich immer ärgerlicher und gereizter geworden sei. Dies habe sie 45 zunächst vor ihm zu verbergen versucht. Sie habe dann entweder ganz auf die Grenzsetzung verzichtet, oder es kam zu folgendem Ablauf: Von ihm weiterhin in ihrem Anliegen ignoriert, habe die Wut schließlich ein solches Ausmaß angenommen, dass sie sie nicht mehr zurückhalten konnte. Mit großer Strenge und Heftigkeit habe sie daraufhin ihr Anliegen (die Grenze) ihm gegenüber erneut formuliert und auf strikter Einhaltung bestanden. Dabei wurde ihr nicht bewusst, so ist mein Eindruck, dass sie in ihrer Heftigkeit für sein Erleben von Hilflosigkeit und Enttäuschung nicht zugänglich war und ihm mit ihrer anschließenden Entschuldigung weitgehend die Chance nahm, seinen eigenen, durch die Mutter ausgelösten Ärger, äußern zu können. Aus dem schlechten Gewissen heraus versuchte sie, bei nachfolgenden Grenzsetzungen sehr milde vorzugehen, sodass er Schwierigkeiten hatte, ihre Grenzen überhaupt als solche zu erkennen und sich dadurch gezwungen sah, die Mutter zu einer klareren Stellungnahme zu veranlassen. So machte ihr Kind die Erfahrung, dass es immer mal wieder bei einer tatsächlich durchgesetzten Forderung der Mutter nicht nur um eine äußere, sondern durch die Unterbrechung des emotionalen Austausches auch um eine innere Begrenzung ging. Unter der emotionalen Wucht, der sich die Mutter ausgeliefert fühlte, war es ihr vermutlich kaum möglich, für die dadurch bei ihrem Kind ausgelösten Affekte offen zu sein. Daher fühlte er sich durch die für ein emotionales Verstehen in diesen Momenten nicht zugänglichen Mutter umfassend eingeengt, was in ihm vermutlich schwer aushaltbare Gefühle der Ohnmacht auslöste, die er ihr auch nicht vermitteln konnte. Da ihm in der ersten Zeit seines Lebens eine männliche Bezugsperson nicht zur Verfügung stand, die ihm in solchen Momenten für einen Ausgleich hätte zur Verfügung stehen können, war er eigentlich dringend auf eine Mutter angewiesen, die ihm im Falle einer Begrenzung einen emotionalen Zugang offen hält. So machte er die Erfahrung, dass Grenzsetzungen häufig mit schwer erträglichen, ihn überfordernden Affekten verbunden sind. Daher ist es verständlich, dass ihn diese Erfahrungen nach und nach motivierten, Begrenzungen, wenn eben möglich, nicht zu akzeptieren, außer im Fall der von ihm selbst vorgenommenen Grenzsetzung. Dementsprechend schilderte Frau A., dass sie ihren Sohn B. unter Anwendung großen Druckes manchmal zur Einhaltung ihrer Grenzen zwingen könne, dies aber nicht dazu führe, dass ihm eine nachfolgende Grenzsetzung leichter falle, geschweige denn, dass er ihre Begrenzungen übernehme. Wir können zunächst einmal verstehen, dass B. unterschiedliche Erfahrungen mit 46 Erweiterungen (Verschiebungen) von Grenzen gemacht hat, unter anderen mit der unangenehmen Berührung von heißen Gegenständen. Sie kann daher nachvollziehen, dass er aus einem Schutzbedürfnis heraus ein Interesse daran hat, von den Erwachsenen zu erfahren, ob er eine Abgrenzung weiter verschieben darf oder die Grenzsetzung zu respektieren ist. Ich frage sie, ob sie sich vorstellen könne, dass B. vielleicht manchmal im Unklaren ist, ob es sich bei den von der Mutter geäußerten Wünschen tatsächlich um eine Grenzsetzung handelt und er deswegen seine Aktionen der Mutter gegenüber so lange fortsetzt, bis er von ihr eine Klarstellung bekommt. Dem stimmt sie zu und erkennt daraufhin, dass sie ihm eigentlich früher und deutlicher vermitteln könne, was sie von ihm möchte. Ich frage sie, ob es ihr Gewissen entlasten würde, wenn sie sich sicher sei, dass sich ihre Klarheit und die darin enthaltene Härte nur auf einen kleinen Teilbereich beziehen würden, wenn sie ihm quasi geöffnete Türen anbiete durch Teilnahme an seinen Gefühlen. Sie möchte dies näher erläutert haben. Ich erkläre ihr: „Wenn Sie ihm die Möglichkeit bieten, seine Affekte zu äußern, die durch ihre Grenzsetzung ausgelöst werden, könne er unmittelbar erleben, dass sie ihn nur in einem kleinen Teilbereich einschränken. Sie könnten dann beide gemeinsam die ihn bewegenden Empfindungen spüren, was er als Entlastung erleben könnte.“ Darüber denkt sie interessiert nach und kündigt zum Ende dieser Stunde an, es zuhause ausprobieren zu wollen. Wir vereinbaren eine nächste Stunde mit ihrem Lebensgefährten zusammen, den die besprochenen Themen, so vermutet sie, interessieren würden. 3. Gespräch In Anwesenheit ihres Freundes, so vermute ich, ist es für Frau A. nach kurzer anfänglicher Schweigepause leichter möglich, mit dem Gespräch zu beginnen. Es ist ihr ein großes Bedürfnis, von den inzwischen eingetreten Veränderungen zu berichten. Sie habe B. jetzt einige Male durch Festhalten daran gehindert, gegen ihre Grenzen anzugehen und die überraschende Erfahrung gemacht, dass er sich jetzt viel schneller und problemloser an ihre Anweisungen halte. Sie würden sich beide sehr erleichtert und wohler fühlen. B. komme häufiger von sich aus zur Mutter, um zu kuscheln, was sie sehr genießen würden. Auch ihr Lebenspartner Herr C. berichtet, dass sie sich als Eltern schneller verständigen könnten. Ihm sei es schon immer leichter gefallen, B. das Einhalten von Regeln abzuverlangen. Er habe sich aber in der Vergangenheit mit 47 Rücksicht auf seine Frau des Öfteren zurückgehalten. Sie hätten darüber diskutiert, ob sie B. gegenüber vielleicht zu streng seien. In ihrer Einschätzung hätten sie sich dabei häufig unsicher gefühlt und seien auch zu unterschiedlichen Ansichten gekommen. Ich greife dies Thema auf und frage, ob ihre Selbsteinschätzung bezüglich eines harten, strengen Vorgehens von dem Ausmaß der Einengung abhängig sei, die sie B. in einem solchen Moment einer Machtausübung zumuten? Sie bitten mich, um eine weitere Erläuterung. Ich erkläre: „Wenn Sie etwas von B. fordern, können Sie ihm gleichzeitig erlauben, das, was ihn innerlich bewegt oder belastet, zu äußern und sich dafür interessieren, indem Sie versuchen, sich in seine emotionale Lage zu versetzen. Dann würde er einerseits eine Begrenzung erfahren und andererseits erfahren, dass ihm wichtige Spielräume weiterhin offen stehen.“ Darüber denken sie zunächst nach. Frau A. berichtet dann, dass sie darüber mit ihrem Mann nach der letzten Sitzung schon gesprochen habe. Er erklärt, dass ihm meine Vorschläge sinnvoll erscheinen. Sie hätten sicherlich in der Vergangenheit zu schnell versucht, B. zu beruhigen oder von seinen Gefühlen abzulenken anstatt ihm erst einmal zuzuhören. In Ansätzen, so berichtet die Mutter, hätten sie aber zuhause, angeregt durch die Ideen aus den Sitzungen hier, schon anders auf B. reagiert und festgestellt, dass er daraufhin zugänglicher geworden sei. Sie berichten dann beide von konkreten Beispielen, die sich zuhause ereignet haben. Dabei erwähnt er auch, dass er es wichtig finde, B. nicht alles sozusagen von den Lippen abzulesen. Er habe die Erfahrung mit ihm gemacht, dass er sich dann durchaus schon ganz gut ausdrücken könne. Dem stimmt sie zu. Diesen gemeinsamen Konsens, so ist mein Eindruck, erleben beide als wohltuend. Zum Ende dieser Sitzung zeigen sich beide Eltern nachdenklich aber auch erleichtert. Sie teilen mit, dass ihnen die Anregungen viel gebracht hätten. Wir vereinbaren, dass sie sich melden können, wenn wieder ein Bedarf besteht. Auf dieses Angebot kommen sie später nicht mehr zurück. 3.1.2 Psychodynamische Überlegungen Fall 1 Mein Eindruck von der Patientin in den Stunden war, dass sie mich – entsprechend den Erfahrungen mit ihrer Mutter in der Vergangenheit – als eine Respektsperson erlebte, der sie sich zunächst einmal „bedienend unterzuordnen“ hat, und bei der sie wohl auch davon ausging, dass sie sich ohne diese Vorleistung nicht sicher sein könnte, von mir 48 die von ihr so dringend gewünschte Hilfe auch zu bekommen. Die konkrete Erfahrung, dass ich ihr keine Aufgabenerfüllung abverlangte und auch ihrem Kind einen Gestaltungsspielraum ließ, machte es ihr offensichtlich leichter, die Initiative zu ergreifen, und mit der Schilderung ihrer Anliegen zu beginnen. Ich nahm an, dass B. in mir einen Erwachsenen vermutete, der bereit ist, Macht auszuüben und Grenzen zu setzen, und dem man deswegen am besten nicht den kleinen Finger reicht, sondern ihm durch kompromisslose Zuweisung der Zuschauerrolle jede Einflussnahme von vornherein nimmt. Dadurch ließ er mich in der Gegenübertragung gleichzeitig die Gefühle von Hilflosigkeit erleben, die er durch sein Vorgehen zu vermeiden suchte. Als er merkte, dass ich ihm den Raum für ein eigenes Vorgehen einräumte, war er vermutlich leichter in der Lage, die von mir vorgegebenen Rahmenbedingungen einzuhalten. Als ich B.s Spielraum, zu einer selbständigen Entscheidung zu kommen, verteidigte, verfolgte seine Mutter dies vermutlich mit großem Interesse. Außerdem erlebte sie die Möglichkeit, ohne kritisierenden Kommentar meinerseits ihre eigenen Anliegen erzählen zu können, wohl als entspannend. Nach den positiven Erfahrungen der ersten Stunde sah sie in mir wahrscheinlich eine Art Vater, den sie wohl in ihrer Kindheit schon gerne gehabt hätte, wenn sie mit ihrer Mutter sehr enttäuschende, einengende Erfahrungen machte. So traute sie sich, ihre Lebensgeschichte sehr offen zu erzählen und später sogar über Erlebnisse mit ihrem Sohn zu berichten, die sie beschämten. Als dann auch die von ihr vielleicht erwarteten Beschuldigungen ausblieben, konnte sie sich für die gemeinsam entwickelten neuen Sichtweisen interessieren. Die von ihr in der dritten Sitzung berichteten Veränderungen, die bereits zuhause aufgetreten waren, und ihr selbstbewußteres Auftreten, als sie mit ihrem Lebensgefährten hierher kam, hingen vermutlich damit zusammen, dass sie die Erfahrung machen konnte, dass das auf ihre Initiative hin zustande gekommene Hinzuziehen von außen stehenden Dritten (Freund und Therapeut) im Gegensatz zu den Erfahrungen in ihrer Kindheit positive Folgen hatte. So konnten beide Partner die entlastende Wirkung unmittelbar erleben, die sich durch die Eröffnung neuer Spielräume entfaltet, wenn mindestens eine dritte Perspektive, die über das Duale hinausgeht, in einer Beziehung zugänglich wird. Es war ihnen vermutlich dadurch leichter zu verstehen, dass eine von Autorität geprägte Zweierbeziehung oft erst durch 49 die Öffnung eines zusätzlichen Raumes aushaltbar wird. Daher konnten sie verstehen, dass sowohl eine Schutz vermittelnde Machtausübung als auch eine emotionale Anteilnahme für die Vermittlung von Regeln wichtig sind. Das schnelle Umsetzen neuer Ideen in diesem Fall hing wohl auch damit zusammen, dass die sehr verständige und unterstützende Haltung ihres Freundes und das starke Bedürfnis von beiden, sich zu respektieren und zu verstehen, zu einer wirksamen Entlastung ihres Gewissens und zu einer Korrektur ihres Rollenverständnisses führten. 50 3.2. Fall 2: Das „Kiss-Syndrom“ und seine Folgen 3.2.1 Fallbeschreibung: Ausgangssituation und Gespräche Ausgangssituation: In der Praxis meldete sich auf Veranlassung ihrer Kinderärztin eine 25-jährige Mutter, Frau D., mit ihrer 14 Monate alten Tochter E. Frau D. erweckte auf den ersten Blick den Eindruck einer freundlichen, zurückhaltenden und altersentsprechend wirkenden Frau. Sie war in Sorge, weil ihre Tochter, die nach ihrer Geburt „schon an einem Kiss-Syndrom erkrankt war“, nun die Eltern erneut „nicht angucke“, keinen längeren Blickkontakt halten könne und schlecht einschlafe. 1. Gespräch Frau D. überließ es nach der Begrüßung zunächst ihrer Tochter, die Initiative zu ergreifen. S., ein niedliches, altersentsprechendes, kleines Mädchen begann nach kurzem Zögern, mit den bereit stehenden Püppchen zu spielen. Dabei strahlte sie ihre Mutter und den Therapeuten freundlich an. Dass sie beim Spielen ihren Schnuller im Mund behielt, erweckte den Eindruck, dass dies für sie ein gewohntes, selbstverständliches Verhalten war. Als Frau D. merkte, dass ihre Tochter sich wohl fühlte und ihr Vorgehen von mir akzeptiert wurde, begann sie zu erzählen. Sie machte sich große Sorgen, weil ihr Kind schlecht einschlafe, sich nach wie vor von ihr weg drehe, sie nicht anschaue. Dass sie sich dadurch abgelehnt fühlte, teilte sie erst viel später mit. Sie habe schon den Kopf ihres Kindes mit den Händen festgehalten und dieses dadurch gezwungen, mit ihr Blickkontakt aufzunehmen. Aber auch diese Maßnahme habe zu keiner befriedigenden Veränderung geführt. Da sie ihre Beobachtungen nicht in einen Beziehungszusammenhang stellte, entstand der Eindruck, dass sie das Verhalten ihres Kindes nicht ausreichend verstand und von Auffälligkeiten ausging, von denen sie vermutete, dass diese wohl durch eine ihr unbekannte körperliche Erkrankung ausgelöst würden. Mir fiel im weiteren Verlauf ihrer Ausführungen bald auf, dass sie oft ihre eigene Meinung, zum Teil auch 51 Empfindungen und Forderungen nicht direkt, sondern eher zwischen den Zeilen mitteilte. So äußerte sie z.B. nicht direkt, dass sie von einer körperlichen Ursache ausging, sondern vermittelte diesen Eindruck auch dadurch, dass sie von einer augenärztlichen Untersuchung berichtete, die sie dringend gewünscht hatte. Dabei ergab sich ein Normalbefund. Sie hielt wohl an der Vermutung einer körperlichen Ursache zunächst auch dann noch fest, als ihre Kinderärztin keine weitere Diagnostik in diesem Bereich veranlasste. Das Aufsuchen der hiesigen Praxis ließ vermuten, dass sie sich durch die vorhergehenden diagnostischen Untersuchungen nicht ausreichend beruhigt fühlte. Dies führte aber nicht dazu, dass sie mir (einem Arzt) gegenüber die bisherigen ärztlichen Maßnahmen kritisierte. Sie stellte auch keine gezielten Forderungen an mich. Auch in den weiteren Ausführungen teilte sie ihre Ansichten und die Gründe für ihr Handeln nur indirekt mit. Von Anfang an fand sie das Verhalten ihrer Tochter befremdlich und unverständlich, als diese es durch ihr Wegdrehen und Durchstrecken verhindert habe, sie zu stillen. Auch die vorausgehende Geburt sei durch den Einsatz der Saugglocke und ihre starken Schmerzen sehr verunsichernd und belastend gewesen. Offensichtlich an eine wichtige Lebenserfahrung erinnert, unterbricht sie kurz ihre Schilderung und erzählt, dass sie schon immer wenig Selbstbewusstsein hatte. Von ihrem Vater, der Alkoholiker war, sei sie nie richtig beachtet und ernst genommen worden. Sie habe ihr Kind immer wieder nicht stillen können und sei ihrem Weinen hilflos gegenüber gestanden. Schließlich sei sie sehr erleichtert gewesen, als endlich eine Ursache gefunden wurde. Es hatte sich herausgestellt, dass das Wegdrehen und Durchstrecken ihrer Tochter der Vermeidung von Schmerzen diente, die durch eine Fehlstellung der Halswirbel (Kiss-Syndrom) ausgelöst wurden. Nach der erfolgreichen Behandlung des Kiss-Syndrom habe sich ihre Tochter aber weiterhin weggedreht. Das aus meiner Sicht vorsichtige und behutsame Vorgehen von Frau D. veranlasste mich, erst einmal Vertrauen aufzubauen und gleichzeitig mit ihr in ein Gespräch über ihre Beziehung zu ihrem Kind zu kommen. Ich versuchte daher zunächst, mit ihr zu verstehen, dass es für sie sehr wichtig ist, sich in einem guten Einvernehmen mit ihrem Kind zu fühlen. Ich fragte sie, ob ein freundliches Angeschaut werden für sie beruhigend ist, weil es ihr Bestätigung und Sicherheit gibt, dass in der Beziehung zwischen ihr und der Tochter alles in Ordnung ist. Sie bejahte dies und berichtete, wie 52 sehr sie sich von Anfang an gewünscht habe, sich mit ihrer Tochter gut zu verstehen. Als ich sie fragte, „Sie wollten vermeiden, ihrem Kind gegenüber die Abgewiesene, die Stehen-Gelassene zu sein?“ fing sie an zu weinen und betonte, dass sie dies auf jeden Fall vermeiden wollte. Sie habe sich als Kind immer als Außenseiterin gefühlt. Tief bewegt schilderte sie, dass sie es als Kind ihrem alkoholisierten, unberechenbaren Vater nie recht machen konnte: „Immer war ich die schuldige, miese Versagerin“. Verzweifelt klagte sie an, sie habe sich an niemanden wenden können. Von ihrer Erschütterung ergriffen, fragte ich sie: „Sie fühlten sich häufig in ihrem Leben sehr allein und verletzt und waren deswegen sehr oft traurig?“ Durch mein Verstehen ermuntert, begann sie erneut zu weinen und stimmte schluchzend zu. Als ich anschließend nach ihrer Mutter fragte, bestätigte sie, dass auch diese sie mit fast allem sehr oft allein gelassen habe. Nachdem sie ihre Gefühle zum Ausdruck bringen konnte und diese langsam abgeklungen waren, wandte ich mich erneut an sie: „Dann erlebten sie vielleicht zuhause zwei sich diametral gegenüber stehende Welten? Auf der einen Seite waren Sie die Abgelehnte, häufig in fast jeder Hinsicht Falsche und Chancenlose. Auf der anderen Seite gab es für Sie vielleicht auch einmal eine komplett gegenteilige Erfahrungswelt, allerdings nur sehr selten und besonders als Sie noch ein kleines Kind waren und vielleicht liebevoll behandelt wurden. Dann konnten Sie sich auch einmal akzeptiert und rundum versorgt fühlen? Sie bestätigte dies nach einigem Nachdenken. Ich fuhr weiter fort: „So gingen Sie nach den Erfahrungen im Elternhaus auch in späteren Beziehungen, wenn jemand mit ihnen nicht so ganz übereinstimmte, vielleicht davon aus, dass Sie wieder wie zuhause abgelehnt werden?“ Daraufhin antwortete sie: „Damit rechne ich dauernd.“ Ich entgegnete: „Sie haben aber möglicherweise auch schon einmal festgestellt, dass die Abweisung, die sie in einer eher umfassenderen Weise erwartet hatten, so nicht eintrat. So haben Sie sich, ohne sich dies bewusst vorzunehmen, innerlich vielleicht manchmal gesagt: ‚Geh mal lieber von dem Schlimmeren aus, dann kannst Du nicht überrascht werden.’ Sie haben dadurch zunächst eine negativere Vorstellung entwickelt, die sich dann aber nicht bestätigte.“ Sie denkt darüber nach und stellt fest, dass sie diese Erfahrungen gemacht hat. Ich frage sie nun, ob sie sich vorstellen könnte, dass ihre Tochter mit ihrem Wegschauen vielleicht keine Ablehnung, sondern nur zum Ausdruck bringen wollte, dass sie in diesem Moment etwas anderes möchte als ihre Mama. Daraufhin schweigt sie zunächst. 53 Um sie zu entlasten, wende ich ein: „Sie sind doch auch gelegentlich anderer Meinung oder möchten etwas kritisieren, was ihnen so nicht zusagt, und bringen das zum Ausdruck, ohne jemand damit ganz abzulehnen?“ Sie erwidert: „Da haben sie Recht.“ Dann fällt ihr ein: „E. unternimmt manchmal gerne etwas alleine. Wir waren jetzt mal zum Kinderturnen gegangen. Da ist sie gleich zu den anderen Kindern gelaufen und hat sich da richtig wohl gefühlt.“. Ich kommentiere: „Wenn sie beide vorübergehend mal unterschiedliche Interessen haben, kann es ihnen beiden damit gut gehen, das gefährdet ihre Beziehung nicht. Sie kommen anschließend wieder zusammen und verstehen sich.“ Ich greife meine Frage noch mal auf: „Vielleicht wollte ihre Tochter manchmal, als sie sich wegdrehte, Ihnen nur mitteilen, dass sie in diesem Moment mal etwas anderes wollte als die Mama, und es ging ihr dabei nicht um eine Ablehnung?" Darüber denkt sie erneut innerlich offensichtlich beteiligt nach. Mit großer Erleichterung stellt sie anschließend fest: „Dann ist das Wegdrehen ja gar nicht so schlimm und ich brauche mir nicht so viele Sorgen zu machen. Ich möchte ja manchmal auch allein für mich sein und was Eigenes machen.“ Nach einer weiteren Pause stellt sie fest: „Ich probiere das mal aus, was wohl passiert, wenn ich auf das Wegdrehen nicht reagiere.“ Während dieses ersten Gespräches rückten die Probleme von Frau D. schnell in den Vordergrund. Dieses Beschäftigtsein der Erwachsenen, so war mein Eindruck, eröffnete E. einen Spielraum, den sie offensichtlich genoss und gerne für ihr eigenes Spiel nutzte. Sie schaute erst verwundert, fragend auf, als ihre Mutter weinte, ließ sich aber durch ihre Erklärungen dazu jeweils schnell beruhigen. Erst im letzten Viertel der Stunde wandte sie sich einmal an ihre Mutter und mich, um kurz ein Püppchen vorzuzeigen. Anschließend, nach erfolgter Anteilnahme der Erwachsenen, spielte sie bis zum Ende der Stunde weiter. 2. Gespräch Zur nächsten Stunde kommen die Eltern ohne ihr Kind. Herr D. ist ein groß gewachsener, sympathisch wirkender Mann von Anfang dreißig, der etwas schüchtern und verschlossen wirkt, mit einem leicht aggressiven Unterton. Zunächst berichtet die Mutter allein. Nach kurzer Zeit beteiligt sich dann auch ihr Ehemann. Sie berichten erfreut, dass E. sich inzwischen abends leicht hinlegen lasse und ohne Probleme alleine 54 einschlafe. Frau D. betont, es falle ihr auch leichter, E. eine Grenze zu setzen. Dies war für den Vater schon immer leichter. Frau D. erklärt, dass sie immer befürchtete, sich so zu verhalten, wie ihr Vater, wenn sie E. eine Grenze setzen wollte. Nach einer kurzen Pause berichtet sie auf mein gezieltes Nachfrage hin, bei ihr reagiere E. meist nicht sofort so, wie die Mutter es von ihr erwarte. Wenn sie dann nach mehreren Ermahnungen keinen ausreichenden Erfolg erzielt habe, müsste sie eigentlich in ihren Anforderungen deutlicher und im Ton lauter und bestimmender werden. Dies möchte sie aber gerade vermeiden, um sich nicht so zu verhalten, wie ihr Vater. Dieser habe auf eigene Grenzsetzungen hin keinen Widerspruch oder auch nur Nachfragen nach den Gründen erlaubt. Er habe dann immer geantwortet, dass ist jetzt so, weil ich das so will und Schluss und Mund halten. Ich füge an, wenn ihr Vater auf seine Machtausübung hin ihnen keine Möglichkeit zu einer Rückmeldung gab, zum Beispiel um die Gefühle zu äußern, die er durch seine Grenzsetzung ausgelöst hatte, mussten sie sich diktatorisch eingeengt fühlen. Wenn sie heute laut und deutlich eine Grenze setzen, aber sich gleichzeitig dem Erleben ihres Kindes gegenüber öffnen, entspricht ihr Vorgehen einer Begrenzung in einem Teilbereich und lässt ihrem Kind einen eigenen Spielraum. Die Eltern fragen nach, wie sie sich emotional beteiligen könnten. Ich antworte, wenn sie sich jetzt in E.s innere Lage in diesen Situationen hineinversetzen, spüren sie, dass sie in einem solchen Moment Ärger, Trauer und Hilflosigkeit erleben könnte. Nach einer kurzen Pause fahre ich fort, je nachdem, welche Erfahrungen sie in ihrem Leben mit diesen Affekten, z.B. der Hilflosigkeit, gemacht haben, fällt es ihnen vermutlich leichter oder schwerer, sich in den inneren Zustand ihres Kindes hineinzuversetzen. Beide denken darüber offensichtlich innerlich bewegt nach. Dann erzählt der Vater, er trage schon seit langer Zeit ein Problem in sich. Er habe sich aber bisher nicht getraut, darüber mit einer außen stehenden Person tiefer gehend zu sprechen. Auf einer langen Busfahrt zu einem Flughafen habe er einmal dringend zur Toilette gemusst und diesen Drang für lange Zeit total unterdrücken müssen, weil er sich mit dem ausländischen Busfahrer sprachlich nicht verständigen konnte. Am Flughafen musste er auch noch lange warten, weil er einfach nicht aus dem Bus heraus kam. Er habe fürchterlich geschwitzt, es sei ein unglaublich schwer aushaltbares Gefühl gewesen. Seitdem trete in ungewohnten Situationen, wie zum Beispiel im 55 Zusammenhang mit dem Termin heute hier, ein Grummeln in der Magengegend auf. Wenn die Belastung durch Unvorhergesehenes stärker werde, bekomme er wieder mit seinem Darm zu tun, dann müsse er schnell zur Toilette. Sein Hausarzt habe ihm gesagt, es handele sich wohl um einen Reizdarm. Er selbst habe schon vermutet, dass es etwas mit seinem Inneren, dem Seelischen zu tun habe. Ich bestätige seine Vermutung und biete ihm ein nächstes Gespräch an. Dem stimmt er zu. Bevor wir die Stunde endgültig beenden, teilt sie mit, dass sie gerne einmal mit ihrem 15-jährigen Bruder kommen möchte, der seit Jahren Ritalin bekomme und dem es jetzt in der Schule schlecht gehe, um zu hören, welche Hilfe es für diesen gäbe. Ich biete auch für den Bruder Gespräche an, die er auch wahrnimmt. 3. Gespräch Zum dritten Gespräch nach den Weihnachtsferien kommt der Herr D. wie verabredetet allein. Er sitzt unauffällig und ohne eigene Initiative im Wartezimmer neben einer auch auf ihren Termin wartenden Frau, sodass ich ihn zunächst für den Begleiter dieser Frau halte und ihn nicht sofort erkenne. Erst nach ein paar Minuten gelingt es mir, mich aus dieser Irritation zu befreien. So fängt die Stunde etwas verspätet an. Darüber beschwert er sich aber nicht. In der Schweigepause, die zunächst entsteht, spüre ich einen Druck, als müsste ich ihm entgegen kommen, ihm das Beginnen erleichtern, und möglichst schnell und perfekt für ihn da sein, als dürfte zwischen uns nichts Aggressives entstehen. Ich spüre, dass es nicht leicht ist, diesem Druck standzuhalten und vermute, dass in mir eine innere Konfliktwelt entsteht, die der des Patienten entspricht. Ich ermuntere ihn, das Gespräch zu beginnen: „Jetzt haben wir mal wieder Zeit, Sie kennen das ja vom letzten Mal.“ Daraufhin beginnt er mit seiner Schilderung. Es sei jetzt „alles viel besser“. In der Firma gäbe es momentan keine Probleme. Auch mit der kleinen Tochter sei „alles viel leichter“ zu handhaben. „Mit seiner Frau könne er viel mehr besprechen“, zum Teil habe er auch mit anderen Kollegen Gespräche angefangen. Dies habe ihm schon geholfen. Sonst habe er ja meist alles runtergeschluckt. Eigentlich schon sein Leben lang. Einer seiner Arbeitskollegen nutze diese Schwäche brutal gegen ihn aus. Dieser führe ihn immer wieder vor, drangsaliere ihn mit entwertender, heftiger Kritik so lange, bis er glaube, in einer überlegenen Position zu sein. Danach „baue er ihn gnädigerweise 56 wieder auf“. Der Andere sei nämlich gewandter im Reden. Er möchte diesem seine Betroffenheit nicht zeigen und versuche deswegen seine Erwiderung sachlich und emotionsfrei rüber zu bringen, was ihm aber schwer falle. Obwohl es offensichtlich für Herrn D. ein großes Anliegen ist, diese Erlebnisse, die ihn vermutlich stark belasten, zu erzählen, schildert er diese fast emotionsfrei, sachlich. Er teilt auch nicht mit, ob er sich Hilfe wünscht, und was er erwartet. In den wenigen kurzen Pausen, die er in seinen Ausführungen macht, signalisiere ich ihm meine Anteilnahme und frage auch gelegentlich nach, wenn ich z.B. den Eindruck habe, dass es ihm schwer fällt, ein offensichtlich vorhandenes Gefühl zu äußern. Dadurch helfe ich ihm, Dinge zu äußern, die er spontan zunächst vermutlich weiter zurückgehalten hätte. So frage ich ihn, ob ihn das Vorgehen seines Kollegen wütend gemacht habe. Er bejaht dies und fährt fort, diese Wut bringe ihn aber in große innere Schwierigkeiten. Es träten dann auch Ängste auf, sodass er den Eindruck hätte, sich kontrollieren zu müssen. Er könne in solchen Situationen in ein heftiges inneres Geschehen geraten, welches es ihm manchmal schwer mache, überhaupt noch vernünftig zu denken. Das sei ihm z.B. auch einmal bei seiner Fahrprüfung passiert. Da wusste er plötzlich gar nichts mehr. In anderen Situationen habe er Schwierigkeiten gehabt, überhaupt noch Worte zu finden. Er stottere dann und möchte nur noch so schnell wie möglich aus allem herauskommen. Früher sei es ihm mal viel besser gegangen, da habe er sich viel zugetraut und vielen Anderen geholfen. Als es dann aber einmal nicht so ging, wie er es sich gewünscht habe, als er erfolglos war, sei es anders geworden, ab diesem Zeitpunkt habe er sich nicht mehr so viel zugetraut. Mit deutlicher innerer Beteiligung erzählt er noch einmal seine Erlebnisse während der Busfahrt. Diesmal fügt er aber Details hinzu, die er vorher weggelassen hatte. Der Hauptauslöser dafür, dass er sich neuen Situationen jetzt nur noch schlecht stellen könne, sei die starke Bedrängnis gewesen, die er nach einer Hochzeitsfeier auf der Busfahrt zurück zum Flughafen erlebt habe. Er habe Angst gehabt, Durchfall zu bekommen und fühlte sich deswegen unter dem Druck, sofort eine Toilette aufsuchen zu müssen. Da er kein Spanisch sprechen könne und sich zunächst auch nicht getraut habe, sich auf Englisch verständlich zu machen, habe er so lange gewartet, bis ihm in der allergrößten Not schon ganz flau geworden sei. Erst dann habe er sich getraut, den Busfahrer anzusprechen. Immer wenn der dann daraufhin auch angehalten habe, habe er aber jedes Mal nicht gekonnt. Als er schließlich im Flughafen die Toilette benutzen 57 konnte, sei das die größte Glückseligkeit für ihn gewesen. Als er dies schildert, ist ihm seine Erleichterung von damals unmittelbar anzumerken. Ich vermute eine große unbewusste Angst vor Aggressionen und „Sich-schmutzig- machen“ und frage mich, welche Erfahrungen er wohl dies bezüglich in seiner Kindheit durchgemacht hat. Daher spreche ich ihn an, ob er sich vorstellen könne, dass bei diesem Erlebnis auch Erfahrungen aus seiner Kindheit eine Rolle gespielt haben könnten. Er habe eine sehr enge Beziehung zu seiner Mutter gehabt. Die sei immer für ihn da gewesen, er sei das Nesthäkchen gewesen, dem alles abgenommen wurde. Bestrafungen und Kritik wurden ihm angedroht und gleichzeitig auf den abends nach Hause kommenden Vater verschoben, der dann in der Regel gar nicht so streng gewesen sei. Er sei aber auch kein einfaches Kind gewesen, er habe die Eltern häufiger angelogen. Dies sei ihm aber sehr gründlich ausgetrieben worden; er müsse heute sagen, wohl zu Recht. In den späteren Jahren, während der Pubertät, habe ihm die Schule nicht gefallen, weil die Lehrer häufig an ihm rumgemeckert hätten. Er habe deswegen auch nicht richtig mitgemacht und nur den Hauptschulabschluss geschafft. Erst in der Lehre sei er richtig aufgewacht. Ab da habe er sich sehr unter Druck gesetzt, alles perfekt hinzukriegen, er könne auch nichts unvollendet liegen lassen, alles müsse er sofort erledigen. Ich frage nach: „Sie bemühten sich vielleicht ‚perfekt zu sein’, um Abhängigkeiten zu vermeiden. Wenn Sie heute mit einem Anliegen an mich hierher gekommen sind, möchten Sie mir vielleicht über die Erfahrungen mit ihrem Kollegen auch mitteilen, das sie nicht nur Erwartungen in Bezug auf Unterstützung haben, sondern auch Bedenken.“ Darauf erzählt er, dass es ihm nicht leicht gefallen sei, sich auf ein Therapiegespräch einzulassen, er habe auch Befürchtungen gehabt. Ein Arbeitskollege habe auch schon gesagt: „Da, pass mal lieber gut auf.“ Wir sind am Ende der Stunde. Als ich ihn frage, ob er noch ein weiteres Gespräch wünsche, zögert er zunächst und schließlich stimmt er zu: „Einen Termin nehme ich noch“. 4. Gespräch Zu Beginn des vierten Gesprächs eine Woche später wartet er ab, bis ich nach einer 58 Pause als erster mit einer allgemein gehaltenen Aufforderung beginne. Es gehe ihm jetzt sehr viel besser. Er habe den Kontakt mit dem problematischen Kollegen weitgehend gemieden, ihn ohne Angriff richtig stehen lassen. Daraufhin sei der irritiert gewesen und ganz anders mit ihm umgegangen. Für ihn sei das eine große Erleichterung gewesen. Er komme jetzt gelöst nach Hause, sei nicht mehr so geladen. Er habe sich auch spontan bei dem Mobbing-Beauftragten angemeldet, sich aber anschließend erst nach langer Überlegung getraut, seine Beschwerden auch tatsächlich mitzuteilen. Ich erwidere: „Sie haben Neues in ihrem Alltag ausprobiert und dabei Erleichterndes erlebt. Ein ähnlicher Weg, neue Erfahrungen zu machen, ist auch in einer Psychotherapie möglich.“ Darauf geht er nicht weiter ein. Nach einer Pause setze ich fort: „Wir hatten in der letzten Stunde darüber gesprochen, dass Sie mit ihrem Bemühen, gut zu sein, vielleicht auch Abhängigkeiten vermeiden möchten.“ Dies bejaht er und berichtet, dass er sich deswegen stets sehr bemühte, der Beste zu sein. Dies sei so lange gut gegangen, bis er einen Autounfall hatte. Danach habe er ein halbes Jahr nicht laufen können. Es stand zunächst auch die Frage im Raum, ob er überhaupt jemals wieder richtig würde laufen können. Damals sei er im Fußball so gut gewesen, dass er Aussichten auf eine Profikarriere gehabt habe. Nach diesem Ereignis habe er nie wieder so viel Selbstbewusstsein gehabt, wie vorher, habe auch Ängste entwickelt. Er habe nicht nur Prüfungsängste gehabt, sondern sich auch nicht getraut, sich in größere Menschenmengen zu begeben oder in Diskotheken. Nach einer Pause fährt er fort, Abhängigkeiten versuche er unbedingt zu vermeiden, die könne er nur seiner Frau gegenüber zulassen. Deswegen versuche er möglichst mit vielen Dingen allein klar zu kommen. Diese letzte Aussage wirkt für mich wie ein abschließendes Statement, so als wollte er das Thema zunächst mal abschließen und darüber jetzt auch nicht weiter sprechen. Nach einer erneuten Pause spreche ich an, dass wir bisher über seine eigenen Erlebnisse gesprochen hätten, aber noch nicht über seine Tochter. Er erzählt daraufhin, dass er nicht mit dem Erziehungsverhalten seiner Mutter seiner Tochter gegenüber einverstanden sei. Diese setze dem Kind keine Grenzen und das erwarte dann auch das gleiche Verhalten von den Eltern. Da es auch seiner Frau nicht leicht falle, Grenzen zu setzen, müsse hauptsächlich er diese Aufgabe übernehmen. Das falle ihm aber schwer, da er oft befürchte, zu hart gewesen zu sein. Er findet es aber gleichzeitig wichtig, dem Kind zu vermitteln, dass es echte Grenzen gibt. 59 Ich frage ihn, ob eine Lösung für ihn darin bestehen könne, ihr einerseits eine klare Begrenzung aufzuzeigen und ihr andererseits durch eine emotionale Anteilnahme zu verdeutlichen, dass gleichzeitig freie Möglichkeiten zur Verfügung stehen. Er denkt darüber nach und teilt dann mit, dass es doch gut sei, noch einmal mit seiner Frau und E. her zu kommen, um sich auf gemeinsame Grenzsetzungen abzustimmen. 5. Gespräch Zur nächsten, fünften Stunde kommt Herr D. dann aber doch nicht mit. Seine Frau entschuldigt ihn wegen betrieblichen Belangen. Da E. heute mitgekommen ist, überlasse ich es ihr, die Stunde zu gestalten, was auch Frau D. offensichtlich nicht schwer fällt. E. spielt zum Teil allein mit den vorhandenen Spielsachen, zum Teil bezieht sie uns auch mit ein. Nachdem sie weiteres Vertrauen aufgebaut hat, versucht sie, vorhandene Grenzen auszutesten. Als sie merkt, dass ich auf der Einhaltung der Grenzen bestehe, weint sie, zeigt ihre Enttäuschung und ihren Ärger. Durch die emotionale Anteilnahme ihrer Mutter und von mir, kann sie sich adäquat trösten lassen, die Grenze akzeptieren und wieder anderen Spielsachen zuwenden. Dies Vorgehen wiederholt sich noch einmal in der Stunde. Am Ende der Sitzung vereinbaren wir einen weiteren Termin. 6. Gespräch Zur sechsten Stunde kommt der Vater, Herr D., allein. Er berichtet, „dass er sich von seinem Kollegen unabhängiger gemacht habe. Dadurch sei es ihm mehr möglich, sich nun selbst an den Meister zu wenden. Es sei ihm auch gelungen, einen Freund in der Firma unterzubringen. Sein Kollege sei jetzt wohl der Unsichere. Er mache auch mehr Fehler. Nach außen tue der ihm gegenüber so, als wäre nichts. Hintenherum schwärze er ihn in Wirklichkeit aber bei dem Meister an, renne zu diesem und berichte ihm, sobald Herr D. einen „normalen Fehler“ gemacht habe. Deutlicher als in den anderen Sitzungen kann Herr D. heute meine Formulierungen nicht annehmen, muss sie umformulieren oder mich auf andere Weise infrage stellen. Ich frage mich daher, ob dieses Verhalten mit dem Thema der Stunde zusammenhängen könnte und mit meiner Rolle als Mann. Ich merke, dass sein Verhalten auf mich zurückweisend wirkt und in mir deshalb Gefühle des Ärgers und der Hilflosigkeit 60 hervorruft. Schließlich spreche ich an, dass mir aufgefallen sei, dass er sich bemühe, meine Formulierungen nicht einfach stehen zu lassen, sondern sie mit seinen Worten auszudrücken bzw. zu präzisieren versuche. Ich sage ihm: „Jetzt kann ich erleben, wie es einem geht, wenn man es nicht so richtig hinbekommt, daneben liegt, verunsichert ist, wie sie es von sich geschildert haben.“ Es entsteht zunächst eine Pause, in der er, so ist mein Eindruck, erstaunt nachdenkt. Ich spreche an, dass er möglicherweise leichter über die Verunsicherung reden könne, die er mit seinem Kollegen und dem Meister erlebt habe, wenn er sich sicher sei, dass er mich auch verunsichern könne und ich diese Gefühle kenne. Er schweigt nachdenklich. Zum ersten Mal habe ich in diesem Gespräch das Gefühl, dass ich ihm etwas sagen kann. „Wenn Sie das Gefühl der Verunsicherung, ausgelöst durch die Anschwärzungen ihres Kollegen, ein wenig zulassen können und nicht gleich handeln müssen, verliert ihr Kollege ihnen gegenüber an Einfluss. Sie würden dann gegebenenfalls auf einen kleinen Fehler – losgelöst von der Ansicht ihres Kollegen – so reagieren wie vermutlich häufig, nämlich gelassen. Ihrem Meister wird das vermutlich nicht entgehen, sodass er es vielleicht daraufhin selbst merkwürdig findet, wenn ihm häufiger normale Fehler, die alle machen, mitgeteilt werden. So könnten die Anschwärzungen auf ihren Kollegen zurückfallen.“ Diese Überlegung leuchtet ihm sehr ein und führt zu einer deutlichen, offensichtlich hilfreichen Entlastung. Wir sind damit am Ende der Stunde. Er kündigt einerseits an, zu einem weiteren Termin kommen zu wollen, will sich aber andererseits erst mit seiner Frau diesbezüglich absprechen. Daraufhin melden sich weder er noch seine Frau zu einem weiteren Termin. Nach einem halben Jahr biete ich der Familie in offener Form ein weiteres Gespräch von mir aus an, was Frau D. erfreut annimmt. 7. Gespräch Frau D. erscheint mit ihrer Tochter E., die inzwischen zwei Jahre alt geworden ist. E. 61 bezieht ihre Mutter und später auch mich in ihr Spiel mit ein. In der Anfangsphase, als E. zunächst alleine spielt, berichtet Frau D. voller Erwartung und mit einem gewissen Stolz davon, wie positiv sich E., aber auch die Beziehung zwischen Ihr und E. in den letzten Monaten entwickelt haben. E. gelinge es, sich alleine Kinderbücher anzuschauen oder auch phasenweise alleine zu spielen. Sie wolle aber auch gerne der Mutter bei der Hausarbeit und beim Essenkochen helfen. Dies dürfe sie auch und so würden sie vieles gemeinsam machen. Im allgemeinen könne sie die von der Mutter gesetzten Grenzen gut akzeptieren. Nur gelegentlich gäbe es Schwierigkeiten, die dazu führten, dass Frau D. sehr ärgerlich auf ihre Tochter werde. Sie schicke E. dann auch mal ins Bett. In dieser Stunde fordert E., anders als in der ersten Stunde zehn Monate zuvor, häufiger, dass sich die Mutter um sie kümmern und in ihr Spiel mit einbeziehen lassen soll. Die Mutter und ich wenden uns auch eine Zeit lang ihr zu, nehmen Anteil und setzen unser Gespräch dann weiter fort, bis sich dieser Ablauf nach einiger Zeit wiederholt. Die E. dabei gesetzten Grenzen kann sie problemlos akzeptieren. Frau D. berichtet im Laufe des Gespräches davon, dass E. sich manchmal, z.B. wenn sie beide morgens einen Spaziergang unternehmen würden, dazu neige, einfach loszurennen, ohne darauf zu achten, ob die Mutter ihr folge oder nicht. Ohne sich genauer mitzuteilen, ob sie sich ein gemeinsames Verstehen oder eine bloße Beratung wünscht, lässt sie ihre Schilderung zunächst einmal im Raum stehen. Daher frage ich sie zunächst, ob sie E. im geschilderten Ablauf noch nicht die Erfahrung hat machen lassen, dass sie durch ihr Vorlaufen die Mutter tatsächlich passager verlieren könnte, um so die Auswirkungen ihrer Handlung erkennen zu können. Darauf antwortet sie einerseits mit der Bemerkung, dies sei eine gute Idee, das werde sie mal durchführen. Andererseits signalisiert sie aber, dass sie dieses Thema nicht weiter fortsetzen möchte, indem sie sich E. zuwendet, um an ihrem Spiel teilzunehmen. Ich vermute, dass sie sich in unserer Begegnung von mir nicht ausreichend anerkannt bzw. gelobt fühlte und sich daher zurücknahm, als meine Antwort auch etwas Kritisches enthielt. Da wir kurz vor dem Ende der Stunde sind, versuche ich noch darauf einzugehen. Ich biete ihr an, dass sie wohl heute hauptsächlich gekommen sei, um mir zu berichten, welche Veränderungen und Verbesserungen es in der Zwischenzeit gegeben habe. Daraufhin erzählt sie, dass auch ihr Mann überraschend festgestellt habe, dass seine 62 Magenbeschwerden fast gar nicht mehr auftreten würden, und plötzlich „alles sehr viel besser gehe“. Auf meine Nachfrage, ob sie einen weiteren Termin ausmachen möchte, erwidert sie, dass sie jetzt allein klar kommen würden, sich aber bei Bedarf wieder melden würden. 3.2.2 Psychodynamische Überlegungen Fall 2 Als Frau D. sich kaum traute, etwas Eigenes einzubringen und sich dabei fast hinter ihrer Tochter versteckte, nahm ich an, dass ich für sie in der Übertragung eine Respektsperson war, der sie sich vermutlich wie gegenüber ihren Eltern unterzuordnen hatte. Sie schien sich sicher zu sein, mit ihrem Bericht, mit dem sie mich unterrichten wollte, auch gleichzeitig eine Vorleistung erbringen zu müssen. Vermutlich glaubte sie, nur dann von mir eine Unterstützung bekommen zu können. So wählte sie eine möglichst sachliche Schilderung von Geschehnissen aus der Vergangenheit, ohne dabei offen eigene Forderungen zu stellen. Aus Gründen, die vor dem Hintergrund ihrer Kindheitserfahrungen nachvollziehbar erscheinen, kam für sie vermutlich zunächst nicht infrage, ihre eigentlichen Sorgen und Ansprüche und die damit in Verbindung stehenden Emotionen einem Fremden wie mir gegenüber zu zeigen. Unbewusst, so war mein Eindruck, erreichte sie durch ihr Vorgehen, dass mir Anteile ihrer inneren Welt, die sie nicht geäußert hatte, in der Gegenübertragung gleichwohl zugänglich wurden. Ich nahm an, dass sie nicht nur den heimlichen Wunsch hatte, sich zu verweigern, sondern auch, die anderen dazu zu bringen, sich für sie anzustrengen. Dadurch, dass sie ihre Ansichten und Anliegen nur indirekt mitteilte, z.B. durch die Auswahl bestimmter Themen, zwang sie mich, mich anzustrengen, mir Gedanken darüber zu machen, was sie vielleicht meinen könnte, ohne wirklich sicher sein zu können, mit meinen Vermutungen richtig zu liegen. Auf diese Weise ließ sie mich ansatzweise erleben, wie sehr sie sich wohl anstrengen musste, um ihren in seinem Alkoholismus für sie uneinschätzbaren Vater zu erreichen. Ich wollte die Patientin verstehen, konnte mich also nicht entziehen und war daher unter Druck gesetzt, mich anzustrengen, gleichzeitig der Verunsicherte zu sein und meine Empfindungen scheinbar nicht mitteilen zu können. Ich war auch in der Gefahr, daneben zu liegen, der Aufgabe nicht gewachsen zu sein, mich schuldig zu machen und deswegen abgelehnt zu werden. Ich spürte außerdem, dass es mir zunächst schwer fiel, 63 zu den begleitenden heftigen Affekten einen ausreichenden Zugang zu bekommen. Dies musste ich mir erst bewusst machen, um den inneren Widerstand dagegen überwinden zu können. Dann wurde mir deutlich, dass es um heftige Wut, tiefe Scham und Selbstzweifel, belastende Schuldgefühle und unerträgliche Ängste vor Verlust und Entwertung ging. Nach und nach konnte ich verstehen, warum Frau D. sich in ihrer sachlichen Schilderung bemühte, wohl auch solche Gefühle zu vermeiden und ich nahm an, dass dieser Abwehr auch die Vermutung von Frau D. diente, das Wegdrehen ihrer Tochter sei somatisch verursacht. Als sie mein Interesse spürte und merkte, dass sie sich entfalten konnte, traute sie sich vorsichtig, die sachliche Ebene zu verlassen und Gefühle und wichtige Bedürfnisse einzubringen. Sie deutete dabei auch schon das erhebliche Ausmaß ihrer Verunsicherung, Hilflosigkeit, Selbstzweifel und Verletzbarkeit an. Da jeweils nur eine begrenzte Anzahl von Stunden zur Verfügung stehen, versuchte ich im Verlauf der Gespräche, ihren Prozess der emotionalen Öffnung durch meine Anteilnahme zu unterstützen, ohne ihre Steuerungsfähigkeit durch das Aufkommenlassen zu heftiger Affekte zu gefährden. Daher überließ ich es ihr, zu entscheiden, in welchem Ausmaß sie mir ihre Empfindungen mitteilen wollte. Außerdem versuchte ich durch Ansprechen der intellektuellen Ebene, ihre Möglichkeiten zur Steuerung und Selbstreflexion zu stärken, um die Psychodynamik zwischen ihr und ihrem Kind zu verstehen. Am Ende der Stunde war es ihr in einem ersten Anlauf möglich, das Wegdrehen ihres Kindes nicht mehr nur ausschließlich als Ablehnung zu begreifen, sondern als ein eigenes Bedürfnis ihrer Tochter, sich vorübergehend von der Mutter zu lösen. Sie nahm dies mit deutlicher Erleichterung zur Kenntnis. Dabei war mein Eindruck, dass unser gemeinsamer Versuch, ihre Vorstellungen über ihre Tochter und ihre daraus resultierenden Handlungen zu reflektieren und auch unbewusste Motive mit einzubeziehen, vorerst nur zu einem intellektuellen, aber nicht vertieften emotionalen Begreifen geführt hatte. Ich nahm daher an, dass der neu gewonnene Spielraum, zu veränderten Vorstellungen und Verhaltensweisen zu kommen, noch begrenzt war. Ihre Tochter E. genoss es offensichtlich, in der schützenden Nähe ihrer Mutter, ungestört von den Erwachsenen, frei zu spielen. Dabei schien sie in sich zu ruhen und war aus dieser gesicherten inneren Position heraus gut in der Lage, mit sich allein 64 spielend, neue Spielzeuge auszuprobieren. Neben der Freude und Erleichterung über die inzwischen schon eingetretenen Veränderungen, die die Eltern mitteilen wollten, gingen sie zu Beginn der nächsten Stunde, so ist mein Eindruck, gleichzeitig davon aus, dass sie mich mit einem Bericht und erfreulichen Ergebnissen bedienen müssten. Es war ihnen vermutlich aber auch wichtig, auf diesem harmlosen Weg von ihren eignen Kompetenzen zu berichten. Ich sollte wohl in der Übertragung ein guter Vater sein, der nicht nur Fachwissen besitzt, sondern auch eine Eigenständigkeit der Anderen zulassen und aushalten kann. Dieser mutmaßlich unbewusst eingebrachte Wunsch konnte angesprochen werden, als die Eheleute D. ihr erstes Thema in die Sitzung einbrachten. Sie wollten mit mir darüber sprechen, wie es ihnen gelingen könnte, sich als Eltern einerseits autoritär und andererseits einfühlsam zu verhalten, also so, wie sie es von mir in dem unbewussten Wunsch erwarteten. Sie befürchten in ihrer Autorität zu erdrückend zu sein, so zu sein, wie die eigenen Eltern sich ihnen gegenüber verhalten hatten. Besonders an dem von Frau D. eingebrachten Beispiel der Behandlung durch ihren Vater wurde deutlich, dass sie kaum eine Chance hatte, die Erfahrung zu machen, ihre Empfindungen auch dann mitteilen zu können, wenn sie sich unterordnen und die Autorität ihres Vater anerkennen sollte. So konnten wir den gemeinsamen Versuch unternehmen, zu verstehen, dass gerade in solchen Situationen, wie sie Frau D. erlebt hatte, Gefühle von Machtlosigkeit, Hilfsbedürftigkeit, Ängsten, Schuldgefühlen und Trauer hervorgerufen werden können. Diese stellten vermutlich damals für sie eine deutliche Überforderung dar, die dazu führte, dass sie sich dringend eine Unterstützung wünschte. Da es ihr vermutlich nicht möglich war, die gewünschte Hilfe zu bekommen, dürfte sie sich zwangsläufig sehr eingeengt und allein gelassen gefühlt haben. Erst durch diese Intervention wurde den Eltern bewusst, dass es einen entscheidenden Unterschied zwischen den Vorgehensweisen ihrer Eltern damals und ihren eigenen heute geben könnte. Wenn sie ihr Kind nur in einem Teilbereich begrenzen, weil ihre Grenzsetzung einige Spielräume zum Beispiel für den emotionalen Austausch offen lässt, kann dieses die damit einhergehenden Einengungen als aushaltbar erleben. Als den Eltern die Zusammenhänge zwischen den Erfahrungen ihrer Kindheit und ihrem Verhalten heute verstehbar wurden, versuchten sie sich in die Erlebnisse ihrer Tochter in entsprechenden Momenten hineinzuversetzen. 65 Ich vermutete auch, dass Herrn D. durch das zu dritt geführte Gespräch gemerkt hatte, dass ihm, (der in der Regel nur eine Person, seine Mutter, als Ansprechpartnerin hatte), ein erweiterter Raum auf der äußeren und inneren Ebene zur Verfügung stand, und es ihm dadurch leichter fiel, über seine Probleme und Belastungen zu sprechen. Dass bei der zweiten Sitzung von ihm, als er im Wartezimmer saß, keinerlei Begrüßungssignal ausging, ließ mich später vermuten, dass er einerseits annahm, nicht wirklich wichtig zu sein, und Angst hatte, sich zu melden. Andererseits sah er, als er zur nächsten Stunde allein kam, in mir wohl eine Autoritätsperson, von der er unbewusst erwartete, dass diese Ansprüche an ihn stellen und Druck auf ihn ausüben würde, wie er es aus der Beziehung zu seiner Mutter kannte. Dagegen wollte er sich durch sein Vorgehen wohl unbewusst zur Wehr setzen. Mich brachte er dadurch in der Gegenübertragung dazu, ihn zunächst auch tatsächlich nicht zu bemerken und damit passager ein eigenes Stück Autonomie zu verlieren, mich anschließend für meine Nichtbeachtung schuldig zu fühlen und ihm unter dem Druck der Wiedergutmachung möglichst perfekt entgegen zu kommen. Dadurch geriet ich vermutlich in eine ähnliche innere Situation, wie er sie seinen Eltern gegenüber erlebt hatte. Die spätere Schilderung der Beziehung zu seiner Mutter machte deutlich, dass er, wenn sie ihm als Nesthäkchen vieles abnahm, vermutlich schnell in die Gefahr geriet, seine Eigenständigkeit zu verlieren. Dagegen anzugehen, wurde ihm mutmaßlich durch den moralischen Druck sehr schwer gemacht. Dabei spielten wohl auch Schuldgefühle, Wiedergutmachung und Anstrengungen eine große Rolle. Vermutlich sollte in mir (durch mein Nicht-Bemerken) unbewusst der Wunsch geweckt werden, mich ähnlich wie er, einer männlich rivalisierenden Auseinandersetzung zu entziehen, die darum drohte, weil er sich einerseits von mir etwas sagen lassen wollte, andererseits sich dadurch aber zugleich einer Einflussnahme aussetzte, die ihn zu Widersprüchen veranlassen konnte. Der anschließende Druck, dem ich mich durch sein Schweigen ausgesetzt fühlte, entweder mit dem Gespräch zu beginnen, um ein Zusammenkommen zu ermöglichen, oder einen Beziehungsabbruch zu riskieren, brachte mich mutmaßlich in die Lage, in der er sich seinem Vater gegenüber wohl häufiger fühlte. So konnte ich nach und nach im Laufe der Gespräche eine heftige Wut, Angst vor Zerstörung, Beschämung, Schuld, Selbstzweifel und Hilflosigkeit spüren. Als ich auf ihn am Anfang der Sitzung zuging, reagierte er, wie schon in der Sitzung 66 zuvor, wieder mit Herausstellen des Positiven. Nach und nach schilderte er im Laufe der Gespräche dann Teile seiner Lebensgeschichte, als könnte er sich erst allmählich weiter einlassen. Mir vermittelte er z. T. zwischen den Zeilen eine Angst vor aggressiven Auseinandersetzungen, aber auch generell vor Affektüberflutungen, in denen er früher teilweise seine Steuerungsfähigkeit verloren hatte. Daher verstand ich, dass er sich um eine emotionsarme Schilderung bemühte. Dadurch veranlasste er mich im Verlauf der Sitzungen zu einem Nachfragen nach seinen Empfindungen, mit der Folge, dass er, so war mein Eindruck, ausführlicher von sich erzählte, als von ihm eigentlich geplant war. Die Tatsache, dass ich auf diese Weise in seine Gesprächsgestaltung eingriff, erlebte er nicht nur als unterstützend, sondern mutmaßlich macht es ihn auch wütend. Diesen Ärger zeigte er aber erst in der letzten Sitzung deutlicher, nachdem ich in dieser Stunde auch seine Bedenken mir gegenüber direkt angesprochen hatte. Ich hatte nämlich den Eindruck, dass er mir mit der Schilderung der männlich rivalisierenden Situation an seinem Arbeitsplatz auch unbewusst von seinen Ängsten mir gegenüber etwas mitteilen wollte. Von mir darauf angesprochen, traute er sich, diese Befürchtungen deutlicher zu äußern. Die Erfahrungen aus den Gesprächen, Gefühle zeigen zu können, um verstanden zu werden und überhaupt eigene Anliegen und Bedenken einbringen zu können, führten vermutlich zu einer Änderung seines Verhaltens im Betrieb, was er als große Entlastung erlebte. Dadurch wurden mutmaßlich aber auch seine Ängste vor Abhängigkeiten mobilisiert. Daher, so vermutete ich, begann er, sich in den beiden noch folgenden Sitzungen verstärkt um eine Abgrenzung zu bemühen. Er konnte kaum eine meiner Formulierungen unverändert annehmen. In der Gegenübertragung sah ich mich veranlasst, mich entweder wie er, um eine perfekte Artikulation zu bemühen und ständig anzustrengen, um der Kritik zu entgehen oder mich klein, unsicher und versagend zu fühlen. Daher fragte ich ihn, ob er mich durch sein Verhalten in seine Lage versetzen wollte, damit ich seine Gefühle erlebe und ihn besser verstehe. Darauf reagierte er, wie mir schien, erstaunt, entlastet und erfreut zugleich. Er konnte, da er mir gegenüber nun offener eingestellt war, von meinen Interventionen deutlich profitieren, wie sich durch den späteren Bericht seiner Frau herausstellte. Diese hatte berichtet, dass ihr Mann kaum noch Magenschmerzen habe und es „alles besser gehe“. Das letzte von Frau D. gewünschte Gespräch diente ihr, so war mein Eindruck, hauptsächlich dazu, mir ihre Erfolge mitzuteilen. 67 Weitere psychotherapeutische Hilfen wurden von beiden, vermutlich in Anbetracht des durch die Symptomreduzierungen verminderten Leidensdruckes, nicht gewünscht. 68 3.3 Fall 3: Die jugendliche Mutter 3.3.1 Fallbeschreibung: Ausgangssituation und Gespräche Ausgangssituation Auf Anraten ihrer Kinderärztin und ihrer Betreuerinnen im Mutter-Kind-Heim meldet sich in der Praxis eine sehr junge, gerade 18-jährige Frau M., Mutter eines 6½ Monate alten Sohnes mit Namen G. Frau M. äußert den Wunsch, ein Gespräch haben zu wollen. In Absprache mit der Patientin berichtet am nächsten Tag telefonisch eine ihrer Betreuerinnen, dass das Baby eine leichte Irritierbarkeit zeige, häufig weine und in der körperlich motorischen Entwicklung vermutlich retardiert sei. Außerdem sei aufgefallen, dass das Kind in Belastungssituationen keine sichere Orientierung zur Mutter hin zeige. 1. Gespräch In der Praxis erscheint mit ihrer Betreuerin die jugendliche Mutter eines Babys, das sie heute nicht mitgebracht hat. Sie wünscht auf meine Nachfrage hin, dass die Betreuerin am Gespräch teilnehmen soll. Auf den ersten Blick wirkt sie auf mich (aufgrund ihrer Gesichtszüge) etwas mongoloid, sehr unbeholfen, schüchtern, schlicht und mit der Anfangssituation überfordert. Dabei lächelt sie freundlich, sympathisch. Ich vermute, dass sie bemüht war, durch die Auswahl ihrer Kleidung für die heutige Sitzung attraktiv und ansprechend zu wirken. Gleichzeitig vermittelt sie in dieser und den anderen Sitzungen den Eindruck, als trüge sie ihre Körperlichkeit wie mit gespreizten Fingern vor sich her, als müsste sie sich einerseits dafür ekeln und andererseits gleichzeitig voller Unsicherheit und verdeckter Scham versuchen, mit einem pseudosexuellen Verhalten eine Schutz- und Attraktivitätsfassade aufzubauen. Aufgrund ihrer Unbeholfenheit und einer hintergründigen Angst gelingt ihr dies jedoch nicht wirklich. So wirken ihre Bewegungen wenig natürlich fließend, sondern eher aufgesetzt, gewollt, fast steif und manieriert. Bei mir entsteht durch ihr nonverbales Verhalten die Vermutung, dass ich das Gespräch beginnen muss, wenn es zustande kommen soll. Nach meiner Anregung beginnt sie, von sich zu erzählen, ohne eine wesentliche 69 emotionale Beteiligung nach außen sichtbar werden zu lassen. Mit der Vergangenheit sei sie nicht gut klar gekommen. Auf meine Nachfrage hin, ergänzt sie, ihre Mutter sei bis zu ihrem 16. Lebensjahr wie eine Freundin zu ihr gewesen. Die habe alles mit ihr besprochen, sei immer mit ihr zusammen gewesen. Dann hätten sich die Eltern getrennt. Die Mutter sei zu ihrem Freund gezogen und habe sie einfach hängen lassen. Sie fühlte sich von der Mutter wie „so ein nasser Lappen, einfach weggeschmissen“. Als sie schwanger geworden sei, habe ihr Vater sie rausgeschmissen. Deshalb lebe sie jetzt im betreuten Wohnen, in einem Mutter-Kind-Heim. Vor kurzem habe sie die Eltern mal besucht und festgestellt, dass ihre Mutter mal bei ihrem Freund sei und mal beim Vater. Als sie ihre Ausführungen unterbricht, frage ich sie nach einer kurzen Pause, ob es ihr schwer falle, den Eltern gegenüber etwas zu fordern oder nein zu sagen? Sie teilt mit, dass sie meist eher traurig als wütend werde und schweigt erneut. Daraufhin spreche ich sie wieder an, ob sie sich früher vielleicht auch überfordert fühlte, als die Mutter wollte, dass sie Freundinnen sind, weil sie quasi manchmal eine Art Mutter der Mutter sein sollte; und sie gleichzeitig den Eindruck hatte, sich dagegen nicht zur Wehr setzen zu dürfen. Sie hört, so ist mein Eindruck, interessiert und neugierig zu. Schließlich äußert sie nach einigem Nachdenken, „da könnte etwas dran sein“. Ich fahre fort: „So sind Sie wohl durch viele Erfahrungen der Vergangenheit geprägt worden, zu denen man Sie nicht vorher gefragt hat, ob Sie sie machen wollten oder nicht. Jetzt, da Sie erwachsen sind, könnten neue Erfahrungen, die anders sind als die früheren, Ihnen helfen, neue Spielräume zu gewinnen, z.B. in Bezug auf das Nein- Sagen.“ Während ich auf ihre Antwort warte und überlege, die Patientin auf ihre heutige Lebenssituation mit ihrem Kind anzusprechen, meldet sich die Betreuerin und spricht vorsichtig zwei Themen an, die ihr aufgefallen sind. Zum einen wünsche sich Frau F. manchmal eine Ersatzmutter, da ihr die eigene Mutter wohl sehr fehle. Zum anderen habe sie manchmal den Eindruck, als würde zwischen Frau F. und ihrem Kind eine Barriere, eine Art unsichtbare Scheibe, existieren. Darauf erzählt Frau F., es kämen in ihr manchmal Gedanken auf, wenn sie ihr Baby versorge. Dann frage sie sich: „Wieso habe ich hier schon wieder so viele Aufgaben. Der Vater des Kindes müsste doch eigentlich die Verantwortung übernehmen.“ Als sie diese Erwiderung erst einmal so im Raum stehen lässt, stimme ich ihr zu und biete ihr, 70 da wir uns dem Ende der Stunde nähern, eine begrenzte Anzahl von Gesprächen an, um gemeinsam zu verstehen, wie es ihr und ihrem Baby jetzt gehe, ob es etwas gäbe, was sie gerne verändern möchte, welche Ziele sich daraus ergeben könnten und wie sie diese, vielleicht auch durch eine spätere Psychotherapie, erreichen könnte. Meinem Gesprächsangebot stimmt sie spontan zu. Die Betreuerin wendet sich an Frau F. und schlägt ihr abschließend vor, auch einmal darüber zu sprechen, warum sie gelegentlich im Gespräch wie weggetreten, wie nicht erreichbar, wirke. Aus dem Frau F. mitgegebenen Fragebogen erfahre ich vor der zweiten Stunde, dass ihr Großvater mütterlicherseits, zu dem eine intensive Bindung bestand, verstarb, als sie sechs Jahre alt war. Im Alter von sieben Jahren starb der Großvater väterlicherseits. Als sie sich zum ersten Mal mit vierzehn Jahren in einen 17-jährigen Freund verliebt hatte, starb dieser bei einem Autounfall. Bis heute fühlt sie sich schuldig, „weil ich nicht verhindert habe, dass der Freund in das Auto einstieg.“ Nur vier Wochen später habe sich ihre beste Freundin suizidiert. Auch die Trennung ihrer Eltern trat für sie plötzlich und unvorbereitet ein. Bei einem gemeinsamen Essen teilte ihr die Mutter unvermittelt mit, dass sie mit ihrem neuen Freund wegziehen werde. Sie blieb beim Vater und begann umgehend eine neue Freundschaftsbeziehung zu einem jungen Mann aufzubauen, von dem sie kurze Zeit später, im Alter von 16¾ Jahren, schwanger wurde. Bald darauf verleugnete dieser die Vaterschaft und verließ sie noch in der Schwangerschaft. Nach anfänglicher Zurückhaltung in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten verwies ihr Vater sie aus dem Haus, nachdem sie es abgelehnt hatte, ihr Kind abtreiben zu lassen. Seitdem lebt sie im Mutter-Kind-Haus. Die traumatischen Ereignisse haben dazu geführt, dass jede Todesnachricht in ihr eine panikartige Erregung auslöst, auch wenn Menschen betroffen sind, die ihr vollständig unbekannt sind. Um ihren damaligen Freund auf keinen Fall aus seinen Verpflichtungen zu entlassen, bestand sie auf einer gerichtlichen Bestätigung seiner Vaterschaft. 2. Gespräch Zur zweiten Stunde kommt Frau F. mit einer Freundin, einer pubertär wirkenden 71 Jugendlichen, der gegenüber sie ein wenig reifer wirkt. Sie hat ihr schlafendes, 6 Monate altes Baby mitgebracht, das sie stolz präsentiert. Als ich sie und das in einer Tragetasche schlafende Baby zum Gespräch im Wartezimmer abhole, kommt sie ohne ihre Freundin. Ihr kleiner Sohn G., so erklärt sie, sei heute etwas erkältet und daher müde und eingeschlafen. Nach kurzer Einleitung meinerseits beginnt sie gleich zu erzählen. Ihr Kind habe sie in große Aufregung versetzt, weil es plötzlich aufgehört habe zu atmen und blau geworden sei. Sie sei in helle Panik geraten und habe eine Betreuerin angerufen, die aber erst nach zehn Minuten gekommen sei. Trotz ihrer Panik habe sie sich an die Worte ihrer Mutter erinnert, die einmal gesagt habe, Kinder, die nicht atmen, muss man hochheben und anpusten. Das habe sie sofort getan und zum Glück habe G. daraufhin auch wieder angefangen zu atmen. Nach einer kurzen Pause erwidere ich: „Sie waren sehr erschreckt und hatten panische Angst.“ Sie nickt zustimmend, sagt aber nichts. Ich fahre fort: „Ich könnte mir vorstellen, dass Sie wieder einmal das Gefühl hatten, mit allem allein da zu stehen.“ Dem stimmt sie erneut zu. Daraufhin frage ich sie: „Könnte es sein, dass sie es mit dem Aushalten ihrer Gefühle deswegen besonders schwer hatten, weil sie in vielen Situationen in ihrem Leben den Eindruck hatten, die ganze Last liege allein auf ihrer Schulter?“ Sie denkt darüber nach und stimmt anschließend zu. Ich füge an: „Wenn Sie sich heute in die Gefühle ihres Kindes hineinversetzen, ermöglichen Sie ihm dass, was Sie sich vielleicht immer gewünscht haben.“ In diesem Moment wird ihr Baby wach und fängt an zu schreien. Als sie es aus der Tragetasche hoch nimmt, um es zu trösten, wirken ihre Bewegungen auffällig umständlich, ungeübt, fast holzschnittartig und wenig fließend, als würde sie eine Puppe im Arm halten. Nachdem sich G. auf ihren Armen wieder beruhigt hat, legt sie ihn in die Tragetasche zurück, in der er seine Aufmerksamkeit auf ein darüber hängendes Püppchen richtet, was er mit noch nicht sehr geübten Handbewegungen zu erreichen versucht. Sie beginnt erneut zu erzählen, die Betreuerinnen würden ihr vorwerfen, sie könne nicht mit ihrem Kind umgehen, weil sie es wie eine Puppe behandele. Sie könne sich nicht richtig auf die Bedürfnisse ihres Kindes einstellen. Sie beklagt sich auch darüber, dass die Betreuerinnen jederzeit ins Zimmer kommen können, außerdem hätten diese sie angehalten, mit ihrem Sohn bestimmte Übungen zu machen, obwohl die Kinderärztin 72 ihr zum Abwarten geraten habe. Darüber hinaus hätten sie ihr vorgeworfen, sie dürfe das verordnete Hustenmittel nicht mit den Nasentropfen verabreichen. Sie sei es schließlich leid gewesen und habe die Betreuerin gebeten, zur Kinderärztin mitzukommen. Diese habe sich auf ihre Seite gestellt und das habe ihr richtig gut getan. Sie habe die Betreuerin angehalten, die Vorgehensweise von Frau F. zu akzeptieren, wenn diese nach den Vorschlägen der Kinderärztin zuhause ihr Kind versorge. Ich reagiere: „Sie setzten etwas durch, waren nicht allein, bekamen außerdem Anerkennung und danach haben Sie sich schon lange gesehnt?“ Sie stimmt lebhaft zu. Wir sind am Ende der Stunde und Frau F. nimmt einen dritten Termin sofort an. 3. Gespräch Zur dritten Stunde bringt Frau F. ihren Sohn G. wieder mit. Sie trägt ihn auf ihrem Arm, weil er quengelig ist. Ich hatte für ihn eine weiche Decke auf dem Fußboden ausgebreitet, um ihr die Möglichkeit zu geben, ihn bei Bedarf mit einem Spielzeug darauf zu legen. Sobald sich G. ein wenig beruhigt hat, versucht Frau F. ihr Kind unbedingt auf die Decke zu legen und ihm den Schnuller aus dem Mund zu nehmen. Darauf antwortet G. mit offensichtlichem Unmut und heftigem Schreien. Nun versucht Frau F., einerseits ihrem Baby gerecht zu werden und es zu beruhigen und sich andererseits, so ist mein Eindruck, nach den vermeintlichen Vorgaben von mir zu richten. Dies führt dazu, dass G. weiter schreit und sich Frau F. nicht traut, andere Lösungswege einzuschlagen. Erst als ich sie dazu auffordere, ihr Kind doch wieder auf den Arm zu nehmen, tut sie dieses offensichtlich mit großer Erleichterung auch für G., dessen Unwohlsein vermutlich mit der Luftblase im Magen zu tun hatte, die er durch Aufstoßen gerne los werden wollte (Bäuerchen machen). Als sich G. bald wieder wohler fühlt, äußert Frau F., dass sie die Ursache für sein Unwohlsein schon vorher erkannt hatte. Ich frage sie: „ Kann es sein, dass Sie, wie jetzt eben, einerseits merken, wie es Ihrem Kind geht und was es braucht, andererseits aber unsicher sind, ob Sie dementsprechend handeln und dies auch nach außen zeigen dürfen?“ Daraufhin berichtet sie: „ Ich habe ihm schon ein paar Mal den Schnuller aus dem Mund genommen, obwohl ich merkte, dass er ihn dringend brauchte, weil die Erzieherinnen mir dauernd vorgeworfen haben, ich würde ihm den Schnuller viel zu oft 73 geben. Außerdem muss ich mein Kind jeden Morgen in die untere Etage zu den Betreuerinnen bringen, auch dann, wenn er noch schläft. Denen geht es doch nur ums Prinzip.“ Ich antworte: „Es fällt Ihnen manchmal schwer, wie eben vielleicht mir gegenüber, einen eigenen Weg einzuschlagen, wenn Sie von ihrem Gegenüber erwarten, dass derjenige anderer Meinung sein könnte und es zu einer Gefährdung der Beziehung kommen könnte.“ Sie bestätigt dies und wartet erst einmal ab. Ich fahre fort: „Sie wünschen sich vermutlich, das Sie es eines Tages mit der Umsetzung von eigenen Wünschen und Abgrenzungen leichter haben. Dies würde ja nicht nur Ihnen, sondern über Sie auch ihrem Sohn zugute kommen.“ Sie berichtet, dass sie dies sehr wünsche. Etwas Eigenes zu unternehmen, sei aber schwer, da die Betreuerinnen ihr ständig damit drohen, sie käme mit ihrem Kind sowieso nicht alleine zurecht, sie hätte ja keine Ahnung von Kindern und sollte bloß in der Einrichtung bleiben. Ich halte ihr entgegen: „Die Bedenken Ihres Gewissens im Inneren und was Sie von außen durch die Anderen erfahren, kann es Ihnen einerseits schwer machen, Ihre eigenen Ideen zu äußern und umzusetzen. Andererseits haben Sie sich hier in den Stunden mir gegenüber getraut, zu erzählen, dass Sie darauf bestanden, mit der Betreuerin zur Kinderärztin zu gehen, damit die sich etwas sagen lässt. Auch mir gegenüber haben Sie eben eine eigene Position vertreten, als Sie mir sagten, dass Sie das, was ihrem Kind fehlte, selbst schon erkannt hatten.“ Sie stimmt nachdenklich zu. Wir sind dann am Ende dieser Stunde. 4. Gespräch Zum nächsten Gespräch erscheint Frau F. mit einem jungen Mann, der auf mich in seiner verlegenen Schüchternheit und von der Kleidung her eher wie ein pubertierender Jugendlicher wirkt. Dass es sich dabei um ihren neuen Freund handelt, erfahre ich erst später von ihr. So stelle ich mich ihm vor. Er nennt mir daraufhin seinen Namen: Herr H. Frau F. geht dann mit mir und dem Baby, das sie heute wieder mitgebracht hat, ins Besprechungszimmer. Sie legt es auf die bereit liegende Decke, was es zunächst auch akzeptiert. Anschließend beginnt sie, ihm offensichtlich mit großer Freude Laute und Wörter vorzusprechen, die es ebenso freudig nachzusprechen versucht. Danach versucht 74 G., jetzt fast 8 Monate alt, sich allein vom Rücken auf den Bauch zu drehen, was ihm aber nur mit Unterstützung seiner Mutter gelingt. Er setzt seinen Bewegungsdrang fort, indem er versucht, sich aus der Bauchlage in eine stabile Krabbelstellung hoch zu drücken. Als ihm dies nicht gelingt und er dadurch ein kleines Spielzeug nicht erreichen kann, fängt er an zu weinen. Dabei fällt mir auf, dass er eher mich Hilfe suchend ansieht, als seine Mutter, obwohl ich ihn nicht dazu ermuntert habe. Dieses Mal nimmt Frau F. ihn nach nur kurzem Zögern auf den Arm, um ihn zu beruhigen. Als G. längere Zeit schreit, gibt sie ihm zu trinken und schlägt danach schüchtern vor, ihn zum Schlafen draußen in den Kinderwagen zu legen, wo ihr Freund auf ihn aufpassen könne. Als ich ihr zustimme, bringt sie G. nach draußen. Nach kurzer Pause beklagt sie sich, dass alle 13 Kinder morgens in die Betreuung gegeben werden müssen, damit die Kinder sich an einen festen Tagesablauf gewöhnen könnten, und die Mütter Besorgungen machen könnten. Für ihren Sohn sei das aber nicht gut, „weil sich die Kinder dort Infekte holen könnten“. Außerdem sei er danach „immer ein bisschen durcheinander“, weil dort nur zwei Betreuerinnen für 13 Kinder zur Verfügung stehen. Sie erklärt: „Er ist noch zu klein, es ist dort für ihn zu schwierig, da wird wohl auch viel geweint.“ Daher wolle sie möglichst bald aus dem Mutter-Kind- Heim ausziehen und vorübergehend bei ihrer Mutter wohnen. Allerdings möchte sie dort nicht lange bleiben, da sie ihre Mutter als sehr kontrollierend erlebt habe: „Die neigt dazu, sich einfach ungefragt all meine Sachen anzuschauen und sich damit zu beschäftigen.“ Sie sagt, dass Ihr neuer Freund sie unterstütze. Er habe seine Lehre schon beendet und sei jetzt Malergeselle. Sie berichtet: „Der wollte zunächst kein Kind, inzwischen hat er sich an den Kleinen gewöhnt und tröstet ihn auch, wenn er weint.“ Während wir sprechen, ist von draußen vor dem Haus, wo der Freund offensichtlich mit G. im Kinderwagen spazieren geht, gelegentlich ein Weinen von G. zu hören, was nach kurzer Zeit aber wieder verstummt. Ich wende ein: „Es tut ihnen gut, jemanden an ihrer Seite zu haben. Wenn G. jetzt, wie Sie eben berichtet haben, manchmal weint oder ihnen Unsicherheitsgefühle zeigt, könnten Sie versuchen, sich in seine Lage zu versetzen, um ihn zu verstehen. Sie könnten aber auch eine Neigung entwickeln, sich und Ihren Sohn so schnell wie möglich aus diesen Gefühlen heraus zu bringen, weil Sie solche Empfindungen, mit denen Sie selbst vermutlich häufig allein gelassen wurden, als sehr belastend erlebt 75 haben.“ Sie stimmt nonverbal zu. Ich fahre fort: „So wäre Ihr Vorgehen aus Ihrer früheren Erfahrung heraus einerseits verständlich, andererseits könnte Ihr Sohn, wenn Sie an seinem Erleben teilnehmen, die Erfahrung machen, dass er auch dann von seiner Mutter geschätzt wird, wenn er Belastendes in ihre Beziehung einbringt. Durch die Erfahrung, Anerkennung zu bekommen, kann er Selbstbewusstsein entwickeln.“ Darüber denkt sie erst einmal nach und erwidert dann, dass sie im Gegensatz zu einer Freundin mit ihrer Körpergröße keine großen Probleme habe, obwohl sie ja auch klein sei. Sie trage zwar auch manchmal Schuhe mit hohen Absätzen. Im Großen und Ganzen könne sie sich aber mit ihrer Körpergröße mit einem guten Gefühl sehen lassen, da sie davon ausgehe, dass sie nun einmal so sei, wie sie sei. 5. Gespräch Die nachfolgende Darstellung fasst die wesentlichen Inhalte der weiteren Sitzungen in komprimierter Form zusammen. Vor der anschließenden Stunde, an der erstmals der Freund Herr H. teilnimmt aber nicht der Sohn G., erläutere ich noch einmal, dass die begrenzten Gespräche, die ich hier anbiete, das Ziel haben, durch ein gemeinsames Verstehen von Erwachsenen und Kindern der Vorbeugung zu dienen. Sie bieten aber gleichzeitig auch eine Chance, etwas von dem kennen zu lernen, was auch in einer Psychotherapie passiert. Dort verfolgt man das Ziel, etwas besser zu verstehen und neue Erfahrungen zu machen. Herr H., der eher wie ein Jugendlicher wirkt, macht zunächst auf mich einen schüchternen und etwas abweisenden, verschlossenen Eindruck. Beide beginnen die Stunde mit Schweigen. Ich verspüre einen Druck anzufangen. Gleichzeitig entsteht in mir der Eindruck, wenn ich die Initiative ergreife, werden sie mitmachen, aber nur dann. Ich versuche zunächst, die in diesem Zusammenhang aufkommenden Gefühle zuzulassen und weise anschließend daraufhin, dass wir jetzt Zeit haben für die Themen, die sie besprechen möchten oder zu denen sie sich vielleicht auch eine Hilfe wünschen. Daraufhin betonen beide, keine Hilfe zu benötigen. Ich antworte: „Sie kommen heute gemeinsam und wollen wohl über ihre Anliegen sprechen, aber auch deutlich machen, dass Ihnen Ihre Eigenständigkeit sehr wichtig ist.“ Auf diese Themen gehen beide ein. Im weiteren Verlauf erzählt Frau F., dass es ihr 76 manchmal schwer falle, nein zu sagen. Sie wehre sich oft zu wenig und deswegen habe ihr früherer Freund sie ja so verletzen und enttäuschen können. Es falle ihr schwer, nein zu sagen. Größeren Ärger zu haben, würden sie beide als Stress empfinden. Dem stimmt er sofort zu und berichtet, dass es ihm manchmal auch nicht leicht falle, jemandem etwas abzuschlagen. Ich bringe ein, dass dieses Thema ja auch für G. ein sehr wichtiges sei. Daraufhin fällt ihr sofort ein, dass G. kürzlich unbedingt von ihrer Coca-Cola trinken wollte, und es ihr sehr schwer gemacht habe, bei ihrem Nein zu bleiben. Ich erwidere: „Ihr Gewissen wirft ihnen vielleicht manchmal vor, zu hart und einengend zu sein, sodass Sie dadurch gebremst werden.“ Beide stimmen zu. Ich erkläre: „Wenn Sie ihrem Kind aber ermöglichen, seine Empfindungen zu äußern, die Sie durch ihre Grenzsetzung ausgelöst haben, merkt es, dass gegebenenfalls ein großer Spielraum offen bleibt und nur eine kleine Teilbegrenzung vorliegt. Dann kann er vermitteln, wie traurig, ärgerlich oder enttäuscht er gerade ist. Wenn Sie sich auf seine Gefühle einlassen können, passiert vielleicht das, was Sie sich früher in ihrer Kindheit gewünscht haben, nämlich eine Verteilung der emotionalen Last auf mehrere Schultern.“ Beide hören, so ist mein Eindruck, interessiert zu und beginnen über das Gesagte nachzudenken. 6. Gespräch Zur nächsten Stunde bringen sie G. wieder mit, da sie niemanden hatten, der auf ihn aufpassen konnte. Ich schlage ihr vor, doch auch einmal zu einer Stunde allein zu kommen, weil mir aufgefallen sei, was sie sehr persönlich betreffe und ich gerne erst einmal mit ihr alleine dies besprechen würde. Dem stimmt sie zu. G., inzwischen 9 Monate alt, ist jetzt in der Lage, sich zu drehen. Er kann sich auch allein vom Boden mit beiden Oberarmen abstützen und diese Position halten. Ein Krabbeln ist noch nicht vollständig möglich, wohl aber ein begrenztes Nach-vorne- Schieben. Mit der Möglichkeit, sich immer wieder zwischenzeitlich hauptsächlich an seine Mutter wenden zu können, greift er die unterschiedlichen, sich ihm bietenden Gelegenheiten auf, Bewegungen auszuprobieren bzw. Gegenstände, die sich in seiner Reichweite befinden, zu erkunden und damit zu spielen. Damit ist er im Verlauf der Stunde gut beschäftigt und zufrieden. 77 Die Eltern berichten davon, dass Herr H. eine Kamera mitgebracht habe, um damit in einem Internet-Chatroom Livebilder zu übertragen und von anderen Teilnehmern zu empfangen. Im Beisein ihres Freundes habe sie ein fremder Mann bedrängt, sich auszuziehen, wenn sie nicht als verklemmt und prüde dastehen wollte. Sie habe einen starken Druck verspürt, sich gegen die Behauptungen des Mannes, prüde zu sein, umgehend wehren zu müssen. Ihr Freund ergänzt, dass sie daraufhin ihren Oberkörper frei gemacht habe, obwohl er dagegen protestiert habe. Als er einmal kurz zur Toilette gegangen sei, habe sie sich sogar bis auf die Unterhose weiter entkleidet. Sie verteidigt sich, dass sie auf keinen Fall weiter gegangen wäre, egal was dieser Mann auch immer gesagt hätte. Sie wolle sich von ihm (ihrem Freund) keine Vorschriften machen lassen. Nach einem Streit zwischen den beiden, bringe ich ein: „Wenn Sie einen Eingriff in Ihre Eigenständigkeit befürchten, können oder müssen Sie sich wehren. Das Ausmaß, dies zu tun, wird aber auch davon abhängen, wie sehr sie einander vertrauen und sich sicher sind, sich aufeinander verlassen zu können.“ Beide äußern auf mein Nachfragen hin schließlich, dass sie wechselseitig damit rechnen, vom Anderen verlassen zu werden. An dieser Stelle entwickelt sich zu diesem Thema folgende Gesprächssequenz. Ich frage: „Gibt es neben den Gefühlen von Ärger noch eine ganze Reihe anderer Gefühle, wie Angst, Unsicherheit, Verletzt sein und Trauer, über die zu sprechen Ihnen vielleicht auch deswegen schwer fällt, weil sich schon früher bis in ihre Kindheit hinein kaum jemand für Sie interessierte, wenn sie diese Gefühle erlebten. So sind Sie vielleicht, weil sie immer wieder damit allein gelassen wurden, schließlich davon ausgegangen, mit solchen Erlebnissen auch allein fertig werden zu müssen. Heute kommen Sie darum nur noch selten auf die Idee, sich diesbezüglich mitzuteilen.“ Nachdenklich, betroffen und ein wenig schüchtern nehmen sie diese Gedanken zustimmend auf. Zum Ende der Stunde kann ich dann mit ihnen verstehen, dass G. uns in dieser Sitzung lebhaft seine Gefühle mitgeteilt hat, weil er noch mit natürlichem Vertrauen davon ausgeht, dass er damit auf Interesse stößt und schon gemerkt hat, wie wohl er sich fühlt, wenn andere auf ihn eingehen und Anteil nehmen. 7. Gespräch Wie verabredet kommt Frau F. zum nächsten Gespräch allein. Sie schildert, dass sie den Vater ihres Kindes und seine Familie am Anfang sehr nett fand und deswegen fast dort 78 eingezogen sei. Sie habe sich, da beide das wollten, auf eine sexuelle Beziehung eingelassen. Bis zum vierten Schwangerschaftsmonat, „bis seine Eltern rauskriegten, dass ich schwanger war“, hielt er zu ihr. „Dann hat er mich radikal stehengelassen und sich total von mir entfernt.“ Ihr Vater sagte: „Du kannst bleiben, bis das Kind zur Welt kommt, danach musst Du raus.“ Die Mutter unterstützte sie auch nicht. Die Eltern drängten sie, das Kind abzutreiben bzw. zur Adoption freizugeben. Das sei für sie der reinste Horror gewesen, weil sie allein dastand und der Vater des Kindes die Vaterschaft auch noch verleugnete, sogar vor Gericht habe er gelogen, „dass die Balken sich bogen.“ Sie sorgte durch den gerichtlichen Nachweis der Vaterschaft aber dafür, dass er sich seiner Verantwortung nicht entziehen konnte. Mir fällt auf, dass sie auch beim Erzählen dieser Ereignisse nicht weint. Sie sei dann zunächst sehr froh gewesen, dass sie in das Mutter-Kind-Heim ziehen konnte. Sie schildert, dass die Betreuer ihr dort jetzt nicht erlauben, zur Schule zu gehen. Sie hätten gesagt, sie sei noch zu häufig krank, ihr Sohn brauche sie noch zu sehr. Sie will demnächst aber auf jeden Fall die Mittlere Reife machen und einen eigenen Beruf erlernen. Ich signalisiere zunächst Verständnis für ihre Wünsche. „Sie wirken auf mich wie eine Frau, die sich nur sehr vorsichtig traut voranzugehen, weil Sie sich nicht sicher sind, ob Sie wirklich festen Boden unter ihren Füßen haben.“ Sie stimmt mit leicht traurigem Unterton zu. Da wir uns dem Ende dieser Stunde nähern, schlage ich ihr vor, darüber nachzudenken, ob die inneren Lasten auf ihrer Schulter sie immer wieder überfordern und dies mit dazu beiträgt, dass der Boden unter ihren Füßen schwankt. Ich rege an, dass eine Begleitung in einer eigenen Psychotherapie jetzt sehr hilfreich wäre. Sie denkt darüber nach und lässt sich von mir Adressen von PsychotherapeutInnen geben. 8. Gespräch Zu den nächsten beiden Sitzungen erscheint das Paar wieder gemeinsam mit dem Kleinen. Auch unterstützt durch die Krankengymnastik, die er erhält, kann er inzwischen krabbeln und sich an Gegenständen hoch ziehen. Anhand der Themen, die seine Mutter und ihren Freund heute beschäftigen, und der kleinen Probleme, die sich hier in der Stunde mit G. ergeben, versuchen wir, ihre Konflikte mit dem Kind, aber 79 auch untereinander zu verstehen. G. wird von seiner Mutter sehr gelobt, als er es in der Stunde erstmals schafft, sich aus dem Stand langsam wieder in die Sitzposition herunter zu bewegen, ohne sich das letzte Stück fallen zu lassen. Im weiteren Verlauf wendet er sich immer wieder zwischendurch beiden zu, um sich streicheln oder trösten zu lassen. Bei kleineren Grenzsetzungen, die gelegentlich vorkommen, zeigt sich, dass seine Mutter ihm nicht so gerne Frustrationen zumutet. Da er sich während der Sitzung im Wesentlichen mit dem spielerischen Erkunden des Raumes und Ausprobieren von Spielsachen selbst beschäftigt, ohne dabei in Gefahrensituationen zu geraten, beginnt Frau F. zu erzählen: Ihr Freund habe ihr vor ein paar Tagen nur mitgeteilt, dass er einen Termin habe, und sei gegangen. Anschließend wollte er darüber nicht mit ihr reden. Das mache sie misstrauisch. Als er sein Vorgehen jetzt in der Sitzung noch einmal wiederholt und bekräftigt, kommen beide auf ihren Positionen beharrend nicht weiter, sodass ich meine Hilfe anbiete. Ich teile ihnen meine Vermutung mit, dass sie außer dem Ärger noch andere Gefühle spüren, die sie sich aber aus unterschiedlichen Gründen nicht zeigen. Außer der Angst, verletzt und eingeengt zu werden, könnte auch eine Rolle spielen, dass sie zu wenige Chancen im Leben hatten, bestimmte hilfreiche Erfahrungen zu machen. Ich erkläre: „Unsicherheits- und Hilflosigkeitsgefühle kann man leichter äußern, wenn man die Erfahrung machen konnte, dass durch ein Anteilnehmen und Verstehen von Anderen die innere Belastung wesentlich verringert wurde. Weil Ihnen diese Erfahrung aber vermutlich wenig geboten wurde, kommen Sie vielleicht heute nicht so schnell auf die Idee, von der Mitteilung dieser Empfindungen ein Verstehen oder eine Entlastung zu erwarten. So kennen sie wahrscheinlich beide diese Gefühle gut, sind vielleicht sogar Spezialisten in diesem Bereich. Sie konnten sich aber aufgrund ihrer Vorgeschichte, vermutlich kaum trauen oder es auch nur sinnvoll finden, darüber zu sprechen.“ Beide schweigen nachdenklich und äußern dann, dass sie diese Gefühle sehr gut kennen, aber meistens mit der Bewältigung allein gelassen wurden. Mit meiner Bemerkung, dass sie heute G. neue Erfahrungen ermöglichen können, die ihnen in der Kindheit nicht zugänglich waren, und dass sie diese aber im geschützten Rahmen einer eigenen Psychotherapie auch selbst vielleicht machen könnten, beenden wir diese Sitzung. 80 9. Gespräch In dem folgenden Gespräch bringt Frau F. als Thema ihre Forderungen nach „romantischen Abenden“ ein. Prinzipiell sei es Aufgabe des Mannes, die Frau auszuführen, ihr romantische Abende zu bieten mit schönem Essen, Kerzenlicht und Rosenblättern. Er antwortet ihr, dass sie ihm gesagt habe, dass er das machen müsse und dabei ziehe er nicht mit. Nach einigen Wiederholungen ihrer Standpunkte wissen beide bald nicht weiter. Ich äußere meine Vermutung, dass sie beide Gründe haben, so intensiv auf ihren Forderungen zu bestehen. Sie beginnt zu erklären, sie habe immer die Männer bedient und sei dabei enttäuscht und verletzt worden, dies wolle sie auf keinen Fall noch einmal erleben. Nach und nach ergänzt sie, sie sei unsicher, ob sie wirklich das bekomme, was sie brauche und daher müsse sie Druck ausüben. Er erläutert daraufhin seinen Standpunkt: Er habe sich einmal um eine Freundin sehr gekümmert, viele ihrer Wünsche erfüllt und am Ende sei er doch von ihr kalt stehengelassen worden. Auf mein Nachfragen hin ergänzt er noch, dass es ihm schwer falle, darüber zu sprechen, da er sich dafür schäme, dass er so etwas mit sich habe machen lassen. Beide wirken am Ende dieses Gespräches erleichtert. 10. Gespräch Es finden noch zwei letzte Sitzungen in Anwesenheit von G. statt. An der ersten nimmt Frau F.s Freund, Herr H. teil, zur letzten kommt sie allein. Im Mittelpunkt steht diesmal G., der nun schon alleine laufen kann und dem seine Mutter, wie sich bald zeigt, schlecht Grenzen setzen kann. Auf ihre Aufforderungen reagiert er kaum. Wenn er eine für ihn vermutlich wichtige Aktion gestartet hat, tut er meist so, als hätte er nichts gehört. Erst wenn sie eingreift und ihn dadurch hindert, seine Handlung weiter fortzusetzen, lässt er sich stoppen. Dabei fällt mir auf, dass sie ihm nur ungenau mitteilt, worin genau sie ihn begrenzen möchte. Zum Beispiel darf er hinten um die Stühle der Erwachsenen zunächst herumgehen, was ihm, da er sich dabei quasi verstecken kann, großen Spaß macht. Er begreift daher nicht, warum er sich nun nicht hinter einen weiteren Sessel begeben darf, hinter dem sich eine für ihn attraktive elektrische Schnur einer Lampe mit Stecker befindet. Vorher hatte er 81 an einer anderen Stelle im Zimmer schon einmal versucht, mit einer elektrischen Schnur bzw. einer Steckdose zu spielen, was ihm erst im allerletzten Moment von seiner Mutter verboten worden war. In diesem Falle hatte Frau F. ihm untersagt, um den Sessel herumzugehen, obwohl sie ihm eigentlich, wie sich durch Nachfragen später herausstellte, nur das Spielen mit der Elektrik untersagen wollte, was auch leicht möglich gewesen wäre, wenn sie es ihm eindeutig gesagt hätte. Als wir dann überlegen, dass sich Kinder durch ein klares Benennen und Einfordern von Grenzen eine Orientierung wünschen, um sich geschützt fühlen zu können, kann sie dem zwar theoretisch gut folgen, äußert aber die Befürchtung, ihr Kind dabei mit Frustrationen zu überfordern. 11. Gespräch Sie fordert mich in der letzten Sitzung auf, ihr zu zeigen, wie sie es machen könnte. Daraufhin hindere ich bei einer nächsten entsprechenden Gelegenheit G. daran, nach kurzer verbaler Aufforderung, die er nicht befolgt, die gesetzte Grenze zu überschreiten. Dieses Verhalten setze ich fort, als er nach meiner Freigabe gleich wieder erneut hartnäckig weiter machen will. Ich halte ihn und sage ihm so lange, dass er an dieser Stelle nicht weiterkommt, bis er nachgibt. Gleichzeitig gehe ich auf seine Unmutsäußerungen ein, wodurch er sich offensichtlich verstanden fühlt. Er wendet sich noch kurz zu seiner Mutter, um sich anzulehnen und beginnt dann von neuem, mit einem Bauklötzchen zu spielen. Zu Beginn der Stunde hatte sie bereits mitgeteilt, dass eine Therapeutin ihr geraten habe, erst einmal eine eigene Wohnung zu beziehen und den Schulbesuch wieder aufzunehmen, bevor eine Therapie in Frage käme. Daraufhin habe sie einen Therapeuten aufgesucht, den ich ihr auch genannt hatte. Dieser habe ihr weitere Gespräche angeboten und einen Therapieplatz in Aussicht gestellt. 3.3.2 Psychodynamische Überlegungen Fall 3 Auf der dem direkten Erleben zugänglichen, bewussten Ebene wirkt die Patientin in den Sitzungen einerseits unbeholfen, etwas eingeschüchtert und ängstlich abwartend, andererseits versucht sie, durch Kleidung und Auftreten eine erotisch getönte Fassade 82 aufzubauen und dadurch Akzeptanz und Zuwendung zu erreichen. Auf der unbewussten Ebene verdichtet sich nach und nach in der anfänglichen Schweigepause bei mir der Eindruck, dass ich in eine Drucksituation hinein gerate: Als gäbe es keine Chance zusammenzukommen, wenn ich das Gespräch nicht beginne. Als müsste ich zusätzlich damit rechnen, dass die Patientin wütend den Raum verlässt und mich hilflos sitzen lässt. Ich vermute, dass Frau F. in mir unbewusst eine Autoritätsperson sieht, von der sie jederzeit erpresst werden könnte und bei der sie nur die Möglichkeit hat, die Situation umzudrehen, wenn sie dem Druck entgehen will. Außerdem spüre ich, ebenso wie in den darauf folgenden Sitzungen, dass ich schnell in die Position des idealisierten Guten oder entwerteten Schlechten hinein geraten kann. Vermutlich lässt mich die Patientin in meiner Gegenübertragung erleben, was sie selbst wohl in ihrer Kindheit zugemutet bekam. Ich bekomme den Eindruck, dass ich mich scheinbar dem Druck beugen muss, um der Idealisierte, Akzeptierte sein zu können. Falls ich auf einen Rest Eigenständigkeit bestehe, werde ich entwertet, abgelehnt und einem aggressiven Handeln ausgesetzt. Die dazu gehörigen Affekte stellten sich auffälligerweise erst ein, als ich mir ihr Fehlen bewusst machte. Dann erst spürte ich in Ansätzen, die archaische Wucht der beteiligten Gefühle von machtvollem Zorn, Beschämung, Ohnmacht und Trauer. Erst gegen Ende des ersten Drittels der Stunde nahm ich wiederum in der Gegenübertragung auch eine große Sehnsucht nach Akzeptanz und Anlehnung wahr, die sich Frau F. offensichtlich nicht zu äußern traute. So fragte ich mich, ob auch diese Phänomene mit der Patientin zu tun hatten, die in allen Gesprächen außer einem freundlichen Lächeln fast nur Emotionen zeigte, wenn es um ihr Kind ging. In mir entstand, durch ihr emotionsloses, fassadenhaftes Auftreten die Vermutung, dass Frau F. in der Übertragung in mir jemanden sah, dem gegenüber sie es als problematisch ansah, Emotionen zu äußern, da sie mich für die Aufnahme und Verarbeitung ihrer Affekte als nicht ausreichend interessiert erlebte. Gleichzeitig fühlte ich mich einer von ihr ausgehenden Beeinflussung ausgesetzt, mich tatsächlich auch so emotionsabgewehrt zu verhalten. Ich hatte außerdem den Eindruck, dass sie diese Übertragung nicht nur mir gegenüber zeigte, sondern sich für gewöhnlich in allen anderen Beziehungen genauso verhielt, ohne sich im Einzelnen ihr Vorgehen bewusst zu machen. 83 Daher ging ich von der Annahme aus, dass sie sich mit diesen Projektionen und der konkretistischen Darstellung ihrer Lebensgeschichte bzw. ihrer Anliegen vor enttäuschenden emotionalen Abweisungen ebenso schützen wollte wie vor zu heftigen archaischen Affektdurchbrüchen. Diese Annahmen wurden nicht nur durch ihre Mitteilungen im Fragebogen und im Verlauf der Gespräche bestätigt, sondern deuteten sich auch schon in den Ausführungen der Betreuerin an, als diese Frau F. als manchmal unnahbar beschrieb und Frau F. in diesem Zusammenhang ihre Wut auf den Vater ihres Kindes erwähnte, über die sie in Gegenwart ihres Kindes mutmaßlich die Kontrolle nicht verlieren wollte. Dies veranlasste mich in dieser und verstärkt in den darauf folgenden Stunden, ihre vermutlich nicht geäußerten Emotionen zunächst in mir zu zulassen, sie später ihr gegenüber zu benennen, um sie bestenfalls in erträglicher Weise gemeinsam erlebbar zu machen. Ihr Vorgehen respektierend versuchte ich außerdem, sie durch Nachfragen und Einbringen eigener Interventionen in ihren Fähigkeiten zu stärken, eigene Einfälle einzubringen, Zusammenhänge zu durchschauen und neu zu verstehen. Nachdem sie die Erfahrung gemacht hatte, dass ich ihre Gestaltung der Sitzung akzeptierte und sie mich als Begleiter annehmen konnte, sprach ich sie auf einige von ihr angedeutete, aber vermutlich nicht bewusste Konflikte an. Sie zeigte Interesse an einem gemeinsamen Verstehen, sodass wir weitere Sitzungen verabreden konnten. Die biographischen Mitteilungen aus dem Fragebogen, die bisherige Gestaltung der Übertragung, sowie vor allem die in der Gegenübertragung vermittelten Affekte ließen erste Hypothesen darüber zu, wie sich die Beziehungserfahrungen der Vergangenheit auf ihre innerpsychische Entwicklung ausgewirkt haben könnten. Ich ging davon aus, dass im Zusammenhang mit dem sich abzeichnenden unbewussten Konfliktgeschehen mit Affekten von zum Teil archaischer Heftigkeit zu rechnen war. Außerdem schien mir ihre konkretistische Darstellungsweise auf eine mangelnde Symbolisierungsfähigkeit hinzuweisen, die sich aus den defizitären frühen Erfahrungen ihrer Kindheit und den daraus resultierenden unzureichenden inneren Repräsentanzen ergeben hatte. Die damit im Zusammenhang stehende Schwächung ihrer inneren Steuerungsfähigkeit führte unter anderem zu der Notwendigkeit entsprechender Abwehrmechanismen der schnellen Projektion (Aufbau von Feindbildern) und der Aufspaltung in überwiegend gute bzw. negative Vorstellungsbilder in Beziehungen, sowie bei Versagen derselben zur Gefahr 84 der emotionalen Überflutung und des Verlustes der Steuerungsfähigkeit. Daher entschloss ich mich zu einer Unterstützung ihrer Ich-Funktionen und zu einem vorsichtigen Bewusstmachen unbewusster Konfliktanteile. Hauptsächlich geschah dies von der Position außen stehender Dritter, die auf frühere Ereignisse zurückschauen, und nur vereinzelt direkt aus dem unmittelbaren Beziehungsgeschehen heraus. In den anschließenden Sitzungen wurde die Auswahl ihrer Themen und geschilderten Erlebnisse vermutlich auch durch ihre an mich gerichteten unbewussten Ansprüche und Befürchtungen beeinflusst. Ich ging davon aus, dass sie mir z.B. mit der dramatischen Schilderung des Atemstillstandes ihres Kindes deutlich machen wollte, dass sie mit der Befürchtung kam, im Zweifelsfall immer allein dazu stehen. Ebenso dienten wohl ihre Erlebnisse mit den Betreuerinnen der Vermittlung ihrer Angst, in Beziehungen zu sehr eingeengt zu werden. Gleichzeitig wollte sie aber auch auf ihre eigenen Kompetenzen und deren Würdigung und Anerkennung unbewusst hinweisen. Für mich ergab sich damit die Möglichkeit, sowohl anhand der geschilderten äußeren Ereignisse, als auch aus dem unmittelbaren Kontakt heraus, mit ihr über die eingebrachten Abgrenzungskonflikte ins Gespräch zu kommen und ihr gleichzeitig neue Erfahrungen zu ermöglichen, z.B. als sie sich zunächst nicht getraut hatte, ihr Kind zum „Bäuerchen machen“ auf den Arm zu nehmen. Nachdem sie weiteres Vertrauen entwickeln konnte, brachte sie auch ihren neuen Lebenspartner mit zu den Sitzungen. Das ihr ja früher in einer Dualbeziehung hauptsächlich ihre Mutter als Ansprechpartnerin zur Verfügung gestanden hatte, war es ihr vermutlich wichtig, Spielräume zur Teilnahme einer weiteren Person zu eröffnen, nachdem die bisherigen Gespräche überwiegend zu zweit geführt wurden. Außerdem wollte sie wohl nicht nur über ihre Schwierigkeiten mit ihrem Sohn reden, sondern auch über die mit ihrem Freund. Zum wiederholten Male musste das Paar, so war mein Eindruck, zunächst eine Anerkennung ihrer eigenen Kompetenzen einfordern, um sich in der Sitzung auch auf die Rolle derjenigen einzulassen, die sich etwas sagen lassen. Aus der unmittelbar erlebten Gestaltung ihrer Beziehung zu ihrem Sohn konnte ich mit ihr die emotionalen Bedürfnisse ihres Kindes und ihren Umgang damit vor dem Hintergrund ihrer eigenen Prägungen und Konflikte verstehen und dieses Zusammenspiel auch in Bezug auf ihren Freund auf die Ebene einer erwachsenen Partnerschaft übertragen. Mich hatte sehr erstaunt, dass sich ihr Kind, als es Hilfe suchte, eher an mich wandte, 85 als an seine Mutter. Daher nahm ich an, dass sich in dem emotionalen Kontakt zwischen ihr und ihrem Kind Defizite in Bezug auf Verstehen, sich Einlassen, Halt gebender Anteilnahme und Schutz vermittelndem Besorgtsein ergeben hatten. Einerseits hatte sie berichtet, dass es ihr manchmal selbst dann schwer fällt, auf G.s Bedürfnisse einzugehen, wenn sie wusste, dass er ihre Hilfe dringend brauchte, weil ihr die Gefahren noch problematischer erschienen, die von einer vermeintlich drohenden Auseinandersetzung mit anderen ausgehen könnten, wie hier in der Stunde mir gegenüber. Andererseits hatte sie immer wieder Schwierigkeiten, ihm zu seinem eigenen Schutz Grenzen zu setzen. Darüber hinaus vermutete ich, dass sie auch häufiger mit ihm einen emotionalen Austausch vermied, wenn ihr z.B. die entlastende Wirkung eines solchen innerlich nicht ausreichend präsent war oder sie sich einem solchen bewusst oder unbewusst nicht gewachsen fühlte. In diesem Zusammenhang war mir immer wieder ihr gestelzter und unsicher wirkender Gang aufgefallen. Ich vermutete, dass sie sich häufig am Rande ihres psychischen Gleichgewichtes bewegte und sich daher ihre Unsicherheit und ihr Alarmiertsein auch in ihren Bewegungen, insbesondere in ihrem Gangbild, bemerkbar machten. Dies ließ in mir den Eindruck entstehen, als ginge sie auf dünnen Eis und würde ständig damit rechnen einzubrechen. Ich ging daher davon aus, dass es ihr schwer fiel, eigene Ohnmachtsgefühle zu empfinden und aus dieser Fähigkeit heraus, Frustrationen ihres Kindes an sich heran zu lassen, um diesem ein Halt vermittelndes Miterleben anzubieten. All diese, eine Mutter-Kind-Beziehung in ihrer Stabilität gefährdenden Schwierigkeiten, wirkten sich auch auf G.s Lernverhalten aus, dem dadurch eine ausreichend sichere emotionale Grundlage fehlte. Weil er die kleinen, das Lernen begleitenden Frustrationen schlecht aushalten konnte, mangelte es ihm an Ausdauer. In der Folge lag er unter anderem in der Entwicklung seiner Motorik deutlich zurück, ohne dass hierfür körperliche Ursachen vorlagen. Daher lud ich sie zu einem Einzelgespräch ein, um darüber mit ihr zu sprechen und ihr eine Psychotherapie zu empfehlen. In diesem Gespräch schilderte sie ihre schlimmsten Erfahrungen, wie sie von dem Vater ihres Kindes brutal stehen gelassen wurde, nachdem sie ihm intensiv getraut und auf ihn ihre ganze Hoffnung gesetzt hatte. Die dazu gehörigen Affekte konnte sie im Gespräch mit mir nur vage andeuten, wohl aus der Angst, bei Kontakt mit diesen Gefühlen ihr 86 inneres Gleichgewicht zu verlieren und nicht aufgefangen zu werden. Darauf angesprochen, bestätigte sie ihre Unsicherheit und Angst, den Boden unter den Füssen zu verlieren. Dies war wohl auch der Grund dafür, dass sie die vielen Todesfälle, die sie in der Vergangenheit erlebt hatte, in dieser Stunde nicht erwähnte. Nachdem sie auch ihre eigenen Einfälle und Lösungsvorschläge eingebracht hatte, ließ sie sich von mir zum ersten Mal Adressen von Psychotherapeutinnen geben. In den Beziehungsthemen, die Frau F. und Herr H. mit in die weiteren gemeinsamen Stunden einbrachten, neigten sie einerseits zu einen schnellen Aufbau von Feindbildern (Projektionen), die sie zunächst für reale Abbilder hielten und die daher ihren Umgang miteinander bestimmten. Erst durch meine Interventionen ergaben sich dann Möglichkeiten zur Korrektur, die ihnen wohl in ihrer Kindheit, in der eine dritte ausgleichende Person nicht zur Verfügung stand, nicht zugänglich gewesen waren. Andererseits waren diese klaren „Feindbilder“ aber wohl auch notwendig. Sie ermöglichten ihnen, genügend Aufmerksamkeit und Aktivität zu entfalten, um der aus ihrer Sicht drohenden Gefahr des schnellen Autonomieverlustes zu begegnen, die aus ihrem mangelnden Selbstwertgefühl und ihren Abgrenzungsschwierigkeiten resultierten. Wie leicht ihre Autonomie aktuell gefährdet war, zeigte sich, als Frau B. von ihrem Verhalten im Internet-Chatroom erzählte und sich erwies, dass sie nur mit Mühe in der Lage war, unter Anerkennungsdruck ihre persönliche und körperliche Integrität zu bewahren anstatt sie zugunsten einer pseudoerotischen Anbiederung selbst für einen sehr geringen Gegenwert infrage zu stellen. Ebenso wurde anhand der Schilderung ihres Wunsches nach „romantischen Abenden“, den sie an ihren Freund gerichtet hatte, sichtbar, wie wenig sie davon ausgeht, verstanden zu werden. Diese Annahmen hatten zum Aufbau heftiger Feindbilder geführt, sodass sie glaubte, ihren Freund zur Zärtlichkeit geradezu zwingen zu müssen. Einen solchen Zwang wollte sie ihrem Kind gegenüber natürlich vermeiden und konnte ihm daher kaum eine Grenze setzen. Offensichtlich geht sie im Fall von Begrenzungen davon aus, demjenigen, der die Machtseite vertritt, nichts entgegen setzen zu können. Es fehlt ihr an der Erfahrung, in diesem Moment kommunizieren zu können, um dem Gegenüber eine Rückmeldung über die Folgen, die er ausgelöst hat, zu vermitteln, damit eine Abstimmung gewährleistet ist. Daraus resultierte ihre Erfahrung, dass Grenzsetzungen und Regeln aus ihrer Sicht meist in eine Alles-oder-Nichts- 87 Konstellation führen, in der eine Seite die vollständige und die andere nahezu keine Macht besitzt. Da sie auf die Idee eines emotionalen Austausches in einer solchen Situation also kaum kommen konnte, um z.B. ihr Kind zu verstehen und trotzdem eine Abgrenzung beizubehalten, bat sie mich, ihr eine solche einmal zu zeigen. Diesem Wunsch stimmte ich zu. Bei passender Gelegenheit verbot ich G. mit einem elektrischen Stecker und der Steckdose zu spielen, und öffnete mich gleichzeitig den von ihm gezeigten Emotionen. Mir wurden in den Sitzungen Frau F.s fehlende positiven Beziehungserfahrungen sowohl auf der äußeren, wie auch auf der inneren Ebene sehr deutlich und ich war daher erleichtert, als sie mir von der Aufnahme von Gesprächen mit einem Therapeuten berichtete, mit dem sie den Beginn einer Psychotherapie verabredet hatte. 88 3.4 Fall 4: Der vermeintlich große kleine Rebell 3.4.1 Fallbeschreibung: Ausgangssituation und Gespräche Ausgangssituation Von seinen Eltern, Herrn und Frau K., wurde im September 2003 ein elf Monate alter, ausgesprochen netter Junge mit Namen I. zusammen mit seiner knapp zweijährigen Schwester J. vorgestellt. Schon bei der telefonischen Anmeldung hatte die Mutter mitgeteilt, dass I. etwas zu früh geboren worden war und deswegen kurzfristig im Brutkasten versorgt werden musste, ohne dass neurologische Schädigungen aufgetreten waren. Später habe er häufig geschrieen, weil er Schmerzen hatte, die meist körperlich bedingt waren. 1.Gespräch Zum ersten Gespräch erscheint Herr und Frau K. gemeinsam mit ihren beiden Kindern. Der Vater ist mitgekommen, um zu verdeutlichen, wie wichtig ihm die Belange seiner Familie sind. Abwechselnd tragen beide Eltern ihre Anliegen vor und versuchen dabei, alle lauten Töne möglichst zu vermeiden. Sie berichten, dass sie von I.s Verhalten völlig genervt seien. Des Öfteren können sie sein andauerndes, mal wütendes, mal jämmerlich-hilfloses Schreien nicht abstellen. Dies mache sie nicht nur wütend, sondern lasse sie schier verzweifeln. Sie seien auch manchmal ratlos, wüssten einfach nicht mehr, was sie noch machen könnten. Mein Eindruck ist, dass diese Eltern endlich einmal einer außen stehenden Person ihre Daueranstrengung und Verzweiflung mitteilen wollen. Als sie merken, dass ihnen der Raum für die Schilderung ihrer Erlebnisse gelassen wurde, können sie sich mehr und mehr emotional öffnen. Erst danach tragen sie die Vorgeschichte ihres Kindes vor. Der Sohn I. habe in der Zeit, als körperliche Ursachen festgestellt wurden, immer wieder Schmerzen gehabt, ohne dass die Eltern sie durch aktives Handeln lindern konnten. I. habe seine innere Not durch heftiges lang anhaltendes Weinen zum Ausdruck gebracht. In den Eltern wurden dadurch Ohnmachtsgefühle wachgerufen, wie sie zwischen den Zeilen andeuten, die ihnen sehr unangenehm waren. Dieses hatte zur Folge, dass sie alles zu vermeiden versuchten, was für ihn ein Anlass zum Schreien 89 hätte sein können. Ohne dass es ihnen richtig bewusst geworden war, hatte dies dazu geführt, dass sie ihm möglichst milde oder weniger Grenzen gesetzt hatten. Dass dies der Fall war, wurde ihnen erst richtig klar, als sie im Gespräch durch Nachfragen darauf aufmerksam gemacht werden. Da die körperlichen Ursachen inzwischen erfolgreich behandelt worden waren, gingen sie voller Hoffnung davon aus, dass ihr Sohn sein Weinen nun einstellen würde. Dies war aber zu ihrem Erstaunen nicht der Fall. Es fiel ihnen aber auf, dass sein Schreien in Verbindung mit Grenzsetzungen der Eltern auftrat. Dem Vater ist nicht nachvollziehbar, warum sein Sohn im Gegensatz zu seinem ersten Kind, der Tochter J., Grenzen schlechter bis gar nicht akzeptierte: Er wehre sich vehement dagegen, lasse nicht locker. Es falle ihm schwer, seinen ja doch erst elf Monate alten Sohn mit Härte zur Einhaltung der Grenzen zu zwingen. Die Mutter findet sein Ignorieren ihrer Vorgaben nicht so ungewöhnlich für Kinder, fühlte sich aber ebenfalls nicht selten dadurch genervt. Sie müsse ihn dauernd im Essen begrenzen, weil er „alles an sich reiße“ und essen wolle. Beide Eltern werfen sich gegenseitig vor, gelegentlich zu hart auf seine Verstöße zu reagieren. Die meiste Zeit der Stunde spielt I., der hauptsächlich krabbelt und sich nur selten in den Stand hoch zieht, ruhig vor sich hin, nachdem die Eltern beide Kinder ermuntert haben, sich Spielsachen auszusuchen. Er bezieht die Eltern, später auch den Untersucher gelegentlich mit ein, indem er ihnen immer mal wieder mit einem strahlenden, offenen Lächeln kleinere Spielsachen in die Hand gibt und mit Namen benannte. Danach zieht er sich jeweils wieder zurück und spielt die meiste Zeit der Stunde ruhig vor sich hin. Dieses Verhalten hat auf seine Eltern immer wieder eine überraschende, zunehmende Wirkung. Wie von ihm quasi angesteckt, lockert sich ihre Spannung und Erregung, was dafür sorgte, dass sie mehr und mehr in der Lage sind, auch über ihre Betroffenheit zu sprechen. Seine Schwester J. ist mit einem kurzen Anlehnen an die Eltern nicht zufrieden und versucht, sie in größerem Ausmaß in ihr Spiel mit einzubeziehen. Als sie darin begrenzt wird, konnte sie es allerdings schlecht akzeptieren und bringt dies in zwar leisen, dafür aber anhaltend geäußerten Forderungen an die Eltern zum Ausdruck. Einerseits versucht sie, durch Auswählen von weiteren Gegenständen immer wieder ein neues Spiel zu beginnen. Dies gelingt ihr aber andererseits nicht, weil sie nach kurzer Zeit erneut vergebliche Versuche unternimmt, die Eltern verstärkt mit einzubeziehen. Dieser sich wiederholende Kreislauf setzt sich bis zum Ende der Stunde unverändert weiter fort. 90 Dies ist die einzige Sitzung, an der alle Familienmitglieder teilnehmen. Ich vereinbare mit den Eltern eine weitere Stunde ohne die Kinder, um ihnen eine freiere Gelegenheit zum Sprechen zu ermöglichen. 2. Gespräch In der zweiten Stunde berichtet der Vater, wie sehr er sich durch die Daueranstrengung mit seinem Sohn gequält und ermüdet fühle. Er versuche er, ihm Grenzen zu setzen, die dieser aber nicht akzeptiere. Wenn er dann härter vorgehe, werde er von seiner Frau gebremst. Deswegen könne er sich nicht durchsetzen. Er brauche aber einen eigenen Raum, empfinde es als quälend, wenn dieser ihm von seinem Sohn immer wieder genommen werde. Daher habe er jetzt einmal abends auf dem Bett liegend versucht, ihn festzuhalten, um ihm klar zu machen, dass es beim Vater eine Grenze gibt, die einzuhalten ist. I. habe aber sehr lange hartnäckig in seinem Widerstand durchgehalten. Die Schilderungen des Vaters nehmen in dieser Stunde einen breiten Raum ein, sodass ich mich frage, ob dies nur mit seinem Mitteilungsbedürfnis unter der geschilderten Belastung zusammenhängt. Ich erläutere, dass der Vater vermutlich einem Bedürfnis seines Kindes nach klarer Orientierung entspreche, als er versuchte, seinem Sohn zu vermitteln, dass Grenzen keine verschiebbaren Gummiwände sind. Dem kann der Vater zwar zustimmen, setzt aber gleich die Schilderung fort, als dürfte er mir wenig Spielraum lassen. Er betont noch einmal, wie ausgelaugt und überfordert er sich fühle, weil die Schwierigkeiten schon so lange dauerten. Zu ihrer Tochter teilen die Eltern übereinstimmend mit, dass sie im Großen und Ganzen mit ihr zu Recht kommen und keinen wesentlichen Gesprächsbedarf sehen. Damit endet diese Stunde. 3. Gespräch In die dritte Stunde kommt I. mit seiner Mutter ohne den Vater. Er spielt nach kurzer Eingewöhnungszeit mit den vorhandenen Spielsachen. Im Laufe der Stunde entdeckt er einen Türstopper, den er, weil er rund ist, für einen interessanten Ball hält, der sich entgegen seiner bisherigen Erfahrung nicht bewegen lässt. Als er schließlich entdeckt, dass man ihn aber abdrehen kann, greife ich ein und untersage ihm, diesen ganz heraus zu drehen. Nach wenigen kurzen Ermahnungen akzeptiert er die von mir gesetzte 91 Grenze. Erst als ich ihm später einen gewünschten Bauklotz nicht sofort gebe, wird er ärgerlich, wendet sich kurz in Richtung Türstopper, lässt dann aber davon ab. Als ich auf seinen Affekt eingehe, ist er schnell beruhigt und sucht sich ein anderes Spielzeug. 4. Gespräch Zur vierten Stunde kommt I. vereinbarungsgemäß wieder mit seiner Mutter. Heute ist er nicht in einer so ausgeglichenen Stimmung wie das letzte Mal. Er hat einen leichten Infekt, zahnt gerade und ist erst kurz vor der Stunde aufgewacht. Wenn ihm etwas nicht gelingt, was in dieser Sitzung häufig vorkommt, beklagt er sich schnell und wendet sich weinerlich an seine Mutter. So schafft er es dieses Mal nicht, in eine ruhige Spielphase zu kommen und reagiert darauf mit Frustration und Gereiztheit. Er schaut auch einige Male zum Türstopper, unternimmt aber nichts. Dafür zieht er der Mutter die Brille von der Nase oder fasst einen Bommel ihres Pullovers, um den daran befestigten Faden lang heraus zu ziehen. Die Mutter, die dies nicht möchte, setzt ihm zwar eine Grenze, aber immer erst so verzögert, dass er den Eindruck gewinnen konnte, sein Vorgehen werde von der Mutter wohl akzeptiert. Ich verständige mich mit der Mutter über die Gefühle von I. und seine Wünsche nach Anteilnahme durch Nachfragen, die sie nicht oder nicht so intensiv aufgegriffen hatte. Daraufhin wendet sie sich ihm emotional verstärkt zu, wobei ihr die Grenze, die sie ihm zuvor gesetzt hatte, zu entgleiten droht. Als ich sie darauf hinweise, nimmt sie dies zustimmend auf und kann ihre Begrenzung aufrechterhalten. Damit endet diese Stunde. 5. Gespräch In der darauf folgenden Sitzung kommen wieder die Eltern, ohne die Kinder. Nach einführender Schilderung ihrer momentanen Belastungen durch ihr Kind, frage ich Herrn K. danach, welche Erfahrungen er mit seinem eigenen Vater gemacht habe. Er schildert daraufhin, dass für seinen Vater das Einhalten von Prinzipien die höchste Priorität hatte. Sein Leben mit dem Vater habe quasi nur aus Prinzipien bestanden, zu widersprechen sei undenkbar gewesen. Als ich nachfrage, ob seine innere Welt für den einen solchen Druck ausübenden Vater 92 von Interesse gewesen sei, verneint er dieses nach kurzem Nachdenken. Mit Bedauern stellt er fest, dass er seinem Vater viele Gefühle nicht vermitteln konnte. Seine Frau stimmt ihm zu und weist darauf hin, dass er auch für sie manchmal emotional schlecht erreichbar sei. Daraufhin beklagt er sich darüber, dass er häufig mit seinen Anliegen bei seiner Frau auf Ablehnung stoße. Sie halte sich immer wieder nicht an die getroffenen Absprachen bezüglich eines gemeinsamen Vorgehens gegenüber den Kindern. Dies erlebt er als Missachtung seiner Person. Sie fragt ihn nach Beispielen, weil sie mit seiner Darstellung nicht einverstanden ist. Vehement versucht er seinen Vorwurf zu erläutern und betont, dass er es nicht verstehe, wenn jemand von einmal getroffenen Vereinbarungen abweiche. Er stößt dabei auf den anhaltenden Widerstand seiner Frau, die nun ihre Sicht darstellt. Daraufhin wirft er ihr wütend vor, dass sie ihm auch zuhause vorhalte, sie mache das doch gar nicht so. Wenn sie ihn dann auch noch beschimpfe, „er würde doch spinnen“, fühle er sich überhaupt nicht verstanden, nicht ernst genommen und werde wütend. Auf meine Nachfrage hin ergänzt er später, dass er sich auch tief verletzt und missachtet fühle. Sie betont im Verlauf des Gespräches, dass sie sich von ihm keine Vorschriften machen lasse. Nachdem beide ihre Affekte ausdrücken konnten, frage ich sie, ob sich ihre jeweiligen Eindrücke von einander nach solchen Streitgesprächen später ändern oder bestehen bleiben würden. Beide denken eine Weile nach und stellen übereinstimmend fest, dass sich ihre Vorstellungsbilder später im Sinne einer Milderung verändern würden. Meine Intervention, dass es ihnen manchmal vielleicht schwer falle, heraus zu finden, ob es bei einer gegenseitig vorgetragenen Kritik um Teilbereiche oder eine umfassenden Gesamtkritik an der ganzen Person gehe, nehmen sie nachdenklich interessiert und am Ende zustimmend auf. Damit endet die Stunde. 6. Gespräch In einem ersten nachfolgenden Gespräch lehnt Herr K. alle meine Versuche ab, ihm Hypothesen für ein gemeinsames Verstehen anzubieten. Ich fühle mich von ihm abgeschmettert, ohnmächtig gemacht und war auch verärgert. Erst gegen Ende der Stunde begreife ich, dass er es leid ist, jemand zu sein, bei dem etwas nicht stimmt und 93 der sich deswegen etwas sagen lassen soll. Außerdem ist mein Eindruck, dass er mich unbewusst erst einmal in das Erleben hineinbringen will, das ihm so schwer fiel. Ich sage ihm gegen Ende der Stunde, dass er mir vielleicht durch die Infragestellung meiner Einwände deutlich machen wolle, dass es für die Probleme in seiner Familie keine schnellen Lösungen gäbe, und er mir auf diesem Wege vielleicht unbewusst vermitteln will, mit welchen Belastungen das Erleben von Unsicherheit und Hilflosigkeit verbunden ist. Vielleicht solle es mir erst einmal so gehen, wie ihm, damit ich ihn verstehe. Darüber denkt er, wie mir scheint, betroffen und interessiert nach. 7. Gespräch In der folgenden Stunde halte ich mich sehr zurück, frage zunächst hauptsächlich nach seinen belastenden Gefühlen, die er dann auch eindrücklich erzählt. Gegen Ende dieser Sitzung lässt er es zu, eine von ihm geschilderte Begegnung mit seinem Sohn gemeinsam zu verstehen. Er beklagt, dass dieser sich ihnen gegenüber wie ein unnachgiebiges Monster verhalte und erst nachlasse, wenn sie nicht mehr weiter wüssten und ihm gelegentlich auch Ansätze der eigenen Hilflosigkeit zeigen würden. Ich frage die Eltern, ob ihr Sohn versuche, ihnen vielleicht auch durch seine Aktionen, seine Gefühle zu vermitteln, die durch die vorausgehende Grenzsetzung der Eltern ausgelöst worden seien. Möglicherweise ist er deswegen so hartnäckig, weil er sich nur unzureichend verstanden fühlt. Könnte es sein, dass er sein Verhalte manchmal erst dann ändere und sich ihnen gegenüber öffnen könne, wenn er sie klein und hilflos, aber vielleicht auch als verstehend und ungefährlich erlebe? Bewegt und verwundert denken sie darüber nach und signalisieren ihre Zustimmung. Auch meine Intervention, dass I. vielleicht mit seiner Monsterhaftigkeit alles daran setze, eigene Ohnmachtsgefühle zu vermeiden, weil ihm diese schwer fallen, halten sie für möglich. 8. Gespräch In der darauf folgenden Sitzung lasse ich dem Vater zunächst wieder viel Raum für eine eigene Darstellung. Eindrucksvoll beschreibt er, wie sehr er sich durch seinen Sohn wie an einen schweren Stein gefesselt fühlt, weil sich nichts ändere, er einfach bei ihm nicht weiter komme. Durch mein interessiertes Nachfragen im Laufe der Stunde ermuntert, 94 teilt er schließlich auch mit, dass es seine Empfindungen sind, die er wie eine schwere Last auf seinen Schultern erlebt. Ich kann ihn daraufhin fragen, ob es Ohnmachtsgefühle sind, die er sehr schwer zu lassen, aushalten und nach außen zeigen kann. Er denkt darüber nach und stimmt mir zu. Nach einer weiteren Pause fragt er mich, ob ihm eine eigene Therapie helfen könnte, damit besser zurechtzukommen. Ich erwidere, dass diese sowohl für ihn und letztendlich auch für seinen Sohn hilfreich sein könnte. Damit endet die achte Stunde. Immer wieder ergibt sich in diesen Sitzungen für mich die Gefahr der projektiven Identifikation, das heißt, passager wie die Eltern in konkurrierende Aktivitäten zu verfallen, anstatt zu fühlen und zu verstehen. Erst als ich diese Zusammenhänge erkenne und deren Bedeutung verstehe, kann ich mein Verhalten ändern und den Weg zu einem gemeinsamen emotionalen Verstehen eröffnen. 9. Gespräch In der neunten Stunde schildern die Eltern, wie sie aktuell immer wieder an ihren maximalen Forderungen scheitern. Herr K. erklärt, dass es ihm sehr wichtig ist, seine Anliegen und die damit verbundenen Grenzen erst einmal zu beachten. Frau K. empfindet diese Vorgaben ihres Mannes als viel zu eng und damit inakzeptabel, sodass sie sich aus gemeinsamen Aufgaben zurückzieht. Sie schlägt deswegen vor, die jeweiligen Bereiche zu trennen, sodass er seine und sie ihre Aufgaben getrennt und ungestört erledigen können. Darin sieht er keine gute Lösung, da es dann nur noch wenig Gemeinsames gäbe. Außerdem vermutet er, dass es seiner Frau schwer falle, für seine Position Verständnis aufzubringen. Auf meine Frage, ob sie schon immer die gerade eben geschilderten Erfahrungen mit einander gemacht hätten, denken beide erst einmal nach. Anschließend stimmen sie darin überein, dass es auch damals schon Schwierigkeiten gab, die sie aber dadurch gelöst hätten, dass sie sich ohne die Kinder viel Zeit für einander eingeräumt hätten, bis sie sich am Ende verstanden und wohlgefühlt hätten. Wir sind kurz vor dem Ende der Stunde. Ich stelle darum fest, dass sie beide erfahren haben, dass sie die Fähigkeit besaßen, sich zu verständigen. Wenn sie heute gelegentlich daran zweifeln, könnte das vielleicht auch damit zu tun haben, dass es ihnen schwer fällt, verletzliche Seiten zu zeigen und es ihnen leichter fällt, dies vor sich selbst zu rechtfertigen, wenn sie sich gegenseitig unterstellen, zu keinem ausreichenden Verständnis in der Lage zu sein. Bis zum Ende der Stunde denken sie 95 darüber mit deutlicher innerer Beteiligung nach. 10. Gespräch Ich hatte Frau K. eine Sitzung alleine ohne ihren Mann vorgeschlagen, da sie noch wenig von sich selbst und ihrer Lebensgeschichte erzählt hatte. Als sie kommt, bringt sie zunächst ein, dass es ihr gesundheitlich nicht gut geht und sie eigentlich jede Belastung vermeiden möchte. Dann berichtet sie von einer bevorstehenden Schilddrüsenoperation, die wegen einer Überfunktion notwendig geworden ist. Ich wende ein, dass eine Schilddrüsenüberfunktion häufig mit dem Überschreiten von eigenen Leistungsgrenzen zu tun habe. Darauf erwidert sie, „da haben sie vollkommen recht. Ich kann mich oft nicht genug abgrenzen, das gelingt mir im Beruf und zuhause nicht gut.“ Ich wende ein, dass vielleicht schon Erfahrungen in ihrer Kindheit dazu beigetragen haben. Dann erzählt sie, dass sie in den neuen Bundesländern aufgewachsen sei. Mit starker innerer Beteiligung fährt sie fort, auf ihre Mutter habe sie immer Rücksicht nehmen müssen. Diese habe immer Allergien und ein Asthma vorgeschoben, um ihre Prinzipien und ihren Sauberkeitsfimmel durchzusetzen, die habe sie nämlich schon vor ihrer Erkrankung gehabt. Sie habe bei ihrer Mutter keine Chance gehabt, etwas Eigenes durchzusetzen, immer musste sie deren Vorgaben erfüllen. Sie habe als Kind immer schon von sich aus das gemacht, was die Mutter erwartete, alles andere sei sinnlos gewesen, da sie ohnehin keine Wahl gehabt habe. Nun möchte sie es mit ihren Kindern anders machen und fragt, was sie jetzt I. und ihrem Mann gegenüber tun könne. Ich antworte: „Ihnen und ihrem Mann fehlten, wie sie es eben von sich geschildert haben, in ihrer Kindheit oft die Möglichkeiten, den Eltern eine Rückmeldung darüber zu geben, wie es ihnen ging, wenn diese etwas forderten. Wenn sie von I. heute das Einhalten von Grenzen verlangen, möchte der vermutlich, wenn er schon merkt, dass die Grenzsetzung ernst gemeint ist, genau wie sie früher wenigstens seine Empfindungen äußern dürfen, wenn er sich lauthals dagegen zur Wehr setzt.“ Dem stimmt sie nachdenklich zu und vermutet, dass ihr Mann sich häufig in solchen Momenten sehr angegriffen fühle. Ich setze fort: „Vielleicht fällt es Ihnen als Eltern, aus dem Blickwinkel der eigenen Kindheitserfahrungen, nicht immer leicht, die verschiedenen emotionalen Wünsche Ihrer Kinder zu verstehen. In Bezug auf viele Erfahrungen sind Sie in ihrer Kindheit vermutlich nicht gefragt worden, aber dennoch haben diese Sie geprägt. Vielleicht kommt, wenn es Ihnen gesundheitlich wieder besser geht, einmal eine Psychotherapie für Sie infrage, weil Sie dabei alten Erfahrungen von 96 früher neue, die Sie in der Therapie machen können, entgegen stellen können, um so aus den alten Prägungen heraus zu kommen.“ Sie geht darauf, so ist mein Eindruck nur indirekt ein, indem sie schildert, wie stark sie momentan beruflich eingespannt sei. Zuhause komme sie mit I. ganz gut zurecht, im Kindergarten mache er gelegentlich durch seine trotzigen Verweigerungen Probleme. Wenn sich eine Erzieherin für ihn allein Zeit nehme, sei er aber erreichbar. Der Umgang mit ihrer Tochter sei einfacher, weil man mit ihr schon besser sprechen und ihr etwas erklären könne. Wir sind wieder kurz vor dem Ende der Stunde. Sie betont, es sei gut gewesen, heute mit einander zu sprechen. Sie fühle sich deutlich erleichtert und möchte gerne später wieder kommen. Ich biete ihr an, sich jederzeit melden zu können. Darauf kommt sie aber nach ihrer Operation nicht zurück. 11. Gespräch Es folgt ein letztes Gespräch mit ihrem Ehemann allein, um das er gebeten hatte. Danach wünschen beide, so teilt er mir später telefonisch mit, erst einmal keine weiteren Gespräche, weil sie zunächst die Erkenntnisse aus den Sitzungen zuhause umsetzen möchten. Zu Beginn der Stunde beklagt er sich sehr über seine Frau, die auch nach der Schilddrüsenoperation stur an ihrer Aufteilung der häuslichen Aufgaben festhalte. Dabei bringt er anschließend viele Beispiele, die aufzeigen sollen, wie überlegt und schlüssig seine Argumente seien und wie viel einfacher und besser alles sein könnte, wenn seine Frau nur nachgeben würde. Mein Eindruck ist, dass er mir dabei kaum einen Spielraum für eigene Einwürfe einräumen kann. Also warte ich erst einmal weiter ab. Er schildert anschließend wie sehr er darunter leide, nicht anzukommen und stellt resigniert fest, dass er keine Idee habe, was er noch unternehmen könne. Danach unterbricht er seine Ausführungen. Bevor ich ihm antworte, versuche ich meine eigenen Gefühle zu verstehen und zu ordnen. Ich spüre, wie so häufig in den Präventionsgesprächen, in denen mir die begrenzte Anzahl von zur Verfügung stehenden Stunden bewusst ist, einen belastenden und zugleich verführerischen Druck nach schnellen Lösungen, der aus dem Vermeiden eines Versagens herrührt. Es sind gleichzeitig die Tendenzen, die mein Gesprächspartner mitbringt und die ich auf diesem Wege nachvollziehen kann. Daher wende ich ein, „Sie haben Ihrer Frau Ihren Ärger, Ihre Argumente und 97 Beschwerden mitgeteilt und dies hat Sie viel Kraft gekostet, aber nicht genügend weitergebracht. Könnten Sie sich vorstellen, ihr auch ohne Beimischung von anderen Empfindungen die Gefühle zu zeigen, für die auch in Ihnen selbst vermutlich häufig nur ein schmaler Raum zur Verfügung stand: die Ohnmacht und Hilflosigkeit?“ Er schaut mich überrascht und zugleich interessiert an, denkt darüber nach. Mit einem Seufzer antwortet er, das könnte eine Möglichkeit sein. Ich erwidere: „Vielleicht wird Ihre Frau darauf nicht sofort positiv reagieren können, sondern zunächst abwartend reagieren. Wenn sie aber merkt, dass Sie das schildern, was Sie wirklich bewegt, besteht vermutlich die Chance, dass sie darauf eingeht.“ Mit seiner Überlegung, es einmal zu versuchen, endet diese letzte Stunde. 3.4.2 Psychodynamische Überlegungen Fall 4 Mein erster Eindruck von den Eltern war, dass sie sich unter einem starken, andauernden Druck sehr belastet fühlten. Dieser resultierte aus ihren Misserfolgen, sich mit ihrem Sohn zu verständigen oder ihm Grenzen zu setzen. Ich vermutete, dass sie zunächst einmal ihre starke emotionale Betroffenheit vermitteln wollten und eine schnelle Entlastung erhofften. Allmählich fühlte auch ich mich (in der Gegenübertragung) stark veranlasst, zu helfen, zu handeln, weil sich in mir sonst auch Hilflosigkeitsgefühle einzustellen drohten. Meine Versuche, nicht zu handeln und stattdessen den aufkommenden Gefühlen von Wut, Unsicherheit und Ohnmacht weiteren Raum zu geben, gelangen mir nur teilweise. Ich fragte mich, ob die Schwierigkeiten von I., eine ihm gesetzte Grenze zu akzeptieren, damit zusammenhängen könnten, dass er die durch die Begrenzung ausgelösten Hilflosigkeitsgefühle und den vermutlich unzureichenden emotionalen Austausch sehr schlecht aushalten konnte. Daher nahm ich an, dass ihm der Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung geläufig war und er den Auslöser dieser unangenehmen Effekte, nämlich die Machtausübung seiner Eltern, durch seinen hartnäckigen Widerstand wirkungslos machen wollte. Außerdem nahm ich an, dass dieses Geschehen eine Vorgeschichte hatte. Vermutlich hatten die immer wiederkehrenden heftigen Schmerzzustände, ausgelöst durch das Kiss- Syndrom in den ersten Lebensmonaten, in zunehmendem Maße dazu geführt, sich ohnmächtig ausgeliefert und überfordert zu fühlen, ohne dass die elterlichen 98 Zuwendungen für deren Bewältigung ausgereicht hatten. Mit seinem Schreien wollte er wohl darauf aufmerksam machen, dass er auf keinen Fall diese quälenden Überforderungen noch einmal erleben wollte. Außerdem hatte er vermutlich schon gelernt, dass Schreien, d. h. Aktivsein, anstelle von Ohnmacht zu einer wirkungsvollen Entlastung führt. Die Eltern waren wohl auch in ihren Versuchen, seine extremen Hilflosigkeitsgefühle durch eigene emotionale Anteilnahme abzumildern, zwangsweise überfordert. Ich fragte mich, wie seine heutigen Schreiproteste von den Eltern verstanden und erlebt wurden. Ich vermutete, dass sie seine Reaktionen unterschiedlich und vielleicht nicht überwiegend als seinen Versuch verstanden, ihnen seinen inneren Zustand zu vermitteln. Erst im dritten Gespräch, als der Vater seine Erfahrungen mit seinem eigenen, prinzipienhaften Vater mitteilte, „bei dem jeder Widerspruch undenkbar war“, begann ich, ihn besser zu verstehen. Bei ihm erlebte Herr K. aus seiner Sicht, dass es im Falle einer Machtausübung durch diesen nur zwei denkbare Konsequenzen gab: Entweder er entsprach komplett den Machtansprüchen des Vaters und war dann der geliebte Sohn. Oder es drohte ihm eine sehr gefährliche, kastrierende, einen emotionalen Austausch ausschließende Ablehnung. Durch diese Erfahrungen geprägt, ging er vermutlich später häufiger auch dann auf eine Austragung von Machtansprüchen in Beziehungen nach dem Alles-oder-Nichts-Prinzip aus, wenn dies objektiv zumindest nicht in dem von ihm angenommenen Ausmaß der Fall war. Daher waren solche rivalisierenden Situationen aus seiner Sicht mit erheblichen Gefahren verbunden und er versuchte wohl, ihnen aus dem Wege zu gehen. Mir vermittelte er im Verlauf seiner Schilderung, dass er sich durch I. missachtet und tief verletzt fühlte, fassungslos darüber war, dass es jemand wagte, „so brutal“ mit ihm umzugehen. Er sah sich vermutlich durch das Schreien von I. für kurze Momente in seiner Autorität als Ganzes in Frage gestellt und erlebte ihn (obwohl noch so klein) dadurch als gefährlichen Angreifer. Wie in anderen Situationen wurden auch in dieser die unbewussten Erfahrungen und Konflikte in ihm mobilisiert. Seine durch seine Prägungen bestimmten Vorstellungen versetzten ihn vermutlich in ein höchst problematisches, ambivalentes Dilemma. Einerseits konnte er sein subjektives Bild eines vermeintlichen Angriffs trotz objektiv dagegen sprechender Wahrnehmungen aus vermutlich unbewussten Beweggründen (Projektionen, siehe unten) nicht aufgeben, 99 sodass es ihn drängte, heftig dagegen an zu gehen. Andererseits befürchtete er, seinen ersten zehn Monate alten Sohn dadurch zu verletzen. Dies veranlasste ihn, seine Wut unter allen Umständen möglichst zurückzuhalten, was in seinen Schilderungen deutlich zum Ausdruck kam. Damit war das Problem allerdings nicht gelöst. Denn der Vater geriet durch seine Zurückhaltung zunehmend in eine für ihn ebenfalls sehr belastende Hilflosigkeit, in der er sich „wie an einen Stein gefesselt“ erlebte. Da er aus seinen Lebenserfahrungen einen emotionalen Austausch in Bezug auf Ohnmachtserlebnisse kaum kannte, kam er auch nicht auf die Idee, seinem Sohn einen solchen anzubieten oder sich selbst um eine diesbezügliche Hilfe nach außen zu wenden. So konnte er aus seiner Sicht im Wesentlichen nichts anderes tun, als sich seinem Sohn gegenüber emotional verschlossen und weitgehend passiv zu verhalten. Dabei dürfte seine starke innere Anspannung auch nach außen gewirkt haben, ohne dass sein Sohn die Möglichkeit hatte, ihn zu verstehen. So konnte er den Vater immer wieder nur als emotional abschmetternd erleben. Auf die Idee, dass I. ihm durch seine Proteste nicht nur Machtansprüche, sondern auch ein wichtiges Anliegen mitteilen wollte, konnte der Vater aufgrund seiner eigenen Prägung vermutlich gar nicht kommen. I. wünschte sich wohl von seinem Vater, dass dieser ihm in solchen Auseinandersetzungen einen eigenen Einfluss zubilligen sollte, um dem Vater eine Rückmeldung über seinen inneren Zustand vermitteln zu können. Dies war aus Sicht von I. notwendig, um die nicht zu vermeidende Machtentfaltung des Vaters einigermaßen aushalten zu können. Dieser in den Protestaktionen von I. versteckte Wunsch nach emotionalem Austausch konnte vom Vater nicht erkannt und daher nicht berücksichtigt werden, sodass I. wiederum nichts anderes übrig blieb, als aus seiner Sicht die Ansprüche des Vaters als nahezu komplette Unterwerfung zu erleben und sich deswegen zu widersetzen. Schon als der Vater in der ersten Sitzung schilderte, er könne in den Problemsituationen mit seinem Sohn nichts tun, kam in mir der Verdacht auf, dass die momentanen Schwierigkeiten der Eltern mit ihrem Sohn auch mit dem Verhalten des Vaters zu tun haben könnten. Dieses wurde in den Sitzungen mit I. in der hiesigen Praxis bestätigt. Wie oben beschrieben, stellte sich heraus, dass I. durchaus auch in ungünstigen Situationen in der Lage war, Grenzen der Erwachsenen zu akzeptieren, wenn man ihm eine ausreichende Möglichkeit gab, seine begleitenden Affekte von Wut, Trauer und 100 Hilflosigkeit mitzuteilen. Auf die Rolle seiner Mutter möchte ich erst später ausführlicher eingehen. Zu diesem Zeitpunkt wurde aber schon deutlich, dass auch ihre Prägungen aus den früheren Beziehungserfahrungen sowohl I. als auch ihrem Mann gegenüber eine wichtige, das Verstehen begrenzende Rolle spielen. So ist sie nicht ausreichend in der Lage in den Konflikten zwischen dem Vater und dem Sohn zu vermitteln. Im Laufe der Gespräche verdichtete sich meine Vermutung, dass der Vater begann, mich nicht nur als einen Fachmann zu erleben, der ihm Hilfe anbietet, sondern auch als einen Kritiker, der ihn in zunehmendem Maße als ganze Person in Frage stellen könnte ohne Verständnis für das, was ich ihm dabei zumuten würde. Als mir diese Hypothese im Laufe der Gespräche deutlich wurde, verstand ich, warum er mir anfänglich kaum die Möglichkeit gab, mich meinerseits in den Gesprächen zu äußern, bzw. alle meine Interventionen entweder korrigieren oder als wenig zutreffend ablehnen musste. Außerdem hatte ich den Eindruck, dass der Vater mir unbewusst vermitteln wollte, dass er in einer Situation, in der er derjenige sein soll, der sich etwas sagen lässt, zunächst einmal klarstellen muss, dass ihm ein genügend großer eigener Handlungsspielraum zur Verfügung steht. Daher überließ ich es ihm in den nachfolgenden Stunden, zu entscheiden, wann er mir eine Gelegenheit, etwas einzubringen, einräumen würde. In meiner Gegenübertragung ließ der Vater mich dadurch in Ansätzen nachempfinden, welch schwierige Belastungen er durch Begrenzungen auszuhalten hatte. Ich verstand, warum er auch in den Stunden hier durch seine umfangreichen Schilderungen versuchte, sich gegen das Aufkommen solcher Affekte zur Wehr zu setzen. So sprach ich die vermutete Beziehungsproblematik zwischen ihm und mir direkt an. Ich sagte ihm: „Ich soll wohl erst einmal merken, dass es schwer ist, Lösungen zu finden und wie Sie spüren, wie groß dann die Belastungen sind.“ So versuchte ich, mit dem Vater nicht nur die anstehenden Konflikte aufzugreifen, sondern ihm auch neue Erfahrungen im unmittelbaren Beziehungserleben zwischen uns zu ermöglichen. Dieses führte dazu, dass er schließlich mitteilen konnte, wie schwierig es für ihn ist, mit Ohnmachtserlebnissen umzugehen. Er konnte sich als hilfsbedürftig darstellen und kam sogar auf die Idee, eine eigene Therapie zu beginnen. Um den Eltern Hinweise für neue Erfahrungen auch in ihrem Alltag zu geben und ihnen dadurch gleichzeitig die Angst vor solchen in einer eigenen Psychotherapie zu nehmen, versuchte ich ihren Blick auf die vorhandenen Ressourcen zu lenken, und dabei ihre 101 Beziehungsgeschichte mit einzubeziehen. Gleichzeitig wollte ich mit ihnen zusammen verstehen, dass sie beide dazu neigen, feindlich eingefärbte Vorstellungen voneinander (Projektionen) subjektiv aufzubauen nach dem Muster, lieber vom Negativen auszugehen, um auf alle Fälle vorbereitet zu sein, anstatt Überraschungen zu erleben. Gleichzeitig dienten diese subjektiv gefärbten Bilder vermutlich der Rechtfertigung vor sich selbst, wenn sie sich nicht getraut hatten, sich von ihrer verletzlichen Seite zu zeigen. Der Vater, so war mein Eindruck, konnte meinen Vorschlag, seiner Frau anstelle von Auseinandersetzungen seine auch noch vorhandenen wahren, anderen, weiteren Gefühle deutlicher zu zeigen (z.B. seine Hilflosigkeit), erst mit einer tieferen inneren Beteiligung aufgreifen, als er mehrmals in den Gesprächsstunden im direkten Kontakt erfahren konnte, dass er in der Lage ist, in mir solche Gefühle auszulösen, ohne von mir abgelehnt zu werden. Diesen Schritt zu wagen, hing wohl auch damit zusammen, dass er mit mir verstehen konnte, dass seine unterschiedlichen Lösungswege keinen ausreichenden Erfolg gebracht hatten und ihm bewusst geworden war, dass er sich diese eigene Entscheidung nicht von einem Außenstehenden durch Pseudolösungen (Vermittlung von Handlungsanweisungen und Lösungsvorschlägen) abnehmen lassen konnte. Das Verhalten der Mutter wurde mir durch die Schilderung ihrer Biographie noch verständlicher. Schon in der Sitzung mit I. war mir aufgefallen, dass sie kaum eigene Wünsche einbrachte, sondern vermutlich davon ausging, auf meine Eingaben warten zu müssen. Da ich keine Initiative ergriff, begann I. das zu unternehmen, wonach ihm war. So konnte ich im weiteren Verlauf mit ihrem Einverständnis anhand des Verhaltens von I. verstehen, dass dieser bei seiner Mutter nach einer klaren Orientierung suchte, als sie ihm ihre Grenzen nicht verdeutlichte. Sie hatte zugelassen, dass es ihm immer wieder unter Missachtung ihrer Begrenzungen gelang, sein verbotenes Vorhaben weiter fortzusetzen. Sie konnte dadurch unmittelbar erleben, dass I. die Wünsche seiner Mutter in dem Moment akzeptierte, als ihm klar wurde, was gemeint war. Auch mein Hinweis, dass I. versuchte, unter Anerkennung der an ihn gestellten Forderungen, ihr anschließend mitzuteilen, was er dabei erlebte, war für sie sofort nachvollziehbar. Anschließend konnten wir gemeinsam feststellen, dass es notwendig ist, I.s Gefühle erst einmal aufkommen zu lassen, um sie zu verstehen. Dass dies nicht immer leicht ist, je nachdem um welche Empfindungen es sich jeweils handelt, nahm sie mit Erleichterung auf. Auch Frau K. gegenüber hatte ich den Eindruck, für sie eine Autoritätsperson zu sein, 102 der sie sich scheinbar unterzuordnen hatte, wenn sie eine Zuwendung erwartete. Gleichzeitig kam der Verdacht auf, dass sie mir mit freundlichem, scheinbar zustimmendem Zuhören möglicherweise einen Teil von eigenen, kritischen Gedanken vorenthalten könnte, die sie vielleicht erst nach der Sitzung oder außerhalb glaubte mitteilen zu können, weil sie davon aus ging, nur so eine Beschädigung der Beziehung vermeiden zu können. So ging ich beiden Eltern gegenüber davon aus, dass sie in den Gesprächen mit wenig eigenen Spielräumen rechneten. Daher versuchte ich, mich auch Frau K. gegenüber zurückzunehmen, um ihr Raum für eigene Schilderungen zu überlassen, ihr durch das Aufgreifen von Themen und das Nachfragen einen inneren Spielraum für ausgelassene Bereiche zu eröffnen und ihr durch ein gemeinsames Verstehen neue Erfahrungen zu ermöglichen. Daraufhin traute sie sich in der Sitzung, zu der sie allein kam, im Gegensatz zu vorausgehenden Stunden, erstmals eine eigene Kritik an meinem Vorgehen direkt zu äußern, indem sie mitteilte, dass ihr „der heutige Termin eigentlich nicht passte“. Nachdem sie sich mit ihrem Ärger akzeptiert fühlte, sprach sie über sehr persönliche Erfahrungen. In ersten Ansätzen war es ihr möglich, ihre eigenen, von Erfahrungen in der Vergangenheit ausgelösten Prägungen ohne Schuldgefühle zu erkennen. Dadurch wurde ihr deutlicher, wie klein die Spielräume für emotionale Äußerungen in ihrer Kindheit waren und wie schnell sie heute oft fälschlicherweise davon ausgeht, dass ihr diese nach wie vor kaum zur Verfügung stehen. Ihr wurde dabei erst bewusst, wie begrenzt bzw. selektiv dieser Austausch mit ihren Kindern bisher war. Mit großer Erleichterung und Interesse an Veränderung merkte sie daher, dass ihr diese bisher nur unzureichend genutzte Möglichkeit ihren Kindern gegenüber aber zur Verfügung steht. Meinen Vorschlag, eine eigene Psychotherapie zu beginnen, konnte von ihr bisher wahrscheinlich noch nicht umgesetzt werden, da sie aufgrund ihrer Herkunft aus den neuen Bundesländern vermutlich zusätzlich zu den üblichen Bedenken mit besonderen gesellschaftspolitischen Vorbehalten belastet ist. Ich hatte von beiden Eltern den Eindruck, dass die in den Sitzungen vermittelten erweiterten Erkenntnisse zwar nicht immer sofort zu einer verlässlichen Verhaltensänderung geführt haben, aber dennoch von Bestand sein und ihr Handeln beeinflussen werden, da sie diese mit einem eigenen Interesse aufgenommen haben. 103 3.5 Fall 5: Die Folgen einer Trennung 3.5.1 Fallbeschreibung: Ausgangssituation und Gespräche Ausgangssituation Auf Anraten ihrer Kinderärztin meldet sich eine 34-jährige, allein erziehende Mutter, Frau L., mit ihrem 3½-jährigen Sohn M. in der Praxis. Sie wünscht sich eine Beratung, da sie unsicher ist, ob ihr Sohn die Trennung der Eltern vor zwei Monaten genügend gut verarbeite. Ihr sei aufgefallen, dass er angefangen habe, die Anderen und sich selbst zu verletzen. 1. Gespräch F. ist ein freundlicher, sympathisch aussehender kleiner Junge. Demonstrativ wendet er mir, nachdem wir das Besprechungszimmer betreten haben, den Rücken zu. Frau L. erzählt, dass sie und ihr Mann sich vor zwei Monaten getrennt haben. Seitdem sei ihr Sohn häufiger ängstlich, aber auch aggressiver als sonst. Sie wünscht sich Ratschläge, was sie tun könne. Ich antworte Frau L., dass ich verstehen könne, warum sie gekommen ist. Dann wende ich mich an M. und frage ihn, ob er vielleicht heute gar nicht gefragt worden ist, ob er überhaupt mit zu mir kommen wollte? Daraufhin antwortet er nicht und lehnt sich weiter an die Knie seiner vor ihm sitzenden Mutter. Nach einer Schweigepause sage ich ihm: „Ich glaube, jetzt sollen wir mal diejenigen sein, die nichts machen können, weil es M. auch manchmal so geht.“ Als wieder keine nach außen sichtbare Reaktion von M. erfolgt, außer, dass er es sich halb auf den Knien der Mutter liegend gemütlich macht, entsteht wieder eine Pause. Frau L. wendet sich jetzt ihm zu und fordert ihn auf, sich doch mal die schönen Spielsachen im Regal anzusehen. Als sie ihre Aufforderung zweimal wiederholt und M. leicht abwehrend reagiert, sage ich: „M. möchte jetzt vielleicht selbst entscheiden, ob und wann er spielen will.“ Daraufhin lässt ihn die Mutter in Ruhe. M. dreht sich nach einiger Zeit um und schaut sich die Spielsachen erst einmal an. Dann bewegt er sich zögerlich zum Regal. Seine Mutter unterstützt ihn, indem sie sagt: „Gehe ruhig dahin, mit den Spielsachen darfst Du spielen.“ M. holt daraufhin ein Spielzeug nach dem anderen und legt sie alle seiner Mutter in die Hände bzw. in den Schoß. Ich frage sie: „Vielleicht sollen Sie jetzt mal 104 viel tragen, weil M. in letzter Zeit auch ganz viel tragen musste?“ Sie sagt, das stimmt auch, es ist viel passiert, M. hatte es schwer. Unser Reden wird aber von M. schnell unterbrochen, indem er nun Kasperlepuppen herbeiholt und damit zu spielen beginnt. Zunächst kommen verschiedene Figuren, die der Mutter „Guten Tag“ sagen und die Sohn und Mutter benennen, zum Beispiel: „Dies ist der Kasper, der König und so weiter.“ Schließlich kommt mit etwas Gebrüll ein Krokodil, dass die Mutter anknurrt. Diese zeigt auch prompt ein wenig Angst. Mit einem Lächeln zeigt M., dass ihm dies offensichtlich gefällt. Dann aber kommt ein Polizist. Als wenig geschieht, frage ich, was jetzt passiert. Er antwortet: „Der hat auch Angst.“ Daraufhin wird der Polizist von dem Krokodil auf den Kopf gehauen. Der Polizist wehrt sich aber nicht und beide verschwinden erst einmal wieder. Wir sind am Ende der Sitzung und vereinbaren einen nächsten Termin. 2. Gespräch Heute kommt verabredungsgemäß Frau L. ohne ihren Sohn. Ich erläutere ihr, dass ich ihr im Rahmen einer Prävention bis zu circa zehn Gespräche mit und ohne M. anbieten kann, um zu verstehen, was sie und M. jetzt bewegt, welche Anliegen sie haben könnten und welche Erwartungen sich daraus ergeben könnten. Danach könnten wir dann gemeinsam überlegen, ob sie Hilfe von außen wünschen oder ihnen mit einem neuen Verstehen selbst Lösungswege ausreichend zur Verfügung stehen. Außerdem biete ich an, bei Bedarf auch mit dem Vater von M. zu sprechen, wenn dies gewünscht wird. Sie antwortet, dass sie nicht wisse, ob der an solchen Gesprächen interessiert sei. Ansonsten stimmt sie diesem Vorgehen zu und führt aus, dass sie M. gegenüber Schuldgefühle habe, weil sie ihm nun kein Familienleben mehr bieten könne. Sie fragt, wie sie M. nach der Trennung nun am Besten helfen könne. Ich frage sie, ob sie damit einverstanden ist, die Frage, wie man jetzt helfen kann, zurückzustellen, um zunächst mal Weiteres zu verstehen. Damit ist sie einverstanden. Daraufhin schlage ich vor, gemeinsam zu überlegen, was ihr helfen könnte, den auf sie zukommenden Problemen und Anliegen mit einem guten Gefühl begegnen zu können. Als sie Zustimmung signalisiert, fahre ich fort: „Wenn Sie die Gefühle ihres Sohnes 105 verstehen möchten, müssen Sie sich seinen Emotionen gegenüber öffnen und ähnliche Empfindungen erst einmal in sich zu lassen. Dabei könnten Sie aber feststellen, dass Sie die dann aufkommenden Gefühle als angenehm oder weniger angenehm empfinden, je nachdem was Sie selbst z.B. nach der Trennung erlebt haben.“ Sie antwortet, dass sie die Trennung inzwischen ganz gut verarbeitet habe. Sie sei mit ihrem Mann sechzehn Jahre verheiratet gewesen. Sie kenne ihn seit ihrem achtzehnten Lebensjahr. Mit der Zeit habe man sich immer mehr auseinander gelebt. Ich wende ein: „M. könnte gespürt haben, dass er sich die mit der Trennung verbundenen Veränderungen in der Familie nicht wünscht und zugleich gemerkt haben, dass er wenig ändern kann. Wenn Sie versuchen würden, seine Gefühle der Hilflosigkeit in sich aufkommen zu lassen, könnten eine Reihe von Bedenken in Ihnen auftauchen, die zu berücksichtigen für Sie wichtig sein könnte. Diese Empfindungen gehören zu denen, die für uns Menschen am schwersten aushaltbar sind. Ihre Erfahrungen mit diesen Emotionen bis in Ihre Kindheit hinein könnten dabei eine wichtige Rolle spielen.“ Darüber denkt sie erst einmal nach und beginnt dann zu berichten, dass sie als Kind nicht erwünscht war. Eigentlich habe sie sich oft abgelehnt gefühlt. Das sei für sie sehr schwer gewesen. Weiter überlegend fährt sie fort, sie habe sich oft einsam und auch hilflos gefühlt. Als ich den Eindruck habe, dass sie langsam aus den Gedanken an ihre Kindheit zurückgekehrt ist, frage ich, ob sie nach der Trennung, als vermutlich solche Gefühle wie in ihrer Kindheit wieder in ihr auftauchten, darum ringen musste, ihre Stabilität aufrecht zu erhalten, da sie ja ihrem Kind gegenüber eine stabile Mutter sein wollte und es als ihre wichtigste Aufgabe empfand, ihr seelisches Gleichgewicht zu erhalten? Sie antwortet spontan mit Zustimmung und berichtet, dass dies für sie nicht einfach war. Sie macht sich weiter darüber Gedanken. Schließlich kurz vor dem Ende der Stunde äußert sie: „Jetzt begreife ich, dass ich wohl selbst Hilfe brauche“. Wir vereinbaren, darüber beim nächsten Mal zu sprechen, wenn sie wieder alleine kommt. 106 3. Gespräch Zu dieser Sitzung am späten Nachmittag bringt sie ihren Sohn wieder mit, der schon ziemlich müde ist. Er spielt zunächst allein mit seiner Mutter mit den Handpuppen. Es erscheint als erstes ein Krokodil, dass zwar sein Maul auf und zu klappt, aber noch nicht sehr bedrohlich auftritt. Der Polizist, der darauf folgt, wird kurz darauf vom Krokodil gefressen. Als ich einwende, der konnte nicht viel machen, erscheint ein zweiter Polizist. Dieser verteidigt sich und wird nicht aufgefressen. Als er das Puppenspiel damit beendet, wende ich ein, M. wollte uns vielleicht mitteilen, dass es nicht immer einen richtigen verlässlichen Schutz gibt. Dass er sich offensichtlich verstanden fühlt, teilt er mir dadurch mit, dass seine körperliche Anspannung nachlässt, er sich mir zuwendet und für einen kurzen Augenblick freundlich, intensiv anschaut. Dann wendet er sich dem Sceno-Kasten zu, der ein breites, immer gleich bleibendes, festgelegtes Angebot an unterschiedlichen Spielsachen enthält. Es gelingt ihm nicht immer, die Püppchen mit Haftmagneten auf der Magnetplatte aufzustellen. Ungefragt mische ich mich ein und versuche, ihm zu helfen. Darauf reagiert er sofort seinerseits mit Rückzug. Ich antworte ihm: „Du möchtest mir klar machen, dass es so nicht geht, du möchtest gefragt werden.“ Er nickt zustimmend und ab dann darf ich „mitspielen“. Er weist mir dabei jeweils die Rolle zu, die ich übernehmen soll. Ich darf das Aufstellen von Figuren übernehmen, wenn es ihm nicht gelingt und hauptsächlich Zuschauer sein. Er selbst spielt eigentlich auch nicht, sondern nimmt im Wesentlichen nur immer mehr Teile aus dem Kasten, die ihn alle interessieren und die er deswegen herausnimmt. Offensichtlich fällt es ihm aber schwer, sich in Anbetracht von weiteren für ihn attraktiven Spielsachen für eine begrenzte Auswahl zu entscheiden. Schließlich ist die Tischplatte komplett voll gestellt, weil alle Gegenstände herausgenommen worden sind, sodass ihm nun kein Platz mehr zum Spielen zur Verfügung steht. Daher frage ich ihn, ob wir erst einmal aufräumen sollten. Er reagiert darauf mit knurriger Verweigerung und demonstrativem Rückzug. Ich spreche ihn an: „Du ärgerst Dich, weil Du etwas Anderes wolltest?“ Er schweigt und bleibt angespannt. Seine Mutter erklärt, für M. bedeutet Aufräumen: „jetzt ist Schluss, man darf nicht weiter spielen.“ Sie wendet sich an M. und sagt ihm, dass er nach dem Aufräumen vielleicht noch weiter spielen kann. M. reagiert nonverbal, indem seine körperliche Anspannung nachlässt. Nach einer kurzen Pause sage ich ihm und der Mutter: „M. hat es nicht so gerne, dass es schon wieder nicht weiter ging.“ Nach einer Pause: „Wenn er 107 schon etwas nicht darf, sollen wir wenigstens merken, wie es ihm jetzt geht. Ich glaube, M. ärgert sich nicht nur, sondern er hat es auch schwer und dass ist ganz schön anstrengend für ihn.“ Daraufhin dreht er sich allmählich zur Seite und lässt sich auf ein großes Kissen sinken, welches zum Ausruhen da liegt. Nach einer Weile erkläre ich, „Nun müssen wir langsam Schluss für heute machen.“ M. bleibt entspannt auf seinem Kissen liegen und schaut uns beim Aufräumen nur zu. Als ich ihn frage, ob er noch einmal wiederkommen will, stimmt er durch Kopfnicken zu. Danach ist er bereit, mit der Mutter den Raum zu verlassen. Er besteht aber darauf, mir nicht „Auf Wiedersehen“ zu sagen. Ich akzeptiere seine Art der Verabschiedung und signalisiere ihm mein Verständnis für seinen Ärger über das Ende der Stunde, was er mit großem Interesse, so ist mein Eindruck, registriert. 4. Gespräch Er wird von seiner Großmutter begleitet, da seine Mutter heute überraschend zur Arbeit gehen musste. Er schmiegt sich eng an sie und wendet mir den Rücken zu. Sie sagt: „M. ist heute schüchtern und schmusig.“ M. verändert seine Haltung nicht. In der anschließenden Schweigepause versuche ich mich, in seine emotionale Lage zu versetzen. Dann äußere ich: „M. musste jetzt lange warten, bis er wiederkommen konnte und nun sollen wir vielleicht auch mal lange warten, damit wir mal merken, wie das für ihn war.“ Er antwortet mit Schweigen. Seine Großmutter versucht ihn einige Male, zum Spielen zu animieren, was er unwillig abwehrt. Ich interveniere: „M. möchte selbst bestimmen, wann er spielt.“ Daraufhin lässt die Großmutter ihn in Ruhe. Mein Eindruck ist, dass M. nun testet, ob er wirklich selbst bestimmen kann. So vergeht eine Zeit, in der er es vermutlich genießt, dass wir sein Vorgehen akzeptieren. Seine Großmutter und ich beginnen, uns über die vorhandenen Spielzeuge zu unterhalten, ohne ihn mit einzubeziehen. Als er sich, so ist mein Eindruck, sicher ist, dass wir ihm seinen Freiraum lassen, fühlt er sich wohl ausgeschlossen und beginnt, Spielzeuge auszusuchen und mit uns zu spielen. Ich soll zusehen, wie ein großer Dinosaurier angestampft kommt und mit den anderen Tieren kämpft. Dabei stoßen immer wieder Löwen, Tiger und Eisbären mit dem Dinosaurier zusammen, der aber immer der Sieger ist. Ich sage: „Jetzt können wir 108 mal zittern, wenn M. mit seinen großen Freunden vorbeikommt.“ Stolz nimmt er dies zur Kenntnis und setzt sein Spiel mit weiteren Tieren fort, die jetzt ein bisschen zusammen spielen. Da wir kurz vor dem Ende der Stunde sind, sage ich ihm, dass wir nun Schluss machen müssen. Ihm gefällt das nicht. Deswegen versucht er, die Grenze zu ignorieren. Ich lasse das nicht zu, sage ihm aber, dass ich merke, dass er ärgerlich ist. Außerdem zeige ich Verständnis dafür, dass „er auch ein wenig Chef sein möchte, wenn ich jetzt der Chef bin“. Dadurch fällt es ihm wohl leichter, meine Grenze zu akzeptieren, denn er lässt in seinem Widerstand nach. So können wir die Sitzung beenden. 5. Gespräch Zur heutigen Stunde kommt Frau L., wie verabredet, ohne ihren Sohn. Ihr Thema heute sind ihre Beziehungen. Sie möchte, wenn sie demnächst noch einmal eine festere Beziehung eingehen sollte, sicher sein, den richtigen Partner zu finden. Ich biete ihr an, dass sie in ihrem Leben vielleicht mehr bedient habe, als sie eigentlich wollte. Dies bestätigt sie und berichtet, dass sie häufig dazu neige, erst einmal nett und freundlich zu sein. Ich erwidere, dass sie sich daher vielleicht unbewusst Partner ausgesucht habe, von denen sie hoffte, diese könnten es ihr durch ihren leichteren Umgang mit Aggressionen abnehmen, selbst Abgrenzungen und Forderungen stellen zu müssen. Sie stimmt dem zu und berichtet, dass ihr die Männer stark erschienen, sodass sie hoffte, diese würden sie beschützen. Im Alltag hätten diese sie aber immer mehr eingeengt. „So konnten Sie hoffen,“ wende ich ein, „einerseits von den Partnern quasi entlastet zu werden. Sie erwarteten vielleicht, möglichst wenig mit der problematischen Frage in Berührung zu kommen, ob sie selbst Forderungen stellen und dabei wütend sein dürfen. Sie ahnten vermutlich aus früheren Erfahrungen schon, dass ihr Gewissen ihnen unangenehme, enge Fesseln anlegen würde. Andererseits haben Sie vermutlich jetzt die Erfahrung gemacht, dass Sie ihre Probleme auf Dauer auf diesem Wege doch nicht befriedigend lösen konnten. Außerdem wollten Sie sich, so nehme ich an, Ihrem Sohn gegenüber im Umgang mit Abgrenzung und Wut sicherer sein.“ Dieser Überlegung stimmt sie sofort zu und fragt, wie sie dieses Ziel aber erreichen könne. Ich erläutere, dass sie durch viele Erfahrungen, von denen sie sich die meisten vermutlich nicht aussuchen konnte, geprägt worden ist und zu einer Frau wurde, die 109 sich nicht so frei äußern kann, wie sie es manchmal möchte. Unter den verschiedenen Psychotherapien, so vermittele ich ihr, gibt es solche, die es ihr ermöglichen würden, in den Gesprächssitzungen in den von ihr ausgewählten Bereichen so lange neue Erfahrungen zu machen, bis sie ihre Ziele erreicht hätte. Sie möchte Genaueres von mir dazu erfahren. Ich erkläre ihr, dass sie sich auch in den Therapiesitzungen z.B. über eine Ferienregelung ärgern könnte, weil sie den Zeitpunkt als ausgesprochen unpassend erleben würde. So könnte sie vor der Entscheidung stehen, sich zu äußern, oder es zu lassen. Genau darüber könne es ein Gespräch geben, sodass sie dabei neue Erfahrungen machen könne, wie z.B. die, dass sie sich traue, sich anders zu verhalten als sonst üblich. Dabei würde sie sich vielleicht auf einen neuen Weg begeben und erfahren, dass ihre früheren Befürchtungen gar nicht eintreten. Sie denkt darüber lange nach und sagt schließlich, ich glaube das ist mein Weg. Nicht mein Kind braucht eine Psychotherapie, sondern ich. Sie fragt nach entsprechenden Adressen, die ich ihr vermittele. Damit beenden wir die Präventionsgespräche. 6. und 7. Gespräch Nach 6 und 12 Monaten führen wir, wie von ihr gewünscht und mit ihr abgesprochen, Nachgespräche mit dem Ergebnis, dass die Symptome von M. nur noch in milder Form gelegentlich aufgetreten sind. Frau L. berichtet erfreut von der inzwischen laufenden Psychotherapie. 3.5.2 Psychodynamische Überlegungen Fall 5 Frau L. hatte ihren Sohn M. vorgestellt, weil ihr sein ängstliches Verhalten und seine Aggressivität gegen Andere und sich selbst Sorgen bereiteten. Daher vermutete ich, dass das Thema Abgrenzung für M. von großer Wichtigkeit war, als er die Begegnung mit Abwendung von mir und Zuwendung zur Mutter begann. Das Ausmaß und die Dauer seines Vorgehens veranlassten mich zu der Annahme, dass sein Verhalten über ein übliches Fremdeln in einer Anfangssituation hinausging. Wahrscheinlich verstand er nicht den eigentlichen Grund des Besuches in der Praxis und spekulierte, wie Trennungskinder dies häufig in solchen Situationen tun, dass er wegen eines vermeintlichen Vergehens (aggressives Verhalten) quasi zur Bestrafung vorgestellt 110 wurde und dass ihm außerdem vielleicht eine vorübergehende Abschiebung drohen würde. Daher ging ich davon aus, dass er gegen diese Aktion seiner Mutter einschließlich der Kontaktaufnahme zu mir protestieren und sich zugleich der Mutter gegenüber absichern wollte. Da er mich als eine Autoritätsperson erlebte, wollte er außerdem wohl gleich ausprobieren, ob er mir gegenüber einen eigenen Einfluss geltend machen könnte. Er ließ mich dadurch gleichzeitig erleben, welche Empfindungen ausgelöst werden, wenn man unerwartet lange nicht dazugehört und dagegen wenig unternehmen kann. In Ansätzen konnte ich beginnen, seinen Ärger zu begreifen und die Gefühle, die in ihm bei der Trennung seiner Eltern aufkamen. Mein Anliegen war, ihm deutlich zu machen, dass ich seinen Protest respektierte und versuchen wollte, mich mit ihm darüber zu verständigen. Daher nahm ich Partei für ihn ein, als seiner Mutter anscheinend seine ablehnende Haltung zu lange dauerte. Nachdem er auf seine Weise dafür gesorgt hatte, dass ihm ein eigener Entscheidungsspielraum zur Verfügung stand, konnte er vorsichtig, so war mein Eindruck, eine Erweiterung der Kontaktaufnahme zu lassen. Er belud seine Mutter mit einer Vielzahl von wahllos ausgesuchten kleinen Spielsachen, die er ihr in den Schoß legte. In mir drängte sich die Idee auf, dass er mir und ihr demonstrieren wollte, dass noch einiges an Belastungen auf sie zu kommen würde. Ich war skeptisch und überrascht, ob er sich nach dieser kurzen Kontaktzeit schon traute, ein für ihn so wichtiges Thema einzubringen. Um dies zu überprüfen und zu klären, wie seine Mutter darauf reagieren würde, sprach ich diese Hypothese beiden gegenüber an. Frau L. konnte mit dieser Interpretation etwas anfangen, während M. diese aufnahm, sich aber dazu nicht weiter äußerte. Als sie begann, nun ihrerseits Einwände einzubringen, wurde sie von M. schnell unterbrochen, der wohl damit verdeutlichen wollte, dass er die Initiative nicht aus der Hand zu geben bereit war. Danach brachte M., so vermutete ich, ein weiteres Anliegen ein. Einerseits identifizierte er sich mit der Rolle des Aggressors, der bei den Anderen Angst auslöst und andererseits rief dieses Vorgehen in ihm mutmaßlich die wohl teilweise für ihn noch offene Frage hervor, ob die anderen seiner Wut gewachsen sind und daher potentiell auch Schutz bieten können (der Polizist, der eigentlich schützen soll, hat selber Angst). In der zweiten Stunde fühlte ich mich durch Frau L. in eine ähnliche Rolle gebracht, wie sie die von ihrem früheren Mann aus der Anfangszeit ihrer Beziehung geschildert hatte, nämlich die des wissenden, im positiven Sinne bestimmenden, väterlichen Partners. Ich 111 sollte Aufgaben von ihr übernehmen und dafür mit Anerkennung und Unterordnung von ihrer Seite belohnt werden, obwohl sie, so war meine Vermutung, eigentlich gekommen war, um von dieser Beziehungskonstellation unabhängiger zu werden. Meine Aufgabe ihr gegenüber war aber nicht die eines Lebensberaters, sondern ein Begleiter zu sein, der mit ihr zusammen ihre Schwierigkeiten und Stärken zu verstehen suchte. Hätte ich mich von ihr verführen lassen, die von ihr angebotene Rolle zu übernehmen, wäre dies mit einem Verlust meiner therapeutischen Identität verbunden gewesen. Zugleich ließ sie mich, so war meine Annahme, in der Gegenübertragung spüren, wie wenig beständig die eigene Autonomie sein kann und wie schnell sie durch scheinbar positiv eingefärbte Beziehungsangebote verloren gehen kann. Daher kam in mir der Verdacht auf, dass Frau L. wohl Ähnliches in ihrer Kindheit widerfahren war; was sie später in diesem und den weiteren Gesprächen bestätigte. Aus diesem Grunde bot ich ihr an, gemeinsam zu überlegen, welche Probleme nach der Trennung auf sie und ihren Sohn zukamen und wie ihr Handeln bestimmende charakterliche Prägungen, die durch Ereignisse in ihrer Kindheit ausgelöst waren, in die gemeinsame Aufgabenbewältigung hineinspielten. Auf diese Weise konnte sie ihre eigenes Vermögen und ihre Begrenzungen reflektieren und gleichzeitig als ihren Weg ansehen und dazu stehen. Diese für sie wohl nicht alltägliche Erfahrung in der Sitzung trug vermutlich dazu bei, dass sie sich eine therapeutische Hilfe als aufbauende Unterstützung vorzustellen begann. In den zwei Sitzungen mit M., die noch stattfanden, nahm er das Thema der vorangehenden Stunden wieder auf. Zunächst setzte er uns Erwachsene schutzlos einem aggressiven Wesen (Krokodil) aus. Ich verstand sein Verhalten uns gegenüber als den Wunsch, die Rollen umzukehren und die Erwachsenen in die Position zu bringen, in der er sich aus seiner Sicht befunden hatte. In der Gegenübertragung konnte ich daher die von ihm wahrscheinlich abgewehrten Gefühle von Angst, Bedrohung und Ausgeliefertsein erleben, die er infolge der Trennung seiner Eltern empfunden hatte. Mir kam es darauf an, ihm zu verdeutlichen, dass die in seiner Aktion enthaltene Wut nachvollziehbar und die uns zugemuteten Affekte aushaltbar sind. Als er den Polizisten eingreifen ließ, ging ich davon aus, dass er eine außenstehende dritte Person zulassen konnte und sich nicht mehr ausschließlich auf eine eigene uneingeschränkte Machtausübung angewiesen fühlte, nachdem er erkannt hatte, dass wir ihm einen Einflussbereich überlassen hatten. Gleichzeitig wollte er wohl daraufhin weisen, dass er sich beides, seinen Ärger auszutragen und geschützt zu werden, wünschte. 112 Offensichtlich konnte er sich erst nach dieser vorläufigen Abklärung nun auf eine direkt Annäherung zu mir einlassen und fühlte sich nicht mehr so sehr auf eine Darstellung über ein Spiel angewiesen. Seine weiter bestehende Empfindlichkeit, seine Wut und vermutlich ein besonders in den letzten Monaten entwickeltes Misstrauen zeigte sich in seinem Rückzug aus der Beziehung, als ich mich ungefragt in sein Spiel einmischte und die mir von ihm zunächst zugeteilte Position des Außenstehenden nicht mehr ausreichend durchhalten konnte. Erst nachdem ich mich seinem Ärger gestellt hatte, durfte ich in begrenzter Weise wieder mit dabei sein. Allerdings fiel er, so nahm ich an, auf sein vorheriges Verhaltensmuster der möglichst uneingeschränkten Einflussnahme zurück, als er ohne Begrenzung ein Spielzeug nach dem anderen aus dem Scenokasten nahm. Wie ich erst durch die Intervention seiner Mutter erfuhr, missverstand er mich durch meine Wortwahl, als ich erneut mit ihm zu verstehen versuchte, in welchem Dilemma er sich befand. Er erlebte mich zunächst wohl als einen gefährlichen Gegner, der ihm jeden Entfaltungsspielraum nimmt. Daher war er erst allmählich durch konkret erfahrene Anteilnahme an seinem Erleben bereit, sein Misstrauen abzulegen und wieder an eine eigene Gestaltungsmöglichkeit und Akzeptanz zu glauben. In der Stunde mit seiner Großmutter probierte er mutmaßlich aus, ob auch eine größere Heftigkeit in seinen Aktionen von den Anderen aushaltbar ist und gleichzeitig eine verstehende Zuwendung aufrecht erhalten werden kann. Als er sich dessen durch meine Reaktionen vermutlich sicherer war, ließ er die Tiere von einem Kampf um Alles oder Nichts zu einem Spiel miteinander wechseln. Mir fiel auf, dass er dieses für ihn offensichtlich sehr bedeutsame Thema zunächst über ein Spiel und nicht im direkten Kontakt mit mir einbrachte. Ich nahm an, dass es ihm in einem ersten Anlauf leichter fiel, ein solches für ihn mit erheblichen Risiken verbundenes Anliegen auf eine Art und Weise einzubringen, die mich in die Rolle des Beobachters und nicht in die des potentiellen Aggressors brachte. Außerdem vermutete ich, dass es ihm, der sich nun hauptsächlich auf seine Mutter angewiesen fühlte, wichtig war, auf die Bedeutung hinzuweisen, die die Möglichkeit, einen Dritten zu erreichen, für ihn hatte. In der letzten Sitzung mit Frau L. ist es ihr durch die vorausgehenden Erfahrungen möglich, sich auf eine bis in sehr persönliche Details hinein gehende Erörterung ihrer Beziehungserlebnisse und Gestaltungen einzulassen. Die dabei zutage tretenden Begrenzungen ihrer Handlungsspielräume können gemeinsam ohne Schuldzuweisungen unter andern als Folge von prägenden Erfahrungen aus ihrer Kindheit nachvollzogen werden. Dadurch erweiterte sich ihr Blick für ihre sie sehr vereinnahmenden Konflikte 113 und ihre daraus resultierenden bisherigen Lösungswege. Das versetzte sie zugleich in die Lage, Zusammenhänge zwischen ihrem Verhalten und dem ihres Sohnes herzustellen. Am Ende der Gespräche wählte sie den Weg einer eigenen Psychotherapie, die sie inzwischen auch begonnen hat. 114 4. Auswertung der Fallbeschreibungen 4.1 Zusammenfassung der psychodynamischen Überlegungen 4.1.1 Fall 1 Frau A. erlebte ihre Mutter während ihrer Kindheit insbesondere durch die enge Dualbeziehung als eine Frau, der sie es weitgehend kaum recht machen konnte und die ihr in solchen Momenten kaum einen Spielraum für einen emotionalen Austausch zur Verfügung stellte. Durch diese Erfahrungen geprägt, neigt Frau A. in Autoritätsbeziehungen vermutlich dazu, von unbewussten Wünschen gesteuert, zwar polarisierte, dafür aber eindeutige Vorstellungsbilder zu konstruieren, in denen sie ihr Gegenüber als eine Person erlebt, die auf einer einseitigen Machtausübung besteht. Diese Projektionen dienen dem unbewussten Anliegen, eine scheinbare Klärung der Beziehungsverhältnisse herbeizuführen, um mögliche Unsicherheiten und Zweifel zu beseitigen. Auf der bewussten Ebene erscheint nun mehr das Bild einer einseitig ausgerichteten Autoritätsperson, von der sie in Unkenntnis der unbewussten Vorgänge scheinbar weiß, woran sie ist. Sie hat dann, in Anbetracht dieses quasi eindeutigen „Feindbildes“, davon auszugehen, dieser Autorität gegenüber keinen wesentlichen eigenen Spielraum mehr zu haben, sodass ihr aus ihrer Sicht vermutlich nur zwei Verhaltensmöglichkeiten übrig bleiben: die Unterordnung oder das Verlassen des Beziehungsraumes. Solange ihre Prägungen und die unbewussten Motive mutmaßlich den Aufbau dieser Projektionen erforderlich machen, gerät sie hierdurch in die Gefahr, in ihren Vorstellungen selbst zu einer einseitig orientierten Autorität zu werden, z.B. wenn sie die Rolle einer Respektsperson einnehmen müsste, um ihrem Sohn Grenzen zu setzen. Sie befürchtete, ihn entweder überfordernd quälend einzuengen oder ihn zu einem Rückzug aus der Beziehung zu veranlassen. Daher fiel ihr so schwer, ihm gegenüber deutlich bestimmend aufzutreten. Nur in gelegentlichen Ausnahmefällen, wenn sie sich von seiner Verweigerung genervt fühlte, wurde sie hart und fordernd. Dabei allerdings war sie für seine durch sie ausgelösten Emotionen nicht mehr zugänglich. Mutmaßlich ähnelte dieses Verhalten anteilig dem, das sie bei ihrer Mutter erlebt hatte. Sie traute sich in den Gesprächen trotz begleitender Unsicherheitsgefühle, sich einen 115 eigenen autonomen Spielraum zu nehmen und diesen auch für den emotionalen Austausch zu nutzen. Dadurch und durch das gemeinsame Verstehen, war es ihr in Ansätzen möglich, ihre Projektionen passager infrage zu stellen. Damit wiederum öffnete sich für sie ein Raum für die Veränderung ihres eigenen autoritären Verhaltens in der Art, dass eine begrenzende Einflussnahme und ein emotionaler Austausch gleichzeitig möglich wurden. Dass sie sich so ungewöhnlich schnell auf neue Erfahrungen einlassen konnte, hing sehr wesentlich mit ihrer Offenheit und ihrem großem Interesse für die beispielhaften Vorgehensweisen ihres neuen Freundes zusammen. Durch die Gespräche ermuntert, trauten sich beide, sich gegenseitig mehr in ihren unterschiedlichen Erziehungsstilen und Kompetenzen zu akzeptieren und aus den neuen Erkenntnissen Veränderungen des eigenen Handelns abzuleiten. Die Erfahrung, dass sie ihrem Sohn sowohl bezüglich der sprachlichen Kommunikation, als auch im Erleben von Hilflosigkeit und Frustrationen maßvoll mehr Belastungen zumuten konnte, war für sie ein entlastendes, wesentliches, die neuen Umgehensweisen stützendes Erlebnis. 4.1.2 Fall 2 Frau D. zeigte, wie ich vermutete, gerade im ersten Gespräch, als sie ihre Anliegen nicht direkt mitteilte, besonders deutlich ein Ich-synthones Verhalten. Ich ging davon aus, dass die Patientin sich nicht traute, eigene Forderungen zu stellen, und gleichzeitig glaubte, nicht in der Lage zu sein, auf andere Menschen Einfluss nehmen zu können, wenn es um emotionale Anteilnahme geht. Sie hatte sich daher vermutlich entschlossen, in ihrem Vorgehen verschiedene Anforderungen in einer Aktion unterzubringen. Einerseits unterstellte sie mir wie selbstverständlich, dass ich Bedienen und Unterordnung erwartete und kam dieser Erwartung durch eine umfangreiche Schilderung der Ereignisse nach. Andererseits wollte sie mir vermutlich damit die Gelegenheit geben, an den mich interessierenden Stellen Sachverhalte aufzugreifen, mit denen ich mich näher zu beschäftigen bereit war. Weil sie vermutlich davon ausging, ohnehin keinen wesentlichen Einfluss auf mich zu haben, konnte sie auf diese Weise hoffen, genügend Themen anzuschneiden, unter denen dann eines sein könnte, was mich auch interessierte. Im Übrigen ging sie wohl davon aus, dass sich kaum jemand von sich aus für sie interessieren und sie beachten würde. Der Umfang ihrer Erzählungen ließ mir kaum noch einen eigenen Spielraum, sodass 116 dieser von ihr ausgehende Druck auch eine gewalttätige Komponente enthielt. So vermutete ich, dass sie gelegentlich z.T. unbewusst davon ausging, andere nahezu nur unter Anwendung von Gewalt, die sie aber andererseits auf jeden Fall vermeiden wollte, dazu bewegen zu können, sich ihren Anforderungen zuzuwenden. (So hatte sie schließlich versucht, ihre Tochter E. dazu zu zwingen, sie anzuschauen, als sie glaubte, bei ihr mit ihrem Wunsch nach Zuwendung ins Leere zu laufen.) Ihr Vorgehen war mutmaßlich aus den Erfahrungen mit ihrem durch den Alkoholmissbrauch in seinem Verhalten uneinschätzbaren Vater entstanden, bei dem sie auf eigene autonome Bedürfnisse hin vermutlich meist keine adäquaten Antworten bekam und sich zusätzlich außerdem noch bestraft fühlte. Da sich aus ihrer Sicht kaum jemand für ihre innere Erlebenswelt interessierte, konnte sie keine ausreichenden Erfahrungen machen, mit ihrem Erleben geschätzt und anerkannt zu werden. So ging sie wohl davon aus, in Beziehungen zunächst immer erst einmal hauptsächlich bedienen zu müssen. Nur, wenn sich jemand aus ihrer Sicht zufällig für das interessierte, was ihr wichtig war, bekam sie gelegentlich trotzdem eine adäquate Zuwendung. Aus diesen Beziehungserfahrungen heraus konnte sie es nur schwer ertragen, von ihrer Tochter scheinbar nicht beachtet zu werden. Dass ihrer Tochter gegenüber ihr Akzeptanzspielraum in Bezug auf Nichtachtung so sehr eingeengt war, hing wohl auch mit den vorausgehenden Erfahrungen unter der Geburt und dem anschließenden Kiss- Syndrom und den daraus resultierenden Schuldgefühlen zusammen. Vermutlich hatten sich dabei auch unbewusste Phantasien der Patientin, ohnehin keine ausreichend gute Mutter zu sein, scheinbar bestätigt. Die Beziehungsangebote in den Gesprächen waren für sie, die eher mit Tipps oder Handlungsanweisungen gerechnet hatte, neu und vermutlich überraschend hilfreich. Durch die in Anteilen neuen Erfahrungen, verstanden und in ihren Gefühlen geschätzt und beachtet zu werden, war es ihr möglich, über die dem eigenen Schutz dienenden Abwehrmechanismen (Projektionen) nachzudenken und diese infrage zu stellen. Dadurch gewann sie in begrenztem Umfang neue innere Spielräume. Außerdem traute sie sich, Emotionen zu zeigen, die sie ansonsten eher zurückhielt, begann eigene Wünsche auch direkt einzubringen und machte damit positive Erfahrungen, die sie auch zuhause weiter fortsetzte. Ihrer Tochter gegenüber veränderte sie ihr Verhalten, indem sie mehr auf einen emotionalen Austausch achtete und sich mehr traute, dabei Gefühlsbereiche zu zulassen, die sie bis dahin als potentiell überfordernd für sich und 117 ihren Mann angesehen hatte. Außerdem konnte sie der Tochter E. mehr Eigenständigkeit zugestehen. Herrn D. fiel es wahrscheinlich anfänglich leichter, mit seiner Frau gemeinsam zum ersten Gespräch zu kommen. Als für ihn in den Gesprächen vermutlich überraschend die Empfindungen seiner Tochter zur Sprache kamen, konnten beide Eltern mit einem inneren Abbild von E. in ihrer spontanen, offenen Lebendigkeit vor Augen, in der Sitzung deren Gefühle in sich selbst aufkommen zu lassen. Diese innere Berührung mobilisierte in Herrn D. vermutlich sehr lange aufgestaute Sehnsüchte nach Verständigung, sodass er sich traute, von sich selbst zu erzählen. Nachdem er sich verstanden und akzeptiert fühlte, konnte er unter dem offensichtlich vorhandenen Leidensdruck weitere Gespräche vereinbaren. Er konnte sich, so war mein Eindruck, darauf allerdings nur in einer ambivalenten Haltung einlassen. Einerseits litt er und wünschte sich daher Hilfe. Andererseits war es für ihn mutmaßlich eine schwierige Situation, sich in die Rolle desjenigen zu begeben, der sich etwas sagen lässt. Vorgeprägt durch die Erfahrungen mit seinen Eltern, erlebte er dies vermutlich als eine gefährliche Position. Wie sich später bestätigte, vermutete er in mir einen ihn vereinnahmenden, besserwissenden, männlichen Rivalen, von dem er kaum Verständnis für seine Eigenständigkeit und seine aus der befürchteten Unterlegenheit erwachsenden Empfindungen erwarten konnte. Daher hielt er sich zunächst sehr zurück und anschließend fiel es ihm schwer, mir einen eigenen Raum im Gespräch zuzugestehen. Wahrscheinlich sah er sich, wie bei seiner Mutter, von einer von moralischem Druck begleiteten Vereinnahmung bedroht und gleichzeitig, wie bei seinem Vater, von kastrierenden, wenig Schutz bietenden Gegenangriffen. In seiner Geschichte von der leidvollen Busreise nach einer Hochzeitsfeier in Spanien vermutete ich eine versteckte Darstellung seiner wichtigsten unbewussten Konflikte. Dabei könnte es um die Themen gehen, sich weit von Zuhause zu entfernen, durch eine Heirat eine eigene Familie zu gründen, eine eigenständige Sexualität zu verwirklichen. Ebenso wichtig scheinen aber auch die Erfahrungen, eingeengt zu sein, zurück nach Hause zu müssen und das dadurch ausgelöste Bedürfnis, mitteilen zu wollen (aber nicht zu dürfen oder können), „was wütend macht, was Einem stinkt, was herausgeschleudert werden soll“ und dadurch gleichzeitig die Gefahr heraufzubeschwören, ablehnenswürdig, schmutzig zu sein, ausgestoßen zu werden, nicht mehr dazu zu gehören. 118 Dazu ergänzend vermittelten seine mit diesem Bericht in Zusammenhang stehenden Erlebnissen in der Pubertät und als junger Erwachsener, wie er um Autonomie ringend es vermutlich nötig hatte, in einer aufgesetzten Größenphantasie als Fast-Fußballstar quasi nach vorne zu schießen und dann zu erleben, dass dessen inneres Vermögen bei ersten Erschütterungen auf ein Niveau von drohendem Verlust von Sprach-(Stottern) und Steuerungsfähigkeit abzurutschen droht. Er konnte ja auch lange nicht gehen, war also zusätzlich noch bewegungsunfähig. Daher liegt die Vermutung nahe, dass es in seiner inneren Welt bei der Verwirklichung von Autonomie scheinbar um Alles oder Nichts geht, was die Gefahr einer möglichen gefährlichen Destruktion in Beziehungen heraufbeschwört. Aus diesen Gründen wurde mir verständlich, warum er sich nur zögerlich und vorübergehend auf eine therapeutische Beziehung einlassen konnte, in der ihm aus seiner Sicht vermeintliche Abhängigkeit und gefährliche Rivalität drohten. Das Nachlassen des Leidensdrucks ließ vermutlich die unbewussten Bedenken wieder stärker in den Vordergrund rücken. Dieser Prozess, vor allem aber auch die deutliche Erleichterung, die die positiven Veränderungen seiner Symptome bei ihm und seiner Tochter hervorriefen, führten dazu, dass er, genau wie seine Frau, weitere Sitzungen ablehnte. 4.1.3 Fall 3 Aus Sicht von Frau F. war die Beziehung zu ihrer Mutter dadurch gekennzeichnet, dass sie häufig Mutter der Mutter sein sollte und damit heillos überfordert war. Dieser Eindruck von ihr lässt die Vermutung zu, dass ihre Mutter ihr einen ausreichenden emotionalen Austausch kaum ermöglichen konnte und es ihr an einer realistischen Einschätzung der Bedürfnisse und Fähigkeiten ihres Kindes mangelte. Solche Einschränkungen dürften auch schon in der frühen Kindheit der Patientin eine maßgebliche Rolle gespielt haben, sodass sich hieraus vermutlich folgende Entwicklung ableiten lässt: In Bezug auf die grundlegenden Erfahrungen, gehalten, verstanden und geschützt zu werden, dürfte es erhebliche Defizite gegeben haben. Die aus positiven und negativen Erlebnissen mit der Mutter resultierenden inneren Objekt- und Selbstrepräsentanzen dürften daher von so heftigen, archaischen Affekten begleitet gewesen sein, dass sie nur anteilig in einem „Sowohl-als-auch“ zusammengefasst werden konnten und daher 119 vielfach getrennt voneinander abgebildet werden mussten. Dieser Vorgang diente der Aufrechterhaltung der guten inneren Objekte, die so gegenüber den übermäßig negativen bewahrt werden konnten. Außerdem mussten vermutlich sehr negative Objekterfahrungen nach außen verlagert und auf äußere Objekte projiziert werden. Gleichzeitig erschwerte dieser Prozess die Entwicklung der Symbolisierungsfähigkeit und führte, damit im Zusammenhang stehend, außerdem zu einer Beeinträchtigung der Ich-Entwicklung, also auch der emotionalen Steuerungsfähigkeit von Frau F. Diese Mängel machen sich, wie schon in der Psychodynamik erwähnt, bis in die heutigen Beziehungen hinein bemerkbar. Von den frühen Einschränkungen waren auch die späteren Entwicklungen betroffen. Verstärkend wirkte sich aus, dass Frau F.s Vater ihr, wie sich auch aus ihren späteren Erlebnissen mit ihm rückschließen lässt, als triangulierende Person (außen stehender Dritter) kaum zur Verfügung stand. Die Autonomieentwicklung war erschwert durch die Angst, die Beziehung zu den schlecht erreichbaren Eltern durch zu heftige aggressiv vorgetragene Bedürfnisse zu gefährden bzw. sich schuldig zu machen. Die vielen Todesfälle ihr nahe stehender Angehöriger schienen ihre unbewussten destruktiven Phantasien quasi zu bestätigen. Die damit verbundenen Verlusterlebnisse führten zu zusätzlichen emotionalen Überforderungen, die nahezu traumatisierend wirkten. So wird verständlich, warum sich die Patientin in ihrer Sehnsucht nach einem neuen, besseren Zuhause auf eine erste Liebesbeziehung und Schwangerschaft in tragischer Weise einließ – ohne eingehende Überprüfung und auf eine ihre Konflikte geradezu überspringende Art und Weise. Das anschließende brutale Scheitern dieser Beziehung und die Herausforderung, ihr Kind allein groß zu ziehen, führten aber nicht zu der ihr vorgeschlagenen Abtreibung, sondern zu einem mutigen Sich-den-Aufgaben-stellen. Dieses Vorgehen weist auf durchaus auch vorhandene gute, stabile Ressourcen von Frau F. hin, die sie im entscheidenden Moment mobilisieren konnte. Wie die vorausgehenden kindlichen Erfahrungen ihre spätere Persönlichkeit prägten und wie sie aus dieser Prägung heraus heute ihre Beziehungen aufnimmt, spezifisch gestaltet und handhabt ist bereits ausführlich in der Psychodynamik dargelegt worden. 120 4.1.4 Fall 4 Beide Eltern K. entwickelten durch ihre Ängste, ihre Autonomie zu verlieren, immer wieder negativ bis feindlich eingefärbte Vorstellungsbilder voneinander, in denen sie, um vor vermeintlichen Überraschungen geschützt zu sein, eher vom Schlimmeren ausgingen. Dadurch gerieten sie in die vermeintliche Notwendigkeit, sich auf Auseinandersetzungen und Kampf einzustellen. Gleichzeitig vermieden sie auf diese Weise wohl auch immer wieder den Kontakt mit Gefühlsbereichen, die zu äußern ihnen offensichtlich schwerer viel als das Mitteilen von Ärger: Verletztsein, Trauer, Beschämung, Enttäuschung und Hilflosigkeit. Vor diesem Hintergrund löste ihr Sohn I. durch seine ruhige und voll offenem Vertrauen in die Welt getragene Ausstrahlung ungeplant eine beeindruckende Wirkung aus. Von ihm fasziniert, fast wie von ihm infiziert, entspannten sich seine Eltern und ließen anteilig genau solche Gefühle aufkommen, die sie bis dahin vermieden hatten und zu denen sie ohne seine Anwesenheit in den folgenden Stunden nur schwer einen Zugang bekamen. Aufgrund der negativen Erfahrungen in ihrer Kindheit, die sie in starken Abhängig- keitsbeziehungen zu den eigenen Eltern erlebten, fiel es ihnen vermutlich in der Zeit der Präventionsgespräche schwer, sich auf eine erneute Abhängigkeit in einer psychotherapeutischen Beziehung einzulassen und eine Therapie zu beginnen, obwohl sie mehrfach diesbezügliche Überlegungen anstellten. Ausschlaggebend war für Frau K. wohl auch, dass es ihr in allen, auch den beruflichen Beziehungen, schwer fiel, sich Anforderungen gegenüber Anderen abzugrenzen, was dazu führte, dass sie immer wieder ihre eigene Leistungsgrenze überschritt. Vermutlich hatten diese Schwierigkeiten auch mit zur Entwicklung einer Hyperthyriose (Schilddrüsenüberfunktion) beigetragen. Häufig fühlte sie sich gezwungen, die jeweilige Beziehung zu unterbrechen, um etwas Eigenes verwirklichen zu können, weil sie davon ausging, es nicht innerhalb der Beziehung ausreichend umsetzen zu können. Die besonderen unbewussten Gefahren, die vermutlich für Frau K. in diesem Zusammenhang eine große Rolle spielen, wurden mir erst nach und nach in den Sitzungen zugänglich. Sie hatte von den Erfahrungen mit ihrer Mutter berichtet und herausgestellt, dass diese sie oft freundlich angesprochen zu einer größeren Nähe und Abhängigkeit veranlasst hatte, um ihr anschließend, so der Eindruck von Frau K., um so heftiger unter einem starken moralischen Druck (Asthma und Allergien der Mutter) eine Vereinnahmung und Unterordnung abzuverlangen. Als Kind glaubte die Patientin, sich 121 dafür trotz Überforderung zur Verfügung stellen zu müssen. Dies muss sie als aggressiven Akt des Benutztwerdens erlebt haben. Ähnlich aussichtslos fühlte ich mich teilweise ihr gegenüber, wenn Frau K. in den Stunden zunächst kaum eigene, abweichende Meinungen zum Ausdruck brachte (z.B. ihre offensichtlich großen Vorbehalte gegenüber Psychotherapie), sondern freundlich zugewandt versicherte, an weiteren Gesprächen interessiert zu sein, anschließend den Kontakt aber nicht wieder aufgriff. So vermutete ich, dass sie Angst hat, in einer Psychotherapie in einer ähnlichen Weise wie durch ihre Mutter enttäuscht zu werden. Ihr Verhalten mir gegenüber dient wohl dem unbewussten Wunsch, mich durch das Erleben einer ähnlichen Situation in ihre damalige Lage zu versetzen, damit ich sie verstehen kann. 4.1.5 Fall 5 Aus den Kenntnissen, die sich im Laufe der Sitzungen mit Frau L. und ihrem Sohn M. für mich ergaben, entwickelte ich den Eindruck, dass M. besonders nach der Trennung seiner Eltern in eine für ihn schwierige Konfliktlage geraten war. Er wünschte sich vermutlich, den Eltern seine heftige Wut über das mitzuteilen, was sie ihm durch ihr Auseinandergehen zumuteten. Dieser Wunsch schien ihm aber auch große Angst zu machen, von den Eltern deswegen abgelehnt zu werden. Mutmaßlich war er sich wohl auch nicht sicher, ob ihm es ihm erlaubt war, von den Eltern eine intensive emotionale Anteilnahme zu fordern. So schwankte er zwischen einem hauptsächlich nach außen vorgetragenen, aggressiven Verhalten gegenüber Anderen und einer Autoaggression, die vermutlich durch Schuldgefühle hervorgerufen wurde. Da er sich wahrscheinlich weder in dem Ausmaß seines Ärgers, noch in den Auswirkungen, die dieser auf Andere hatte, sicher war, machte ihm diese Unsicherheit wegen der dadurch für ihn auch nicht sicher einschätzbaren Folgewirkungen erhebliche Angst. Seine diesbezüglichen Konflikte ließen sich in Anteilen aus der eigenen Unsicherheit der Mutter im Umgang mit ihren Aggressionen und Abgrenzungswünschen verstehen, was sie im Laufe der Sitzungen auch in Ansätzen erahnte. Dies trug dazu bei, sie zur Aufnahme einer eigenen Therapie zu motivieren. Eine entscheidende Rolle spielte darüber hinaus, dass der Vater ihm zu einer ausgleichenden alternativen Erfahrung nicht zur Verfügung stand, was sich auch durch 122 seine Abwesenheit während der Präventionsgespräche bestätigte. (Kurz vor Abschluss dieser Arbeit meldete er sich doch noch und nahm ebenfalls Gespräche auf, die den bisherigen Eindruck bestätigten.) 4.2 Überlegungen zu Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomenen, Widerständen und therapeutischen Interventionen In den angebotenen Präventionsgesprächen kam es mir insbesondere in den ersten Sitzungen darauf an, den Erwachsenen und Kindern zunächst eine möglichst unbeeinflusste eigene Gestaltung des Geschehens zu überlassen. Dadurch ergab sich für diese die Chance, ihre teils aus den Erfahrungen der Vergangenheit geprägten, teils aus dem aktuellen Geschehen abgeleiteten Sichtweisen auf die am Gespräch beteiligten Personen zu übertragen (Übertragung). Der sich hieraus ergebende Umgang mit dem Untersucher ermöglichte es diesem, die dabei in ihm ausgelösten Emotionen zuzulassen und wahrzunehmen (Gegenübertragung). Im weiteren Verlauf ging ich von der Hypothese aus, dass sich die beteiligten Familienmitglieder durch ihr Vorgehen zum Teil bewusst, zum Teil unbewusst unter anderem vor einem möglichen Wiedererleben von schmerzlichen oder unangenehmen inneren Belastungen und Konflikten schützen wollten und dass sie versuchten, diese unbewusst auf ihr Gegenüber zu verschieben. Durch die emotionale Beteiligung und ein reflektierendes und analysierendes Nachdenken über die möglichen Zusammenhänge, Motive, Auswirkungen und Ziele wurde es anschließend möglich, diese Hypothesen zu bestätigen oder zu widerlegen. Insgesamt ergab sich daraus die Chance, über einen intellektuellen Zugang hinaus zu einem vertieften, hautnahen, emotionalen Verstehen zu kommen. Wie schon in der theoretischen Einleitung, der Beschreibung der Ziele der Studie und den psychodynamischen Überlegungen erläutert, zeigte sich bei allen an der Prävention beteiligten Eltern, dass sie in dem Verhalten gegenüber ihren Kindern stark durch die prägenden Erfahrungen ihrer eigenen Kindheit beeinflusst werden. Alle Eltern, besonders die Mütter, hatten Hemmungen, ihren Ärger oder deutliche Forderungen den beteiligten bzw. betroffenen Personen (unter anderen auch dem Therapeuten) gegenüber authentisch mitzuteilen. Die Ursache hier für ist vermutlich ein ihnen in weiten Teilen 123 unbewusster Autonomie-Aggressionskonflikt, der unterhalten wird von nur teilweise bewussten Ängsten davor, die jeweilige Beziehung zu gefährden, sich schuldig zu machen oder abgelehnt und enttäuscht zu werden. Für die Mütter Frau A., Frau D., Frau F. und Frau L. war ihr angepasstes Verhalten sehr geläufig, nahezu so „normal“, dass sie sich ein alternatives Vorgehen nur in sehr begrenztem Umfang vorstellen konnten. Bei Frau F. spielte in diesem Zusammenhang auch eine große Rolle, dass ihre unbewussten Abgrenzungswünsche nicht nur mit destruktiven Phantasien verbunden waren, sondern dass diese durch die vielen Todesfälle und Trennungen auf der realen Ebene scheinbar tatsächlich bestätigt worden waren. Dadurch waren ihre unbewussten Schuldgefühle vermutlich von großer Intensität und sehr bestimmend für ihr Handeln. Auch Frau K. hielt sich dem Untersucher zunächst nicht nur mit jeglicher Kritik zurück, sondern zeigte stattdessen eine besondere Freundlichkeit. Zu einer Abgrenzung war sie – insbesondere in der Anfangsphase – erst nach den Sitzungen gelegentlich in der Lage. Diese nachträgliche Abgrenzung fiel dafür aber umso heftiger aus. Den beiden Vätern, Herrn D. und Herrn K. fiel es leichter, aggressiv gefärbte Forderungen einzubringen. Dabei empfand es Herr D. als angenehmer, wenn er diese, über Erfahrungen mit außen stehenden Dritten zum Ausdruck bringen konnte, um den direkten Kontakt zu vermeiden. Es war daher für alle Eltern gleichermaßen sehr wichtig, ihnen bereits zu Beginn einen weiten Spielraum zur Gestaltung der Sitzungen zu überlassen, um mit ihnen gemeinsam anhand ihrer szenischen und verbalen Gestaltung des Gesprächverlaufs ihre zugrunde liegende Psychodynamik nicht nur theoretisch, sondern durch die unmittelbare Beteiligung auch emotional zu verstehen. Die Möglichkeiten der Eltern, eine eigene Initiative ergreifen und das Gespräch maßgeblich mitbestimmen zu können, führte nicht, wie vermutlich gewohnterweise von ihnen befürchtet, zu einer Kollision oder Konfrontation, sondern zu einer Verständigung auch über die Schwierigkeiten, die im Zusammenhang mit Abstimmungsprozessen auftreten können, wenn Anliegen und Forderungen gegenseitig aus- und vorgetragen werden. Auf diese Weise konnte ihr unbewusster Autonomie-Abgrenzungskonflikt angesprochen werden. Allen Eltern fiel es offensichtlich nach diesen vermutlich aus ihrer Sicht selten erlebten bzw. neuen Erfahrungen leichter, Vertrauen aufzubauen und von wichtigen, persönlichen, prägenden Erlebnissen zu berichten, die entscheidend zu einem weiteren Verstehen 124 beitrugen. An Psychotherapiegesprächen mit Erwachsenen nehmen Babys bzw. Kleinkinder gewöhnlich nicht teil. In den Präventionsgesprächen wirkte sich ihre Anwesenheit durch ihre für speziell dieses Alter typische, offene und direkte Art und Weise, ihre Gefühle zu äußern, außerordentlich anregend, oft erstaunlich positiv auf den sich entwickelnden Prozess aus. Während es oft in Gesprächen mit Erwachsenen sehr mühevoll ist, gegen erhebliche unbewusste Widerstände anarbeitend zu einem neuen Verstehen vorzudringen, gelang es diesen kleinen Kindern, die Abwehrmechanismen ihrer Eltern z. T. mit Leichtigkeit zu unterlaufen und sie zum Mitteilen von Empfindungen und heimlichen Wünschen zu ermutigen. Nach diesen ersten positiven Erfahrungen reichte später im Verlauf der Sitzungen, in denen die Kinder nicht anwesend waren, schon meine Anregung, die Eltern möchten sich intensiv in die Gefühlswelt ihrer Kinder hineinversetzen, um eine breite emotionale Öffnung zu erleichtern. Dies zeigte sich zum Beispiel bei Herrn D., der sich traute, zum ersten Mal mit einer außen stehenden Person über ein ihn lange belastendes Problem zu sprechen, oder bei Familie K., die leichter über ihre Enttäuschungen und Gefühle des Verletztseins sprechen konnten, nachdem sie zunächst nur ihre Wut geäußert und sich gegenseitig beschuldigt hatten. Die gerade beschriebenen Besonderheiten, die sich durch die direkte und indirekte Anwesenheit der Kinder ergaben, führten zwar zu den beschriebenen Erleichterungen, aber nicht zur kompletten Auflösung der charakterlichen Prägungen und individuellen Widerstände bei den Erwachsenen, die nachfolgend beschrieben werden. Ohne dass es ihnen immer bewusst war, hegten alle Eltern erhebliche Zweifel, eigene Fähigkeiten von z.T. zentraler Bedeutung zu besitzen. Sie waren sehr unsicher, mit ihren Wünschen nach einem emotionalen Austausch und dem Äußern von Gefühlen, eine Fähigkeit zu besitzen, Andere erreichen zu können. Im Gegenteil gingen sie meistens davon aus, Gemeinsamkeit nur durch ein beim Anderen bereits vorhandenes Interesse herstellen zu können. Daher gestalteten sie ihr Verhalten so, dass sie durch Bedienen und Einstellen auf ihr Gegenüber herauszufinden versuchten, welche Interessen und Themen auf der Gegenseite vorhanden sein könnten, um daran ausgerichtet eigene Interessen einzubringen. Es zeigte sich außerdem, dass sie in manchen Situationen davon ausgingen, ihr jeweiliges Gegenüber durch Zwang zu einer Zuwendung und Öffnung veranlassen zu 125 müssen. Ursache dafür war ein eingeschränkte, z. T. auch fehlender emotionalen Austausch in ihrer eigenen Kindheit mit der Folge, dass sie die damit verbundene Wertschätzung nicht oder nur anteilig erfahren hatten, auch dann geschätzt zu werden, wenn sie sich mit belastenden Affekten an ihre Eltern wandten. Diese Erfahrung wäre aber notwendig gewesen, um ein ausreichendes Selbstwertgefühl zu entwickeln. Damit zusammenhängend mangelte es ihnen darüber hinaus auch an der Erfahrung, umsorgt zu sein. Zum Aufbau einer ausreichenden eigenen Fähigkeit, um Andere besorgt sein zu können, hätten sie dies jedoch dringend gebraucht. Frau F. z.B. war auf der Ebene der äußeren Versorgung um G. sehr engagiert. Was ihr aber häufig fehlte, war die innere Anteilnahme in bestimmten, für sie selbst schwer zugänglichen emotionalen Bereichen, in denen sie in ihrer Kindheit nicht ausreichend wahrgenommen worden war. Als Folge der geschilderten Defizite glaubte Frau D. z.B. zeitweise, ihr Kind nur durch Zwang erreichen zu können. (Sie hielt den Kopf ihrer Tochter auf sich gerichtet und versuchte so, deren Zuwendung zu erzwingen.) In den Sitzungen traute sie sich anfangs nicht, Gefühle und Wünsche zu äußern und fühlte sich daher ganz auf die Darstellung der äußeren Abläufe angewiesen. Ähnlich verhielt sich ihr Ehemann, der sich auf der bewussten Ebene – wohl aus der Befürchtung, nicht wichtig zu sein – am Anfang der Sitzung nicht von sich aus meldete und mich dadurch, wie seine Frau, unbewusst zwang, mich auf ihn hin zu bewegen, mir Gedanken zu machen, was ihn wohl emotional bewegen könnte und nur durch mein Entgegenkommen eine Chance auf Annäherung zu bekommen. Bei Frau F. kam hinzu, dass sie auch später in den Sitzungen kaum Gefühle zeigte und in einer sehr konkretistischen Darstellung wohl ihre einzige Möglichkeit sah, mir ihre Anliegen nahe zu bringen und eine anerkennende Beachtung erreichen zu können. Alle Eltern versuchten dadurch vermutlich, Enttäuschungen und das Gewahrwerden von beschämenden Unzulänglichkeiten zu vermeiden. Alle bemühten sich, keine aggressiven Forderungen einzubringen, weil sie unbewusst davon ausgingen, die Beziehung zu beschädigen bzw. mit heftigen Gegenangriffen rechnen zu müssen, was gerade bei Frau D., Frau F. und Frau K. eine große Rolle spielte. Bei den Männern Herrn K. und Herrn D. ging es wohl auch um die Abwendung von zu heftigen, männlich rivalisierenden Auseinandersetzungen und um die Abwehr von Kastrationsängsten. Sie bedienten freundlich durch die Schilderung ihrer Erlebnisse und 126 erwarteten eine professionelle Kompetenz meinerseits, die sie sich zwar einerseits wünschten (verbunden mit der Gefahr, darauf angewiesen zu sein), die sie aber andererseits sehr bald als bedrohende Infragestellung ihrer Autorität erlebten. Daher versuchten sie sich dagegen zur Wehr zu setzen durch ihre häufigen Korrekturen bzw. durch die Ablehnung meiner Äußerungen, die sie nicht akzeptieren zu können glaubten. Gleichzeitig diente ihr Vorgehen vermutlich unbewusst der frühzeitigen Abwehr von Abhängigkeit und stärker werdenden Affekten. Sie versuchten, mich zum Nachfassen und Dagegen-Angehen zu veranlassen, um mich dadurch in die männliche Rolle zu bringen, die sie von ihren Vätern gut kannten, und die gleichzeitig eine Bestätigung ihrer alten Beziehungserfahrungen bedeutet hätte. Hierdurch konnten sie sich in ihrer Ambivalenz die Möglichkeit zu einem Abbruch des Kontaktes eröffnen. Daher versuchte ich, sie zunächst einmal in ihrem Vorgehen zu akzeptieren und dieses nicht als bloßen Angriff gegen mich, sondern umfassender als ein von unbewussten Motiven geleitetes Handeln zu verstehen. Ich versuchte, daher meine Überlegungen bezüglich ihrer unbewussten Tendenzen in Anteilen anzusprechen, um sie ihnen bewusst zu machen, sie zu verifizieren und ihnen zugleich neue korrigierende Erfahrungen in männlich, rivalisierenden Situationen zu ermöglichen. Als sie sich ihrer Motive bewusst wurden und sich auch in diesen Beweggründen tatsächlich akzeptiert und verstanden fühlten, konnten sie bleiben. Dieses Bewusstmachen unbewusster Vorgänge wird in der psychoanalytischen Fachsprache als Deutung (Mertens,1990) bezeichnet und ist ein spezifisches, hoch wirksames Element psychoanalytischer Vorgehensweise. Es ermöglicht, dass Faktoren mit einbezogen werden können, die das Beziehungsgeschehen häufig wesentlich beeinflussen. Hierdurch werden ein umfassenderes und ein, häufig auch für das von den Betroffenen angestrebte Ziel, wesentliches Verstehen erst ermöglicht. Erst dadurch ist es oft für die Beteiligten möglich, adäquat zu handeln. Darin unterscheidet sich die hier vorgestellte Art der psychoanalytischen Prävention u. a. essentiell von anderen. Entgegen ihren geschilderten Erfahrungen aus den bisherigen Beziehungen kam es daraufhin in den Präventionssitzungen weder zum Vermeiden bestimmter Themen noch zum Scheitern der Gespräche. Bei Herrn D. führte diese Wertschätzung zu einer Änderung seiner inneren Haltung. Er nutzte die sich für ihn aus den neuen Erfahrungen ergebenden Handlungsspielräume vielfältig, sowohl in den weiteren Sitzungen und gegenüber seinen Arbeitskollegen als auch in seiner Familie, hier besonders zu einem verstärkten emotionalen Austausch. Allerdings mobilisierte sein Vorgehen die 127 unbewussten Ängste, die sich ja durch einige positive neue Erfahrungen nicht vollständig aufgelöst hatten. Infolgedessen führten seine erweiterten autonomen Möglichkeiten gleichzeitig, wie schon in seiner Kindheit, zu einer nach vorne schießenden, nach Unabhängigkeit strebenden Verselbständigung und dem Aufbau eines erhöhten Idealbildes von sich Selbst, durch das er sich abverlangte, vieles gleichzeitig allein und möglichst gut zu bewältigen. Nicht nur bei Herrn D., sonder auch bei Herrn K. hatten meine Deutungen den wohl unmittelbar bevorstehenden Beziehungsabbruch verhindert. Er fühlte sich in seinem dringenden Wunsch respektiert, in männlich rivalisierenden Situationen einen eigenen Spielraum zur Abgrenzung zu haben, und konnte daher nicht nur bleiben, sondern sich auf eine entscheidende Erweiterung des emotionalen Austausches einlassen. Bei allen Erwachsenen z. T. auch bei den Kindern, insbesondere aber bei Frau D. und Frau K., die sich erst im Verlauf der Gespräche traute, eigenen Ärger auf mich zu äußern, spielten mutmaßlich auch unbewusste Schamgefühle bezüglich ihrer eigenen Minderwertigkeitsgefühle eine wichtige, die Handlungsspielräume einengende Rolle. Aus den Schilderungen der eigenen Kindheit durch die Eltern ist von starken Beschämungsgefühlen auszugehen, die im Zusammenhang mit Erlebnissen von Unwirksamkeit und Hilflosigkeit auftraten. Derartige Erfahrungen mit unzulänglichen Abwehr- und Verständigungsmöglichkeiten führten in der frühen Kindheit vermutlich auch zu archaischen, heftigen Affekten, die die Steuerungsmöglichkeiten der Kinder, aber auch das Containing der Bezugspersonen überforderten. Außerdem kam es wohl auch zu stark negativ eingefärbten inneren Abbildern (Repräsentanzen) solcher Erfahrungen, die im Laufe der Entwicklung ein Zusammenführen von guten und negativen Selbst- und Objektrepräsentanzen in einem „Sowohl-als-auch“ erschwerten. Dies hatte vermutlich zur Folge, dass einerseits Anteile der negativen Erfahrungen nach außen projiziert werden mussten und andererseits die Fähigkeit der Symbolisierung eingeschränkt wurde, was wiederum die Entwicklung der Ich-Möglichkeiten bzw. der Steuerungsfähigkeiten beeinträchtigte. Im Falle des Ehepaares D. führte dies später im Erwachsenenleben, also in den Gesprächen, zur Anwendung von Abwehrmechanismen, die auf Beeinträchtigungen aus einer Zeit der frühen Kindheit zurückzuführen sind, in der nur unzulängliche, wenig differenzierte Abwehrmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Es gelang ihnen, auf mich eigene Anteile zu projizieren, mit denen ich mich zunächst von mir selbst unbemerkt 128 identifizierte, also anteilig so wurde wie sie. (Ich übersah Herrn D. am Anfang einer Sitzung und mir war anscheinend ein Zusammenkommen nicht so wichtig. Frau D. gegenüber verlor ich scheinbar vorübergehend das Interesse an bestimmten Emotionen und damit auch an einem emotionalen Austausch.) Noch intensiver wirkten sich mutmaßlich die frühen Erfahrungen für Frau F. aus, die mangels ausreichender Symbolisierungsfähigkeit auf eine konkretistische, weitgehend emotionsarme Mitteilung ihrer Erlebnisse angewiesen war und gleichzeitig unbewusst zu einer Aufspaltung in polarisierte Vorstellungsbilder nach dem Schwarz-Weiß-Muster gezwungen war. Daher lag der Schwerpunkt im Umgang mit ihr auf der Stärkung und Stützung ihrer Ich-Funktionen und in der Vermeidung von Affektüberflutungen. Dabei war ich außerdem bemüht, Gefühle, die sie nicht äußerte, nicht nur zu benennen, sondern auch in für sie erträglicher Form wieder zu geben (Containing), um ihr durch diese Erfahrungen auch gegenüber G. neue Möglichkeiten bezüglich eines emotionalen Austausches zu eröffnen und ihren Projektionen entsprechend dem Schwarz-Weiß- Muster entgegenzuwirken. Ohne die Möglichkeit, diese speziellen Übertragungsphänomene zu erkennen und zu verstehen, hätten sich, so meine Hypothese, gravierende Auswirkungen und Einschränkungen ergeben können, die den Erfolg der Prävention in Frage gestellt hätten. Zu den eben beschriebenen Schwierigkeiten trug maßgeblich bei, dass sich für alle Eltern zu der Zeit, als sie Kinder waren, kaum Gelegenheiten ergeben hatten, in schwierigen Zweierbeziehungen verstrickt außenstehende, hilfreiche dritte Personen zu erreichen, die ihnen einen Schutz und alternative, entlastende Erfahrungen ermöglicht hätten (Triangulierung). Dadurch mussten sie sich mit schwer aushaltbaren Emotionen auf sich selbst gestellt fühlen, was einer nicht zu bewältigenden Überbelastung gleich kam. Dies war beispielsweise bei Frau D. mit ihrem alkoholkranken Vater der Fall oder auch bei Frau K., wenn sie von ihrer Mutter durch Vorhaltung ihrer Krankheiten moralisch nahezu erdrückt wurde und sich daher von dieser aus- und benutzen lassen musste. Die hier beschriebenen psychischen Entwicklungen der Eltern wirken sich auf das Verstehen ihrer Kinder und den Umgang mit ihnen aus. Allen Eltern war teils bewusst, teils unbewusst sehr daran gelegen, Gefühlszustände zu vermeiden, die in ihrer Kindheit zu überfordernden, schmerzlichen Erfahrungen geführt hatten. Diese Erlebnisse führten 129 auch dazu, dass sie im späteren Leben davon ausgingen, mit solchen Affekten immer wieder allein gelassen zu werden, nachdem sie schon durch ihre eigenen Eltern zu wenig oder keine Unterstützung erhalten hatten. Außerdem fehlte den Eltern im Bereich dieser Affekte die Erfahrung, dass ein gemeinsames Erleben zu einer, oft der einzig möglichen, Entlastung führen kann. Daher konnten sie aus diesem Grunde in der Regel kaum auf die Idee kommen, ihren Kindern einen diesbezüglichen emotionalen Austausch anzubieten. Aus den Verhaltensweisen der Kinder lässt sich schließen, dass diese den Widerstand ihrer Eltern gegen das Wiedererleben bestimmter Emotionen spürten und ihr Wunsch, sich mit den Erwachsenen auszutauschen, daher zu der Entwicklung eines Konfliktes führte. Auf die durch ihre Eltern erfahrene diesbezügliche Ablehnung reagierten die Kinder je nach Alter und Dauer der sich wiederholenden Erfahrungen mit unterschiedlichen Empfindungen, z.B. mit Wut, Enttäuschung, Hilflosigkeit und Schuldgefühlen. B., der durch seine Mutter meist entweder nur unklare Grenzen gesetzt bekam oder in einer solchen Heftigkeit, dass ihm keine Spielräume verblieben, seine in diesen Momenten ausgelösten Empfindungen mitteilen zu können, konnte daher, obwohl schon 2½ Jahre alt, die abverlangten Begrenzungen nicht akzeptieren. Dies war für ihn in den Sitzungen und später zuhause aber möglich, als ihm mit den für ihn klarer erkennbaren Beschränkungen auch ein genügend großer eigener Spielraum z.B. für die Vermittlung seiner Gefühle eingeräumt wurde. Die 14 Monate alte E. konnte trotz ihres geringen Alters teilweise Eingrenzungen ihrer Eltern, besonders ihres Vaters, akzeptieren. Hauptsächlich versuchte sie sich gegen einzelne zu starke Einengungen ihrer Mutter (Zwang, sie anzusehen) zur Wehr zu setzen. In den Gesprächen genoss E. den ihr zur Verfügung gestellten eigenen Raum. Als sie sich im Laufe der Zeit – die Gespräche zogen sich über vier Monate hin – sicherer geworden war, dass ihr dieser Spielraum auch durch die Mutter zur Verfügung gestellt wurde, konnte sie sich ebenso leicht von den Bezugspersonen abwenden, wie auch problemlos wieder zuwenden. Dies gelang aber erst, nachdem es ihren Eltern nicht nur intellektuell, sondern auch durch die konkreten Erfahrungen in den Gesprächen deutlich wurde, dass es im Austragen von eigenen Anliegen nicht wie in ihrer Kindheit häufig um ein Alles-oder-Nichts-Prinzip ging, sondern oft um akzeptable begrenzte Wünsche, die nur Teilbereiche betreffen. Ihnen wurde dabei aber auch deutlich, dass es 130 oft nicht einfach ist, dies herauszufinden. G., der jüngste Teilnehmer, kam im Alter von 6½ Monaten zu den Präventions- gesprächen. Obwohl keine körperlichen Erkrankungen vorlagen, war er in seiner motorischen Entwicklung deutlich zurückgeblieben. Seiner sehr jungen, verunsicherten und überforderten Mutter fiel es schwer, G.s Empfindungen von hilflosem Wimmern, beunruhigtem, länger andauerndem Schreien, untröstlichen Weinen mitzuerleben und seine Gefühle in sich aufkommen zu lassen, um sie zu verstehen und in erträglicher Form an ihn zurück zugeben, damit er sich verstanden und geborgen fühlen konnte. Er wandte sich in emotionalen Notsituationen häufig an andere ihm zur Verfügung stehende Bezugspersonen. Daher fiel es ihr auch im Verlauf der weiteren Entwicklung von G. schwer, ihm Grenzen zu setzen, da sie wusste, dass sie bei ihm Affekte auslösen würde, die sie sich und ihm gerne erspart hätte. Zunächst versuchte ich, die bei Frau F. vorhandenen Ressourcen bezüglich ihrer Ich- Funktionen zu stärken und ihr dabei zu helfen, durch Interventionen, Konfrontationen und Deutungen ihre emotionalen Spielräume zu erweitern. Dabei spielten das Benennen von ihren nicht geäußerten Affekten und deren vorsichtige, erträgliche Vermittlung eine wichtige Rolle. Offensichtlich gelang es daraufhin G. und ihr, besser mit Gefühlen von Verunsicherung umzugehen. Dies war für G. von entscheidender Bedeutung, um Frustrationen, ausgelöst durch kleine Misserfolgserlebnisse bei seinen Lernvorgängen besser aushalten zu können, um das Lernen und Ausprobieren weiter fortsetzen zu können. Mit Unterstützung von Krankengymnastik verbesserte sich seine motorische Kompetenz innerhalb kurzer Zeit erheblich. Auch seine Neugier und seine Freunde am Ausprobieren neuer Erfahrungen, nachdem er Laufen gelernt hatte, entwickelten sich gut. Bei I., der im Alter von 11 Monaten in die Praxis mitgebracht wurde, und bei der 14 Monate alten E. waren körperlichen Erkrankungen vorausgegangen, die bei Kindern gewöhnlich heftige Schmerzen verursachen. Daher war es für die Eltern K. und D. besonders schwer, das emotionale Leiden ihrer Babys zu lindern und ihnen dadurch in ausreichenden Maße das Erleben von Schutz und Geborgenheit zu vermitteln. Für I. und E. verband sich in stärkerem Maße als bei anderen Babys das Zusammentreffen von Ohnmachtsgefühlen und körperlichen Schmerzen in einem gemeinsamen Erleben. Die für die meisten Erwachsenen schwierige emotionale Begleitung ihrer Kleinkinder 131 im Bewältigen von Hilflosigkeitsgefühlen, stellte für diese Kinder und ihre Eltern eine besondere Herausforderung da. Die Eltern K. und D. sowie die Kinder I. und E. lösten diese Aufgabe vermutlich etwas unterschiedlich, was möglicherweise mit den größeren Meinungsverschiedenheiten zwischen den Eltern K. zu tun hatte. Während auch für E. Hilflosigkeitszustände schwer aushaltbar waren, beeinflusste dies ihre Einstellung gegenüber den von ihren Eltern gesetzten Grenzen aber nur passager. Viel dramatischer verlief die Entwicklung diesbezüglich bei I., der die von den Erwachsenen aufgestellten Begrenzungen fast nur unter Anwendung von starkem Druck vorübergehend annahm, aber nicht übernahm. Offensichtlich spielte der fehlende emotionale Austausch beim Vater für I. eine wichtige Rolle, ohne dass Frau K. ihm eine ausreichende, schützende Alternative bieten konnte. Er versuchte immer wieder, den Vater in die ohnmächtige Position zu bringen, in der er sich dem Vater gegenüber erlebte, unter anderem dadurch das er schon begann, seine Ohren „auf Durchzug zu stellen“. Der Vater sollte auch im Moment seiner Machtentfaltung für Hilflosigkeitsgefühle offen sein. Da der den Verständigungsversuch seines Sohnes aber als Angriff missverstand, konnten sie nicht zusammen kommen. Der Vater K. war in den Gesprächen letztlich erst für neue Sichtweisen erreichbar, als ich ihm in einer Deutung aus einem von ihm ausgelösten authentischen Erleben heraus mitteilen konnte, dass es ihm wichtig war, in mir ein Gefühl der Ohnmacht hervorzurufen, damit ich verstehen kann, wie es ihm damit in seinem Leben ging. I. konnte sich in den Stunden an die ihm gesetzten Regeln halten, als er nachvollziehen konnte, was gemeint war, und er merkte, dass ein Raum für den emotionalen Austausch vorhanden war. Frau K. fiel es aber zunächst schwer, ihrem Sohn wegen der auch von ihr gefürchteten Affekte eine Grenze zu setzen. Solange es ihr möglich war, versuchte sie am liebsten, sich durch Andeutungen darum herumzudrücken. Durch das erweiterte Verstehen und Erleben in den Sitzungen gelang es ihr, I. ihre Grenzen klarer vermitteln und ihm einen Spielraum für seine Empfindungen anbieten. M., der seinen Eltern unter anderen Gefühlen auch den Ärger, den die Scheidung bei ihm ausgelöst hatte, gerne in vollem Ausmaß vermittelt hätte, traute sich dazu allenfalls ansatzweise. Ambivalent hin und her schwankend, richtete er seine heftigen Aggressionen teilweise nach außen gegen andere Kinder, teilweise nach innen gegen sich selbst. Dabei fiel auf, dass er zeitweise, wenn er sich den anderen Kindern gegenüber aggressiv verhielt, wenig Besorgnis um diese zeigte und auch für die ermahnenden Erwachsenen scheinbar unerreichbar war, indem er seine Ohren 132 gelegentlich „auf Durchzug stellte“. Er war in diesen Momenten mit dem Aggressor identifiziert, wie er ihn erlebt hatte und versuchte offensichtlich die anderen in die Lage zu bringen, in der er vorher als Betroffener war. Da ihm bei seinem Vorgehen schließlich auch von seiner Mutter harte Grenzen gesetzt wurden, befürchtete er vermutlich den Verlust der Beziehung, den er sich angesichts der Trennung seiner Eltern schon gar nicht leisten konnte. Daraufhin wendete er voller Angst seine Wut gegen sich selbst. In den Präventionsgesprächen verweigerte er sich zunächst passiv, sodass ich vermutete, dass er nicht genau wusste, warum seine Mutter zu mir gekommen war. Er befürchtete vielleicht, von mir wegen seiner Aggression ausgeschimpft oder abgeschoben zu werden, weil seine Mutter mit diesen Emotionen nicht fertig wurde. Daher zeigte ich seiner Unsicherheit und seinem Protest gegenüber Verständnis, sodass er sich akzeptiert und ernst genommen fühlen konnte. Diesen Spielraum testete er, so war mein Eindruck, sofort aus, in dem er aus der passiven Haltung in die Aktivität wechselte. Dass er dabei von der Passivität ausgehend einen mittleren Bereich quasi übersprang und relativ schnell zu einer heftigen Attacke kam, in der das Krokodil gleich den Polizisten auffraß, deutete auf bestimmte Erfahrungen hin, die er aus seiner Sicht gemacht hatte. Offensichtlich glaubte er, entweder quasi aussichtslos passiv sein zu müssen oder, wenn überhaupt, dann gleich sehr heftig loslegen zu müssen. Dieses Verhalten zeigte, dass er vermutlich nicht damit rechnete, von Anderen ausreichende Besorgnis und verlässlichen Schutz erhalten zu können. Daraus ergab sich vermutlich aus seiner Sicht, dass er glaubte, sich nur durch massives Vorgehen selbst ausreichend schützen zu können. Dies bestätigte sich, als er kleinen, unabgesprochenen Interventionen meinerseits so begegnete, dass deutlich wurde, dass er sich sehr ungeschützt fühlte und daher heftig mit fast kompletten Rückzug reagierte. Ich vermutete, dass ihm, wie auch den anderen Kindern, ausreichende triangulierende Erfahrungen fehlten, die ihm in bedrohlichen Situationen in den jeweiligen Zweierbeziehungen eine hilfreiche, schützende, mildernde, alternative Erfahrung ermöglicht und damit eine Gewissheit vermittelt hätten, dass er damit rechnen kann, dass immer jemand verlässlich um ihn besorgt ist, ohne ihn einzuengen. Deshalb ging ich nicht nur auf seinen Ärger ein, sondern sprach nach einiger Zeit auch seine Angst und Hilflosigkeit an, um ihm zu vermitteln, dass ich durch seine Wut nicht nur nicht vernichtet wurde, sondern auch weiterhin in der Lage war, ihn zu schützen und um ihn besorgt zu sein. Ich vermutete nämlich, dass seine von der Mutter 133 geschilderte vermehrte Ängstlichkeit, ähnlich wie bei B., damit zusammenhing, dass er sich nach erfolgreichen Attacken gegen die Mutter im Nachhinein unsicher war, ob es überhaupt Bezugspersonen gab, die seinen Angriffen standhalten können und auf deren Schutz er sich verlassen könnte. 134 4.3 Ergebnisse der Präventionsinterventionen 4.3.1. Vorspann In der hier vorgestellten Prävention kam es darauf an, durch ein aus der Psychoanalyse abgeleiteten Verfahren einen neuen Zugang des Verstehens zu eröffnen. Es wurden keine Vorgaben gemacht und keine anamnestischen Fragen gestellt, bis auf die in einem kleinen Fragebogen abgefragten äußeren Daten, um Informationen zu ermöglichen zu wichtigen körperlichen Erkrankungen, sowie zu allgemeinen Vorkommnissen, die von den Teilnehmern nach eigener Einschätzung selbstständig ausgewählt werden konnten. Durch die offene, den Gesprächspartnern überlassene Vorgehensweise ergaben sich die relevanten Daten im Laufe der Gespräche. Dabei zeigten sich einige für die Kommunikation zwischen Eltern und Kindern wichtige, Besonderheiten, die vermutlich auf den Erwachsenen und Kindern im Wesentlichen unbewusste intrapsychische Konflikte, Schwächen in der Regulation und Kontrolle, Symbolisierungsfähigkeit und Selbstentwicklung zurückgingen. Wegen der begrenzten zur Verfügung stehenden Zeit von maximal 10-15 Sitzungen wurde hierauf, durch eine angemessene Haltung und ein entsprechendes Verhalten so eingegangen, dass neue Erkenntnisse und Erfahrungen unmittelbar im Ablauf des Geschehens möglich wurden unter Würdigung des Engagements und der Fähigkeiten der Beteiligten. Bei entsprechenden Gelegenheiten, sofern es angebracht und sinnvoll erschien, wurden unbewusste Zusammenhänge, ähnlich wie in einer Psychotherapie, gedeutet. Für alle Eltern spielten ein Autonomiekonflikt, sowie die Konflikte, die sie im Zusammenhang mit ihren Wünschen nach emotionalem Austausch entwickelt hatten, eine zentrale Rolle. Diese mit ihnen zusammen anzugehen, war auch deswegen wichtig, weil auch ihre Kinder z.T. schon begannen, ähnliche Konflikte zu entwickeln. Daraus könnte sich durch die zu erwartenden Verdrängungsprozesse der Beginn einer neurotischen Persönlichkeitsentwicklung ergeben, den es ja gerade zu verhindern galt. In den Sitzungen, in denen die Eltern vom Therapeuten eine über die eigenen Möglichkeiten hinausgehende professionelle Kompetenz erwarteten und sich auf diese angewiesen fühlten, also die Rolle von Hilfsbedürftigen einnahmen, wurden sie gleichzeitig in ihren Ansichten und Ideen akzeptiert und ernst genommen. Diese Erfahrung, dass anteilige Abhängigkeit die Eigenständigkeit nicht ausschließt 135 bzw. sogar zu ihrer Förderung beitragen kann, half ihnen vermutlich, sich auch selbst gegen die Einwände ihres Überichs und Ichideals neue Initiativen zu zutrauen. Diese wurden z.T. bei Bedarf durch beratende Vorschläge ergänzt. 4.3.2. Ausgangsituationen der Familien und Ergebnisse der Prävention im Vergleich Bei Frau A. die als Erste zu den Präventionsgesprächen kam, und ihrem neuen Lebenspartner, erwiesen sich insgesamt drei Gespräche und die Erfahrungen, die sie mit B. in der Stunde machte, als ausreichend. Dadurch dass sich Frau A. nach den Gesprächen den Hilfestellungen ihres Partners gegenüber sehr viel leichter und intensiver, als die anderen Frauen der Einzelfallstudien, öffnen konnte, konnte sie neue Verhaltensweisen, die bisher durch ihr Über-Ich blockiert gewesen waren, erfolgreich ausprobieren, sodass die Anfangssymptomatik von B. nach kurzer Zeit verschwand. Es entstand dadurch der Eindruck, dass beide mit den anstehenden Problemen nun allein zu Recht kommen würden, so wie sie es auch angekündigt hatten. Damit wurden die Gespräche beendet und vereinbart, dass sich die Familie bei Schwierigkeiten jederzeit wieder melden könne, worauf sie aber nicht zurückgekommen sind. Die deutlicheren Vorbehalte und die ambivalente Haltung von Herrn D. gegenüber den Gesprächen deuteten auf intensivere Widerstände bzw. Abwehrmechanismen hin. Daher war mit einer größeren Anzahl von Gesprächen mit dem Ehepaar D. zu rechnen, insgesamt letztendlich sieben Sitzungen, die sich über vier Monate hinzogen. Die offene Handhabung ihres Gestaltungsspielraumes und die emotionale Anteilsnahme waren Grundvoraussetzungen für die notwendige Vertrauensbildung. Danach konnten ihre Projektionen als ein unbewusster Versuch, sich durch einen Aufbau von vermeintlich notwendigen Feindbildern vor überraschenden Eventualitäten zu schützen, gedeutet werden. Dass es ihnen daraufhin gelang, diesen Abwehrmechanismus zu durchschauen und ansatzweise neue Spielräume in ihrer Sichtweise zu gewinnen, hing vermutlich einerseits damit zusammen, dass ihre Tochter E. betroffen war und sie in den Sitzungen diese Projektionen widerlegende Erfahrungen machen konnten. Dabei spielte wohl auch eine Rolle, dass sie mich durch ihren Abwehrmechanismus der Projektion und Identifikation unbewusst dazu bringen konnten, vorübergehend in eine von ihnen schon 136 häufig erlebte innere Situation zu geraten, in der ich authentisch nachempfinden konnte, worum es ging, und ihnen dies Verstehen auch vermitteln konnte. Wie auch den anderen Eltern war dem Ehepaar D. nur halb bewusst, dass sie sich und ihrer Tochter bestimmte, von ihnen als negativ bewertete Gefühle zu ersparen versuchten. Daher konnte ich ihnen deuten, dass diese Empfindungen früher schwer erträglich waren, weil sie sie vermutlich häufig allein erleben mussten, heute ein gemeinsames Erleben des Paares aber wohl möglich wäre, um die Belastung zu teilen und auch E. häufiger einen emotionalen Austausch zu ermöglichen. Andererseits konnte ich sie damit konfrontieren, dass ihnen vermutlich in ihrer Kindheit zu wenig die Chance gegeben worden war kennen zu lernen, wie sehr ein gemeinsames Tragen von emotionalen Belastungen zu einer Erleichterung führen kann und sie aus diesem Grunde kaum auf die Idee kommen konnten, ihrem eigenen Kind eine solche anzubieten. Gleichzeitig war es manchmal möglich, sie zu beraten, in dem ich ihnen vermittelte, dass Selbstbewusstsein bei Kindern wesentlich durch emotionale Wertschätzung, vermittelt durch Anteilnahme, entsteht. Am Ende der Gespräche musste E. nicht mehr von ihrer Mutter gezwungen werden, sie anzusehen und war schneller bereit, die elterlichen Begrenzungen zu akzeptieren. Die Schlafprobleme traten nicht mehr auf. Herr D. traute sich nicht nur in den Stunden, mit mir zu rivalisieren, sondern auch mit den Kollegen im Beruf, wodurch er sich besser verständlich machen, Veränderungen herbeiführen und sich wohler fühlen konnte. Seine körperlichen Missempfindungen verschwanden ebenfalls. Frau D. fühlte sich häufiger verstanden und wertschätzend akzeptiert, weil sie sich offener äußerte. Trotz der erreichten, wichtigen Veränderungen gehe ich davon aus, dass nur ein Anteil der die familiäre verbale und nonverbale Kommunikation beeinflussenden psycho- pathologischen Faktoren erfasst und aufgearbeitet werden konnte. Angesichts der negativen früheren Erfahrungen mit Abhängigkeit, hatte ich mit Familie D., wie auch mit den anderen Familien, neue Termine bewusst von Mal zu Mal mit ihnen vereinbart. Als das Verhalten von E. sich positiv verändert hatte, deuteten die Eltern zwar einen Wunsch nach Fortsetzung der Gespräche an, kamen aber darauf nicht zurück. Ich vermutete darauf hin, dass Herr D. nach der eigenen Entlastung keinen weiteren Bedarf verspürte. Außerdem bedeutete die Erfahrung, selbst neue Wege erfolgreich einschlagen zu können, einen erheblichen narzisstischen Gewinn für ihn. 137 Ähnlich wie in früheren Zeiten und vermutlich wegen nach wie vor bestehender, unbewusster Ängste, blockte er eine weitere Aufarbeitung ab, indem er – in einer teilweise grandiosen Erwartung an sich selbst – sich abverlangte, möglichst alles weitere allein zu schaffen. Ein ähnliches Vorgehen zeigte sich auch bei E., die sich selbst überschätzend scheinbar glaubte, ohne Gefahr nach vorne in die Welt stürmen zu können, wie die Mutter im letzten Gespräch berichtete. Die Tatsache, dass ich sie nach einem halben Jahr, nachdem sie sich nicht wieder gemeldet hatten, zu einem Gespräch eingeladen hatte, war für sie offensichtlich nicht nur erfreulich. Wie sich im Gespräch herausstellte, war sie sehr schnell geneigt, in mir einen sich einmischenden Kritiker zu vermuten und daher nur bereit, - dies allerdings mit Begeisterung und verhaltenen Stolz - den zwischenzeitlichen Verlauf zu schildern, den ich, so meine Vermutung, nur zur Kenntnis nehmen sollte. Außerdem ging ich davon aus, dass die Familie erst einmal das Erreichte genießen wollte. So zeigte sich, dass es wichtig ist, das weitere Vorgehen der Eltern selbstverständlich zu respektieren, um der Familie für die Zukunft einen Zugang zu erneuten Gesprächen offen zu halten. Dabei muss akzeptiert werden, dass manchmal nicht (oder nicht sofort) alle möglichen Ziele der Präventionsintervention, z.B. die Aufnahme einer Psychotherapie, erreichbar sind. Bei der sehr jungen Mutter Frau F. zeichnete sich ebenfalls ab, dass eine ganze Reihe von Gesprächen voraussichtlich nötig sein würde. Für sie stand das Aufarbeiten von unbewussten Konflikten erst an zweiter Stelle. Zunächst ging es darum, die vorhandenen Ressourcen ihrer Ich-Funktionen zu stärken und sie vor Überforderungen durch zu schnelles und zu umfangreiches Ansprechen von Konflikten und vor dadurch möglicherweise ausgelösten Affektüberflutungen zu schützen. Dabei kamen vor allen Dingen das Herausarbeiten ihrer Kompetenzen, die Stärkung ihres Selbstwertes, konkrete Beratungen und Interventionen, wie die folgende zur Anwendung. Zum Beispiel war es wichtig, ihre Empfindungen, die sie sich nicht zu zeigen traute, vorsichtig anzusprechen und in einer für sie vorbildhaften Form erträglich zurückzugeben. Sie konnte dadurch für die Entwicklung der emotionalen Verarbeitung ihres Babys zentrale Hilfestellungen weiter aufbauen, damit in G. der Aufbau eines ausreichenden Urvertrauens ermöglicht und gefördert wurde. Als eine Basisplattform nach einigen Gesprächen geschaffen war, konnte auch in den Gesprächen mit ihrem Partner mit der sukzessiven Auflösung von Projektionen begonnen werden, z.B. die Lockerung von Schwarz-Weiß-Mustern, um die Kommunikationsfähigkeit zu erweitern. 138 Wegen der nur eingeschränkt ausgebildeten psychischen Metaebene kam ich auch dem Wunsch von Frau F. nach, ihr in einer Beratung konkret mit G. zusammen zu zeigen, wie eine Grenzsetzung für ein Kind in diesem Alter aussehen könnte. Auch die bereits im Rahmen der Darstellung der anderen Familien beschriebene Bearbeitung des Autonomiekonfliktes, der Defizite mit triangulierenden Erfahrungen, des Aufbaus eines stabileren Selbstwertgefühles, sowie des emotionalen Austausches waren im Laufe der Sitzungen unerlässlich. Die über sechs Monate dauernden elf Gespräche führten zu dem Ergebnis, dass G. seine durch Lerndefizite verursachten Entwicklungsrückstände aufholen konnte und in seiner Bindungsfähigkeit gefestigt wurde. Frau F. gewann an Selbstvertrauen und Beziehungsfähigkeit. Da sie am deutlichsten unter einem äußeren und inneren Leidensdruck stand, gelang es ihr, trotz negativer frühkindlicher Erfahrungen, eine ausreichende Psychotherapiemotivation aufzubauen und am Ende der Prävention auch mit einer Therapie zu beginnen. Die elf Gespräche mit der Familie K. zogen sich über 17 Monate hin. Mit dem erst elf Monate alten I. war es leicht, einen gemeinsamen Weg zu finden, ihn zum Einhalten von Grenzen zu bewegen, nachdem er herausgefunden hatte, dass neben dem Begrenzenden viele Möglichkeiten für die Äußerung seiner Empfindungen zur Verfügung standen. Die Schwierigkeiten der Eltern, für deren Veränderung ein längeres Prozesserleben erforderlich wurde, waren bei beiden unterschiedlich. Neben den bereits oben beschriebenen psychodynamischen Zusammenhängen, die sich auch bei der Familie K. fanden, zeigte sich bei Herrn K. ein besonders hartnäckiger unbewusster Widerstand. Durch diesen verhinderte er das Aufkommen von Affekten aus dem Bereich der Ohnmachtsgefühle, die er zwar intellektuell benennen, aber nicht spüren und damit nur auf einer sehr oberflächlichen Ebene begreifen konnte. Ein emotionaler Austausch und eine Verständigung mit Anderen waren ihm daher nicht möglich. Die fehlende emotionale Beteiligung war ihm, wie sich herausstellte, zunächst nicht bewusst, aus Gründen, die noch zu erläutern sind. Er selbst hielt sein intellektuelles Begreifen für eine ausreichende Teilnahme. Vermutlich hatten die sehr prinzipienhaften, strengen Regeln seines Vaters, die er als eine unerträgliche Entmachtung erlebte ohne die Chance, sich verständlich machen zu können, eine solche archaische Wut hervorgerufen, dass diese vermutlich nach der späteren Verdrängung des Rivalitätskonfliktes zu einer vernichtenden, sehr destruktiven Phantasie im Unbewussten geführt hatten. 139 Die Wut wurde dabei mutmaßlich durch sehr unerträgliche, stark überfordernde Ohnmachtsgefühle ausgelöst. Um also die Eltern, insbesondere seinen Vater, vor einer unbewusst befürchteten Zerstörung zu bewahren, musste er vermeiden, sich mit ihm anzulegen. Dies gelang ihm durch Identifikation mit der Prinzipienhaftigkeit, die er in einer ähnlichen Machtausübung wie sein Vater allen Anderen gegenüber anwandte, außer gegenüber dem Vater, dem er sich unterordnete. Auf diesem Wege konnte er die für ihn gefährlichen Hilflosigkeitsgefühle weitgehend vermeiden. Um diese dem Erhalt des Vaters dienende Abwehr zu verstärken, ging er vermutlich von ihm unbewusst gesteuert zusätzlich dazu über, sich auf seiner inneren Vorstellungsebene, über die er am meisten Kontrolle hat, niemanden mehr vorzustellen, der für die problematischen Affekte zugänglich sein könnte. Dies sicherte ihn auch nach Innen gegen in ihm auf kommende Wünsche nach einem emotionalen Austausch ab, da er dadurch dafür „sorgte“, dass ihm, von ihm selbst unwissentlich, weil unbewusst, inszeniert, schon auf der Ebene der inneren Vorstellungen ein ansprechbares Gegenüber nicht mehr zur Verfügung stehen konnte. Dass er speziell diesen Weg einschlug, hing wohl vor allem mit seiner Erfahrung zusammen, mit speziell diesen Affekten ohnehin fast immer alleingelassen worden zu sein, sodass er sich unbewusst quasi sagen konnte: „Stell dich darauf ein, dass niemand an deinen Affekten interessiert ist.“ Auf diese Weise war er gut gegen in ihm aufkommende Ohnmachtsgefühle und begleitende Wünsche geschützt, allerdings um den Preis, für ein Verstehen nicht mehr offen zu sein. Diese Abläufe waren ihm zunächst nicht bewusst, und er konnte daher nicht merken, dass bestimmte Affekte in ihm nicht aufkamen. So führte der Versuch in der Sitzung, sich mit ihm zu verständigen, da ich für ihn unbewusst diesbezüglich auf seiner inneren Ebene quasi wie in Luft aufgelöst war, zu dem Eindruck, als würden wir zwei unterschiedliche, unverständliche Fremdsprachen sprechen. Vorausgehendes Vertrauen und Erfahrungen der Wertschätzung in mehreren Sitzungen machten es schließlich möglich, ihm aus einem authentischen Erleben heraus seine Abwehr zu deuten, die er allmählich zu durchschauen begann. Dabei erlebte er mich hilflos und zugewandt und konnte erstmals in den Stunden über seine eigenen Ohnmachtsgefühle sprechen und damit auch die seines Sohnes an sich heranlassen. Seine Frau konnte ihre Widerstände bezüglich ihrer Autonomiekonflikte und Angst vor Abhängigkeit wegen der lang andauernden, sehr beschämenden Erfahrungen, von ihrer Mutter benutzt worden zu sein, ohne sich wehren zu können und wegen ihrer vermutlich ebenso destruktiven, aggressiven unbewussten Phantasien nicht leicht 140 aufgeben. Sie bedurfte daher ebenfalls längerer vertrauensbildender Erfahrungen, um vorsichtig in den Stunden neue Spielräume auszuprobieren, ob miteinander vereinbar ist, eigene Anliegen umzusetzen und zugleich jemanden zu brauchen. Das Ehepaar K. traute sich letztendlich nicht, in einem Prozess der inneren Aufarbeitung die alten Erfahrungen der Vergangenheit aufzuarbeiten, da sie befürchteten, in zu starkem Ausmaß erneut doch wieder Negatives zu erleben. Dieses Phänomen wird in der psychoanalytischen Fachsprache „unbewusster Widerstand“ genannt. Es konnte durch die sich länger hinziehende Beschäftigung der Eltern mit ihren Themen erreicht werden, dass diese ihre Konflikte mehr untereinander, als über ihre Kinder austrugen. Dadurch konnte ein wichtiger Spielraum für die beiden Kinder, insbesondere für I., offen gehalten werden, sodass dieser mit nur geringen Einschränkungen am Ende der Prävention in den Kindergarten aufgenommen werden konnte und dort integriert wurde. Frau L. kam, nachdem bei ihrem Sohn M. nach der Trennung der Eltern erste Symptome aufgetreten waren. Sie konnte schon in den ersten Stunden, in denen es um die Anliegen, Bedenken und Befürchtungen von M. ging, mit ihm gemeinsam verstehen, welche Schwierigkeiten eine Rolle spielten und wie diese in weiten Teilen mit ähnlichen eigenen Problemen in Verbindung standen. Auch bei ihr und M. spielten ähnliche Konflikte und vorausgehende Prägungen, wie bereits anhand der vorherigen Fallbeispiele beschrieben, eine wesentliche Rolle. Da sich ihr Sohn, als ältestes Präventionskind (M. befand sich im dritten Lebensjahr, als er zu den Gesprächen kam), schon differenzierter selbst einbringen konnte, trug dies auch mit dazu bei, dass seine Mutter schneller verstehen konnte, dass seine Probleme durch ihr Verhalten maßgeblich mitgestaltet worden waren. Da sie erleben konnte, dass der gewünschte Verstehensprozess nicht zu Anschuldigungen oder Verurteilungen führte, konnte sie als alleinstehende Mutter von den Sitzungen so sehr profitieren, dass sie sich zur Aufnahme einer eigenen Psychotherapie entschloss. M.s Symptome waren nach den Gesprächen, die sich über zwei Monate hinzogen, verschwunden bzw. traten in den acht Monaten danach nur noch in Andeutungen auf, wie sich aus den Schilderungen der Mutter im Rahmen der Nachuntersuchung ergab. 141 5. Resümee 5.1 Zusammenfassung psychodynamischer Überlegungen Wie im Verlauf der vorliegenden Arbeit illustriert, dienen die speziellen Interventionen der psychoanalytischen Prävention nicht der bloßen Verhinderung von Unaufmerksamkeit, Impulsivität und Bewegungsunruhe, die aus unterschiedlichsten Gründen auftreten können, sondern der Entfaltung einer stabilen altersgemäßen Persönlichkeit im Rahmen einer adäquaten, kindlichen, psychischen und körperlichen Entwicklung. Dabei geht es, wie dargestellt, um das Bemühen, zentrale für die weitere Persönlichkeitsentwicklung entscheidende intra- und interpsychische Störfaktoren zu erkennen, den betroffenen Eltern und Kindern zu vermitteln und an ihrer Auflösung mitzuwirken. Daher ist diese an den psychischen Wurzeln ansetzende Maßnahme vermutlich geeignet, den unterschiedlichsten sich später manifestierenden Psychopathologien entgegen zu wirken. Obwohl verschiedene, psychodynamische Beeinträchtigungen auch die Symptome Konzentrationsstörung, Hyperkinese und unzureichend gesteuerte Impulsivität hervorrufen können, wird im Folgenden in einer Schwerpunktbildung der Versuch unternommen, die Hypothese einer Psychodynamik zu formulieren, bei der das oben genannte Syndrom zu den in den Vordergrund tretenden Hauptsymptomen zählt (Henke, 2006). Die Erfahrungen mit den Familien, die ich im Rahmen der Prävention gesehen habe und solchen, deren Kinder Aufmerksamkeitsstörungen hatten und in der Praxis eine psychotherapeutische Behandlung bekamen, führten zu den folgenden psychodynamischen Überlegungen zur Entstehung neurotischer Konflikte im Kindesalter mit psychosomatischen Mitreaktionen in Form von ADHS. Die auffällige Symptomatik (z.B. Hyperaktivität und Unaufmerksamkeit etc.), die sich häufig im Kindergarten oder später in der Schule zeigt, legt den Stand einer psychischen Entwicklung offen, die bereits in der frühen Kindheit eingesetzt hat. Dabei spielen meiner Meinung nach die psychopathologischen Folgen von in den wesentlichen Charakteristika gleich bleibenden Beziehungserfahrungen eine zentrale Rolle. Neben anderen Faktoren tragen diese mit zu einer Ausgestaltung des sich entfaltenden, 142 psychischen Apparates bei. Die daraus resultierende seelische Entwicklung unterliegt gleichzeitig Einflüssen, die sich aus der Entwicklung im körperlichen, intellektuellen und sozialen Bereich ergeben. Besonders in den ersten beiden Lebensjahren ist die Rückmeldung, die ein Kind auf seine Anliegen der Mutter (bzw. seinen ersten Beziehungspersonen) gegenüber von dieser bekommt, von größter Wichtigkeit. Dabei spielt die Fähigkeit der Mutter, sich den Emotionen des Kindes zu öffnen, diese auszuhalten und dem Kind in erträglicher Art und Weise wiederzugeben, eine zentrale Rolle. Im Rahmen dieses Austauschprozesses kommt den Affekten Hilflosigkeit, Unsicherheit und Ohnmacht eine besondere Bedeutung zu. Diese Gefühlserlebnisse sind von Anfang an mit unangenehmen, oft schmerzhaften, als bedrohlich bis gefährlich erlebten körperlichen Missempfindungen verbunden und dadurch besonders schlecht aushaltbar. Um ihr Kind zu verstehen, muss die Mutter es zulassen, dass Gefühle aus diesem Bereich in ihr selbst entstehen, was aber eine schwierige Herausforderung darstellen kann. Je nach Heftigkeit, Dauer und Häufigkeit dieser Affekte beim Kind und abhängig von den eigenen Vorerfahrungen der Mutter wird diese mehr oder weniger ausreichend in der Lage sein, sich dieser Aufgabe zu stellen. Wenn die Mutter über genügend eigene Halt gebende Erfahrungen verfügt, wird sie diesem Prozess einen dementsprechend großen inneren Raum zur Verfügung stellen können, ohne die Befürchtung haben zu müssen, den eigenen seelischen Boden unter den Füßen zu verlieren. Daraus ergibt sich das Ausmaß der Übereinstimmung im emotionalen Geschehen zwischen Mutter und Kind mit einer möglichen Schwankungsbreite von rudimentär bis intensiv. Die speziellen Erfahrungen, um die es hier geht, sind für die Entstehung des Selbstwertgefühls von großer Bedeutung: Durch emotionale Rückmeldung ist die Mutter in der Lage, ihrem Kind eine mehr oder weniger große Anteilnahme zu vermitteln. Davon hängt ab, wie sehr sich das Kind angenommen, bestätigt und wertgeschätzt fühlt. Ist dies der Fall, so werden hierdurch die vorherigen Unlustempfindungen entscheidend gemildert und in zunehmendem Maße durch solche des Wohlbefindens ersetzt. Da gerade in den ersten Lebensmonaten Hilflosigkeitsgefühle häufig durch körperliche Beeinträchtigungen hervorgerufen werden, führt das Verstehen dieser Zusammenhänge durch die Mutter und ihr daraufhin erfolgtes Eingreifen in der Regel zu einer Milderung oder Beseitigung von belastenden Schmerzzuständen. Die äußere Hilfestellung, der 143 Abbau von Schmerzen, das Herstellen von Geborgenheit vermittelnder, körperlicher Nähe sowie der Verstehensprozess und seine Folgen auf der inneren Ebene finden gleichzeitig statt. Dadurch und weil dieses Geschehen nicht einmalig stattfindet, sondern ein sich häufig wiederholender Vorgang ist, wird die entlastende, Wohlbefinden auslösende Wirkung des inneren Prozesses enorm verstärkt. Die sich im Laufe der Zeit verfestigenden Erfahrungen mit den Bezugspersonen (äußeren Objekten) führen zu Erinnerungsbildern und Vorstellungen (inneren Objektrepräsentanzen). Durch die dabei gleichzeitig ablaufenden Erfahrungen mit sich selbst entwickeln sich Selbstrepräsentanzen. Wenn dabei im Laufe der Entwicklung die negativen Erfahrungen nicht überwiegen, kann die anfängliche Trennung von positiven und negativen Erinnerungsbildern aufgehoben werden. Dann werden beide in einem einheitlichen Gesamtbild, das sowohl angenehme als auch unangenehme Anteile enthält, zusammengefasst. Geleitet durch seine Triebwünsche, Affekte und Zielsetzungen spielt das Kind dabei auch eine eigene, aktive Rolle. Es muss innere und äußere Realitäten erkennen und einschätzen lernen, sich dabei intellektuell entwickeln und lernen, zwischen äußeren Erfordernissen und inneren Anliegen zu vermitteln und zu steuern. Die Instanzen, die diese Aufgaben übernehmen, sind die Ich-Funktionen. Gleichzeitig übernimmt es von den Eltern Gebote und Verbote, die sich im späteren Über-Ich, und Ich-Ideal niederschlagen. Wenn die emotionale Anteilnahme der Mutter und vielleicht auch die Schmerz mindernde, beruhigende Wirkung auf der äußeren Ebene nicht ausreichend sind, kommt es nur ansatzweise zu der herbei gesehnten Unlustreduktion. Vor allem fehlt aber in einem solchem Moment die entscheidend wichtige Bestätigung durch die Mutter, angenommen, richtig, wichtig und geliebt zu sein. Diese Erfahrung ruft im Zustand des Ohnmachtempfindens einen zentral entlastenden Effekt hervor. Die aus dem Ausbleiben dieses Erlebens resultierenden Folgen können gravierend sein. Durch die fehlende Beruhigung mangelt es dem Kind an der Möglichkeit, differenzierte, intensive Erinnerungsrepräsentanzen aufzubauen, die allmählich zu einem Symbol werden für die Erfahrungen, akzeptiert zu sein und gehalten zu werden. Die für die weitere Entwicklung wichtige Symbolisierungsfähigkeit wird in diesem Bereich beeinträchtigt. Der für das Kind schlecht aushaltbare, nicht akzeptable Zustand mit der darin enthaltenen narzisstischen Kränkung ruft archaische Wut und Enttäuschung hervor, was die Mutter wiederum vor eine schwierige Aufgabe stellt. Außerdem wird es 144 dem Kind an der Erfahrung und Sicherheit mangeln, über grundlegende, ausreichende Fähigkeiten in Beziehungen zu verfügen. Es fehlt dann an der Gewissheit, durch das Äußern von Emotionen und Anliegen andere Menschen erreichen zu können. Aus diesem Grund wird es sich einer immer wiederkehrenden Bestätigung seiner guten Introjekte nicht sicher sein können. Dies wiederum vergrößert die Angst, das gute Objekt könnte aufgrund der gegen dieses gerichteten Wut „verloren gehen“ und mit Verfolgung und drohender Vernichtung zurückschlagen. Die Folge davon sind früh einsetzende Spaltungstendenzen, die sowohl zu einer Beibehaltung von Teilobjekten als auch der Trennung von „guten“ und „schlechten“ inneren Objekten führen. Die Angst, die guten inneren und äußeren Objekte zu verlieren und von den bösen bedroht zu werden, führt zu einer lang anhaltenden Verleugnung der Abhängigkeit vom Objekt. Auch aus dieser Tendenz heraus entstehen die Ausbildung eines „grandiosen Ich“ und der Druck zu einer zu frühen Verselbständigung. Eine weitere Quelle der frühen Vorläufer von Ich- und Über-Ich-Strukturen stellt die Identifikation mit den Eltern da. Aus den begrenzten Möglichkeiten heraus, emotional Anteil nehmen zu können, strengen sich die Eltern stattdessen an, ihrem Kind und sich selbst das unliebsame Gefühlserleben zu ersparen. Dies gelingt ihnen durch Affektwechsel (Wut statt Ohnmacht) sowie durch äußeres und inneres Handeln, das darauf abzielt, die Ursachen für das unangenehme, Hilflosigkeit auslösende Geschehen zu beseitigen. Da das Kind mit dem übermäßigen Tragen der emotionalen Last aber überfordert ist, wird es sich der Überlastung entziehen, indem es den elterlichen Vorgaben entsprechend ebenfalls versucht, durch Affektwechsel und Handeln unerträgliche Gefühlszustände abzuwehren. Da dieses nur unzureichend gelingt und durch das emotional stärkere Betroffensein, erlebt es sich immer wieder als schwach und unzureichend. Es wird sich zur Vermeidung dieser Zustände daher in der Phantasie überhöhte grandiose Fähigkeiten („grandioses Ich“) zuschreiben und in einem separaten inneren Teilbereich auch erhöhte Anforderungen abverlangen (strenges Über-Ich und Ich-Ideal mit hohen Erwartungen). Durch das emotional stärkere Betroffensein und die noch im Aufbau befindlichen Steuerungsstrukturen (Ich-Entwicklung) gelingt diese Abwehr nur unzureichend. Daher erlebt sich das Kind immer wieder als schwach und unzureichend. Es wird sich daher aus Abwehrgründen in der Phantasie überhöhte grandiose Fähigkeiten („grandioses Ich“) zuschreiben und in einem separaten inneren Teilbereich auch erhöhte Anforderungen abverlangen (strenges Über-Ich und Ich-Ideal mit hohen Erwartungen). 145 Bis hierher wurde zunächst dargestellt, dass die Beziehung mit nur einer Bezugsperson (Dualbeziehung) bestimmte Folgen nach sich ziehen kann. Aus didaktischen Gründen wurden die daraus resultierenden Besonderheiten und Begrenzungen für den Verlauf der seelischen Entwicklung isoliert dargestellt. Tatsächlich spielt von Anfang an eine dritte Person (meist: der Vater) eine zunehmende Rolle. Mit je schwerwiegenderen Folgen sich die Defizite der Dualbeziehung auswirken, umso hilfreicher wirken sich ergänzende Erfahrungen aus, die durch eine außenstehende dritte Person zur Verfügung gestellt werden (triangulierende Funktion). Zu den eigentlich notwendigen ausgleichenden Beziehungsangeboten sind die Väter dieser Kinder meist nicht in der Lage. Oft fehlen ihnen, noch mehr als den Müttern, aus eigenem Erleben in dem speziellen Bereich der Ohnmachtsempfindungen entlastende Erfahrungen. Sie wissen häufig, welche Überforderung durch einen unerträglichen Affekt hervorgerufen wird, wenn man diesem allein ausgesetzt ist. Es fehlt ihnen aber meist an der eigenen Erfahrung, dass ein gemeinsames, Halt gebendes Erleben, das dem Betroffenen durch eine verstehende, interessierte, hinzukommende Person ermöglicht wird, zu einer sehr wichtigen Entlastung führt. Daher können sie ihren Kindern als hilfreichen Ausweg aus ihren Überforderungen gar nicht ein emotionales Verstehen anbieten, sondern schlagen ihnen das vor, was ihnen selbst am meisten geholfen hat, einen Affektwechsel und das Ergreifen von Initiativen, um auf der Handlungsebene Abhilfe zu schaffen. Einige Eltern, häufig die Väter, haben aber besonders schmerzliche seelische Verletzungen mit oft andauernder Unsicherheit, Einsamkeitserlebnissen, sowie mangelnder Wertschätzung in ihrer eigene Kindheit erfahren, sodass sie aus Abwehrgründen gezwungen sind, jeden aufkommenden Ansatz von Ohnmachtserlebnissen in sich augenblicklich abzuwehren, um sie so von der bewussten Ebene fernzuhalten. Dieses macht sich im Gespräch mit den Betroffenen sehr schnell dadurch bemerkbar, dass sie zwar zu einem intellektuellen Begreifen von diesbezüglichen Problembereichen in der Lage sind, aber nicht zu einem emotionalen. Es kann dann leicht der Eindruck entstehen, als würden zwei verschiedene Sprachen gesprochen. Für die Kinder bedeutet dies, eine weiter bestehende Tendenz zu Abspaltungen der unzureichend positiven, unsicheren inneren Objekt- und Selbstanteile und zu mangelnder Symbolisierungsfähigkeit in diesen Bereichen. Die immer wieder erfolgende Zurückweisung der Wünsche nach emotionalem Austausch und Wertschätzung im Bezug auf Hilflosigkeitsgefühle ermöglicht es dem Kind nicht im erforderlichen Maße, ein sicheres Wissen von Geborgenheit und Geschätztsein zu 146 erwerben. Dies ist aber eine wichtige Voraussetzung dafür, dass das Kind die Fähigkeit erwirbt, später selbst um andere besorgt sein zu können. Das Gefühl, minderwertig und unzulänglich zu sein, führt zu einer schwer erträglichen Scham, die das Kind verdrängt und die auf das spätere Verhalten des Kindes einen großen, meist unbewussten Einfluss hat. Darüber hinaus fühlt sich das Kind für die emotionale Teilablehnung durch die Eltern wegen der heimlich aufrecht erhaltenen, sehnsuchtsvoll, als gierig drängend erlebten Wünsche schuldig. Auch diese Affekte müssen verdrängt werden und spielen umso mehr eine wichtige Rolle bei der Gestaltung seiner Beziehungen. Unter dem Druck der Aufrechterhaltung dieser frühen Abwehr, aber auch der Verselbständigung steht die Phase des verstärkten Sich-selber-Ausprobierens, die mit den ersten eigenen Schritten beginnt. Die Kinder möchten die sie umgebende Welt erobern, erkunden und damit umgehen lernen. Sie befinden sich in einem ständigen Entwicklungs- und Lernprozess. Es fällt ihnen besonders schwer, mit den ihnen dabei gesetzten äußeren und inneren Grenzen umzugehen. Mit dem Erleben von Begrenzungen werden die Gefühle von Nichtkönnen hervorgerufen, die sie gerade vermeiden möchten. So entsteht ein innerer Druck, sich über Grenzen hinwegzusetzen und besonders viele Aufgaben schnell und möglichst perfekt erledigen zu wollen. Sie setzen sich dadurch aber umso mehr der Gefahr aus, sich durch das Verfehlen von Zielen unsicher und hilflos zu fühlen. So entsteht häufig bei diesen Kindern ein typisches spezifisches Lernverhalten. Die mit jedem Lernvorgang einhergehende Unsicherheit über das Erreichen der angestrebten Ziele stellt für die Kinder eine belastende Schwierigkeit da. Entweder kann dies dazu führen, dass sie den Lernvorgang erst gar nicht beginnen, oder dazu, ihn auf Kosten einer sorgfältigen Ausführung möglichst schnell zu beenden. Es fehlt ihnen an der Möglichkeit, mit innerer Ruhe und Gelassenheit während des Lernens, kleine Irr- und Umwege auszuprobieren und sich dabei allmählich (und mit der Zeit auch immer besser) Fertigkeiten anzueignen. Die Ergebnisse solcher Entwicklungs- und Lernvorgänge finden sich in vielfältiger Weise: Es treten die typischen begrenzten Defizite in der Fein- und Grobmotorik, der Körperkoordination und im Gleichgewichtsverhalten auf, die sich von den überwiegend neuropathologisch bedingten gröberen, motorischen Auffälligkeiten unterscheiden. Die Entwicklung dieser Defizite kommt auch dadurch zustande, dass es den Kindern häufig schwer fällt, unter mehreren attraktiven Spielangeboten eines überhaupt auszuwählen. Spielzeuge werden dann kurz angesehen, schnell wieder beiseite gelegt, um ein weiteres aufzugreifen. So 147 ist ein vertieftes Kennenlernen von neuen Dingen nicht möglich. Manche Kinder zeigen eine erstaunliche, scheinbare Schmerzunempfindlichkeit, die so ausgeprägt sein kann, dass die Bezugspersonen zunächst manchmal eine körperliche Anomalie als Ursache vermuten. In Wirklichkeit zeigt die Verleugnung des Schmerzes, wie sehr sie Beziehungen vermeiden müssen, in denen sie sich abhängig, auf Zuneigung angewiesen, schuldig und beschämend unzulänglich fühlen könnten. Die andererseits daraus resultierende Sehnsucht nach Kontakt führt dann aber häufig zu einem hinter einer Fassade von übertriebener Selbstdarstellung und Machtanspruch versteckten Bemühen um andere Spielkameraden. In dem sich nicht selten entwickelnden Streit mit anderen Kindern zeigen sie sich Schlägen gegenüber scheinbar unempfindlich. Wenn sie selber solche austeilen, sind sie oft auffällig brutal, uneingefühlt, aber häufig auch überbordend anklammernd. In diesem Verhalten offenbaren sie nicht nur ihre Schwierigkeit, Grenzen der anderen Kinder zu akzeptieren. Sie zeigen auch, wie schwer es ihnen fällt, um Andere besorgt zu sein. Zusätzlich äußert sich hier eine durch die Ich- Steuerungsschwäche bedingte, mangelhafte Impulskontrolle und große unausgesprochene Sehnsucht nach Nähe. Während zuhause durch gemeinsames Schonen und Vermeiden vielfach Schwierigkeiten auslösende Situationen vermieden werden, gelingt dies im Kindergarten oft nicht so gut. Der Hunger nach Anerkennung, Respekt und Liebe führt zu einem starken Wunsch nach Kontaktaufnahme, löst aber gleichzeitig Ängste aus, z.B. dass herauskommen könnte, für wie minderwertig sie sich selbst eigentlich halten, oder dass sie fürchten, wegen motorischer Defizite unterlegen oder unfähig zu sein. Vor allem aber haben die Kinder Angst vor neuen, ihnen unbekannten Situationen. Diese Angst versuchen sie möglichst zu verstecken. Da es ihnen häufig gelungen ist, Grenzen von ihnen überlegenen Erwachsenen zu missachten, sind sie sich der Schutzwirkung von Begrenzungen nicht sicher. Sie rechnen damit, dass andere ihre Überlegenheit rücksichtslos ihnen gegenüber einsetzen und sie gefährden könnten. So ziehen sie sich oft zu Anfang im Kindergarten ängstlich vermeidend zurück. Später neigen sie eher dazu, auf die Anderen los zu stürmen, gleich einen intensiven Machtanspruch einzufordern und sich narzisstisch zur Schau zu stellen. Mit diesem Verhalten ecken sie in der Regel an, werden häufiger vom Spiel der Anderen ausgeschlossen und sind dann wieder die Abgeschobenen. Darauf reagieren sie so, wie sie es gelernt haben: mit Aktionismus, also Hyperaktivität, in einem ständigen 148 Bemühen, Unterlegenheit und Machtlosigkeit zu vermeiden, in quasi ständiger Habacht- Stellung. Daraus resultiert, dass sie im Kindergarten zu wenige korrigierende Beziehungserfahrungen machen. Kindergärtnerinnen gegenüber reagieren sie, wenn ihnen eine Grenze gesetzt wird, nicht selten mit einem „die Ohren auf Durchzug stellen“. Diese raten den Eltern dann oft, die Hörfähigkeit ihres Kindes überprüfen zu lassen. Die Notwendigkeit, eine Mobilisierung innerer Konflikte zu vermeiden, die der Anlass dafür ist, scheinbar nicht zuhören zu können, führt nicht selten dazu, auch die normalerweise synchron ablaufende Kombination von visueller und auditiver Wahrnehmung von einander zu trennen. Die für diese Kinder unerträglichen Machtansprüche der Erwachsenen, denen sie sich mit allen für sie negativen Folgen unterordnen sollen, stellen für die Kinder, wenn sie sowohl über die visuelle, als auch über die auditive Ebene herangetragen werden, eine zu große Überforderung da. Die Kinder versuchen dann entweder nur zuzuhören oder nur zuzusehen. Wobei die Tatsache, dass das Verschließen der Augen einen größeren Schutz gegenüber äußeren Einflüssen darstellt, als der Versuch, Wörter nicht an sich herankommen zu lassen, dazu führt, dass die visuelle Wahrnehmungsmodalität bevorzugt wird. In der Schule wird den Kindern aber ein synchroner Gebrauch der beiden Modalitäten abverlangt, unter anderem um das Schreiben zu erlernen und dabei gleich klingende, aber unterschiedlich geschriebene Wörter wie z.B. „Vater“ und „Falter“ richtig niederschreiben zu können. Im Elternhaus treffen die Kinder zusätzlich meist auch noch auf ein gravierendes Abwehrverhalten mindestens eines Elternteils. Durch sich wiederholende Erfahrungen führt der dringende Wunsch der Kinder nach einem emotionalen Austausch von Unsicherheits- und Hilflosigkeitsgefühlen zu einem schwer wiegenden Konflikt. Sie merken, dass sie aus ihrer Sicht ihre Eltern damit überfordern, da diese sich ihrem Anliegen nicht oder nicht ausreichend gegenüber öffnen. Der Wunsch, aus einer inneren Not heraus entwickelt, löst daher Schuld- und Beschämungsgefühle aus. Aus kindlicher Sicht haben sie kaum eine andere Chance, als aus der Ablehnung darauf zu schließen, dass sie etwas Unerlaubtes, Falsches unternommen haben. Dieses Erleben verschärft den Konflikt und führt durch die zunächst fehlende Lösung nicht nur zu einer enormen emotionalen Überbelastung, sondern immer wieder zu Stressreaktionen, die das gesamte, innere Bewältigungspotentional herausfordern. Die Lösung der Kinder liegt in der Identifikation mit Verhaltensweisen der 149 Erwachsenen (Eltern), wie zum Teil bereits beschrieben. Oft muss aber ein Elternteil, meist der Vater, das Aufkommen von Affekten aus dem Bereich der Ohnmachtsgefühle in besonderer Weise abwehren. Ein den Betroffenen unbewusster Abwehrmechanismus besteht darin, auf der Vorstellungsebene bestimmte Bilder auszuschließen. Um eine gewünschte emotionale Vermittlung einzuleiten, ist es zunächst auf Seiten des Subjektes nötig, ein Vorstellungsbild von einem Gegenüber aufzubauen, das an diesem Austausch interessiert ist. Die Herstellung solcher Vorstellungen ist ein subjektiver Vorgang, auf den das Subjekt einen entscheidenden Einfluss hat. Wenn wir beispielsweise jemanden von der Vorstellungsebene verschwinden lassen, ist derjenige für sein Gegenüber wie in Luft aufgelöst. Um jeden Anlass für das Aufkommen ungewünschter Affekte zu unterbinden, lassen die betroffenen Väter keine Vorstellungen von Personen zu, die für eine Anteilnahme an Hilflosigkeitsgefühlen offen sein könnten zu. Dies fällt ihnen unbewusst nicht besonders schwer, da sie in der Regel über wenig eigene Austausch-Erfahrungen in diesem Bereich verfügen. Dieser spezielle Abwehrmechanismus, einerseits sehr wirkungsvoll, andererseits die Wahrnehmung manipulierend, ist deswegen erforderlich, weil die eigenen Kinder in besonderem Maße in der Lage sind die eigene Abwehr zu unterlaufen. Die Kinder laufen also bei diesen Vätern oft ins Leere, ohne dass diese eine Chance haben, ihr eigenes Verhalten zu bemerken. Da es dem anderen Elternteil meist nicht gelingt, den Betroffenen ihr Verhalten verständlich zu machen und dadurch zu einer verlässlichen Veränderung zu kommen, bleibt dem Kind nichts anderes übrig, als sich mit diesem Teil des Vaters zu identifizieren. Dies kann Folgen für das Verhalten in der Schule haben. Auf die Situation, sich in der Schule etwas sagen zu lassen, sich einer bestimmenden Macht unterzuordnen, sind diese Kinder nicht gut vorbereitet. In ihnen drohen die problematischen Gefühle wieder belebt zu werden, was sie sich aber nicht leisten können, da sie unter anderem die nicht gelösten und daher inzwischen ins Unbewusste verdrängten Konflikte mobilisieren würden. Da ihnen das offene Rebellieren, welches auch einen meist misslingenden Versuch darstellt, auf eine überfordernde Schwierigkeit hinzuweisen, in der Regel untersagt ist, greifen die Kinder auf das von den Vätern übernommene Verhalten zurück. Wie automatisiert, unbewusst gesteuert, „verschwindet“ die Lehrperson auf der Vorstellungsebene des Kindes, aber nur in Bezug auf die Funktion, für Ohnmachtserlebnisse offen zu sein. Gleichzeitig schweift das Kind immer wieder in eine von ihm ausgewählte, unproblematische Phantasiewelt ab, um sich so heimlich zu 150 entziehen. In Unkenntnis dessen, was im Inneren des Kindes vor sich geht, kann ein Außenstehender gut auf die Idee kommen, ein solches Kind könne sich nicht gut konzentrieren. Da für das Kind keine innere Veränderung in Aussicht steht, kann es sein Verhalten nicht ändern. Die von außen gesehene, immer wieder auftretende Unkonzentriertheit lässt die Bezugspersonen (Ärzte, Lehrer, Betreuer) schließlich auf die Idee kommen, es handele sich wohl um ein von den Kindern schlecht steuerbares und daher körperlich verursachtes Problem. Das Symptom „mangelnde Konzentration“ ist u. a. bedingt durch zwei aus Sicht des Kindes notwendige Abwehrmechanismen: Es ist einerseits ein Ausweichen in eine Phantasiewelt und andererseits ein Nicht- Wahrnehmen einer „unpassenden“ Person, die dadurch ins Leere läuft. Prüft man das Konzentrationsvermögen dieser Kinder außerhalb des Konfliktgeschehens, so stellt sich schnell heraus, dass die Hypothese von einer Körperpathologie meist nicht stimmt. Die Kinder können sich dann sehr gut konzentrieren, zum Beispiel, wenn sie – durchaus auch in lärmender Umgebung – in der Lage sind, sich auf ein von ihnen selbst ausgewähltes Spielzeug zu konzentrieren. Die von den Kindern im Rahmen ihrer Möglichkeiten gefundenen Lösungen für die ihnen in der Schule abverlangten Aufgaben, sowohl auf der äußeren wie auch der inneren Ebene, stellen subjektiv kreative Gestaltungen da, die aber mit der Bewältigung des Schulalltags kaum im Einklang stehen. Im Gegenteil geraten diese Kinder, da ihre innere Konfliktwelt nicht verstanden wird, in die Rolle entweder der hyperaktiven Störer oder der unaufmerksamen, ungehorsamen, geschmähten Außenseiter. Dies löst häufig viel Kritik und Beschimpfungen aus, die wiederum Schuld- und Schamgefühle auf Seiten der Kinder, aber auch zum Teil eine trotzige, aggressive Verweigerungshaltung zur Folge haben. So verstärken und verfestigen sich die psychopathologischen Folgen. Besonders für die Kinder und ihre Eltern, aber auch die Lehrer und übrigen Helfer führt dies zu erheblichen inneren und äußeren Belastungen, verzweifeltem Ringen nach Lösungen, aber auch gegenseitigen Anschuldigungen und Angriffen. Den Kindern gelingt es unbewusst mit ihrem Verhalten immerhin in den Erwachsenen die Gefühlszustände (Hilflosigkeit, etc.) hervorzurufen, die ihnen am meisten Schwierigkeiten machen. Aufgrund der bereits beschriebenen Vorerfahrungen und -Belastungen führt dies aber zu einer Suche nach Lösungen auf der Außenweltebene. So wurde die Entdeckung, dass das Methylphenidat (Ritalin) bei vielen Kindern zu mehr Konzentration während des Schulalltags führte, mit zum Teil großer Erleichterung aufgenommen. Um die Wirkung dieses Medikamentes zu erklären 151 ist es zunächst erforderlich, die Zusammenhänge zwischen der psychischen und der hirnorganischen Entwicklung darzustellen. Die beschriebene psychopathologische Entwicklung beschreibt zwar einerseits den teils kreativen, teils verzweifelten Versuch, eine Verständigung innerhalb der Familien herzustellen und belastende Konflikte aufzulösen, andererseits führt dies bei allen Beteiligten unter anderem zum Vermeiden von bestimmten Affekten. Bei den Kindern hat dies zur Folge, dass sie sich quasi von Anfang ihrer Entwicklung an und mit dem Älterwerden in zunehmenden Maße darum bemühen „müssen“, ihre Umwelt zu kontrollieren, das Heft möglichst in der Hand zu behalten, ständig auf der Hut zu sein, um drohende Verunsicherungen zu vermeiden. Dies aktiviert im Gehirn die Regionen, die für das Neuartige zuständig sind. Je häufiger im Gehirn aus psychisch gleich bleibenden Lösungsansätzen heraus immer wieder auf ähnliche Weise bestimmte Regionen und Zentren aktiviert und Verknüpfungen hergestellt werden, um so mehr werden diese ausgebaut und gestärkt. Letztendlich läuft dies darauf hinaus, dass u. a. die dopaminergen Zielgebiete ausgebaut werden, sodass das Gehirn dieser Kinder auf „Alarmsituationen“ (wie sie in großer Anzahl z.B. im Schulalltag vorkommen) überschießend reagiert. Sie zappeln häufig in, von einem Beobachtungsobjekt zum nächsten springender und daher ineffektiver Habachtstellung herum, sind fast ständig um Aktivität bemüht. Zu kurzen Unterbrechungen kommt es meist dann, wenn es ihnen vorübergehend unbemerkt für kurze Zeit gelingt, in eine beruhigende, weil von ihnen kontrollierte Phantasiewelt abzuschweifen. Gibt man diesen Kindern Ritalin, so wird vermutlich durch eine mäßige anfängliche Erhöhung der Dopaminkonzentration die weitere Dopaminausschüttung gehemmt (Siehe Einleitung - neurobiologische Zusammenhänge). Dies führt dazu, dass relativ weniger Dopamin zur Verfügung steht. So kann in dieser Zeit das Gehirn nicht mehr quasi „überdreht“ reagieren, was dazu führt, dass die Gesamterlebenssituation des Kindes in dieser Zeit nicht mehr als „so stressig“ erlebt wird. Die Kinder können, da die Verarbeitung ihrer inneren Anliegen vermutlich nun nicht mehr so (zwingend?) vordringlich ist, sie zunächst zurückzustellen und sind nunmehr in der Lage, sich vom intrapsychischen Geschehen zum auch interessanten Schulstoff hin ablenken zu lassen, sich also auf diesen konzentrieren, was sie ja vermutlich eigentlich, wenn sie es vorher nur gekonnt hätten, sowieso vorhatten. 152 5.2. Plädoyer für eine vernetzte Prävention Wie ich mit den fünf Einzelfallstudien zu illustrieren versuchte, erwies sich das Frühpräventionsprogramm in der Praxis als viel versprechend. Dazu gehört auch, dass einige der an der Prävention teilnehmenden Eltern (oder zu mindest ein Elternteil) nicht selten anschließend eine eigene Psychotherapie ins Auge fassten. Bei einigen Eltern besteht ein Bedarf an pädagogischer Fortbildung. Manche Kinder bedürfen z.B. eines gezielten Trainings in Psychomotorik, Sprachentwicklung und im neuronalen Bereich, der durch Physiotherapie zu behandeln ist. Andere Kleinkinder benötigen eine interne oder neurologische Behandlung bzw. Weiterbehandlung. Manche Familien bedürfen der Unterstützung durch staatliche und private soziale Einrichtungen, weil es an adäquatem Wohnraum oder finanziellen Mitteln fehlt oder z.B. ein Elternteil plötzlich durch Krankheit beeinträchtigt oder durch Tod ausgefallen ist. Daher ist es sinnvoll, ein Netzwerk mit interessierten Kinder-und Erwachsenenpsychotherapeuten, aber auch anderen für die Kleinkinder zuständigen Berufsgruppen aufzubauen. Hier kommen z.B. KinderpsychiaterInnen, KinderärztInnen, DiplompädagogInnen aus Frühförderungseinrichtungen, ErgotherapeutInnen, LogopädInnen, Physiotherapeut- Innen, ErzieherInnen aus Betreuungseinrichtungen, sowie Träger öffentlicher Einrichtungen, wie MitarbeiterInnen von Jugend –und Gesundheitsämtern, aber auch andere bereits vorhandene Präventionsanbieter- und Netzwerke infrage. Sinnvolle Ergänzungen sind mit unterschiedlichen Anbietern von Präventionsprogrammen möglich, von denen nur einige exemplarisch benannt werden sollen, wie z.B. ambulante Angebote für Schreibabys und solchen mit Fütterungsstörungen oder für lang anhaltend postpartal depressive Mütter. Außerdem kann ein Netzwerk z.B. über einen bereits hergestellten vertrauensvollen Kontakt dazu beitragen, eine bei manchen Familien vorhandene Hemmschwelle gegenüber psychoanalytischer Prävention abzubauen. Die ersten Familien, die sich für die hier beschriebene in Hamburg angebotene Prävention meldeten, waren von ihren KinderärztInnen auf dieses Angebot aufmerksam gemacht worden. Weitere Familien meldeten sich später, weil sie von anderen Eltern davon erfahren hatten. Die Kommunikation innerhalb des Netzwerkes dient auch dem gegenseitigen Austausch von Erfahrungen und Erkenntnissen in einem andauernden Fortbildungsprozess, in den auch Vertreter der in Frage kommenden wissenschaftlichen Disziplinen mit einbezogen werden sollten. 153 Die Möglichkeiten und Interventionstechniken lassen sich vermutlich auch für weitere Präventionsmaßnahmen mit Familien nutzen. Dafür könnten z.B. Ereignisse infrage kommen, die in das Leben der Kinder einbrechen und zu überfordernden Belastungen führen, wie beispielsweise chirurgische Eingriffe, Trennungen oder Gewalteinwirkungen. Seelische und körperliche Erkrankungen, eine gravierende Änderung einer Bezugsperson z.B. durch Adoption, erhebliche soziale und finanzielle Veränderungen, Verlust eines Elternteils könnten vermutlich für die Erwachsenen ein Anlass sein, Präventionsgespräche aufzunehmen (Bürgin, 2006). Für die Durchführung der Prävention sind besondere Kompetenzen erforderlich wie eine ausreichende Erfahrung mit psychoanalytischer Psychotherapie sowohl im Erwachsenen, als auch im Kinderbereich, sowie möglichst auch Kenntnisse aus den psychiatrischen und psychosomatischen Bereichen. Diese müssen allerdings nicht von einer einzelnen Person erbracht werden, sondern können auch durch die Einbeziehung mehrerer Berufsgruppen in einem Netzwerk eingebracht werden. Außerdem ist eine qualifizierte, vorausgehende Fortbildung in psychoanalytischer Prävention erforderlich, um ausreichende Kenntnisse zu erwerben und nachweisen zu können. Dies ist von besonderer Wichtigkeit, um eine über den pädiatrischen und rein psychiatrischen Behandlungsbereich hinausgehende, diesen aber nicht ausschließende, psychodynamisch, psychosomatische, kompetente Diagnostik zu ermöglichen. Eine strenge Indikation ist vermutlich deswegen notwendig, um einerseits den tatsächlich Bedürftigen diese Maßnahmen in einem angemessenen finanziellen, sozialpolitisch vertretbaren Rahmen zu kommen zu lassen. Andererseits sollte es mit einer adäquaten Diagnostik, Indikation und Beratung möglich sein, die Familien davor zu bewahren, sich in einer Flut unterschiedlichster, vielfältigster Präventionsangeboten zu verlieren, sodass möglicherweise eine vermutlich eigentlich zugrunde liegende Psychopathologie nicht oder nicht ausreichend erfasst wird. Diesbezüglich kann ich, wie auch andere ambulant tätige KinderpsychotherapeutInnen, auf sich wiederholende Erfahrungen von Familien in Hamburg zurückgreifen, die nach zum Teil jahrelangen finanziell aufwendigen Umwegen in den unterschiedlichsten Trainingseinrichtungen schließlich den Weg in eine psychotherapeutische Praxis gefunden haben, in der dann erstmals eine professionelle Diagnose gestellt und entsprechende Therapievorschläge erörtert wurden. Wie wichtig das Erkennen und Behandeln von zentralen, psychodynamischen 154 Zusammenhängen für die kindliche Entwicklung sind, illustriert die Erörterung der Hypothese in Kapitel 2.1.2 dieser Arbeit über den Zusammenhang zwischen dem emotionalen Erleben, ihren Verarbeitungsmöglichkeiten und dem sich daraus ergebenden allgemeinen Lernverhalten, was vermutlich den gesamten Lern -und Entwicklungsbereich betrifft. Meine Arbeit hat einen hypothesengenerierenden Charakter und beruht vor allem auf meinen jahrzehntelangen Erfahrungen als Kinderpsychiater und psychoanalytischen Kindertherapeuten. Es bleibt weiteren Studien überlassen, die hier formulierten Konzepte weiter zu überprüfen und abzustützen. Jedoch bilden die systematische Darstellung und kritische Reflexion immer die unverzichtbaren ersten Schritte zu wissenschaftlichen Erkenntnissen komplexer Phänomene. Zudem ist meine Arbeit nicht nur ein erster Schritt eines wissenschaftlichen Durchdringens, eines gesellschaftlichen relevanten komplexen Problemfeldes. Sie ist vor allem auch ein Versuch, Säuglingen und Kleinkindern in Not eine Stimme zu verleihen. 6. Kurz gefasst: Theorie Methode Ergebnisse Schwerpunkt der Arbeit bildet die Entwicklung eines therapeutischen Konzeptes zur Frühprävention von psychischen Erkrankungen z. B. solchen mit ADH-Symptomen. Wie im Theorieteil dargelegt wurde, kann von einem psychodynamischen Verständnis der Genese von ADH -Symptomen ausgegangen werden. Dies stellt mögliche genetische Kofaktoren nicht in Abrede, sondern sieht in den sozialen und familiendynamischen Entwicklungsbedingungen von Kindern die entscheidenden Variablen, die zur Ausbildung von „ADHS“ führen. Diese Überlegungen zur Krankheitsgenese waren die theoretische Grundlage zur Entwicklung eines psychoanalytisch basierten Konzeptes von Präventionsmaßnahmen zur Intervention in Familien mit einem Kind, dessen erste Auffälligkeiten quasi einen Status nascendi von möglichen psychopathologischen Entwicklungen darstellte. 155 Sollte sich diese Form von psychoanalytischer Prävention an einer ausreichend großen Stichprobe replizieren und als ausreichend effizient nachweisen lassen, so wäre das entwickelte Behandlungskonzept auch ökonomisch einer medikamentösen Dauerbehandlung von Kindern und Jugendlichen erheblich überlegen. Viel entscheidender als der ökonomische Vorteil wäre jedoch die Möglichkeit einer kausalen Therapie, die vor allem aus humanitären Gründen einer symptomatischen Dauertherapie mit Medikamenten vorzuziehen wäre. Auf der andern Seite werfen die hohen Anforderungen an die Qualifikation des Therapeuten Probleme bei der Übertragbarkeit des Behandlungskonzeptes auf. Die Weiterbildungskombination eines Therapeuten in Psychoanalyse, Kinder- und Jugendpsychiater und analytischen Kinder- und Jugendlichen-psychotherapeuten mit jahrzehntelanger Behandlungserfahrung wird sich nur in seltenen Fällen in der Praxis finden lassen. Um die Übertragbarkeit des Behandlungskonzeptes auf eine breitere Patientenpopulation in der Praxis zu gewährleisten, wäre die integrative multiprofessionelle Kooperation eines Behandlungsteams notwendig. Dieses Behandlungsteam wäre durch ein niedrig schwelliges professionelles Netz (wie oben dargestellt) zu ergänzen. Die dargestellten Einzelfall - Behandlungsbeschreibungen stellen keine repräsentative Stichprobe von möglichen, betroffenen Familien dar. Die Durchführung und Erprobung des Behandlungskonzeptes an einer entsprechend großen und differenzierten Stichprobe würde bei weitem den angemessenen Umfang dieser Arbeit überschreiten. Vielmehr wurde an gezielt ausgewählten Einzelfällen die Durchführbarkeit des Behandlungskonzeptes demonstriert und in Form der Darstellung unterschiedlicher Behandlungsverläufe dokumentiert. Hierbei wurden exemplarisch Behandlungsfälle ausgewählt, die einerseits das Spektrum der vielfältigen familiäreren und medizinischen Ausgangssituationen in Familien repräsentieren und andererseits auch das Spektrum unterschiedlicher Behandlungsverläufe und -Ergebnisse darstellen sollen. 156 Auf der Seite der betroffenen Familien wurden Beziehungskonstellationen mit zusammenlebendem Elternpaar (Fall 2 und 3), allein erziehenden Müttern mit Lebenspartner (Fall 1) und ohne (Fall 3 und 5) und einer Adoleszenten Mutter (Fall 3)vorgestellt. Außerdem wurden unterschiedliche psychopathologische Konstellationen bei den Eltern (psychosomatische Symptome des Vaters, Fall 2, andauernde Trauerreaktion einer Mutter, Fall 5, und vermuteter Borderline-Struktur der jungen Mutter, Fall 3) einbezogen. Da es in der Literatur Einwände gegen die Anwendbarkeit von psychoanalytischen Verfahren auf Unterschichtpatienten gibt, wurden auch Elternteile aus der Unterschicht einbezogen (Fall 3). Auf der Seite der Kinder wurden sowohl körperlich gesunde wie auch somatisch vor erkrankte Kinder (Fall 2, das Kiss-Syndrom, die motorische Entwicklungsverzögerung in Fall 3) berücksichtigt. Darüber hinaus wurden Kinder in unterschiedlichem Alter (Fall 1 2,5 Jahre, Fall 2 14 Monate, Fall 3 6,5 Monate, Fall 4 11 Monate, Fall 5 3,5 Jahre) im Rahmen des Gesamtuntersuchungsplanes ausgewählt. Eine krankheitsspezifische Konstellation als genetische Bedingung für die anfängliche Entwicklung von Psychopathologien der Kinder in den Familien wurde in dieser Untersuchung nicht unterstellt. Nach den Ergebnissen der psychosomatischen Spezifizitätsforschung, welche inzwischen die Untersuchung Krankheitsspezifischer Auslöser weitgehend aufgegeben hat, wird in dieser Arbeit auch nicht von einer speziellen genetisch bedingten Konstellation ausgegangen. Auch wenn die Anzahl der möglichen Kombinationen von Variablen die Zahl der behandelten Familien (N=5) bei Weitem überschreitet, so sind doch die aus langjähriger klinischer Erfahrung wesentlichen Variablen exemplarisch berücksichtigt worden. Es sollte damit gezeigt werden, dass selbst besonders ungünstige Voraussetzungen auf der Seite der Familien (Unterschicht Angehörigkeit, unvollständige Familiensituationen, somatische Vorerkrankungen der Kinder) kein Ausschusskriterium für das vorgeschlagene Behandlungskonzept darstellen. Der Behandlungserfolg der fünf behandelten Familien wurde in dieser Arbeit in der 157 Form einer klinischen Behandlungsbeschreibung dokumentiert. Eine Objektivierung des Behandlungserfolges durch unabhängige Rater konnte im Rahmen dieser Arbeit nicht erfolgen. Behandlungserfolg wird in dieser Arbeit, so wie die klinische Praxis es erwiesen hat, in Form von vier verschiedenen Behandlungsergebnissen definiert: Bei allen Familien führten die Symptomreduzierungen zu einer von ihnen geäußerten deutlichen Entlastung. 1. Klärung des familiären Konfliktes mit der Folge von emotionalen und interaktionellen Veränderungen sowohl bei den Eltern wie bei dem Kind in Sinne einer Symptomauflösung (Fall 1). Hier kann ein längerfristiger Heilungserfolg angenommen werden und damit auch eine Prävention gegen eine spätere Agravierung vermutet werden. 2. Familiäre Konfliktdiagnostik mit dem Ergebnis, dass ein Elternteil zu einer Langzeittherapie motiviert wurde und diese auch begann (Fall 3 und 5). Dieser Schritt führt oft relativ schnell zu einer deutlichen Entlastung des Kindes als Symptomträger und zu einem längerfristigen Heilungserfolg durch die Behandlung der Elternteile. Da die Ergebnisse der Psychotherapieforschung belegen, dass die durchschnittliche Zeit bis zur Aufnahme einer Psychotherapie sieben Jahre beträgt, bedeutet die Verkürzung dieser Zeitspanne eine wesentlich frühere Heilungschance für die Familie. Daher ist auch dieses Interventionsergebnis als Behandlungserfolg zu bewerten. 3. Symptomauflösung und Besserung der emotionalen und interaktionellen Familiensituation in Familien, deren Eltern keine eigene Psychotherapie aufnahmen (Fall 2 und 4). Da nur zu einer Auflösung von einigen inter -und intrapsychischen Konflikten anteilig beigetragen wurde, ist vermutlich zwar mit einem späteren wieder Auftreten von Symptomen zu rechnen. Es kann aber davon ausgegangen werden, dass diese und die anderen Eltern sich nach den von ihnen als positiv bewerteten Ergebnissen der Prävention, rechtzeitig wieder in psychotherapeutische Hilfe begeben werden. 158 4. Symptomatische Besserung der emotionalen und interaktionellen Familiensituation in Familien mit pathologisch vorbelasteten Elternteilen (Fall 4). Auch wenn in diesen Fällen ein längerfristiger und grundlegender Behandlungserfolg nicht erreicht werden kann, darf doch durch die aktuelle psychodynamische Intervention eine Symptomreduktion erwartet werden, auch wenn durch die psychopathologische Familienkonstellation später neue Konfliktkonstellationen nötig werden sollten. Methodologisch stellt diese Arbeit eine Aggregation von typisierten Einzelfallstudien vor, in denen exemplarisch das Spektrum von Störungen, therapeutischen Interventionen und möglichen Behandlungsergebnissen demonstriert werden sollte. Die Objektivierbarkeit durch eine Kombination empirischer und qualitativer Daten, die Replizierbarkeit der Behandlungsergebnisse sowie auch der Effizienznachweis durch eine hohe Interraterkorrelation müssen der Untersuchung an ausreichend großen und differenzierten Stichproben vorbehalten bleiben. Dies gilt auch für den Nachweis ihrer Effizienz und Langzeitwirkung über ein, drei und zehn Jahre. Für diese späteren Studien sollte die vorliegende Arbeit die konzeptuelle Basis und Demonstration der Interventionstechniken entwickeln. 159 Literaturverzeichnis Amft,H.(2002):Die ADHS- Problematik aus der Perspektive einer kritischen Medizin. In:Amft,H.;Gerspach,M; Mattner, D: Kinder mit gestörter Aufmerksamkeit. ADHS als Herausforderung für Pädagogik und Therapie. 2. Aufl. Stuttgart, 2004, S.47-149. Amft,H.;Gerspach,M.;Mattner,D.(2004): Kinder mit gestörter Aufmerksamkeit. ADS als Herausforderung für Pädagogik und Therapie. Stuttgart. 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Alle Stellen, die wörtlich oder sinngemäß aus veröffentlichten oder unveröffentlichten Schriften entnommen sind, habe ich als solche kenntlich gemacht. Kein Teil dieser Arbeit ist in einem anderen Promotions- oder Habilitationsverfahren verwendet worden. Bernd Henke Hamburg, den 18. Dezember 2006 164 Curriculum Vitae Name: Bernd Henke Geboren am 18.4.1949 in Niedermarsberg Ablegung der ärztlichen Vorprüfung am 4. Oktober 1972 in Hamburg Ablegung der Diplom-Vorprüfung für Psychologen am 15. Juli 1975 in Bochum Staatsexamen in Medizin am 3.Dezember 1976 in Essen Approbation als Arzt am 28.Februar 1978 Anerkennung als Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie am 25.September 1986 Anerkennung zum Führen der Zusatzbezeichnung Psychotherapie am 15. Juli 1986 Zusatztätigkeit als anerkannter Sozialmediziner seit 1986 Niederlassung als Arzt in eigener Praxis seit 1987 in Hamburg Anerkennung zum Führen der Zusatzbezeichnung Psychoanalyse am 4. Mai 1995 Anerkennung der Fachkunde in analytischer Kinder- und Jugendlichenpsycho- therapie am 12. Juli 1995 Anerkennung als Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie am 23. Oktober 1996 Anerkennung als Facharzt für Psychosomatische Medizin am 23. Oktober 1996 Hamburg, den 10.12.2006 165 Danksagung An erster Stelle gilt mein Dank den Kindern und ihren Eltern, die sich an dieser Untersuchung beteiligten. Sie fanden sich bereit, mir mit großer Offenheit und hohem zeitlichen Aufwand aus ihrem Leben zu berichten und mir Persönliches anzuvertrauen. Ohne den Einsatz dieser Familien hätte die vorliegende Arbeit nicht entstehen können. Natürlich verpflichtet dieses Vertrauen auch zu einem verantwortungsvollen Umgang mit den Geschichten der Familien meinerseits. Ich hoffe, dass die Familienberichte einen Beitrag für ein breiteres Verständnis von innerfamiliären Interaktionproblemen leisten können. Ganz besonders möchte ich mich bei Frau Dr. Karin, Herrn Dr. Peter Christian und Herrn Dr. Reinhard Zinkann sowie den übrigen Repräsentanten der Erich und Katharina Zinkann Stiftung für das intensive Interesse an Kindern mit Integrations- und Regulationsstörungen und die großzügige Unterstützung bedanken. Herzlich möchte ich mich bei Frau Prof. Dr. Marianne Leuzinger-Bohleber bedanken. Sie vertrat die Promotion am Fachbereich „Humanwissenschaften, Erziehungswissenschaft“ der Universität Kassel. Frau Leuzinger-Bohleber gab dieser Arbeit die entscheidenden Impulse. Ihre konstruktive Kritik und Anregungen flossen wesentlich in die Konzeption der Arbeit ein. Mein besonderer Dank gilt ebenfalls Herrn Prof. Dr. Dr. Gerald Hüther, der mir zur Erschließung der neurobiologischen Konzepte durch immer wieder neue, spannende Einsichten hilfreich in entscheidenden Momenten kontinuierlich zur Seite stand. Ich danke den Mitarbeiterinnen unserer Praxis, die durch ihren verlässlichen, engagierten Einsatz zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen haben. Ferner standen mir Kollegen, Freunde und Verwandte mit hilfreichen Diskussionen und Korrekturvorschlägen zur Seite. Ihnen allen herzlichen Dank.