Umwelterziehung als politisches und soziales Lernen Karlheinz Fingerle (Universita¨t Kassel) 1993 • Onlineversion: 2008∗ ∗Erstvero¨ffentlichung in: Umwelterziehung. Impulse fu¨r Berufsorientierung und Berufsausbil- dung. Mit Beitra¨gen von Lothar Beinke [u. a.]. Band 3: Problemlo¨sungen in Umwelt und Beruf erfordern Eigeninitiative. Hrsg.: Lothar Beinke, Klaus Kruse, Conrad Sachs. – Ham- burg: Verband Deutscher Schullandheime, 1993. – ISBN 3-924051-82-8. – Seiten 51–59. – Der Band dokumentierte eine Fachtagung der Pa¨dagogischen Arbeitsstelle des Verbandes Deut- scher Schullandheime e. V. im Ma¨rz 1992 in Oberwiesenthal (Sachsen). – Der Text wurde auf der Grundlage des originalen Typoskripts neu gesetzt. Die alte Rechtschreibung wurde beibehalten. Das |-Zeichen und die Marginalien verweisen auf die Seitenwechsel der Erst- vero¨ffentlichung. – Die in der Erstvero¨ffentlichung im Anhang auf den Seiten 58 und 59 gedruckten Anmerkungen sind in dieser Onlineversion als Fußnoten gesetzt. Inhaltsverzeichnis 1 Einleitende Bemerkungen 2 2 polity, policy und politics als Bereiche der Politik 4 3 Demokratie und Freiheit in der o¨kologischen Krise 5 4 Berufliche Sozialisation und Umweltlernen 7 5 Sozialkunde und Politikunterricht in der Berufsschule 8 6 Politisches Lernen und politisches Handeln in der Schule 11 1 Einleitende Bemerkungen Das Thema dieser Tagung ”Problemlo¨sungen in Umwelt und Beruf erfordern Eigeninitia- tive“ kann mißverstanden werden. Gewiß ist Eigeninitiative erforderlich: Viele Mißsta¨nde und Fehlentwicklungen ko¨nnten vermieden werden, wenn diejenigen, die sie erkennen, beherzt handeln wu¨rden, anstatt darauf zu warten, daß andere etwas tun. Auch genu¨gt es nicht, das Unerwu¨nschte nur zu beschreiben. Vielmehr ist kompetentes und konsequentes Eingreifen erforderlich. Ein Kollege berichtete mir einmal von einer U¨berschwemmung in seinem Keller, die wa¨hrend der Abwesenheit seiner Familie dadurch entstanden war, daß ein Gartenschlauch geplatzt war und das Wasser in den Keller lief. Seine jugendli- che Tochter, die zwischendurch nach Hause kam, bemerkte, daß der Keller unter Wasser stand, legte einen Zettel auf den Ku¨chentisch mit der Mitteilung, daß im Keller Wasser stehe, und verließ das Haus, um sich mit der Freundin zu treffen. Die Tochter drehte weder das Wasser ab, noch tat sie irgendetwas, um den Wasserschaden zu begrenzen. Nicht Warten auf die Eltern, sondern sofortiges Handeln wa¨re hier angebracht gewesen. Eigeninitiative war gefordert. Sicher auch viele kleine Probleme in Umwelt und Beruf sind so zu lo¨sen. Doch denke ich, daß es falsch ist, Erfahrungen und Problemlo¨sungen aus dem Privatbereich und aus dem Bereich kleiner Gruppen ohne Einschra¨nkungen auf die Bereiche der Politik zu u¨bertragen, in denen Menschen nicht mehr unmittelbar miteinander Umgang haben. Vieles la¨ßt sich nur gemeinsam mit anderen lo¨sen und setzt formelle und informelle Strukturen, gemeinsame oder wenigstens vertra¨gliche Wertorien- tierungen und auch Mittel zur Durchsetzung des als notwendig Erkannten voraus. Auch das obige Beispiel la¨ßt sich in dieser Richtung weiterdenken: U¨berlieferte, ungeschriebene Regeln der Nachbarschaftshilfe oder die Infrastruktur einer freiwilligen Feuerwehr oder einer Berufsfeuerwehr als Institutionen der Vorsorge fu¨r Notlagen ko¨nnen hier genannt werden. – Feuerwehren pumpen, wie bekannt ist, auch Keller aus. – Ebenso muß eine kommunikative Infrastruktur gedacht werden, die es ermo¨glicht, im Notfall die Helfer herbeizurufen. Auch mu¨ssen Regeln formaler Gleichbehandlung vorausgesetzt werden, die die Hilfe im akuten Notfall nicht vom sozialen Status, von der Wohngegend und von der finanziellen Leistungsfa¨higkeit des Hilfesuchenden abha¨ngig machen. Sie erken- 2 nen gewiß, daß diese Voraussetzungen gar nicht immer gegeben sind. Selbst dort, wo die formale Gleichbehandlung selbstversta¨ndlich ist, wie zum Beispiel beim Einsatz von Feuerwehren gegen Bra¨nde, finden wir eine unterschiedliche regionale Verteilung, eine un- terschiedliche materielle Ausstattung zum Beispiel mit Lo¨sch- und Rettungsgera¨ten und je nach Siedlungs- und Gewerbestrukturen unterschiedliche Mo¨glichkeiten, Freiwillige zu finden und diese bei auswa¨rtiger Berufsta¨tigkeit im Notfalle auch rufen zu ko¨nnen. Pro- blemlo¨sungen in Umwelt und Beruf erfordern neben der freien Eigeninitiative, so mo¨chte ich erga¨nzen, auch gemeinsame Vorsorge und kollektives Handeln. Wer u¨bersieht, daß die Chancen, andere zu solchem Handeln zu veranlassen, ungleich verteilt sind, blendet einen fu¨r die Lo¨sung der Umweltprobleme wichtigen Aspekt der gesellschaftlichen und politischen Realita¨t aus. Mit diesen Worten ist der soziologische und politikwissenschaft- liche Begriff der Macht angesprochen; na¨mlich das Problem, den eigenen Willen auch gegenu¨ber anderen durchzusetzen. Es wa¨re vo¨llig falsch, dieses Problem nur unter sozialpsychologischen Gesichtspunkten zu untersuchen. Die Einflußchancen ha¨ngen immer auch von sozialstrukturellen Bedin- gungen ab. Aber die Form der Durchsetzung dieses Willens darf nicht vernachla¨ssigt wer- den. Studien zum sozialen Lernen und zur politischen Sozialisation haben gerade im und nach dem Zweiten Weltkrieg viele Impulse durch die Frage erhalten, welche Fu¨hrungs- und Erziehungsstile den autorita¨ren Charakter vieler Menschen in Deutschland und die nationalsozialistische Herrschaft begu¨nstigt haben. Die Studien von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer zum autorita¨ren Charakter, die Studien von | Kurt Lewin, Ronald 51|52 Lippitt und Ralph K. White u¨ber Verhaltensweisen in Lernsituationen mit verschiede- nen sozialen Klimas, Erich Fromms Studien zum Sozialcharakter und David Riesmans Arbeit u¨ber den sozialen Charakter der Amerikaner haben starken Einfluß gehabt auf die Pa¨dagogik der Bundesrepublik Deutschland – von den Reeducation-Bemu¨hungen in den drei westlichen Besatzungszonen, u¨ber Modelle sozialen Lernens, Typologien von Un- terrichtsstilen bis zur Diskussion u¨ber anti-autorita¨re und emanzipatorische Erziehung. Riesman stellte die Frage nach der Mo¨glichkeit personalen Verantwortlichkeit angesichts der sozialen Determiniertheit, wie Helmut Schelsky in seiner Einfu¨hrung zur deutschen U¨bersetzung von Riesmans ”Die einsame Masse“ 1 herausarbeitete. Die paradoxe Antwort war, daß gerade die aufgezwungene Pseudo-Individualisierung als entscheidendes Hin- dernis ”auf dem Wege zur Autonomie der Person angesehen werden“ mu¨sse. 2 U¨brigens hat auch Ulrich Beck in seinem Buch ”Risikogesellschaft: Auf dem Weg in eine andere Moderne“3 diesen Zusammenhang pra¨zise charakterisiert: ”Eben die Medien, die eine Individualisierung bewirken, bewirken auch eine Standardisierung.“4 Und wenig spa¨ter verscha¨rft Beck diese Charakterisierung der Außenleitung mit folgender Aussage: ”In- 1David Riesman; Reul Denney; Nathan Glazer: Die einsame Masse. Eine Untersuchung der Wandlungen des amerikanischen Charakters. [The Lonely Crowd. A Study of the Changing American Character; dt. U¨bers.] Mit einer Einfu¨hrung von Helmut Schelsky. – o. O.: Rowohlt, 1958. (rowohlts deutsche enzyklopa¨die; Bd. 72/73.) – Vgl.: Einfu¨hrung, S. 18 f. 2Ebd., S. 19. 3Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1986. (edition suhrkamp; Bd. 165 – N. F. Bd. 365.) 4S. 210. – Im Original hervorgehoben 3 dividualisierungen liefern die Menschen an eine Außensteuerung und -standardisierung aus, die die Nischen sta¨ndischer und familialer Subkulturen noch nicht kannten.“ Ich denke, daß ich mit diesem Hinweis die zentrale Fragestellung unserer Tagung treffe. Be- steht nicht die Gefahr, daß wir die Entwicklung von autonomen Perso¨nlichkeiten dadurch erschweren, daß wir die Einzelnen auf sich selbst und auf individuell zurechenbare Hand- lungen verweisen, wo es doch um Aufgaben geht, die wir nur gemeinsam lo¨sen ko¨nnen. Besteht andererseits nicht das Problem, daß wir als Pa¨dagogen die soziale Realita¨t ver- fehlen, wenn wir angesichts der Aufgabe nicht nur eine Fa¨higkeit zum autonomen Han- deln, sondern auch das Erlernen von Kooperation, Partizipation und Solidarita¨t fordern? Stehen solchen Forderungen nicht die normierten Muster standardisierter Individualita¨t entgegen? – Lassen Sie mich hiermit meine Vorbemerkungen abbrechen und im folgenden Abschnitt einen anderen Zugang zum Thema suchen: 2 polity, policy und politics als Bereiche der Politik Aus der angelsa¨chsischen Wissenschaft von der Politik ist die Unterscheidung zwischen polity, policy und politics bekannt. Polity bezeichnet die institutionellen Strukturen (geschriebene oder ungeschriebene Verfassung, Rechtsordnung, Tradition usw.). Policy meint die normative Bestimmung der Ziele, Aufgaben und Gegensta¨nde der Politik. Politics meint den konfliktra¨chtigen Prozeß des Erzeugens politisch verbindlicher Ent- scheidungen (Thematisierung aller Formen der Macht und ihrer Durchsetzung).5 Fachdi- daktische Vero¨ffentlichungen zur ”Umwelterziehung im Fach Politik/Sozialkunde“ grei- fen diese Unterscheidung auf, um auf einen fachwissenschaftlichen Weg zur Identifizie- rung sozial- bzw. politikkundlicher Inhalte des Unterrichts zu verweisen.6 Die genannten Politikbegriffe sind analytisch. Bei der Untersuchung konkreter Po- litik kann zwar einer dieser Begriffe als Bezugspunkt gewa¨hlt werden ko¨nnen, doch lassen sich die anderen beiden faktisch nicht ausblenden. Fu¨r Sachanalysen des Poli- tikunterrichts und fu¨r curriculare Entwicklungen ko¨nnen die drei angelsa¨chsischen Be- griffe helfen, den spezifischen Beitrag des Politik- oder Sozialkundeunterrichts von den Beitra¨gen anderer Fa¨cher abzugrenzen. Dies gilt m. E. auch, wenn ein anderer fach- didaktischer Zugang gewa¨hlt wird – z. B. u¨ber Situationen, in denen sich Kinder und Jugendliche befinden oder fu¨r die Kinder und Jugendliche kompetent werden sollen. Nur wird bei den letzteren fachdidaktischen Konzepten auch deutlich, daß Schulfa¨cher etwas anderes sind als didaktisch reduzierte Formen von Universita¨tsdisziplinen. Sozialkun- deunterricht, Politikunterricht, Gemeinschaftskunde, Staatsbu¨rgerkunde usw. sind als 5Zur ersten Orientierung vgl. man die Artikel ” Politikwissenschaft“(S. 530–535) von Thomas Ellwein und ” Politikbegriffe“(S. 535–538) von Ulrich von Alemann im von Wolfgang W. Mickel und Dietrich Zeitlaff hrsg. Handbuch der politischen Bildung. Bonn: Bundeszentrale fu¨r politische Bildung, 1988. (Schriftenreihe; Bd. 264.) 6Vgl.: Paul-Ludwig Weinacht: Umwelterziehung im Fach Politik/Sozialkunde. In: Reinhold E. Lob; Volker Wichert (Hrsg.): Schulische Umwelterziehung außerhalb der Naturwissenschaften. Frankfurt a. M.; Bern; New York; Paris: Lang, 1987, S. 243–281. – Vom gleichen Verfasser: Umwelterziehung im Politik-/Sozialkundeunterricht. In: Jo¨rg Calließ; Reinhold E. Lob (Hrsg.): Handbuch Praxis der Umwelt- und Friedenserziehung. Band 2: Umwelterziehung. Du¨sseldorf: Schwann, 1987, S. 293–299. 4 Schulfa¨cher unabha¨ngig von den universita¨ren Wissenschaften von der Politik entstan- den. Versteht man sie wissenschaftsorientiert und/oder wissenschaftspropa¨deutisch, so stehen den einzelnen Schulfa¨chern mehrere Bezugsdisziplinen gegenu¨ber (z. B. Soziologie, Philosophie, Geographie, Geschichte). Außerdem sind je nach Schulform und Schulstufe auch selbststa¨ndige Schulfa¨cher, wie zum Beispiel die Schulgeographie, mit Themen (wie z. B.: Raumordnung) befaßt, die andererenorts im Politik- und | Sozialkundeunterricht 52|53 behandelt werden. Obwohl also eine Engfu¨hrung schulischen Politikunterrichts auf die Inhalte und Aspekte der Wissenschaft von der Politik abzulehnen ist, ko¨nnen doch Aufgaben des Umweltunterrichts unter den Aspekten polity, policy und politics iden- tifiziert werden, die auch im interdisziplina¨ren Unterricht, im fachu¨bergreifenden oder fa¨cheru¨bergreifenden Unterricht nicht preisgegeben werden sollten. Eine solche Forde- rung setzt voraus, daß die Vermittlung biologischen, chemischen, technischen Umwelt- wissens nicht die Hauptaufgabe des Politik- und Sozialkundeunterrichts ist, sondern die- ses Wissen im erforderlichen Umfang von anderen Fa¨chern bereitgestellt wird.7 (Selbst- versta¨ndlich ist dies auch im Rahmen von Projekten mo¨glich.) 3 Demokratie und Freiheit in der o¨kologischen Krise Umweltprobleme stellen eine starke Herausforderung fu¨r die Funktionsfa¨higkeit und Le- gitimita¨t der Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland dar. Wer die Listen der bedrohten, gefa¨hrdeten oder ausgestorbenen Arten, die Bilanzen der Versiegelung und Zerschneidung der Landschaft, die Pha¨nomene des Waldsterbens, Treibhaus-Efffekt und Ozonloch, Risiken der friedlichen und milita¨rischen Nutzung der Kernenergie, der Gen- forschung, Weltbevo¨lkerungswachstum und die Verteilung und Nutzung der Gu¨ter dieser Welt bedenkt, kann feststellen, daß trotz einer u¨ber zwei Jahrzehnte dauernden, erfolg- reichen Umweltpolitik zentrale Umweltprobleme noch nicht gelo¨st sind. Immer wieder werden uns alternative Politikmodelle vorgestellt, die angeblich mit den Problemen bes- ser fertig werden. So hat zum Beispiel vor knapp zehn Jahren Heinz-Georg Marten in seinem Band ”O¨kologische Krise und demokratische Politik“ 8 das ”links-autorita¨re O¨ko- Modell“ von Wolfgang Harich, das ”O¨ko-Sozialismus-Modell“ von Johanno Strasser, das ”O¨ko-Liberalismus-Modell“ von Rudolf Bahro, das ”O¨ko-Konservatismus-Modell“ von Erhard Eppler und das ”rechts-autorita¨re O¨ko-Modell“ von Herbert Gruhl unterschie- den. Um manche dieser Modelle ist es ruhiger geworden, seitdem gru¨ne und alternative Parteien im Bundestag und/oder den Landtagen sitzen. Die Aufza¨hlung von Marten war und ist sicher unvollsta¨ndig. Sie mu¨ßte aktualisiert und muß vor allem um historische Modelle erga¨nzt werden, wie sie zum Beispiel Ulrich Linse in seinem Buch ”O¨kopax und Anarchie. Eine Geschichte der o¨kologischen Bewegungen in Deutschland“9 geliefert hat. Zwischen konservativer O¨ko-Diktatur und Anarchie liegt ein breites Spektrum von 7Vgl. Weinacht: Umwelterziehung im Fach Politik/Sozialkunde, S. 245. 8Heinz G. Marten: O¨kologische Krise und demokratische Politik. Grundpositionen, Leitbilder und Lo¨sungsmodelle der Politischen O¨kologie. Stuttgart: Metzler, 1983. (Studienreihe Politik; Bd. 2.) 9Ulrich Linse: O¨kopax und Anarchie: Eine Geschichte der o¨kologischen Bewegungen in Deutschland. Mu¨nchen: Dt. Taschenbuch Vlg., 1986. (dtv; Bd. 10550) 5 alternativen Politikmodellen. Die Geschichte hat uns Abschied nehmen lassen vom nai- ven Fortschrittsglauben. Sie lenkt unseren Blick aber auch auf den ”Kulturpessimismus als politische Gefahr“10 Haben wir es wieder mit einer Kritik westlicher Zivilisation zu tun, die schon einmal – in der Weimarer Republik – zu den Gefa¨hrdungsfaktoren der Demokratie geho¨rte? Vielleicht liege ich nicht ganz falsch mit meiner Vermutung, daß solche Themen nur wenige unserer Jugendlichen und jungen Erwachsenen interessieren. Viel interessanter du¨rfte daher die Frage sein, wie die tatsa¨chlich vorhandenen Strukturen, Inhalte und Prozesse der Politik wahrgenommen werden und welche Mo¨glichkeiten der Erkundung sich fu¨r die Schule bieten. Paul Ackermann11 hat auf die didaktischen Ziele und auch die Werkzeuge und Arbeitstechniken solcher Erkundungen in der politischen Bildung hinge- wiesen. Gemeint sind hier als außerschulische Lernorte nicht (zumindest nicht prima¨r) die Biotope in der Landschaft, zu denen der Politik- und Sozialkundelehrer im Rahmen eines fa¨cheru¨bergreifenden Projekts mitgenommen wird. Hier wird vielmehr an eine o¨ffentliche Ausschußsitzung, an einen vorbereiteten und nachbereiteten Besuch in einem Planungs- amt, in einer Naturschutzbeho¨rde usw. gedacht. Auch ein schu¨tzenswerter Biotop in der Landschaft kann so zum Lernort fu¨r den Politik- und den Sozialkundeunterricht werden. Zentraler Inhalt du¨rften dann aber nicht das ”Tu¨mpeln“, die Bestimmung von Arten usw. sein, sondern die politischen Aspekte, die institutionell, normativ und auf das Verfahren bezogen untersucht werden ko¨nnen (zum Beispiel an einem Planungskonflikt eines Stra- ßenbauvorhabens). Ackermann hat solche Erkundungen als ”wertvolle Erga¨nzung der u¨blichen Methoden politischer Bildung“ gekennzeichnet.12 Besonders wichtig erscheint ihm, daß die Schu¨ler bei solchen Erkundungen ”mit Problemen konfrontiert [werden], fu¨r die es keine befriedigenden Lo¨sungen gibt oder u¨ber die noch nicht entschieden ist.“13 | Mit Horst Rumpf ha¨lt er solche Erfahrungen fu¨r wichtig, weil nur so der Gefahr des 53|54 fertigen Schulwissens und dem blinden ”Bescheidwissen“ der Lehrer und Schu¨ler vorge- beugt werden kann. Erkundungen ko¨nnen, wenn sie vor- und nachbereitet werden, einen Beitrag leisten, den komplexen Zusammenhang von polity, policy und politics an einem Beispiel zu kennenzulernen und die Erwartungen an die politischen Instanzen realisti- scher werden zu lassen. Das schließt Einsichten in grundsa¨tzliche Reformbedu¨rftigkeit und vor allem Kritik nicht aus. 3.1 Exkurs Vielleicht ko¨nnten ja solche Erkundungen auch dazu beitragen, daß Schu¨ler und Leh- rer erkennen, daß Bu¨rger viel fru¨her als meist u¨blich aktiv werden mu¨ssen, wenn sie einer weiteren Zersto¨rung von Natur und Landschaft vorbeugen wollen. Natur- und 10Fritz Stern: Kulturpessimismus als politische Gefahr. [The Politics of Cultural Despair; dt. U¨bers.] Bern; Stuttgart; Wien: 1963. 11Paul Ackermann: Außerschulische Lernorte. Ein Beitrag zu einem ganzheitlichen bzw. mehrdimensio- nalen politischen Lernen. In: Zur Theorie und Praxis der politischen Bildung. Bonn: Bundeszentrale fu¨r politische Bildung, 1990 (Schriftenreihe; Bd. 290), S. 247–257. 12Ebd., S 256. 13Ebd. 6 Umweltschu¨tzer kommen oft zu spa¨t. Sie protestieren, wenn der Bebauungsplan be- schlossen wird oder wenn ein Planfeststellungsverfahren la¨uft. In vielen Fa¨llen wurden die politischen Weichen aber schon sehr viel fru¨her gestellt: in Raumordnungs- und Fla¨chennutzungspla¨nen, im Bundesverkehrswegeplan und in Linienbestimmungsverfah- ren usw. Mir ist noch gut ein Besuch mit unserem Erdkundelehrer im Bauplanungsamt der Stadt Bielefeld in Erinnerung. Der Termin muß in der zweiten Ha¨lfte der fu¨nfziger Jahre gelegen haben. Bei diesem Besuch wurde uns u. a. ein großes Straßenbauprojekt durch den Bielefelder Paß vorgestellt. Ich glaube nicht, daß irgendeiner von uns da- mals an der Notwendigkeit dieses Projektes zweifelte. Viele Jahre spa¨ter wurde dieser Ostwestfalendamm dann realisiert und war Gegenstand lebhaften Bu¨rgerprotestes. Ich erinnere mich nicht, ob der Lehrer mit uns damals u¨ber die Folgen dieses Projektes und u¨ber mo¨gliche Alternativen diskutiert hat. Vielleicht hat er es versucht und bei uns keine Resonanz gefunden. Fu¨r die Vermittlung o¨kologischer Handlungskompetenz zeigt mir diese Episode, daß Aufmerksamkeit und fru¨hzeitige Wahrnehmung notwendige (allerdings nicht hinreichende) Voraussetzungen sind, um erfolgreich handeln zu ko¨nnen. 4 Berufliche Sozialisation und Umweltlernen Ob diese Disposition durch Schule und Berufsausbildung vermittelt werden kann, weiß ich nicht. Die bisherigen Erkenntnisse u¨ber die berufliche Sozialisation sprechen fu¨r die Annahme, daß Auszubildende in Angeboten zur Verbindung von o¨kologischem und sozialen Lernen Handlungsdispositionen und Motivationen entwickeln, sich in ihrem perso¨nlichem Umfeld ”umweltfreundlicher“ zu verhalten. In einem Bericht u¨ber die er- sten beiden Jahre eines Modellversuchs bei der Schering AG ”Bausteine zur u¨berfachlichen Qualifizierung der Ausbilder und Auszubildenden in der Chemischen Industrie mit den Schwerpunkten O¨kologie und soziales Lernen“ berichtete Evelies Mayer, daß dieser An- satz, der ”soziales Lernen“ hauptsa¨chlich methodisch verstand, zwar an die Dispositionen der Auszubildenden anknu¨pfte, aber insgesamt defizita¨r war.14 Da die Aussagen dieses Berichts fu¨r unser Tagungsthema zentral sind, lassen Sie mich diese Einscha¨tzung durch zwei la¨ngere, wo¨rtliche Zitate aus dem Aufsatz belegen. ”Insgesamt ist die dem ersten Lernbaustein des Modellversuchs zugrun- deliegende Konzeption von Umwelterziehung an perso¨nlichen Lebensstilen orientiert, die sich umweltfreundlicher entwickeln sollen. Dieses eher perso- nenorientierte und auf das perso¨nliche Lebensumfeld zentrierte Versta¨ndnis fu¨r Umwelterziehung kann fu¨r sich in Anspruch nehmen, an die individualisti- schen Sichtweisen der Auszubildenden anzuknu¨pfen, um auf dieser Basis die Bereitschaft zu permanentem o¨kologischen Lernen fo¨rdern zu ko¨nnen. Doch greifen solche Lernprozesse zu kurz, wenn sie sich ausschließlich auf den vom 14Evelies Mayer: Umwelterziehung in der Chemischen Industrie. Zwischenergebnisse aus der Wissen- schaftlichen Begleitung eines Modellversuchs zur o¨kologischen und sozialen Qualifizierung in der betrieblichen Ausbildung. In: Gu¨nter Eulefeld; Dietmar Bolscho; Hansjo¨rg Seybold: Umweltbewußt- sein und Umwelterziehung. Ansa¨tze und Ergebnisse empirischer Forschung. Kiel: IPN, 1991 (IPN[- Schriftenreihe]; Bd. 129), S. 213–239. 7 einzelnen kontrollierten Handlungskontext beziehen und nicht auch darauf gerichtet sind, Fa¨higkeiten zum rationalen Umgang mit komplexen Struktu- ren zu entwickeln, die in Politik, Recht und Wirtschaft Grenzen sehen fu¨r ein umweltgerechtes Verhalten.“15 ”Bezogen auf die Umwelterziehung in der beruflichen Bildung kann die Mo- bilisierung perso¨nlichkeitssstrukturell verankerter individueller Fa¨higkeits- ressourcen divergierenden Zwecksetzungen oder sozialen Interessen dienen. In Verbindung mit dem Konzept und dem Ablauf der Maßnahme ’Umwelt- schutz in der Chemischen Industrie‘ heißt das nichts anderes, als daß die ohnehin vorhandene Bereitschaft der Auszubildenden, sich fu¨r den Umwelt- schutz zu engagieren, | durch die Einu¨bung nichtfachlicher Qualifikationen 54|55 gefo¨rdert wird. Durch das Modellversuchsgeschehen wird jedoch gleichzei- tig dieses Engagement fu¨r Umweltbelange so kanalisiert, daß es fu¨r ein ri- sikobewußtes Verhalten genutzt werden kann, ohne daß es eine prinzipielle Kritik an Defiziten im Umweltschutz innerhalb und außerhalb des Betriebes einmu¨ndet.“16 5 Sozialkunde und Politikunterricht in der Berufsschule Sozialkunde und Politikunterricht sind in unseren Schulen schulische Residualfa¨cher oder Sammelfa¨cher fu¨r viele Ziele und Inhalte, die in anderen Fa¨chern nicht beru¨cksichtigt werden. Beklagt wird eine mangelnde Professionalisierung der Lehrer, die oft fachfremd und ohne fachdidaktische Ausbildung unterrichten.17 Der Terminus politische Bildung ist nach Claußen ”oftmals als Sammelbezeichnung fu¨r eine Vielzahl ho¨chst unterschiedlicher pa¨dagogischer Maßnahmen, Maßnahmen und Prozesse der Bescha¨ftigung mit Politik im engeren und im weiteren Sinne.“18 Allerdings sei es das Verdienst der Didaktik, zur Kla¨rung des Begriffs beigetragen zu haben. Solange jedoch nicht einmal u¨ber die Be- zeichnung des Faches Klarheit besteht und auch in den einschla¨gigen fachdidaktischen Arbeiten Sozialkunde oft als Synonym fu¨r Politikunterricht angesehen wird, wird eine Versta¨ndigung u¨ber Ziele und Inhalten schwierig bleiben. Dies gilt auch fu¨r die Ange- bote der beruflichen Schulen. Angesichts der unklaren Konzeption dieses Faches bleibt erstaunlich, daß die ”Empfehlungen zur Umwelterziehung“, die im April 1978 fu¨r den Be- reich der Bundesrepublik Deutschland die Ergebnisse der Zwischenstaatlichen Konferenz in Tiflis auslegten, dem Fach eine koordinierende und die Defizite der berufsbezogenen Fa¨cher kompensierende Funktion zuschrieben: 15S. 233. 16S. 244. 17Vgl. z. B.: Franz Josef Witsch-Rothmund: Professionalisierungsdefizite an rheinland-pfa¨lzischen Haupt- schulen am Beispiel der Sozialkunde. In: Zur Theorie und Praxis der politischen Bildung. Bonn: BpB, 1990, S. 168–187. 18Bernhard Claußen: Polititologie und politische Bildung. Zur Aktualita¨t der edukativen Dimension zeit- gema¨ßer Demokratiewissenschaft im Aufkla¨rungsinteresse. In: Zur Theorie und Praxis der politischen Bildung. Bonn: BpB, 1990, S. 339–366. Zitat: S. 347. 8 ”Wegen der mo¨glichen Einengung des Umweltschutzes auf lediglich sach- spezifisch-funktionale Betrachtung sollte dem Fach Sozialkunde (Gemein- schaftskunde, Politischer Unterricht) eine koordinierende Funktion zugeschrie- ben werden. Dieses Fach wird die Aufgabe zu erfu¨llen haben, bei den umwelt- relevanten Themen der berufsbezogenen Fa¨cher den Bezug zur allgemeinen Gefa¨hrdung des Naturhaushalts und zu den wirtschaftlichen sowie gesell- schaftlichen Voraussetzungen und Folgen herzustellen.“19 Ich habe mir die von der Arbeitsgruppe am Institut fu¨r Berufspa¨dagogik der Univer- sita¨t Hannover unter der Leitung von Dieter Jungk fu¨r die UNESCO-Verbindungsstelle im Umweltbundesamt erarbeiteten ”Unterrichtsmaterialien zum Thema O¨kologie/Um- weltschutz fu¨r den Sozialkundeunterricht an beruflichen Schulen“20 und das im Jahre 1988 vero¨ffentlichte, von Wolfgang W. Mickel herausgegebene Schulbuch ”Politik fu¨r be- rufliche Schulen“21 unter dem Gesichtspunkt angesehen, ob die von Claußen22 genannten didaktischen Kriterien erfu¨llt werden, daß ”politische Bildung“ erstens als eine ”beson- dere Qualita¨t politischer Sozialisation“ verstanden werden solle, die einem ”weitgefaßten Politikversta¨ndnis“ entsprechen und ”doch auf die eigentliche Substanz des Politischen einschließlich ihres sozioo¨konomischen Gesamtzusammenhanges konzentriert“ bleibe und sich zweitens als ”Vorgang aktiver Auseinandersetzung mit Relevanz fu¨r eine kultivieren- de Differenzierung des politischen Bewußtseins, Empfindens und Handlungsvermo¨gens“ ereigne.23 Am ehesten ko¨nnen beide Materialien noch als Beitrag zur Erfu¨llung des zweiten Kri- teriums verstanden werden. Im u¨brigen breiten vor allem die Materialien aus Hannover eine Fu¨lle fachlicher Informationen zum Umweltschutz aus: zur Luftverschmutzung durch Autos,24 zum Wassersparen und zur Wasserverschmutzung,25 zum Verpackungsmu¨ll,26 zum La¨rm am Arbeitsplatz und in der Freizeit,27 zum Thema Nahrung und Umwelt- schutz,28 zum Energiesparen29 und zur Energieversorgung und Umweltbelastung30. 19Gu¨nter Eulefeld; Thorsten Kapune (Hrsg.): Arbeitsdokumente zur Umwelterziehung – Mu¨nchen 1978, basierend auf der Zwischenstaatlichen Konferenz u¨ber Umwelterziehung der UNESCO- Mitgliedstaa- ten 1977 in Tiflis. Kiel: Institut fu¨r die Pa¨dagogik der Naturwissenschaften an der Universita¨t Kiel, 1979 (IPN-Arbeitsberichte; Bd. 36), S. 271. 20Unterrichtsmaterialien zum Thema O¨kologie/Umweltschutz fu¨r den Sozialkundeunterricht an berufs- bildenden Schulen. Hrsg.: UNESCO-Verbindungsstelle fu¨r Umwelterziehung im Umweltbundesamt. [Urheber:] Institut fu¨r Berufspa¨dagogik an der Universita¨t Hannover. Projektleiter: Dieter Jungk. Berlin: Umweltbundesamt, o.J. [1985]. Acht Ba¨nde. 21Politik fu¨r berufliche Schulen. Hrsg. von Wolfgang W. Mickel in Verbindung mit Eckart Waßong, erarbeitet von Bernd Henning, Wolfgang W. Mickel, Reinhard Stachwitz, Eckart Waßong. Du¨sseldorf: Cornelsen-Girardet, 1988. 22A.a.O., S. 347. 23Ebd. 24Band 2. 25Band 3. 26Band 4. 27Band 5. 28Band 6. 29Band 7. 30Band 8. 9 Kaum zu finden sind spezifische sozialwissenschaftliche und politikwissenschaftliche Dimensionen. Im Gegensatz zur Feststellung Weinachts, daß das Fach Politik/Sozialkunde Umweltwissen zwar verarbeite, aber als bekannt voraussetze,31 wird in diesen Materia- lien offensichtlich eine Hauptaufgabe in der Bereitsstellung dieses technologischen und fachpraktischen Wissens gesehen. Auch technische Anleitungen und Hilfen fu¨r prakti- sche Projekte werden gegeben. Ansa¨tze zur Vermittlung eines Versta¨ndnisses sozialer Strukturen und Prozesse und politischer Aspekte sind in den Materialien aus Hannover nur marginal. Nun lassen die Inhalte als solche nicht die Einscha¨tzung zu, daß politische Aspekte nicht ange-|messen aufgegriffen werden. Es gilt na¨mlich die Aussage Ulrich von 55|56 Alemanns: ”Es ist nicht alles politisch in der Gesellschaft; aber fast alles kann politisch relevant werden, . . .“32 Allerdings setzt von Alemann diesen Satz mit Verweis auf polity, policy und politics wo¨rtlich fort: ”. . . ; aber fast alles kann politisch werden, wenn es mit einem der drei Prinzipien verbunden werden kann.“33 Nur unvollkommen wird der insti- tutionelle Aspekt mit Hinweisen und Auszu¨gen aus rechtlichen Vorgaben angesprochen. Der politics-Aspekt wird in den Materialien (z. B. durch den Abdruck von Zeitungs- ausschnitten) beru¨hrt, in denen Schu¨lern widerspru¨chliche Auffassungen zur Diskussion angeboten werden. U¨berwiegend ausgeblendet bleiben aber die Prozesse des Erzeugens politisch verbindlicher Entscheidungen. Das Schulbuch ”Politik fu¨r berufliche Schulen“ bietet in den abgedruckten Materialien (zum Beispiel Auszu¨gen aus den Wahlprogrammen der politischen Parteien) schon besse- re Ansa¨tze zur politischen Sozialisation im Sinne Claußens. Bei einigen Arbeitsauftra¨gen dieses Buches bezweifle ich allerdings, daß die Schu¨ler dadurch unterstu¨tzt werden, die Komplexita¨t des politischen Prozesses begreifen zu lernen und zugleich das Vertrauen zu gewinnen, daß durch eigenes Engagement zu politischen Vera¨nderungen beitragen zu ko¨nnen. So entha¨lt das Buch zum Beispiel einen Arbeitsauftrag: ”Was haben Sie an der Umwelt Ihrer Gemeinde zu beanstanden? Listen Sie auf und stellen Sie Punkte einem Gemein- devertreter zur Verfu¨gung. Erkundigen Sie sich nach einem halben Jahr, was daraus geworden ist.“34 Welches Politikversta¨ndnis haben eigentlich die Autoren des Schulbu- ches, mo¨chte ich fragen. Ist bei diesem Arbeitsauftrag u¨berhaupt beru¨cksichtigt, daß Auffassungen u¨ber die Umwelt kontrovers sein ko¨nnen? Wird gefragt, wie die Prozesse der politischen Entscheidungsfindung ablaufen? Wird u¨berhaupt gesehen, daß fu¨r Vieles in der Gemeinde andere politische Ko¨rperschaften Entscheidungen treffen? Werden den Schu¨lern Wege gezeigt, politisch wirksam zu werden? Warum soll erst nach einem halben Jahr nachgefragt werden? Solch ein Arbeitsauftrag ist besonders problematisch, weil er – oberfla¨chlich betrachtet – die Schu¨ler aus der Rolle der passiven Rezipienten politi- scher Belehrung herausholt und auf den ersten Schein, wie auch andere Arbeitsauftra¨ge dieses Buches, Forderungen eines handlungsorientierten Unterrichts einlo¨st. Tatsa¨chlich verkommt hier aber die Demokratie zu einer Einrichtung, bei der man seine Bestel- lung abgibt, um nach einem halben Jahr die Lieferung anzumahnen. Die vermeintlich 31Weinacht: Umwelterziehung im Fach Politik/Sozialkunde, S. 245. 32von Alemann: Politikbegriffe, S. 538. 33Ebd. 34Politik fu¨r berufliche Schulen, S. 220. 10 u¨berwundene Nicht-Aktivita¨t des Schu¨lers kehrt in der Rolle des abwartenden Klien- ten wieder, der auf die Leistung des Politikers wartet. Ich will nicht so zynisch sein, den Autoren des Schulbuches zu unterstellen, daß dies ja gerade die Lektion sei, die die Schu¨ler lernen sollen. Ich vermute, daß beabsichtigt ist, den Schu¨lern die Erfahrung zu vermitteln, daß durch eigene Initiative nicht nur im perso¨nlichen Umfeld, sondern auch in der Politik einer Gemeinde etwas bewirkt werden kann. Ich mo¨chte nicht mißverstanden werden. Trotz meiner Kritik stellen die als Beispiel genannten Medien fu¨r die beruflichen Schulen einen graduellen Fortschritt gegenu¨ber fru¨heren Ansa¨tzen – z. B. institutionskundlicher Belehrung – dar. Mo¨glichkeiten zum sozialen Lernen in elementaren Gruppen, in denen sich die Mitglieder noch perso¨nlich kennen, bieten diese Ansa¨tze allemal. Politisches Lernen sollte jedoch nicht nur Qualifi- kationen fu¨r das Handeln in face-to-face-Gruppen vermitteln, sondern auch fu¨r gro¨ßere Zusammenha¨nge. Die Didaktik der Umwelterziehung kann hier aus den pa¨dagogischen Programmen und Versuchen in Zusammenhang mit der geforderten Reform des Bil- dungswesens in der Bundesrepublik Deutschland in den sechziger und siebziger Jahren lernen. 6 Politisches Lernen und politisches Handeln in der Schule Gu¨nter Schreiner diskutierte im Kontext konkreter Gesamtschulpraxis die Ziele ”sozialen und politischen Lernens“. Er verbindet in diesem Doppelbegriff die gesamtgesellschaft- liche mit der Ebene elementarer Sozialbeziehungen: ”Die doppelte Attributierung, ’sozial‘ und ’politisch‘, der hier bezeichne- ten Lernprozesse soll darauf hinweisen, daß Verhalten, Fu¨hlen und Denken im mikrosozialen Bereich oft politische, d. h. fu¨r den makrosozialen Bereich relevante Implikationen hat, und vice versa.“35 | Doch la¨ßt sich die machtpolitische Handlungsorientierung nicht mit den Kategorien Do- 56|57 minanz und Macht einer Sozialpsychologie der Gruppe erfahren und erfassen. Schreiner forderte daher, politische Sensibilisierung und Handlungsfa¨higkeit in folgendem Sinne anzusehen: ”Auf der gesellschaftspolitischen Ebene bedeutet politische Sensibilita¨t . . . , den Schu¨lern gesellschaftliche Herrschaftsstrukturen einsehbar zu machen und Formen der diskursiven Gewinnung von Bu¨ndnispartnern, der Kritik und des Widerstands gegen diese Strukturen einzuu¨ben.“36 Angesprochen wurden von ihm vor allem ”o¨konomische Herrschaftsstrukturen“, deren Folgen als ”gesellschaftliche Ungerechtigkeit“ und ”gesellschaftliche Unvernunft“ charak- terisiert wurden.37 Letztere wurde damals u. a. mit dem Stichwort ”Umweltverschmut- 35Gu¨nter Schreiner: Soziales und politisches Leren. Anspruch und Wirklichkeit einer Gesamtschule. In: Soziales Lernen in der Schule. Hannover; Dortmund; Darmstadt; Berlin: Schroedel, 1977 (Auswahl: Reihe A, Grundlegende Aufsa¨tze aus der Zeitschrift Die Deutsche Schule; Band 16), S. 51–82. – Zitat: Seite 54. 36Ebd., S. 60. 37Ebd.; Hervorhebungen im Original. 11 zung“ erla¨utert. In der Auseinandersetzung mit dem Konzept des ”strategischen Ler- nens“38 machte Schreiner den wichtigen Zusatz, daß nicht alle gesellschaftlichen Herr- schaftsstrukturen von einem polit-o¨konomischen Standpunkt her aufgekla¨rt werden ko¨nn- ten.39 – Problematisch erscheint mir heute, daß bei aller berechtigten Kritik an ge- sellschaftlichen Mißsta¨nden und illigitimer Machtausu¨bung nicht deutlich genug gefragt wurde, wie die Pa¨dagogik Formen legitimer Herrschaft aufkla¨ren und politische Hand- lungsfa¨higkeit unter legitimer Herrschaft vermitteln kann, ohne affirmativ zu werden. Der Konzept des sozialen und politischen Lernens nach Gu¨nter Schreiner la¨ßt m. E. die Grenzen o¨ffentlicher Schulen erkennen. In der Diskussion um die Reform der Jugendhilfe zu Beginn der siebziger Jahre war auf der Seite der sozial-liberalen Bundesregierung die Zielsetzung vertreten worden, Jugendarbeit und Jugendbildungsarbeit enger als fru¨her mit der Schule zu verbinden.40 Vertreter von Jugendhilfe und Jugendarbeit lehnten dies ab und wiesen auf die universalistische Orientierung der o¨ffentlichen Schulen hin, die organisierten Partikularinteressen keinen Raum geben du¨rfe und werde. Demgegenu¨ber ko¨nnten politische, gewerkschaftliche, konfessionelle und andere Jugendorganisationen, deren Mitgliedschaft auf Freiwilligkeit beruhe, spezifische, nicht einer abstrakten Neu- tralita¨t verpflichtete Interessen verfolgen und so Jugendlichen Identifikations- und Hand- lungsmo¨glichkeiten bieten, die fu¨r die Entwicklung der Perso¨nlichkeit erforderlich seien. Ich denke, daß diese Argumente auch heute noch gelten. Allerdings mu¨ssen wir heute das vielfa¨ltige Spektrum von Umweltgruppen und Bu¨rgerinitiativen neben traditionel- len Gruppierungen sehen. Jugendlichen und jungen Erwachsenen sollte neben Schule, betrieblicher Berufsausbildung und Studium noch genu¨gend Zeit bleiben, in solchen Gruppen zu arbeiten. Befa¨higung zum praktischen politischen Handeln kann vor allem in solchen Gruppen gelernt werden. Den Schulen bleibt gleichwohl noch genug zu tun: Kla¨rung und Einordnung, jedoch nicht politische Neutralisierung des politischen Enga- gements der Jugendlichen. Die Praxis des Politikunterrichts wird unter dieser Pra¨misse eine zum Zwecke des Lernens veranstaltete Praxis bleiben. Intendierte Politik kann sie nur werden, wenn sie zur Indoktrination wird. – Aber auch eine Praxis, die darauf ver- zichtet, pa¨dagogische Maßnahmen als Instrumente politischer Macht einzusetzen, kann politische Folgen haben. Und diese Folgen ko¨nnen auch durch einen Unterricht bewirkt werden, der nicht die Bezeichnung Politik oder Sozialkunde tra¨gt. Als Beispiel seien nur Gewa¨sseruntersuchungen im Rahmen von Projekten des Biologie- und Chemieunter- richts oder einer Berufsfachschule fu¨r Chemisch-technische Assistenten/Assistentinnen genannt. Aufkla¨rung u¨ber die tatsa¨chlichen Zusta¨nde kann auch politisch folgenreich sein. Die Frage, ob und wann sie dies ist, will ich hier nicht untersuchen. Sonst mu¨ßte 38Hans-G. Rollf; Ulrich Baer; Dagmar Ha¨nsel; Fred Heidenreich; Heidrun Lotz; Joachim Neander; El- ke Nyssen; Klaus-Ju¨rgen Tillmann: Strategisches Lernen in der Gesamtschule. Gesellschaftliche Per- spektiven der Schulreform. Mit einem Vorwort von Carl-Heinz Evers. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1974. 39Schreiner: Soziales und politisches Lernen, S. 60 f. 40Vgl. hierzu und zu den folgenden Ausfu¨hrungen meinen Beitrag: Jugendbildung in der industrialisierten Gesellschaft. In: Enzyklopa¨die Erziehungswissenschaft, Band 9: Sekundarstufe II – Jugendbildung zwischen Schule und Beruf. Teil 1: Handbuch. Hrsg. von Herwig Blankertz, Josef Derbolav, Adolf Kell, Gu¨nter Kutscha. Stuttgart: Klett-Cotta, 1982, S. 66–85. – Hier besonders S. 81 f. mit weiteren Literaturnachweisen. 12 ich jetzt die Behauptung Niklas Luhmanns diskutieren, daß jedes Teilsystem der Gesell- schaft nach je eigenen Strukturen Resonanz fu¨r o¨kologische Themen zeigt.41 So kann Schule ungeplant politische Wirkungen haben, obwohl es Schulen nicht nur wegen ihrer o¨ffentlich-rechtlichen Struktur, sondern auch aus pa¨dagogischen Gru¨nden verwehrt ist, sich in den Parteienstreit um die richtige Umweltpolitik als kollektiv han- delnde Akteure einzumischen. – Die fehlende Legitimation der Schulen fu¨r kollektives politisches Handeln, die im Gebot begru¨ndet ist, die Kinder und Jugendlichen nicht zu indoktrinieren, ist ein strukturelles Defizit, das Lehrer und Schu¨ler im Bereich der Schule auf den Aufruf zur Eigeninitiative zuru¨ckwirft, | wo doch von der Sache her kollektives 57|58 Handeln geboten scheint. Es wa¨re jedoch eine professionelle Deformation der Pa¨dagogik, wenn sie bei dieser Aufforderung zur individuellen Lo¨sung der Probleme stehen bleiben wu¨rde. Unsere Gesellschaft hat viele Gruppen und Organisationen, die gemeinsames politi- sches Handeln ermo¨glichen. Schulen haben die Aufgabe, zur Entwicklung der politischen Handlungskompetenz beizutragen. Nur wenn Schulen diese Aufgaben wahrnehmen, wird man den Schulpa¨dagogen nicht vorwerfen, Umweltmoral gerade denjenigen zu predigen, ”die von den Scha¨digungen besonders“ betroffen sind, darunter auch jenen, ”die in ihrem Leben noch keinerlei Mo¨glichkeit hatten, die (Um-)Welt zu scha¨digen“42 Die Aufgabe des politischen und sozialen Lernen ernst nehmen, bedeutet, den Lehrer nicht als Um- weltpriester wirken zu lassen, der den Opfern weitere Opfer abverlangt, sondern ihn als Aufkla¨rer zu verstehen.43 Wir brauchen keine ”Magier“, sondern ”Magister“ der Um- welterziehung!44 41Vgl.: Niklas Luhmann: O¨kologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf o¨kologische Gefa¨hrdungen einstellen? Opladen: Westdeutscher Verlag, 1986. 42So die Kritik von Helmut Heid an bisherigen umweltprogrammatischen und umweltpa¨dagogischen Forderungen. S. seinen Aufsatz: O¨kologie als Bildungsfrage? In: Zeitschrift fu¨r Pa¨dagogik. Jg. 38 (1992), S. 113–138; Zitat: S. 125. 43Vgl. die Bemerkungen zu den Appellen zu ” Opfer und Verzicht“ bei Heid an gleicher Stelle. 44Diese Formulierung wa¨hle ich in Anspielung auf einen Titel Hartmut von Hentigs: Magier oder Ma- gister? U¨ber die Einheit der Wissenschaft im Versta¨ndigungsprozeß. Stuttgart: Klett, 1972. – Die Formulierung richtet sich kritisch gegen jene Umwelterzieher, die wie Missionare religio¨ser Sekten auftreten. 13