freischwimmer Die vorliegende Dissertation schildert die Entstehung und Verfeinerung eines interaktiven Lehrkonzepts, in dem fachliche Inhalte und wesentliche Kompetenzen vereint erworben werden können. Grundlegend ist der Projektgedanke, dem eingangs eine analogisierende Untersuchung gewidmet ist. Sowohl die Entwicklung des Lehrkonzepts wie auch die Überprüfung des Erfolgs und der Vergleich mit anderen Ansätzen wird dargestellt und analysiert. Die Auswertung aus der Sicht der Lernenden und Lehrenden führt zu einer Struktur des Grundstudiums, die neben der fachlichen Ausbildung die Fähigkeiten und Kompetenzen vermittelt, die heute notwendig sind, um auch außerhalb des vorgegebenen Berufsfelds kreativ tätig sein zu können. Prof. Alexander Eichenlaub, 2007 Katja Mand K a tj a M a n d f r e is c h w im m e r freischwimmer Entwicklung, Erprobung und Bewertung eines Lehrkonzepts für das Grundstudium der Architektur Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Ingenieurwissenschaften (Dr. Ing.) im Fachbereich 06 -asl- Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung der Universität Kassel vorgelegt von: Katja Mand 1. Betreuer: Prof. Alexander Eichenlaub 2. Betreuerin: Prof. Maya Reiner Tag der Disputation: 20. Dezember 2007 An dieser Stelle möchte ich besonders meinem Doktorvater Prof. Alexander Eichenlaub und meiner Doktormutter Prof. Maya Reiner danken, die mich mit großer Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit meinem Thema und mit viel Geduld zwei Jahre lang begleitet haben. Außerdem möchte ich Silke Mehrwald für ihre Strukturvorschläge, Sabine Stange für das Korrekturlesen und meinem Mann Ulrich Goebel für seine Unterstützung danken. So eine Arbeit wird eigentlich nie fertig, man muss sie für fertig erklären, wenn man nach Zeit und Umständen das Möglichste getan hat. Johann Wolfgang von Goethe Dank Inhaltsverzeichnis Seite Vorwort von Prof. Alexander Eichenlaub 9 Warum diese Arbeit? 10 1. Einleitung Ausbildungsstruktur und -inhalte vor dem Hintergrund des sich wandelnden Berufsbildes des Architekten 14 Stand der Forschung 19 Fragestellung – Zielsetzung – Hypothesen – Methode 22 2. Entwurfsprojekte als Motor Zum Projektbegriff 30 John Dewey – Vater des Projektgedankens 32 Klaus Heipcke – Lernen in Projekten 35 Projekt als Lehrkonzept in Schule und Hochschule 38 Entwurfsprojekte als Motor – Relevanz der theoretischen Ansätze für die Architekturausbildung 40 3. Die Lehre aus dem Bauch Das Grundstudium im Studienbereich -asl- an der Universität Kassel 50 Einstiegsaufgabe 53 Exkursion 56 Stegreifentwürfe 68 Erster großer Entwurf 76 Rückblick der Studierenden 84 Theoretischer Hintergrund und Begründung der Methode Interview 86 Vorbereitung, geplanter Ablauf und dreistufige Auswertung der Interviews 89 Interview mit Student K. 95 Interview mit Student M. 105 Interview mit Studentin G. 115 Zusammenfassung und Ausblick 125 Inhaltsverzeichnis 4 5 4. Untersuchung aktueller Lehrkonzepte auf dem Hintergrund des Workshops arch eins* – Neue Grundlagen für die Architekturausbildung Der Workshop – Hintergrund, Konzept und viele Fragen 134 Untersuchungsmethode Workshop 139 Die eingeladenen Hochschulen/Lehrstühle 143 Der Workshop – Rahmenprogramm und Aufgabenstellung 158 Arbeitsergebnisse des Workshops 166 Eidgenössische Technische Hochschule, ETH Zürich, Schweiz 169 Die AngewAndte Wien, Österreich 173 Technische Universität, TU/e Eindhoven, Niederlande 175 Rheinisch-Westfälisch-Technische Hochschule, RWTH Aachen 178 Brandenburgisch-Technische Universität, BTU Cottbus 180 Akademie der Bildenden Künste Stuttgart 183 Universität Kassel 186 Zusammenfassung und Ausblick 190 5. Erfahrungen verfestigen sich – Das Modell freischwimmer Hintergrund 204 Lernziel: Entwicklung eines architektonischen Grundverständnisses 206 Lernziel: Erwerb allgemeiner Basiskompetenzen 209 Bearbeitungsmodi 213 Semesterstruktur und Arbeitsformen 218 Beispiel: Das Entwurfsprojekt Konstruktion von Atmosphären 220 Stegreifentwurf als Einstieg und Kommunikationsübung 223 Input 228 Exkursion in die Niederlande: Referate, Besichtigungen, kleine Aufgaben 233 Stegreifentwürfe 245 Erster großer Entwurf 254 Zusammenfassung 263 6. Zusammenfassung und Fazit 267 Literaturverzeichnis 274 Inhaltsverzeichnis 6 7 Die vorliegende Dissertation schildert die Entstehung und Verfeinerung eines interaktiven Lehrkonzepts, in dem fachliche Inhalte und wesentliche Kompe- tenzen vereint erworben werden können. Grundlegend ist der Projektgedanke, dem eingangs eine analogisierende Untersuchung gewidmet ist. Sowohl die Entwicklung des Lehrkonzepts wie auch die Überprüfung des Erfolgs und der Vergleich mit anderen Ansätzen wird dargestellt und analysiert. Die Auswer- tung aus der Sicht der Lernenden und Lehrenden führt zu einer Struktur des Grundstudiums, die neben der fachlichen Ausbildung die Fähigkeiten und Kom- petenzen vermittelt, die heute notwendig sind, um auch außerhalb des vorge- gebenen Berufsfelds kreativ tätig sein zu können. Vorwort von Prof. Alexander Eichenlaub 8 9 Den Anlass, mich mit der Architekturausbildung nicht nur in der Lehrpraxis, sondern auch wissen- schaftlich zu beschäftigen, bot die Diskussion um neue Ausbildungsstrukturen im Zusammenhang mit der Modularisierung der Ausbildung. Den Hintergrund der Arbeit bilden meine Lehrerfahrung im Rahmen der Lehrtätigkeit am Fachbereich Architektur in Kassel, die ständige Reflexion und Weiterentwicklung eigener Lehrkonzepte, der Wunsch nach Austausch und Auseinandersetzung und die intensive Be- schäftigung mit aktuellen Lehrkonzepten und -methoden. Im Laufe der Zeit entstand das Bedürfnis meine Erfahrungen und Forschungen auf diesem Gebiet zu bündeln und darzustellen. Die Beschäftigung mit dem Grundstudium als erstem Baustein der Ausbildung stellt eine besondere Herausforderung dar, weil hier eine Basis für das weitere Studium gelegt wird. An der Universität bekommt ein Student im Grundstudium der Architektur den ersten Zugang zu seiner ausgewählten Profession – im Gegensatz zu anderen Fächern spielt Architektur in der schulischen Ausbildung (noch) keine Rolle. Anders verhält es sich an den Akademien, wo eine Eignung für das Studium, in welcher Form auch immer, abgeprüft wird. Aufnahmebedingungen in Form von Mappen und/oder Eignungstests zwin- gen die Bewerber, sich im Vorfeld auf ihr gewähltes Studium vorzubereiten. Trotzdem würde ich die Studienanfänger vorerst als Laien in ihrem zukünftigen Studienfeld bezeichnen. Gerade dieser Punkt schien mir als Forschungs- und Bearbeitungsfeld besonders interessant: In der Unterrichtung von „Architektur-Laien“, was Studienanfänger quasi immer sind, bleibt die Kommunizierbarkeit von Architek- tur, Entwurf und Absicht für den Lehrenden selbst am ehesten überprüfbar. Die vorliegende Arbeit ist in Abgrenzung zum Curriculumsentwurf für das theo- retisch-systematische Lehrangebot in den Grundlagenfächern der Architektur- ausbildung eher ein Spiegel der permanenten Reflexion, Überarbeitung und wis- senschaftlichen Fundierung meines Lehransatzes. Sie verkörpert das Bemühen um zeitgemäße Inhalte der Architekturausbildung und überprüft schließlich de- ren Vermittlungsmethoden im Rahmen von Entwurfsprojekten für das Grundstu- dium der Architektur. Sprachliche Gleichbehandlung: Die deutsche Sprache ist leider eine männ- liche Sprache. Der Versuch der sprachlichen Gleichbehandlung in Form von Paar- bzw. Doppelnennungen, dem berühmten großen „I“ oder der Geschlechts- neutralisation /-abstraktion im Text führen auf Grund ihrer häufigen Nennung zu Stolpersteinen in Bezug auf die Verständlichkeit und Lesbarkeit. Daher habe ich mich entschlossen, die rein männliche Form im Text anzuwenden. Ich bitte die Leserinnen und Leser, trotzdem die Studentinnen, die Professorinnen, die Teil- nehmerinnen, die Tutorinnen und die Kolleginnen beim Lesen mitzudenken. Warum diese Arbeit? 10 11 Einleitung Einleitung Das Architekturstudium ist ebenso dem Wandel unterworfen wie das Berufsbild des Architekten. Gebaut wurde schon immer, Architektur studiert aber erst seit dem 17. Jahrhundert1. Im 18. Jahrhun- dert wurde in Frankreich der Hochbau, ein Teilgebiet des Bauwesens, in die polytechnische Ausbil- dung integriert, während in Preußen die vorhandenen Bauakademien zu Teilen der Technischen Hoch- schulen wurden. Das Ingenieurwesen war bis dahin ein auf Nutzungsanwendungen gerichteter Be- reich des Militärs, der sich erst später in die verschiedenen eigenständigen Ingenieurkorps aufteilte2. Die als Kind der französischen Revolution in Paris 1797 gegründete École Polytechnique war die erste Ausbildungsstätte für Ingenieure und Architekten, die ein neues Unterrichtsmodell verfolgte. Dieses sah eine Abkehr vom klassischen Lernmodell des Meisterateliers hin zum institutionalisierten Unter- richt in Lerngruppen vor. Parallel zur technischen Ausbildung wurde die wissenschaftliche Auseinan- dersetzung mit den Aufgabenfeldern des Ingenieurs und Baukünstlers eingeführt. Zu der Idee der „Denkschule“3 gehörte es, den technischen Fortschritt voranzutreiben, auf die gesellschaftlichen Fragen der Zeit zu reagieren und diese Erkenntnisse, den Stand des Wissens und der Erfahrung an die interessierte Öffentlichkeit weiterzugeben. Die Lehr- und Lernansätze dieser Schule fanden in Europa und Amerika ab Anfang des 19. Jahrhun- derts viele Nachahmer und begründen bis heute das Unterrichtsmodell der Kombination von Theorie, Praxis und Anschauung. Parallel dazu bestand die klassische Akademie weiter, wie z.B. die École des Beaux-Arts – sie ist bis heute Vorbild des Meisterklassen-Systems. Einleitung Ausbildungs- struktur und -inhalte vor dem Hintergrund des sich wandelnden Berufsbildes des Architekten Die Ausbildungskonzepte und -inhalte von Bauhaus und Frankfurter Kunstschule waren im konkreten Unterricht individuell durch die lehrenden Persönlichkeiten geprägt. Gemeinsam waren ihnen neben den ingenieurtechnischen Entwicklun- gen die sozialreformerischen Ansätze mit ihrer „[...] Vision einer besseren und durch den Beitrag des Bauens machbaren Zukunft, die den Beruf des Architekten dehnten und zu einem Brennpunkt gesellschaftlicher Verantwortung machten.“4 Nach 1945 führte die Hochschule für Gestaltung HFG Ulm das Bauhaus-Modell weiter, die Technische Universität TU Delft wollte eine Welt des Wissens und Forschens eröffnen, die Cooper Union in New York verstand das Entwerfen als Prozess und der Grundkurs der Eidgenössischen Technischen Hochschule ETH Zürich baute auf das didaktische Modell der Cooper Union auf. Der Didaktik kam nun eine größere Rolle zu als dem vorangegangenen Meisterklassenprinzip. Heute finden wir uns in Deutschland in einem dreigeteilten Ausbildungssystem wieder. Man kann verallgemeinern, dass die Fachhochschulen, als Nachfolger der kommunalen Bau- oder Ingenieurschulen, eine baupraktisch orientierte Ausbil- dung anbieten, die Technischen Hochschulen wissenschaftlich-theoretisch aus- gerichtet sind und die Kunstakademien in der Tradition der Beaux Arts stehen 14 15 und nach wie vor in Meisterklassen lehren. Man kann aber auch beobachten, dass eine gewisse Durchlässigkeit der Ausbildungsformen zu nicht mehr ganz klar voneinander abzugrenzenden Ausbil- dungsinhalten geführt hat. Dazu kommt die aktuelle europaweite Einführung des Bachelor- und Master- abschlusses, die zu neuen Ausbildungsstrukturen führt, bei denen zwar nicht alle das Gleiche lernen müssen, aber vergleichbare Fähigkeiten und Kenntnisse erreicht werden sollen. Dagegen steht, dass an den vielen verschiedenen Fachhochschulen, Hochschulen und Akademien „[...] der Bachelor unter- schiedlich definiert wird und zwischen allgemein akademischer Bildung und fachspezifischer Ausbil- dung schwankt“5. Der Master im kleineren akademischen Kreis kann ebenfalls zwischen architektur- theoretischer Auseinandersetzung und Spezialisierung wie Facility-Management, Projektentwicklung, Denkmalpflege, Urbanistik oder energiesparendem Bauen erworben werden. Folge ist weiterhin ein breit gefächertes Aufgabengebiet des zukünftigen studierten Architekten. Ebenfalls sind die Anforderungen des Arbeitsmarktes einem ständigen Wandel unterzogen. Immer komplexer werdende Bauprozesse fordern neben Managementtalent und integrativen Fähigkeiten ein immer umfassenderes Wissen um das Bauen. Gleichzeitig verschärft sich der Qualifizierungsdruck. Ein immer breiter werdendes Spezial- wissen wird gefordert, das sich nur am Rande in den Möglichkeiten der genannten Aufbaustudiengänge wiederfindet. Rolf Toyka, der Leiter der Akademie der Architektenkammer Hessen, spricht in diesem Zusammenhang nicht nur davon „neue Aufgabenfelder zu erschließen, sondern auch verloren gegan- gene zurückzugewinnen“6. Marc Kirschbaum benennt in seinem Aufsatz „Der Architekt als Kulturschaf- fender“7 originäre Aufgaben des Architekten, die es gilt wieder zurückzugewinnen. „Vor dem Hinter- grund des zum Erfüllungsgehilfen verkommenen Architekten, bedingt durch die stärker zur Konsumware werdende ehemalige Sinnlichkeit der Architektur[...]“8, bezieht er sich auf die Honorarordnung der Architekten (HOAI) und entdeckt das Sachverständigenwesen, Fachingenieurleistungen, Baukoordination, Kulturland- schaftspflege und Stadtführungen wieder. Er sieht aber auch zukünftige, neu zu erschließende Aufgaben, die es gilt anzugehen, die bisher von den Kreativen als ungeliebt angesehen wurden, wie z.B. projektbezogene Unternehmensbera- tung, Hausverwaltungen und Management sowie eine verstärkte Außenwerbung. Auf die Ausbildung bezogen fordert die eine Seite die Spezialisierung schon im Studium, um die direkte Einsatzfähigkeit von Absolventen zu garantieren. Die andere Seite setzt auf eine breite Wissensvermittlung in den ersten Studien- jahren, um einer späteren Spezialisierung eine Basis zu bereiten. Diese Forde- rung berücksichtigt auch das sich schnell überholende Fachwissen. Heute er- lernt man nicht mehr einen Beruf, in dem man sein Wissen dreißig Jahre anwen- den kann. Dem Aspekt des lebenslangen Lernens und der berufsbegleitenden Weiterbildung sollte der Boden bereitet werden. Die Hochschulen müssen letzt- endlich so flexibel und breit gefächert ausbilden, dass die Absolventen wissen, wie und wo man sich projektbezogenes Wissen aneignen kann, wie man Neues Einleitung 16 17 entwickeln und gestalten kann und wo und wie man auf dem enger werdenden Arbeitsmarkt neue Arbeitsfelder entdecken und erschließen kann. Die Brisanz des Themas ist nicht geringer als noch vor einigen Jahren, als die TU-Berlin mit einem Symposium zum Thema “Nach dem Bauhaus – 13 Positio- nen zur Entwurfsgrundlehre”9 eine Positionierung der Hochschulen und Lehrenden in Bezug auf zu vermittelnde Inhalte und Vermittlungsmethoden einforderte. Hinzu kommt heute der lauter werdende Ruf der Öffentlichkeit nach kürzeren Regelstudienzeiten und der Druck der Hochschulverwaltungen, Fachbereiche zu größeren, effizienter arbeitenden Einheiten zusammenzuschließen. Dieser nationalen Konkurrenz der Hochschulen sollte mit einer stärkeren Profilbildung begegnet werden. Darüber hinaus sieht das Abkommen von Bologna10 vor, die europäischen Studiengänge über die neuen Abschlüsse Bachelor und Master zu vereinheitlichen, um eine Kompatibilität von Studienleistungen zu erreichen, womit immer mehr international vergleichbare Maßstäbe gesetzt werden. Der bisherige Forschungsstand im Bereich der Lehrforschung zur Architektur- ausbildung in Deutschland ist, im Gegensatz zu anderen Fachdisziplinen wie zum Beispiel der Lehrerausbildung und den Ingenieurwissenschaften, ungenügend. Es existiert nur eine geringe wissenschaftliche Auseinandersetzung über aktu- elle Lerninhalte und Lernziele. Damit bleibt auch der Bereich des Grundstudiums, die Vermittlung von Grundlagen und Kompetenzen weitgehend unerforscht. Bau- haus, Ulmer Schule, Cooper Union und der Grundkurs an der ETH haben didakti- sche und methodische Konzepte für die Ausbildung vorgelegt. Heute kann man nur in wenigen Texten in Fachzeitschriften Beiträge zu herausragenden Lehrgebäuden finden. Hervorzuheben sind das Themenheft der Bauwelt „4 Se- mester Grundlehre an der TU Berlin”11 und eine ARCH+ zum Thema “Kontrover- sen um Ausbildungs- und Berufsperspektive”12, beide 2002 erschienen. Insge- samt liegen aber nur vereinzelte Texte und Thesen zu diesem Thema in Form von kurzen Artikeln vor. Sonst wird eher zu den Anforderungen des Arbeitsmark- tes und, aktuell im Zusammenhang mit den umstrittenen Studienzeitverkürzungen und den neuen Bachelor- und Masterabschlüssen, auch zu der Curriculums- entwicklung an deutschen Hochschulen berichtet. Eine wissenschaftliche Auf- arbeitung von aktuellen Lehrkonzepten sowie ein Vergleich von Positionen ein- zelner Lehrstühle oder Hochschulen fehlt gänzlich. Stand der Forschung Einleitung 18 19 Ulrich Pfammatters Schrift „Die Erfindung des modernen Architekten. Ursprung und Entwicklung seiner wissenschaftlich-industriellen Ausbildung”13, beleuchtet die Ausbildungssituation chronologisch im Span- nungsfeld zwischen Akademie und technischer Ausbildung. Petra Liebl-Osborn zeigt die Bedeutung des künstlerischen Anteils an der Architektenausbildung an westdeutschen technischen Universitäten und Hochschulen im Zeitraum von 1945 bis 1995 in ihrer Schrift „Gestaltungslehren in der Architektenausbildung”14 auf. Das 600 Seiten umfassende Werk nimmt eine detaillierte Bestandsaufnahme vor: von der handwerklich orientierten Zeichenschulung bis zur Bedeutung der Neuen Medien in der Gestaltungsausbildung. Der Paradigmenwechsel in der Ausrichtung der Ziele ästhetischer Bildung wird in dieser Sammlung dokumentiert. Die TU-Berlin forderte 1997 mit einem Symposium zum Thema “Nach dem Bauhaus – 13 Positionen zur Entwurfsgrundlehre”15 eine Positionierung der Hochschulen und Lehrenden ein. Die Vorträge wurden in einer Veröffentlichung wieder gegeben, ein Vergleich wurde sehr vorsichtig in der Gegenüberstel- lung der Texte angegangen. Eine These oder weiterführende Fragestellungen in Bezug auf die Zukunft der Architekturausbildung sind daraus nicht entwickelt worden. Die Veröffentlichung „hoch 1“ und „hoch 2“ der Universität Hannover16 führen vor einem dokumentie- renden Teil der Studien- und Projektarbeiten einige Texte zu Positionen zur Entwurfslehre auf. Diese stammen teilweise von den jeweiligen Hochschullehrern, aber auch von Gast- autoren. Hier ist die Möglichkeit gegeben, das Lehrkonzept im Zusammenhang mit studentischen Arbeiten zu sehen und dadurch letztendlich auch überprü- fen zu können. Die meisten Jahresschriften oder Veröffentlichungen der diver- sen Hochschulen präsentieren eine Vielzahl an Projekten und Diplomarbeiten, aber in den seltensten Fällen ein Lehrkonzept, das den Hintergrund der Arbei- ten der Studenten verdeutlicht. Der Anteil am Erfolg eines Lehrstuhls in Bezug auf den Lernprozess oder das Ergebnis kann nur zwischen den Zeilen heraus gelesen werden und bleibt Interpretation. Ähnlich sind die Veröffentlichungen anderer Hochschulen aufgebaut. „haus- leeren“ und „showreiff“, herausgegeben von Prof. Nikolic an der RWTH Aachen oder die Kataloge zu den Jahresausstellungen der HDK Berlin dokumentieren studentische Arbeiten, meist sogar ohne die Aufgabenstellungen zu verfolgen, ganz zu schweigen von einer kritischen Reflexion des Lehr- und Lernprozesses. Einleitung 20 21 Fragestellung: Welche Fähigkeiten und Fertigkeiten müssen vermittelt werden, um einerseits auf das höchst komplexe Berufsfeld des Architekten hin auszubilden und andererseits auf einen nicht definierba- ren Markt und eine sich ständig verändernde Arbeitswelt vorzubereiten? Liegen die Erfolgschancen nicht in der Persönlichkeit des Einzelnen und den eventuell glücklichen Umständen begründet? Welche Eigenschaften werden benötigt, um konkurrenzfähig zu sein und kann man den Studierenden mehr vermitteln als die Grundlagen der Disziplin? Welche sind überhaupt die Grundlagen? Zielsetzung: Diese Arbeit möchte einen Beitrag auf der Suche nach neuen Inhalten und Konzepten der Architekturausbildung leisten. Das kann nicht lediglich eine Umverteilung des Fächerkanons und eine Ausweitung der Leistungsprofile bedeuten. In Abgrenzung zum Curriculumsentwurf für das theoretisch systematische Lehrangebot in den Grundlagenfächern soll mit dieser Arbeit untersucht werden, welche Fertigkeiten, Fähigkeiten und Kompetenzen parallel zu den fachspezifischen Grundla- gen im Grundstudium der Architekturausbildung erlernt, ausgebaut und verankert werden können. Die klassischen Grundlagen der Architekturausbildung, wie Architekturgeschichte / -theorie, Entwurf, Konstruktion, Baumanagement, sowie Zeichnen und Modellbau werden in dieser Untersuchung nicht in Frage gestellt, sie werden eher erweitert bzw. umformuliert und in ihrer Vermittlung überdacht. Ein neues Verständnis von Entwurf im Rahmen ungekannter Aufgabenfelder und fiktiver Lebensräume in einer weiterentwickelten Gesellschaftsstruktur erfordern andere Fertigkeiten, Fähigkeiten und Kom- petenzen – und eventuell sogar den Entwurf neuer Disziplinen. Spezielle Aufmerksamkeit wird mit dieser Arbeit dem Anfang des Architektur- studiums geschenkt, weil die oben genannten Kompetenzen als allgemeine Grund- lagen dem Generalisten wie dem Spezialisten im Arbeitsfeld der Architektur eine Basis bieten und darüber hinaus in der Transferleistung auch in anderen Berei- chen einsetzbar sind. Die Konzentration auf das Grundstudium steckt einen Rahmen, der aber immer auch als Ausbildungsabschnitt im Gesamtzusammen- hang eines Ausbildungskonzepts betrachtet werden muss, damit seine Inhalte nicht zeit- und kontextlos bewertet werden. Hypothesen: Aspekte der Entwicklung einer Entwurfslehre und bildungs- theoretische Ansätze in Bezug auf die Projektmethode liegen der Arbeit zu Grunde. Bei der Suche nach einem theoretischen Unterbau für meine Ideen und Konzepte zur Architekturlehre bin ich dem Ursprung des Projektgedankens nachgegangen. Dabei bin ich auf interessante Ansätze und konkrete Definitio- nen im wirtschaftlichen wie auch im pädagogischen Bereich gestoßen, die man auf den hochschuldidaktischen und -methodischen Bereich übertragen kann. Die Auswertung der Projektbegriffe von John Dewey, dem Vater des Projekt- gedanken und Klaus Heipcke, der den Begriff der Erfahrung an das Projekt knüpft, bildet die theoretische Grundlage der Projektmethode. Der Projektgedanke Fragestellung Zielsetzung Hypothesen Methode Einleitung 22 23 wird im Sinne Deweys und Heipckes in die Lehrkonzepte eingewoben und in der Praxis anhand der Lernerfolge überprüft. Ebenso werden die Möglichkeiten des Entwurfsprojekts in Bezug auf die zu erwer- benden Grundlagen und Kompetenzen beleuchtet. Obwohl der Entwurf im Bauprozess nur einen kleinen Bereich ausmacht, stellt das Entwurfsprojekt doch ein ideales Lernfeld dar, in dem technisches und allgemeines Wissen, künstlerisches Können und methodische Herangehensweisen sowie soziale Kompe- tenzen parallel erforderlich werden. In der Simulation der Berufspraxis werden sie zur Synthese geführt und exemplarisch erprobt. Als Herzstück des Architekturstudiums bietet das Entwurfsprojekt somit eine günstige Ausgangslage – es sieht das Lernen am Gegenstand vor. Dies meint das verknüpfende und transfergeeignete sowie das freie, kreative und selbstbestimmte Lernen. Die Fähigkeit zum planenden Denken und Handeln, zur Formulierung und Konkretisierung von Vorhaben, zur Verknüpfung von Wissen, zum Üben von Kritik sowie Teamfähigkeit, Zeitmanagement und eine adäquate Selbst-/Präsentation sollte sich der Architekturstudent im Laufe seines Studiums aneignen. Er muss sich bewusst für neue Erfahrungen und neues Wissen öffnen, an seinen bisherigen Erfahrungshorizont anknüpfen, eine freie, selbstbestimmte Wahrnehmung gewinnen, eigene Interessen formulieren und diese mit leidenschaftlicher Konsequenz verfolgen. Die Selbstmotivation scheint die größte Antriebsfeder zu sein, um zu lernen, Erfahrungen zu machen, Verantwortung zu übernehmen und sich zu positionieren. Die genannten Kompe- tenzen sind nicht in spezifischen Fächern erlernbar. Vielmehr ist es eine Frage der Methode, wie diese weniger fassbaren Elemente zu vermitteln sind. Der Lehrende kann die Neugierde, die Motivation und somit das Öffnen einer Person durch konkrete Anlässe provozieren. Hierbei steht das Abholen der Anfän- ger, das heißt die Begleitung des Übergangs vom Laien zum begeisterungsfähigen Architekturstudenten am Anfang der Ausbildung. In diesem Zusammenhang wer- den auch die Rolle des geheimen Curriculums, die Beziehung von Hochschullehrer – Student, die Stimmung der Studenten untereinander sowie die Gründe für Motivation, Engagement und Kreativität untersucht. Methode: Die Arbeit besteht aus drei Teilen, der Reflexion der ersten Erfah- rungen in der Lehre, einer Auslotung aktueller Lehrkonzepte mittels eines Workshops und einem Lehrkonzept, das als Resultat zu verstehen ist und in der Umsetzung überprüft wird. Der erste Untersuchungsgegenstand, Die Leh- re aus dem Bauch, ist die Darstellung erster Lehransätze im Rahmen meiner langjährigen Lehrtätigkeit im Grundstudium der Architekturausbildung an der Universität Kassel. Interviews mit Studenten, die an den jeweiligen Grundstu- diumsprojekten teilgenommen haben und sich nun in höheren Semestern befin- den, dienen der Reflexion von Lehr- und Lernprozessen und somit der Überprü- fung des Lehrkonzepts, der konkreten Aufgabenstellungen und seiner Ergebnis- se. Aktuelle Positionen für die Lehre, also Lehr- und Lernkonzepte, Lehrinhalte und Ausbildungsziele für die Architektenausbildung im deutschsprachigen Raum zu untersuchen, dient dazu einerseits verschiedene oder auch ähnliche Ansät- Einleitung 24 25 ze und Ausbildungsziele für das Architekturstudium vorzustellen, sowie die Frage nach eventuell allge- meingültigen Grundlagen zu klären. Dieses Forschungsvorhaben steht allerdings vor der Schwierigkeit, relevante Daten und Untersuchungsgegenstände zu finden. Weil es hier nicht um ein Ranking der Hochschulen gehen soll, bot es sich an, interessante Lehrstühle konkret zu ihren Ausbildungskonzepten zu befragen. Da hierüber wenig Literatur vorhanden ist und sich die meisten Professoren auch nicht gerne in die Karten schauen lassen, geschweige denn sich als Untersuchungsobjekt bereitstellen, wurde die Idee eines Workshops zum Thema „arch eins* - Neue Grundlagen für die Architekturaus- bildung?“ geboren. Hier arbeiteten Lehrende und Studierende gemeinsam an einer Aufgabestellung. Die Ergebnisse und die daraus resultierenden Forderungen für eine zeitgemäße Ausbildung werden in dieser Arbeit vorgestellt. Die Konzeption und Durchführung eines exemplarischen Entwurfsprojekts ist schließlich das vorläufige Resultat der Erfahrungen und Erkenntnisse aus den vorangegangenen Forschungsbemü- hungen. Das Modell freischwimmer wird mit Hilfe von Lernzielformulierungen und konkreten Aufgaben- stellungen im Rahmen eines Entwurfsprojekts ähnlich eines Versuchsaufbaus entwickelt, begleitet, mit Hilfe von durch die Studierenden geführten Lerntagbüchern reflektiert und ausgewertet. Anmerkungen: 1 Vor dem 17. Jahrhundert erlernte man das Bauen als praktische Tätigkeit im Handwerksbetrieb oder in den Bauhüt- ten, die als Kollektiv für ein Bauwerk zeichneten. Der Begriff der Bauhütten ist uns heute nur noch im Zusammen- hang mit den Dombauhütten bekannt. Den Abschluss erwarb man nach fünf bis sieben Jahren, was eine breit gefä- cherte und intensive Ausbildung vermuten lässt. Seit der Renaissance sind uns auch einzelne Baumeister bekannt, die sich aber nicht mehr wie im Mittelalter als anonyme, dienende Handwerker, sondern als eigenständig schaffende Künstler verstanden. Diese waren meist auch in anderen Bereichen, wie der Bildhauerei, der Malerei und den Naturwissenschaften tätig. 2 Kraft, Sabine u.a.: Vogel - Strauß - Politik, in: ARCH+ 163, S. 16. 3 Pfammatter, Ulrich: Die Erfindung des modernen Architekten, S. 9. 4 Kraft, Sabine u.a.: Vogel - Strauß - Politik, S. 18. 5 Ebenda. 6 Vergl.: Toyka, Rolf: Architektur macht Schule, UIA Kongress 2002 in Berlin. 7 Kirschbaum, Mark: Texte und Thesen zur Architektur, S. 18. 8 Ebenda. 9 Vergl.: Kleine, H./Passe, U. (Hrsg.): Nach dem Bauhaus – 13 Positionen zur Entwurfsgrundlehre. 10 Am 19.06.1999 wurde in Bologna eine gemeinsame Erklärung von 29 europäischen Bil- dungsministern verabschiedet. Der europäische Hochschulrahmen benennt die wesentlichen Ziele, die die europäischen Bildungsminister für die Errichtung des europäischen Hochschulraums und die Förderung deren Hochschulen weltweit als vorrangig ansehen. 11 Vergl: Bauwelt 34/02, 4 Semester Grundlehre an der TU Berlin. 12 Vergl.: ARCH+ 163, Kontroversen um die Ausbildungs- und Berufsperspektive. 13 Pfammatter, Ulrich: S. 9. 14 Vergl: Liebl-Osborn, Petra: Gestaltungslehren in der Architekturausbildung. 15 Vergl.: Kleine, Holger/Passe, Ulrike: Nach dem Bauhaus – 13 Positionen zur Entwurfsgrundlehre. 16 Verg.: Fachbereich Architektur der Universität Hannover (Hrsg.): hoch 1, hoch 2. Einleitung 26 27 Entwurfs- projekte als Motor Der Begriff Projekt wird in unterschiedlichen Zusammenhängen auch unterschiedlich gebraucht. Es gibt große und kleine Projekte im Rahmen der Baubranche, Entwurfsprojekte im Studium und allgemei- ne Vorhaben, die ebenfalls als Projekt oder Lebensprojekt bezeichnet werden. In diesem Kapitel soll dem Begriff Projekt nachgegangen und eine abschließende Definition für das Projekt im Rahmen des Architekturstudiums angelegt werden, die die Relevanz für die Architekturausbildung beinhaltet. Das Wort Projekt leitet sich aus dem lateinischen proiectum, „Das nach vorn Geworfene“ ab und bedeutet soviel wie Entwurf, Plan, Vorhaben.1 Die deutsche Industrienorm legt den Begriff Projekt fin der DIN 69901 fest: „Vorhaben, das im Wesent- lichen durch die Einmaligkeit der Bedingungen in ihrer Gesamtheit gekennzeichnet ist, wie z.B. Zielvor- gabe, zeitliche, finanzielle, personelle und andere Begrenzungen; Abgrenzung gegenüber anderen Vor- haben; projektspezifische Organisation.“2 Weiter ausgeführt wird hier, dass Organisationen, die regel- mäßig ähnliche Projekte durchführen, bestrebt sein sollten, diese zu Produkten weiterzuentwickeln. Dies wird allerdings selten uneingeschränkt möglich sein. Jedoch ist eine Standardisierung des Vorge- hens, die den Lerneffekt aus vorangegangenen Projekten wieder in neue Projekte einfließen lässt, ein Vorteil gegenüber einer ständigen Neuerfindung des Rades. Diese Standardisierung äußert sich in der Regel in definierten Prozessen, in denen neue Projekte angegangen werden sowie in vorhandenen Schablonen für Dokumentationen etc., die zwar gegebenenfalls projektspezifisch angepasst werden, Entwurfsprojekte als Motor Zum Projektbegriff jedoch bereits die Punkte enthalten, die – aus Erfahrung – nicht vergessen werden sollten. Der Begriff Projekt wird auch im Sinne eines besonderen Vorhabens verwen- det, das sich vom Normalfall thematisch und organisatorisch abgrenzt oder einen noch nicht abgeschlossenen Prozess der Entwicklung benennen will. Gemeint sind alternative Lebensweisen, karitative Einrichtungen oder gemein- nützige Organisationen zum Beispiel Wohnprojekte oder Arbeitslosenprojekte sowie neue Vorhaben oder Experimente in der Kunst oder Musik. Der Zusatz Projekt wird oft dann abgelegt, wenn eine bestimmte Etablierung in dem je- weiligen Bereich erreicht ist. 30 31 John Dewey, 1859-1952, kann als Vater des Projektgedankens bezeichnet werden. Als Philosoph und Pädagoge hat er in Amerika und später in Europa großen Einfluss auf zeitgenössische Philosophen, Pädagogen und Ästhetiker genommen. Der reformpädagogische Ansatz „learning by doing“3 wurde von ihm geprägt. Dewey graduierte 1879 an der Universität von Vermont und arbeitete danach zwei Jahre als Highschool-Lehrer, bevor er an die John-Hopkins-Universität ging, an der er 1884 promovier- te. Zu seinen Lehrern gehörte G. Stanley Hall, ein Begründer der experimentellen Psychologie. Dewey unterrichtete Philosophie an den Universitäten von Michigan (1884-88 und 1889-1894) und Minneso- ta (1888). 1894 wurde er Vorsitzender des Departments für Philosophie, Psychologie und Pädagogik der Universität Chicago. Ab 1904 war er Professor an der Columbia-Universität New York, wo er 1930 emeritierte. Deweys philosophische Bemühungen galten in erster Linie der Erkenntnislehre und sollten eine Theorie der Forschung, des Wissens und der experimentellen Logik begründen. Gesellschaftspoli- tisch setzte sich Dewey für die Demokratisierung sämtlicher Lebensbereiche ein. Er begründete 1896 in Chicago die labortary school, eine Laborschule, die der Universität angeschlossen war. Diese wirkte als Vorbild auf die von Hartmut von Hentig initiierte Bielefelder Laborschule. Für Dewey ist die in einer Gruppe gemeinsam geteilte Erfahrung ein grundlegender Gedanke des Projektunterrichts. Die mitwirkenden Personen etablieren einen Austausch, der dem ständigen Wandel und dem nicht vorkalkulierbaren Projektverlauf Rechnung trägt. Die Öffnung eines Vorhabens in alle erdenklichen Richtungen, das nicht absehbare Ende oder sogar ein mögliches Scheitern, sind Variablen, die ein Projekt im Sinne Deweys zu diesem erst machen. Die bloße Betätigung ist für John Dewey kei- ne Erfahrung, sie bietet bloß Zerstreuung mittels des Tuns. Erfahrung hinge- gen bedeutet aus Betätigungen oder Handeln bewusste Rückschlüsse zu zie- hen, Zusammenhänge zwischen dem eigenen Handeln und Reaktion darauf oder dem Gegenüber zu sehen, und daraus wieder neue Handlungen herzuleiten, die somit einen ständigen Veränderungsprozess gewährleisten. Erfahrung entzün- det sich immer an etwas Entgegenstehendem, einem Ding, einer Person oder einem Text, sie ist somit Erkenntnisgewinn per se. Das Projekt bereitet lediglich den Ort für die Erfahrungen. Die Bildung übernimmt die Aufgabe Zusammenhän- ge herzustellen und somit eine Veränderung des Selbst zu erzeugen und die Entwicklung der Persönlichkeit voranzutreiben. „Durch Erfahrung lernen heißt das, was wir tun, und das, was wir von ihnen (den Erfahrungen, Anm. der Autorin) erleiden, nach rückwärts und vorwärts miteinander in Verbindung zu bringen. [...] Je enger diese beiden Seiten der Erfahrung miteinander verflochten sind, um so größer ist ihr Wert.4 Entwurfsprojekte als Motor John Dewey – Vater des Projekt- gedankens 32 33 Hier hat Dewey einen der Grundsteine des Projektgedankens beschrieben. Projekte sind nicht bloße Handlungsoffensiven, die durch einen blinden, das heißt nicht weiterführenden Aktionismus getra- gen werden. Auch bezogen auf den allgemeinen Unterricht heißt das, dass der Erkenntnisgewinn, der durch eigene Erfahrungen entsteht, eine wichtigere Rolle spielt, als die lediglich durch den Lehrer vermittelte Theorie, das trockene Wissen oder die vom Lehrer oder den Eltern erzählte Erfah- rung. „Ein Gramm Erfahrung ist besser als eine Tonne Theorie, einfach deswegen, weil jede Theorie nur in der Erfahrung lebendige und der Nachprüfung zugängliche Bedeutung hat.“5 Das Denken spielt für Dewey eine wichtige Rolle in Bezug auf die Erfahrung. Denken bedeutet für ihn eine Beziehung zu dem, was man tut, aufzubauen. Denken bedeutet auf Ziele hinzuarbeiten, es setzt einen Zweifel, eine Unzufriedenheit voraus. Denken setzt voraus, Verantwortung zu übernehmen, das Handeln und seine Folgen in Beziehung zu setzen. Denken ist ein Nachfragen nach etwas, was noch nicht da ist. Denken ist etwas Aktives, es setzt ein persönliches Interesse am Ergebnis voraus, das Dewey mit „Parteilich- keit“7 beschreibt. Der Widerspruch liegt für ihn allerdings darin, dass der Erfolg des Denkens bzw. der angestrebten Ergebnisse in der Unparteilichkeit liegt. Klaus Heipcke entwickelt den Projektgedanken John Deweys weiter und setzt das Projekt in den Gesamtzusammenhang des Lebens. Für ihn ist das Besondere des Projektgedankens „[...] die Einheit des Lernens als handelndes Leben zu begreifen [...] und das im eigenständigen Lernen angestrebte zu einem Teil von einem selbst werden zu lassen.“6 Lernen als handelndes Leben bedeutet für Klaus Heipcke, Wissen nicht als totes Instrumentarium zu begreifen, sondern das von vielen gewusste Wissen in einem bestimmten, neuen Zusammenhang lebendig erscheinen zu lassen. Die von Heipcke verwendeten Wortspiele7 mit den grundsätzlichen Bedeutungen ihrer Silben, wie „Ab – sicht“ oder „Ent – wurf“, machen die zwei zusammengehörigen Teile des Handelns deutlich. Die „Ab – sicht“ beinhaltet zuerst die Silbe „Ab –“ : sich von etwas ab – wenden, von etwas ab – sehen. Das Wort endet mit „– sicht“, was bedeutet mit etwas Neuem anzufangen, zu etwas Neuem hin – zu – blicken, etwas in Aus – sicht zu haben, zu einem Ziel hin – zu – sehen. Der Begriff „Ent – werfen“ impliziert den bewussten Entschluss, sich dem nach vorne Gewandten zuzuwenden. Das „Ent – werfen“ bei Klaus Heipcke bezieht immer auch das sich Ent – ledigen, das sich Ent – fernen von etwas mit ein. Der Wurf ist nach vorne gerichtet, er hat immer etwas im Blick, ein Ziel in Sicht. „Ab – sicht, Ent – wurf und Wahl – das sind Momente der Ganzheit des Lebens, welche wir mit dem Begriff Handlung be- Klaus Heipcke – Lernen in Projekten Entwurfsprojekte als Motor 34 35 zeichnen.“8 Die Handlung steht im Gegensatz zum sich treiben lassen. Die Bewegung dieser Handlung ist das Projekt. In der Handlung sieht Heipcke eine Einheit aus Vergangenheit (das Gewordene), Gegenwart (bewusst werden und Möglichkeit der Wahl des Wirklichen) und Zukunft (das was sein könnte). Diese Einheit mache die Ganzheit des Lebens aus. Heipcke verwendet auch hier wieder ein Wortspiel, das „Er – innern“. Es meint das Bewusstwerden seiner selbst, das Innere betrachten. Lernen ist in diesem Sinne das Aufspüren der Spuren, die die Geschichte hinterlassen hat. Somit steht am Anfang immer das „Sich – los – reißen“, durch ein bewusstes „Er – innern“ die jeweiligen Inhalte prüfen und vorwärts gerichtete Entscheidungen treffen. Das „Er – innern“ ist der Anfangspunkt des „Ent – werfens“. Diese absichtliche Erfahrung und Handlung wird auch bei anderen Pädagogen als der Hauptpunkt eines Projekts definiert. Für William Kilpatrick, einen Schüler Deweys, ist das Projekt der Begriff des planvollen Handelns aus ganzem Herzen, das in einer sozialen Umgebung stattfindet.9Der innere Drang liefert den Beweggrund, leitet den Fortgang und legt das Ziel der Handlung fest. Ähnlich formuliert Peter Jenny, Professor für bildnerisches Gestalten an der ETH Zürich, die Bedingungen für das Machen eigener Erfahrun- gen: Sie brauche eine Plattform, die überhaupt erst die Nachfrage nach den eigenen Erfahrungen hervor- rufe. „Die eigene Wahrnehmung formuliert vorzufinden, ist eine Entdeckung, die Veränderung erlaubt.“10 Vor dem Hintergrund seines Projektgedankens nennt Heipcke verschiedene Projektkriterien, die von einem methodischen Projektbegriff ausgehend, den fundamentalen Charakter des Projekts beschreiben: – Theorie-Praxis-Bezug – forschendes Lernen – Interdisziplinarität bzw. Mehrdimensionalität – gesellschaftliche Relevanz – Selbstorganisation und Selbstbestimmung – Zielgerichtetheit und planendes Handeln – Offenheit für Erfahrungen Die genannten Projektelemente sollten nicht isoliert betrachtet werden. Die Abspaltung oder das Üben einzelner didaktischer oder methodischer Bereiche, würde eine „Aufspaltung des Handelns im Unterricht zur Folge haben“11. Ein Lernen an sich, ohne einen Gegenstand zu verfolgen, gibt es nach Heipcke nicht. Heipcke schlägt darüber hinaus eine Reform des Fachunterrichts vor, für den eine Lehre zu entwickeln sei, die projektaffin ist. Sie könnte auf „wesentli- che Erfahrungen für Projekte vorbereiten: sich überhaupt einmal faszinieren und vom Gegenstand anrühren lassen; sich im Lernen zu freuen, Genugtuung zu verspüren; das Selbstwerden zu erfahren und in die Hand zu nehmen, Durststrecken ertragen zu können und Muße als ein wesentliches Moment des Lernens zu erfahren.“12 Entwurfsprojekte als Motor 36 37 Das Konzept des handlungsorientierten Unterrichts geht auf die Arbeitspädagogik der Reformpädagogik- epoche zurück. Vorläufer waren Johann Heinrich Pestalozzis Formel von der Einheit von Kopf, Herz und Hand und Selbsttätigkeitskonzepte des 19. Jahrhunderts, z.B. von Adolf Diesterweg oder Friedrich Wilhelm August Fröbel. In der wissenschaftlichen Diskussion gilt John Dewey als ein wesentlicher Begründer dieses Ansatzes. Er hat Handlungsorientierung mit Erfahrungsorientierung verknüpft und damit das learning by doing zur Projektorientierung weiter entwickelt. Seit dem Anfang der 1970er-Jahre verbreitet sich in Schule und Hochschule die Projektmethode als Reaktion gegenüber dem bis dahin flächendeckend praktizierten Frontalunterricht. Die naturwissen- schaftlichen Bereiche spielten hier eine Vorreiterrolle. In Physik und Chemie sowie in den Architektur- fakultäten wurde am Gegenstand erläutert, erprobt und gelernt. Das Projekt als Lehr- und Lern- methode einzusetzen war allerdings neu. Ein Projekt fordert die ganze Persönlichkeit des Lernen- den, es macht aber gleichzeitig eine der einzelnen Person entsprechende Differenzierung in der Bear- beitung und Betreuung möglich. Die im Rahmen von Projekten erzielten Lerneffekte werden als vielschichtiger, tiefer gehend und resistenter gegen das Vergessen beschrieben. In der Regel birgt ein Projekt – im Gegensatz zu regelmäßigen, stets ähnlich durchgeführten, großteils identischen Vorhaben – meist ein höheres Risikos des Scheiterns und wird in einer speziellen und befristeten Organisationsform, der so genannten Projektorganisation abgewickelt, innerhalb derer auf das Ziel hingearbeitet wird. Unterrichtskonzepte, die die oben genannten Punkte in Schule und Berufsschule berücksichtigen, werden dort eher als handlungsorientierter Unterricht denn als Projekt bezeichnet. Handlungsorientierung meint die integrierte Vermittlung von theoretischem Wissen und praktischen Fähigkeiten über ein realitäts- und pro- blembezogenes Lernen, das soziales Handeln integriert und von den Lernenden selbst gesteuert wird, so dass sich die Schüler Informationen durch eigenes Handeln kognitiv aneignen. Im Bezug auf den hier bearbeiteten Bereich der Architekturlehre, kann eine Aufgabenstellung in der Regel als Projekt betrachtet werden, sofern das zu lösende Problem relativ komplex ist, der Lösungsweg und das konkrete Ziel zunächst unbekannt sind und eine fachübergreifende Zusam- menarbeit erforderlich ist. Ein weiteres Lernziel in Projekten besteht darin allge- meine Projektkompetenzen anzulegen, die z.B. im Bereich der Wirtschaft als Basis- kompetenzen oder Schlüsselqualifikationen bezeichnet werden. In den Architekturfakultäten wird heute an vielen Orten in die entgegengesetz- te Richtung diskutiert. Das Lernen in Projekten wird als nicht effektiv bezeich- net, als eine Vergeudung von Lernzeit kritisiert und im Zusammenhang mit der Einführung von Bachelor- und Masterabschlüssen für eine einheitliche Be- wertung als ungeeignet erachtet. Entwurfsprojekte als Motor Das Projekt als Lehr- und Lernmethode in Schule und Hochschule 38 39 Den Anlass für eigenmotivierte Vorhaben, also den sogenannten Motor, bietet im Architekturstudium das Entwurfsprojekt. Wenn man die oben genannten Projektansätze und -kriterien zusammenfasst, könnte man behaupten, dass sie in der Architekturausbildung schon längst Einzug gehalten haben. Dennoch sollen hier einige Punkte hervorgehoben und das klassische Architekturprojekt im Rahmen des Studiums um einige Kriterien erweitert, bzw. neu definiert werden. Der wichtigste Punkt ist das persönliche Interesse der Studierenden am Ergebnis. In der Kosequenz heißt das der von Dewey benannten Parteilichkeit am Anfang nicht nur nachzugeben, sondern sie zu unterstüt- zen. Der Anknüpfungspunkt für einen Entwurf sollte in den ersten Semestern immer die den Studierenden umgebende, bekannte Welt sein. Das Er – innern ist der Anfangspunkt des Ent – werfens. Die Identifika- tion des Studierenden mit einer Aufgabenstellung, seine Uminterpretation und damit seine Schwerpunkt- setzung, bei der der Einzelne seine individuelle Zielvorstellung formuliert, spielt die wichtigste Rolle für das Engagement während der Projektbearbeitung. Sie trägt zur Authentizität und somit zur Qualität der Ergebnisse bei. An ihr wird der Bearbeiter sich am Ende messen lassen. Erst später können die Studieren- den, wenn sie eine bestimmte Sicherheit im Umgang mit dem Entwurf aufzeigen, die Qualität der Unpartei- lichkeit erkennen, die für die Lösung realitätsbezogener Aufgabenstellungen erforderlich ist. Ein wesentlicher Punkt für die Lernenden ist auch die Reflexion darüber, wie sie bestimmte Prozesse und Vorhaben bewältigt haben, um das Gelernte zu verinnerlichen und weiterhin verwenden zu kön- nen. Nicht nur die Ergebnisse sollten hier bewertet werden, wichtiger ist, den Arbeitsprozess zu beobachten, um individuelle Schwächen bearbeiten und Stärken ausweiten zu können. Dieses Erfahrungslernen, das den Begriff der Wahrneh- mung an den der Erfahrung knüpft, ist am besten in komplexen Entwurfsprojekten möglich, was im Verständnis Deweys die Erfahrung als Reflexion des Tuns aus- macht. Das alleinige Tun, Machen, Produzieren bringe noch keinen Erkenntnis- gewinn. Die reflektierende Auseinandersetzung, das bewusste Ziehen von Rück- schlüssen und die Herstellung des Zusammenhangs von eigenem Handeln und Reaktion von außen gewährleiste einen ständigen Veränderungsprozess und damit eine Entwicklung der Persönlichkeit. Der englische Begriff education be- inhaltet bei John Dewey nach neueren Rezeptionen parallel zum Begriff der Erziehung den Begriff der Bildung. Sie ist ein “genereller Faktor der zu keiner Zeit abwesend ist. Allerdings muss zeitlich vor der Aneignung abstrakter Wissens- gehalte [...] dasjenige stärker gewichtet werden, was Dewey als Herausziehen bezeichnet.”13 Hier erscheint seitens der Lehrenden eine intensive kontinuierliche Begleitung und eine ernsthafte Auseinandersetzung mit jedem Einzelnen unablässlich. Die- se Formen der Auseinandersetzung, gerade über einen längeren Zeitraum, sind Entwurfs- projekte als Motor – Relevanz der theoretischen Ansätze für die Architektur- ausbildung Entwurfsprojekte als Motor 40 41 am ehesten im Rahmen eines Projekts möglich. Lernende und Lehrende müssen eine gemeinsame Sprache finden, um sich über die genannten Punkte verständigen zu können – das braucht individuelle Zeiträume und Erschließungsmöglichkeiten. Der Entwurfsprozess schließt neben dem Erwerben von Fachwissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten, die mit den Studienjahren umfassender werden, den Erwerb von Kompetenzen mit ein. Die schwer fassbaren Inhalte wurden schon oben als Basiskompetenzen bzw. Schlüsselqualifikationen bezeichnet. Sie werden in der Wiederholung ausgebaut, trainiert und verfestigt. Sie befähigen dazu, neue Aufga- ben, eventuell auch in anderen Bereichen und Berufsfeldern zu bewältigen. An diesem Punkt ist eine genaue Begriffsdefinition für die weitere Bearbeitung notwendig: Fertigkeit: Fertigkeit wird im Lexikon mit Geschicklichkeit und der allgemeinen Beherrschung von Arbeitstechniken gleichgesetzt. „Allgemeine Bezeichnung für Mühelosigkeit, Geschwindigkeit und Genauigkeit motorischer Tätigkeiten.“14 Fähigkeit: „Befähigtsein, Vermögen, Begabung [...] imstande sein etwas zu empfangen.“15 „Allgemei- ne und umfassende Bezeichnung für die individuelle Bereitschaft, eine Leistung bestimmter Art und Ausprägung zu zeigen, wobei das Leistungsniveau entweder auf Erziehung und Übung oder auf eine Anlage zurückgeführt wird.“16 Basiskompetenzen / Schlüsselqualifikationen: Alle fachlichen, körperlichen, physischen und sozialen Qualifikationen, die den Berufstätigen befähigen sich situativ angemessen verhalten zu können und auf veränderte Anforderungen flexibel reagieren zu können, heißen Schlüsselqualifikationen. Nach Definition der Bildungskommission NRW (1995) sind Schlüsselqualifikationen: „… erwerb- bare allgemeine Fähigkeiten, Einstellungen, Strategien und Wissenselemente, die bei der Lösung von Problemen und beim Erwerb von Kompetenzen in mög- lichst vielen Inhaltsbereichen von Nutzen sind, so dass eine Handlungsfähigkeit entsteht, die es ermöglicht, sowohl individuellen Bedürfnissen als auch gesell- schaftlichen Anforderungen gerecht zu werden.“17 Schlüsselqualifikationen sind überfachliche Qualifikationen, die zum Handeln be- fähigen sollen. Dabei setzten sich Schlüsselqualifikationen aus einem breiten Spektrum übergreifender Fähigkeiten zusammen, die sowohl aus dem kognitiven als auch aus dem affektiven Bereich stammen. Diese Kompetenzen können in verschiedenen Situationen und Funktionen flexibel und innovatorisch eingesetzt und übertragen werden. Sie sind daher kein Fachwissen, sondern ermöglichen den kompetenten Umgang mit fachlichem Wissen. Sie sollen das Fachwissen nicht ersetzen, sondern dazu befähigen, es in Anbetracht der sich ständig wan- Entwurfsprojekte als Motor 42 43 delnden Anforderungen im Berufsleben zu erweitern. Schlüsselqualifikationen sind daher zunächst inhalts- neutral und finden Anwendung im tätigen Berufsleben und in zwischenmenschlichen Beziehungen. Schlüsselqualifikationen lassen sich als Fähigkeiten in vier Kompetenzbereiche aufgliedern: Sozial- kompetenz, Methodenkompetenz, Sachkompetenz und Selbstkompetenz. Kompetenz bedeutet – auf der Basis eines erfolgreichen Lernprozesses – die Befähigung eines Menschen, selbstverantwortlich Probleme zu lösen, bestimmte Leistungen zu erbringen und mit anderen Menschen angemessen umzugehen. Die Schnittmenge wird als individuelle Handlungskompetenz bezeichnet, die die poten- tielle Verfügbarkeit über die o. g. Kompetenzbereiche einer Person meint. Im Folgenden sind die für die Architekturausbildung relevanten Kompetenzen zusammengefasst: Sozialkompetenz Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten, die dazu befähigen, in den Beziehungen zu Menschen situationsadäquat zu handeln: – Kommunikationsfähigkeit – Kooperationsfähigkeit – Konfliktfähigkeit – Einfühlungsvermögen – Durchsetzungsfähigkeit Methodenkompetenz Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten, die es ermöglichen, Aufgaben und Probleme zu bewältigen, indem sie die Auswahl, Planung und Umsetzung sinnvoller Lösungsstrategien ermöglichen: – Probleme erkennen und benennen können – Analysefähigkeit – Transferfähigkeit – Entscheidungsvermögen – Abstraktes und vernetztes Denken Entwurfsprojekte als Motor Sachkompetenz Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten, die in fachübergreifenden Bereichen einsetzbar sind, also nicht an die Anwendung in einer Disziplin gebunden sind: – EDV-Kenntnisse – Fremdsprachenkenntnisse – allgemeine Kenntnisse von Arbeitsprozessen 44 45 hallo Die Lehre aus dem Bauch 50 51 Das Architekturstudium an der Universität Kassel ist Teil des Studienbereichs -asl- Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung, der seit Januar 2003 als neuer Fachbereich 06 asl zusammengezo- gen wurde. Die Interdisziplinarität der drei Fachrichtungen und die Nähe zu den Ingenieurwissen- schaften einerseits und zur Kunsthochschule andererseits prägen das Profil des Fachbereichs. Neben dem theoretisch-systematischen Lehrangebot liegt der Schwerpunkt auf dem Projektstudium. Das Grundstudium wird von allen drei Fachrichtungen gemeinsam bestritten, was ein vielseitiges, interdisziplinäres Lehrangebot erfordert. Die Studenten haben die Möglichkeit, in den ersten beiden Semestern Studienarbeiten bzw. Projekte im Bereich ihrer Wahl, unabhängig von der fachspezifischen Einschreibung, zu belegen. Jeder Studienarbeits- bzw. Projektgruppe mit ca. 15 bis 30 Studenten, steht ein Arbeitsraum zur Verfügung, der als Anlaufstelle auch für sonstige Arbeiten genutzt wird. Für die Zugehörigkeit zu einer Peergroup ist er von wesentlicher Bedeutung. Eingebettet in den fächerübergreifenden Start wird am ersten Tag des Semesters, bevor Seminare, Vorlesungen und die Grundstudiumsprojekte beginnen, eine Einstiegsaufgabe herausgegeben, die von allen Studierenden innerhalb der ersten Woche bearbeitet wird. Drei Wochen nach Semesterstart findet eine obligatorische Exkursion mit Studierenden aller drei Fachrichtungen statt. Die Exkursionen am Anfang des Studiums sind eine jahrelang erprobte und bewährte Einrichtung am Studienbereich Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung in Kassel. Mehrere Gruppen, die je aus ca. 20 Studenten Das Grund- studium im Studienbereich Architektur, Stadt- und Landschafts- planung an der Universität Kassel Die Lehre aus dem Bauch bestehen, werden parallel von je einem Hochschullehrer oder Assistenten und ein bis zwei studentischen Tutoren1 betreut. Teilweise finden lehrstuhl- und damit fachübergreifende Reisen in Kooperation mehrerer Gruppen statt. Die Ex- kursionen führen je Reisegruppe an verschiedene Orte im In- und Ausland. Manchmal finden auch themenspezifische Rundreisen statt. Im Anschluss wer- den die Exkursionen je nach Themenschwerpunkt nachbearbeitet. Vor Weih- nachten findet eine erste Ausstellung, der sogenannte Rundgang, statt, bei dem die Arbeitsergebnisse vorgestellt werden. Im neuen Jahr bleiben bis Semesterende ca. fünf Wochen für eine Studien- arbeit, wofür sich die Studierenden in Arbeitsgruppen einwählen können. Es werden an die Studentenzahlen angelehnt mehrere Entwurfsaufgaben angebo- ten, so dass die Studenten Erst-, Zweit- und Drittwünsche angeben können und in die Projektgruppen mit ca. 15 bis 30 Teilnehmern eingeteilt werden. Die Studienarbeitsgruppen werden wie jeweils von einem Hochschullehrer oder zwei wissenschaftlichen Mitarbeitern, unterstützt von ein bis zwei studentischen Tutoren betreut und am Ende des ersten Semesters in einer Rundgangsaus- stellung präsentiert. Das erste große Entwurfsprojekt im Grundstudium ist im zweiten Semester angesiedelt. Die Bearbeitungs- dauer beträgt ein Semester und hat im Rahmen der Prüfungsordnung des Fachbereichs einen relativ großen Stellenwert. Von den geforderten 28 SWS (Semesterwochenstunden) fallen sechs Stunden dem Entwurfsprojekt zu. Für die Vor- und Nachbereitung wird der Nachmittag an fünf Tagen pro Woche veranschlagt. Es werden auch hier mehrere Entwurfsprojekte angeboten, so dass sich die Studenten wieder nach ihren Neigungen einwählen können. Die Betreuerkonstellation aus den voran- gegangenen Arbeitsphasen bleibt bestehen. Am Ende des zweiten Semesters werden wieder alle Arbeitsergebnisse in einer Rundgangsausstellung präsentiert. Um einen Überblick der Lehrinhalte und -methoden zu geben, werden im Folgenden die Einstiegsauf- gabe, die Exkursion, der Stegreifentwurf und der erste größere Entwurf vorgestellt und mit Beispielen aus den ersten Jahren meiner Lehrtätigkeit belegt.2 Die Lehre aus dem Bauch 52 53 Vorgabe: Die Einstiegsaufgabe ist innerhalb von drei Tagen zu lösen. Die Studenten sind sofort mit einer kleinen Entwurfsaufgabe konfrontiert, die sie allein oder in Arbeitsgruppen bearbeiten können. Ziel: Der Einsatz einer ungewöhnlichen und verspielten Aufgabenstellung gleich zu Anfang hat das Ziel, die Studierenden zu irritieren und mitgebrachte und verinnerlichte Bilder über das anstehende Architekturstudium sofort ins Wan- ken zu bringen. Durch die scheinbare Unsinnigkeit ist sie für alle drei Disziplinen geeignet. Die Aufgabe stellt dar- über hinaus den Spaß am kommenden Studium heraus, sie provoziert den Humor der Lernenden und Lehrenden, beschwört den Teamgeist und das gemeinsame Event und fordert die Studierenden in ihrer spontanen Kreativi- tät heraus, weil Bekanntes, Gewohnheiten und (Vor-)Ur- teile nicht zum Tragen kommen können. Einstiegs- aufgabe Auswertung: Die Ergebnisse doku- mentieren, dass die Studierenden im Rahmen einer ungewöhnlichen Aufga- benstellung Spontanität und produk- tive Kreativität nicht nur einbringen konnten, sondern diese gerade durch den irritierenden Arbeitsauftrag be- sonders herausgefordert wurde. Die Ar- beitsergebnisse wiesen eine große Un- terschiedlichkeit auf, die die einzel- nen Individuen, die hier neu aufein- ander trafen, widerspiegeln. Es entstanden filigran und sauber gearbeitete und statisch ausgetüftelte Flugobjekte, aber auch wilde, erfindungsreiche und au- ßerordentlich humorvolle Eierträger. Einigen Arbeiten sah man auch Phantasie- losigkeit und handwerkliches Ungeschick an. Die meisten Flugobjekte wurden mit ernsthaftem Stolz auf das erste Produkt im Rahmen des neuen Studiums präsentiert und mit großer Freude dem Flug übergeben. Ein von Jahr zu Jahr wachsendes Publikum honorierte die Mühe und trug zur lustvollen Einstimmung der Neulinge bei. 3 Beispielaufgabe: Eierflug Die Einstiegsaufgabe Eierflug ist über mehrere Jahre ge- stellt worden. Ein rohes Ei soll aus dem 3. Stock des Fakultätsge-bäudes mit Hilfe eines Flugobjekts in den Hof befördert werden ... das Ei muss unbeschädigt bleiben! Eine Jury aus Hochschullehrern kommentiert die Flüge und Abstürze. Gewinner werden auf Grund der folgenden Bewertungskriterien ermittelt: - schneller und eleganter Flug - geringer Materialaufwand - intelligente und ästhetische Lösung Die Lehre aus dem Bauch 54 55 Vorgaben: Die Exkursionsziele und die inhaltlichen Schwerpunkte sowie die vor Ort zu bearbeitenden Arbeitsaufträge sind umfassenden Themenbereichen, die Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung einschließen, gewidmet. Sie bieten meist den Hintergrund für die anschließend zu bearbeitende Auf- gabe. Nach oder während den Exkursionen werden die Themen um integrierte Entwurfsanteile erwei- tert. Handwerkliche Fertigkeiten für den Modellbau werden ebenso vermittelt wie das Lesen und Erstellen von Plänen in Grundriss, Ansicht und Schnitt. Schließlich dokumentieren und präsentieren experimentell angelegte Darstellungsformen die Arbeitsergebnisse der Bearbeitungsteams. Die Exkursionen werden inhaltlich in Form von Referaten durch die Studierenden vorbereitet, die jeweils vor der Reise in einem Reader zusammengefasst und vor Ort vom Referenten, der nun Spezia- list für das jeweilige Thema ist, vorgetragen werden. Außerdem wird vor den Exkursionen eine Einfüh- rung in das schnelle Skizzieren gegeben, um die Studenten auf das Anfertigen von visuellen Notizen vorzubereiten. Ziel: Der touristische Blick des Laien soll von der Erdgeschosszone auf den Kontext gelenkt und um die Wahrnehmung von Details und das Verstehen der Komplexität einer Stadt erweitert werden. Stadt- und Architekturgeschichte, Stadtplanungskonzepte, aktuelle Architekturtendenzen und kultu- relle Besonderheiten bieten die Möglichkeit sich einer Stadt im architektonischen und planerischen Sinne professionell zu nähern. Die Zusammenhänge der gesellschaftspolitischen Veränderungen und der damit einhergehenden städtebaulichen Manifestationen werden durchleuch- tet. Vor Ort soll mit Stadtrundgängen, Besichtigungen, Zeit zum Zeichnen, Baustellen- und Bürobesuchen eine möglichst große Bandbreite des jeweiligen Themengebietes erzeugt und untersucht werden. In der Gegenüberstellung unterschiedlicher Architekturgebäude und -konzepte soll die mögliche Vielfalt im urbanen Raum für die gleiche Entwurfsaufgabe aufgezeigt werden und deren unterschiedliche Qualitäten herausgearbeitet werden. Die Untersuchung von z.B. Plätzen, Quartiersquerschnitten, Kinos, Aus- stellungsgebäuden oder Innenräumen ist zwar immer im Zusammenhang der jeweiligen Stadt zu betrachten, steht aber auch exemplarisch für andere Bau- aufgaben. Die Vorbereitung der Studenten auf ein bestimmtes Thema soll zur Identifika- tion mit dem Reiseziel bzw. einem Architekten oder Gebäude beitragen. Der Spezialist ist für dieses Thema gefragt und übernimmt eine gewisse Verantwor- tung für die Vermittlung. Das freie Vortragen vor Ort kann somit im geschützten Rahmen der Gruppe erprobt werden. Exkursion Die Lehre aus dem Bauch Die eigene Erfahrung braucht aber vorerst eine Plattform, die es erlaubt, dass überhaupt der Mut und die Nachfrage zu eigenen Erfahrungen besteht. Peter Jenny 56 57 Zusätzlich bearbeiten die Studenten kleine Entwurfsaufgaben, die sich mit Raum- und Stadtwahrnehmung beschäftigen. Mit diesen Aufgaben sollen Grundlagen und Fähigkeiten, wie die Wahrnehmung von Räumen und Orten, analytische Vorgehensweisen, das sich Hineindenken in Entwurfskonzepte, eine zielgerichtete Diskussions- und Kritikfähigkeit sowie wissenschaftliche Arbeitsmethoden erprobt und vertieft werden. Ein weiteres Ziel ist, die Gruppe zusammenwachsen zu lassen, eine gemeinsame Sprache zu entwickeln und den Abstand zwischen Lernenden und Lehrenden zu verringern. Im Folgenden werden einige Exkursionsziele und Beispielaufgaben vorgestellt. Erste Exkursion nach Berlin Die Stadt der Lichtspielhäuser kann auf eine jahrhundertealte Tradition des Licht- spielhauses zurückblicken. Das Formenspektrum reicht von exotisch-phantasti- schen Traumpalästen über sachlich-moderne Lichtspielarchitekturen bis zu einer Verödung der Kinolandschaft in den 1960er- und 1970er-Jahren. Heute findet man Szenekinos, die mehr auf das anspruchsvolle Kinoprogramm als auf eine entsprechende Raumgestaltung setzen, oder die großen Kinopaläste, die mehrere Filme parallel anbieten. Die Lichtspielhäuser Berlins spiegeln exemplarisch die ge- sellschaftlichen Aggregatzustände der Stadt in ihrer jeweiligen Zeit wieder. Beispielaufgabe: Warten auf H.: Verschiedene Kinos, die jeweils ein architek- tonisches Manifest in ihrem zeitlichen und städtebaulichen Kontext darstellen, wurden auf ihre baulichen Qualitäten hin untersucht. Im Mittelpunkt stand die Beobachtung der Zwischen – Räume. Der halböffentliche Raum, die Aufendhalts- bereiche, der Wartebereich und der Übergang von Außenraum zu Innenraum kann reduziert sein auf eine minimale Verbindung oder erweitert sein zu einem Ort der Zwischen-Zeit, des Verweilens. In der Präsentation sollten die Images der Kinos in Form von Kinoplakaten adäquat herausgearbeitet werden. Die Lehre aus dem Bauch 58 59 Eine Exkursion nach Barcelona Nach Francos Tod 1976 sah das Programm Espais Urbans neben anderen städtebaulich wirksamen Initialzündungen die Schaffung von fehlenden städtischen Freiräumen und Plätzen in der Stadt mit der größten Bevölkerungsdichte Europas vor. Oriol Bohigas ließ als Städtebau-Beauftragter der 3-Millio- nen-Metropole am Mittelmeer einige Ideen der GATCPAC neu aufleben und wollte in Barcelona Erho- lungsräume, soziale Einrichtungen und Orte zur Kommunikation schaffen, die auch eine Anregung zum demokratischen Diskurs sein sollten. Um eine zügige Realisierung zu gewährleisten, wurden Freiflä- chen, brachliegende Industrie- und Gleisanlagen neu definiert und alte Plätze umgestaltet, da hier der sofortige Zugriff seitens der Stadt möglich war. Die Aufwertung des Quartiers sollte den Hauseigentümern Anreiz zur Sanierung geben, Bohigas nannte dies eine „Strategie der Metastasen“4 . Eine wichtige Rolle in seinem Programm spielte die Skulptur, die die Rolle kollektiver Identität übernehmen sollte. Beispielaufgabe: Auf die Plätze: Sechs Plätze unterschiedlicher Größe, Funktion und Gestaltung in verschiedenen Stadtteilen wurden für die Untersuchungen ausgewählt. Auf die Plätze stellte die Frage nach dem städtebaulichen Kontext, der Funktion und der Aufenthaltsqualität, nach dem Entwurfs- konzept und dem Charakter des Platzes und nach Geschichten, die der Ort erzählt. Die mögliche Vielfalt im urbanen Raum und die Charaktere der die Plätze umgebenden Gebäude wurden in der Gegenüberstellung der unterschiedlichen Konzepte sichtbar. Eine Exkursion nach Amsterdam Die unbedingte Koexistenz der Holländer mit dem Wasser und die Mentalität eines Handels- und Seefahrervolkes gepaart mit dem großen Anteil fremder Bevölkerungsgruppen mündete in einer Aufgeschlossenheit gegenüber dem Neuen und Fremden. Sie findet ihren Ausdruck in einer großen Experimentier- freudigkeit in der Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung. Beispielaufgabe: 6 x Remake: Sechs Architekturen unterschiedlicher Funkti- on und Gestaltung aus eineinhalb Jahrhunderten stellen je ein wichtiges archi- tektonisches Statement dar. Die Gebäude wurden in ihrem Kontext betrachtet, ein Augenmerk auf ihre spezifischen Charaktere gelegt und anschließend in Form von Modellen und Dokumentationen präsentiert. Beispielaufgabe: 1 km Amsterdam: Ein eigenes Thema für die Entdeckungs- reise 1 km Amsterdam musste gefunden werden. Das Konzept für den 1 km langen Streifzug durch Amsterdam sollte sich auf nur einen Aspekt konzentrieren, der über das bei- läufige Wahrnehmen das Flaneurs hinausgeht. Die Lehre aus dem Bauch 60 61 Zweite Exkursion nach Berlin Unser Weg führte uns entlang am ehemaligen Niemandsland und den sofort nach der Grenzöffnung projektierten und nun bebauten Flächen. Als neue Hauptstadt hat Berlin neben dem Regierungsvier- tel in Berlin-Mitte und der Wirtschaftsprominenz am Potsdamer Platz aber auch eine große Kunst- und Kulturszene zu bieten, die sich zwischen Keller-Event und Nationalgalerie bewegt. Beispielaufgabe: Berlin ausstellen: In der Gegenüberstellung unterschiedlicher Ausstellungsarchitekturen und -konzepte sollte die mögliche Vielfalt für die gleiche Entwurfsaufgabe aufgezeigt werden und deren unterschiedliche Qualitäten herausgearbeitet werden. Die Fragen nach dem Verhältnis von Ausstellungs- objekt und Architektur sowie von Mensch und Architektur standen hierbei im Vordergrund. Beispielaufgabe: Mein Berlin. Ein Sechstagetagebuch: Eine weitere Aufgabe begleitete uns sechs Tage lang. Wieder sollte die Aufmerksamkeit auf einen Aspekt von Stadt, auf ein wiederkehrendes Detail gerichtet werden. Die Präsentationsform war allerdings eine andere als bei der Aufgabe 1 km Amsterdam. Ein Tagebuch sollte in adäquater Form das Gesehene festhalten und somit ein absolut authentisches und individuelles Berlin präsentieren. Jeden Tag eine Seite. Jeden Tag eine Zeichnung von einer Treppe. Jeden Tag Oberflächen. Jeden Tag das Schönste. Jeden Tag den Himmel. Oder jeden Tag die eigene Befindlichkeit. Jedenfalls: jeden Tag: Mein Berlin. Eine Exkursion auf den Spuren von Le Corbusier: Tour de France Zwei Zitate von Le Cobusier (1887-1965) lassen die Bandbreite seines Schaf- fens ahnen: „Aber um an das Problem der Perfektion herangehen zu können, müssen wir zuerst die Standardlösungen gefunden haben. ... Typen sind Sache der Logik, der Analyse gewissenhaften Studiums. ... Baukunst ist gestaltete Erfindung, ist intellektuelle Spekulation, ist höhere Mathematik.“5 „Von Baukunst kann man erst dann sprechen, wenn poetisches Gefühl vorhan- den ist.“6 Als einer der wichtigsten Architekten des 20. Jahrhunderts wird der in der Schweiz geborene und international tätige Le Corbusier einerseits als Vater der weißen Architektur und als Schöpfer des International Style gefeiert, aber auch als Vertreter des Rationalismus für spätere, auf seinen Gedanken basie- rende Stadtplanungen im negativen Sinn verantwortlich gemacht. Auf der tour de france haben wir einige seiner Gebäude aufgesucht, um seine Architekturen Die Lehre aus dem Bauch 62 63 kennenzulernen, den Maßstabssprung in seinem Werk nachzuvollziehen und vor Ort Notizen, Zeichnun- gen und Bilder anzufertigen, die bekannten Abbildungen gegenübergestellt werden sollten. La promenade architecturale7: In Arbeitsgruppen waren abgegrenzte Raumsequenzen nach dem Gedanken der promenade architecturale aus dem halböffentlichen Bereich des Klosters La Tourette in Form von perspektivisch gebauten Guckkästen zu bearbeiten. Diese sollten dazu dienen, die Bewegung im Raum und die damit verbundenen unterschiedlichen Perspektiven einzufangen und anderen mitzu- teilen. Auswertung: Neben dem inhaltlich begründeten Einstieg ist ein wesentlicher Punkt für das gemeinsame Reisen am Anfang des Studiums. Die Studenten stellten fest, dass ein gemeinsames Interesse an einem Gegenstand, nämlich an Architektur- und Planungskonzepten, neuen und fremden Einflüssen und die Auseinandersetzung über das Gesehene besteht oder geweckt werden konnte. Es entstanden nicht nur interessante Diskussionen vor Ort, es wurden auch nachhaltige Beziehungen unter den Studenten und auch zwischen Lehrenden und Studierenden geknüpft. Man konnte beobachten, wie das neu gebildete Team dazu beiträug, dass sich Interesse und Engagement mit jedem Exkursions- tag steigerten. Der Übergang vom Laien zum begeisterungsfähigen Architektur- studenten wurde hier vollzogen. Eine berufsqualifizierende Sensibilisierung für Problemstellungen im Gestaltungs- und Planungsprozess bekommt durch die Untersuchungen vor Ort eine hohe Spannung und Direktheit im Umgang. Die breit gefächerte Themenwahl und die exemplarisch angelegten Aufgabenstellungen tragen dazu bei, eine inhaltliche Basis für das Studium der Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung zu schaf- fen. Die Studierenden beginnen somit sich ein eigenes virtuelles Architektur- und Planungsarchiv anzulegen. Die Lehre aus dem Bauch 64 65 Mönchszelle: In Einzelarbeit sollte die individuelle Raum- wahrnehmung einer Mönchs- zelle im Kloster La Tourette in einem zeitlich abgesteck- ten Rahmen mit verschiede- nen Darstel-lungstechniken festgehalten werden. Nur das Format wurde in Karteikartengröße festgelegt. Die später eingeführte Zweiteilung der Aufgabenstellung (Beispiel Amsterdam, das zweite Mal Berlin und die Tour de France) beabsichtigte verschiedene Aspekte des Vorgefundenen intensiver zu be- leuchten. Inhaltlich forderten die Aufgaben, sich mit komplexen Entwurfskonzepten und bekannten Architekten auseinanderzusetzen. Mit der anderen Aufgabe sollten sich die Bearbeiter auf einen Aspekt konzentrieren, der über die beiläufige Wahrnehmung des Flaneurs hinausgeht. Die individuell zu bear- beitende Aufgabe hatte einen hohen selbstreflektorischen Charakter, da eigene Schwerpunkte gefun- den werden mussten. Der mit beiden Aufgaben angestrebte Prozess, das bewusste Sehen zu schulen, eine erweiterte und kreative Wahrnehmung zu erlangen, aus dem individuellen Potential zu schöpfen, vorhandene Fähigkeiten auszubauen und neue Fertigkeiten dazuzulernen, war bei allen Studierenden zu beobachten. Die intensive Zeit, die im Rahmen einer Exkursion miteinander verbracht wurde, trug dazu bei, als Lehrender den individuellen Erkenntnisprozess beobachten und darauf differenziert einge- hen zu können. Eine Aufgabe als Einzelarbeit anzufertigen und eine andere im Team zu bewältigen forderte und förderte darüber hinaus die einzelnen Personen auf unterschiedlichen Ebenen. In den Projektkritiken und gemeinsamen Diskussionen, die größtenteils in der gesamten Projekt- gruppe stattfinden, wurden neben dem Erfassen der vorgefundenen Realität die eigene subjektive Sichtweise, geprägt durch Kultur und biografische Herkunft, bewusst gemacht und die Vielfalt mögli- cher Betrachtungsweisen hervorgehoben. Den anderen Studierenden die eigene Sichtweise mit Hilfe der Handwerkszeuge des Architekten mitzuteilen, trainierte die Artikulationsfähigkeit und Selbstpräsen- tation. Das Lesen bildlich festgehaltener Aussagen wurde ebenso geschult wie ihre Entäußerung mit verschiedenen, der Person entsprechenden Medien. Die Lehre aus dem Bauch 66 67 Vorgaben: Als Einführung in das Entwerfen werden im kurzen zeitlichen Bearbeitungsrhythmus drei inhaltlich aufeinander abgestimmte Entwurfsaufgaben herausgegeben, die sich auf unterschiedliche Weise mit dem Raum beschäftigen und das schnelle Entwerfen trainieren. Die Bearbeitung wird in der Regel nicht betreut, jeder Aufgabenstellung folgte jedoch eine Zwischenpräsentation, die als Übung zur Visualisierung und Formulierung eines prägnanten Entwurfskonzepts gedacht ist, das anhand von Skizzen, Arbeitsmodellen und einer kurzen Erläuterung vorgestellt wird. Die Korrektur findet in und mit der gesamten Projektgruppe statt und ist verbindlich, das Von- und Miteinander- lernen wird hiermit initiiert. Die persönliche Haltung, die Entwurfsphilosophie und Stilfragen werden, soweit es möglich ist, nicht zum Gegenstand der Kritik. Lediglich die Sichtbarmachung der Wechselwir- kung von Idee und Form und die konsequente Verfolgung der inneren Logik des Entwurfs werden bewertet. Im Endergebnis werden die konsequente und adäquate Umsetzung der Ausgangshypothese überprüft. Einzelarbeit ist hierbei obligatorisch. Ziel: Mit den Stegreifentwürfen sollen konzeptionelles Arbeiten, eine schnelle Ideenfindung und Fertigkeiten für deren Darstellung trainiert werden. Die Stegreifentwürfe sind experimentell ange- legt, so dass die Studenten aufgefordert werden sich von ihren mitgebrachten Vor-Urteilen und Architekturbildern zu lösen. Die abstrakten Aufgabenstellungen sollen zum Ausprobieren ermutigen, die Studenten müssen aus ihren eigenen Ressourcen schöpfen, ohne „unreflektiert lieb gewonnene Beispiele reproduzieren“8 zu können. Die Aufgaben sind in ihrer Komplexität stark eingeschränkt, um die Konzentration auf nur ein Thema, nur eine Idee, nur ein Material zu ermög- lichen. Unterschiedliche Vorkenntnisse sollen für einen Moment egalisiert wer- den und kommen erst zu einem späteren Zeitpunkt bei der Visualisierung und Realisierung des Entwurfs zum Tragen. Einige Stegreife werden anhand von Beispielaufgaben im Folgenden vorgestellt. Beispielaufgabe: 3 x Raum Drei Stegreifaufgaben die sich mit Raumbildung beschäftigten wurden in Folge gestellt und bildeten eine zusammengehörige Aufgabe. Der erste Stegreif stell- te die archaische Raumerfahrung durch Herausschneiden und Hinzufügen des Materials in den Fordergrund. Die zweite Aufgabe sah Raumbildung nur durch das Setzen von Stützen und vertikalen Wandscheiben vor. In der dritten Aufga- be kam die Dimension Licht als wesentliches Raumelement zum Einsatz. Das erste Haus: Die Grundlage für die erste Aufgabe war der Text „Kunst contra Architektur“9 von Hannes Böhringer über Descartes, den Kosmopoliten und Pascal, dessen Welt sich in Exil und Heimat spaltet. Ein Raum für eine der Die Lehre aus dem Bauch Stegreifentwürfe Die eigenen Wahrnehmung formuliert vorzufinden ist eine Entdeckung die Veränderung erlaubt. Peter Jenny 68 69 beiden Weltanschauungen sollte geschaffen werden. Der vorgegebene Tonblock hatte eine Kanten- länge von 18 x 18 x 18 cm. Kunst ausstellen: Ein Raum im Raum, eine Ausstellungskonzeption für die Arbeit „Das Rudel“ von Joseph Beuys sollte entworfen werden. Der äußere Raum, das Museum fungierte nur als Gedanken- modell. Die Grundplatte war 30 x 30 cm, es gab keine weiteren Materialvorgaben. Der Raum der Sehnsucht: Dieser Raum sollte eine Geschichte erzählen, die die Sehnsucht des Bauen- den beinhaltet. Vorgegeben waren die Kantenlängen des Modells mit 15 x 20 x 40 cm. Beispielaufgabe: Ohne Vorbild Drei Aufgaben in Folge formulierten Situa- tionen, bei der unsere gewohnten Betrach- tungsweisen nicht greifen und die eine un- konventionelle Entwurfsstartegie erforderten. Die vertrautesten Elemente des jeweiligen Ortes standen nicht zur Verfügung, wodurch eine neue Interpretation des Herkömmlichen nötig wurde. Vorgegeben waren lediglich die Kantenlängen des Modells mit 30 x 30 cm ohne Maßstab und ohne Ausrichtung. Haus ohne Fenster Garten ohne Baum Stadt ohne Haus Die Lehre aus dem Bauch 70 71 Mit der ersten Stegreifaufgabe wurde eine Fläche durch Einschneiden, Falten und Aufwerfen bearbeitet um Höhe zu erlangen. Es entstanden Reliefs. In der zweiten Aufgabe kam die Vertikale hinzu, mit ihr sollten Volumen und Zwischen- räume gebildtet werden. Hier wurde die Stadt in ihre Funktions- und Bezugs- ebenen zerlegt und als diese bearbeitet. In der dritten Aufgabe kam das Licht als raumbildendes Element hinzu. Es veränderte in den Raum z.B. mit dem Sonnen- stand oder durch das Hervorheben von hellen und dunklen Zonen. Der Raum sollte zu unterschiedlichen Zeiten und aus unterschiedlichen Perspektiven un- terschiedlich lesbar sein. Die Lehre aus dem Bauch Beispielaufgabe: Landschaft – Stadt – Innenraum Die vertrautesten und bekanntesten Elemente der jeweiligen räumlichen Situationen standen auch hier nicht zur Verfügung, wodurch eine neue Interpretation des Herkömmlichen Bildes von Landschaft, Stadt und Innenraum erforderlich wurde. Vorgegeben waren lediglich die Kantenlängen der Modelle mit 30 x 30 cm und Finnpappe als einziges Baumaterial. Der Maßstab und die Ausrichtung spielten auf dieser Abstraktionsebene keine Rolle. Die gemeinsame Erarbeitung von Texten zum jeweiligen Themenbereich ermöglichten einen Assoziations- raum für den Entwurf. Landschaft: Shan und Shui, aus: Charles Moore: Die Poetik der Gärten, 1991 Stadt: San Giminiano, aus: Walter Benjamin: Städtebilder, 1929 Die unendlichen Städte, aus: Italo Calvino: Die unsichtbaren Städte, 1974 Berge, aus: Rem Koolhaas: Delirius New York, 1978 Raum: Film als reine Gestaltung, aus: Theo van Doesburg, Über europäische Architektur, 1929 Stille und Licht, aus: Louis Kahn: Die Architektur und die Stille, 1970 72 73 Auswertung: Das Vorhaben, durch ungewöhnlichen Aufgabenstellungen ungewöhnliche Lösungen zu provozieren, kann man als gelungen bezeichnen. Die Tonkuben der ersten Aufgabenstellung im Rahmen der Studienarbeit 3 x Raum stellten nicht nur ästhetisch reizvolle Objekte dar, auch die Übertragung einer Lebensphilosophie auf ein abstraktes Raummodell ist von den Studenten bewältig worden. Ein normales Haus zu bauen war mit dem Material Ton und der inhaltlichen Vorgabe unmöglich. Schwieriger war die Ausführung der zweiten Aufgabe ohne in vorhandene Bilder von Ausstellungsarchitektur oder in die Darstellung von puppenstubengroßen Kunstobjekten zu verfallen. Das inhaltliche Aufeinanderabstimmen der Stegreifentwurfsaufgaben machte die vielschichtigen Mög- lichkeiten der Raumentstehung durch unterschiedlichen Materialeinsatz und -bearbeitung sichtbar und erfahrbar. Die Identifikation mit der ersten und der dritten Aufgabe der Stegreife Ohne Vorbild entstand durch das eigene Schaffen eines Aufgabenkontextes, das in der zweiten Aufgabe nicht möglich war. Hier hätte die Suche nach einem eigenen Kunstwerk die Identifikation mit der Aufgaben- stellung erleichtert. Im Rahmen der Studienarbeit Stadt – Landschaft – Innenraum machte die Einschränkung des Materials auf Finnpappe deren vielfältige Bearbeitungsmöglichkeit deutlich. Der Abstraktionsgrad der Stegreif- entwürfe war außerordentlich hoch, weil der Interpretationsraum offen gehalten wurde. Die Studenten entwickelten individuelle Entwurfsstrategien, die durch das schnelle Anwenden einen freien Umgang zuließen. Durch die Reihung artverwandter Entwurfsaufgaben in einem kurzen Bearbeitungszeitraum war es möglich unterschiedliche Strategien auszuprobie- ren und das konzeptionelle Arbeiten zu verfeinern. Die Forderung einer obligatorischen Zwischenpräsentation und der nachfolgen- den Überarbeitung wurde erst mit der Zeit für die Studierenden sinnfällig. Kritik als konstruktiv begreifen zu können, benötigte eine positiv besetzte Plattform, auf der sie vorgebracht und angenommen werden konnte. Die Entstehung die- ser Plattform ist abhängig von der Zeit, aber auch von der Offenheit der Leh- renden. Hierbei war wichtig, nicht nur das geniale Ergebnis zu loben, sondern den Entstehungsprozess und die Ausgangslage jedes Einzelnen mit einzubezie- hen. Darüber hinaus wurden die Entscheidungen im Entwurfsprozess, im Wissen um eine anstehende Konfrontation mit der Projektgruppe, bewusster und nach- vollziehbarer von den Studierenden getroffen. Die Lehre aus dem Bauch 74 75 Vorgaben: Die Projekte im Rahmen des zweiten Semesters sind komplexe Entwurfsaufgaben, die absichtlich nicht die Nähe zu vermeintlich realen Bauaufgaben suchen, sondern Rahmenbedingun- gen wie unwirtliche und ungewöhnliche Örtlichkeiten oder innerstädtische Peripherien setzen. Eine fiktive Geschichte bildet den Rahmen. Um Architektur entstehen lassen zu können, bedarf es einer Planungsabsicht. Meist bedingt durch den Zweck wird ein Auftrag formuliert, der bestimmte Kriterien enthält, die zu erfüllen sind. Dieser Auftrag besteht in diesem Fall noch nicht, die zukünftigen Bewoh- ner müssen erfunden werden. Der jeweilige Entwurf wird mit Exkursionen, Stegreifentwürfen und Referaten vorbereitet. Die Studen- ten sollen während der Entwurfsphase parallel mit dem Modell, der Skizze und der Zeichnung arbeiten. Der Gebäudeentwurf ist schließlich im Maßstab 1:100 in Plan und Modell inklusive Präsentationsplänen gefordert. Teamarbeit ist hier obligatorisch. Ziel: Eine große Identifizierung mit dem Projekt soll erreicht werden, indem einige Faktoren, z.B. die Bewohner mit ihrem Charakter, ihren Vorlieben und Gewohnheiten sowie das aus ihrer Sicht formulierte Nutzungskonzept von den Studenten selbst bestimmt werden. Kleine Exkursionen und / oder Happenings vor Ort bieten darüber hinaus die Möglichkeit sich dem Ort anzunähern, ihn für eigene Forschungsinteressen umzudeuten und vielleicht für eine Zeit mit einer Installation in Besitz zu nehmen. Ebenso kreisen einführende Stegreifentwürfe die Aufgabe ein und provozieren mit ihren engen Vorgaben eine Konzentration auf einen bestimmten Aspekt. Mit den Lösungen werden abgegrenzte, aber konkrete Entwurfsziele formuliert und Entwurfsstrategien festgelegt. Parallel werden Beispiele aus der Architektur oder Grenzbereichen der Kunst in Refera- ten erarbeitet, um mögliche Herangehensweisen im Umgang mit einer ähnlichen Situation aufzuzeigen. Imfolgenden werden einige Entwurfsprojekte aus dem ersten Studienjahr vor- gestellt. Die Lehre aus dem Bauch Erster großer Entwurf 76 77 Beispielaufgabe: 3 Meter New York Die fiktive Baulücke in Manhatten, weit über dem Central Park gelegen, hatte eine Breite von nur 3 Metern. Das vergessene Grundstück zwischen den sechsgeschossigen Brandwänden der Nachbargebäude lag seit Jahren brach. Die drei aufgeführten Stegreifaufgaben bereiteten den anschließenden Entwurf vor. Poetisch freilegen: Eine emotionale und gleichzeitige narrative Annäherung. Eine Geschichte sollte erfunden werden: ... von einem Mafiaboss, der hier erschossen wurde ... oder von einem Jazzclub, der diese Straße berühmt machte ... oder von dem Tellerwäscher, der endlich Millionär wurde ... Inhaltlich suchen: Ein Programm sollte definiert werden, indem der fiktive Bewohner zum Leben erweckt wurde: Er ist ein Mensch in der Großstadt, der sich nie zu Hause aufhält, dort nur schläft ... oder einer, für den dieser Ort ein Refugium der Ruhe bedeutet ... oder ein Höhlenforscher, der sich in die Tiefe eingräbt ... Daran geknüpft werden sollten die Funktionen der Räume, deren Größe und Höhe, die der Bewohner benötigen würde sowie die Beziehung der Räume untereinander und zu ihrem Außenraum. Formal vorgehen: Nun sollten die gestalterischen Möglichkeiten festgelegt werden. Welche Kanten, Linien, Achsen oder Sichtbezüge sind vorzufinden? Sind sie weiterzuführen oder ihnen etwas entgegen zusetzen? Was verträgt darüberhinaus der Zwischenraum? Beispielaufgabe: Haus für einen Sammler Der fiktive Monsieur Le Retraite war ein leidenschaftlicher Sammler. Nachdem er dreiundvierzig Jahre für eine Handelsgesellschaft im Herzen von Marseille gear- beitet hatte, wollte er sich nur noch seiner Leidenschaft widmen, dem Sam- meln. Er hatte eine der kleinen kargen Felseninseln in der Bucht vor Marseille mit Blick auf die Stadt und aufs offene Meer, der Sonne ausgeliefert, gekauft und gab ein Gebäude in Auftrag. Diese erfundene Insel, so steinig wie sie war, hatte alles, was eine Insel braucht: eine Steilküste, eine Bucht, einen Berg und ein Tal. Drei Stegreifentwürfe in Einzelarbeit bereiteten den Entwurf vor und dienten der eigenen Positionierung. Hierbei entwickelte Entwurfsansätze und Planungs- absichten konnten Grundlage für eine gemeinsame Gruppenarbeit werden. Die Landung: Eine Frage nach dem Zugang zur Insel. Wie wird sie von Monsieur Le Retraite und möglichen anderen Personen erreicht: mit einer Brücke, einem Boot und einem Steg oder einer nur ihm zugänglichen Höhleneinfahrt oder …. Der Stein und das Andere: Eine Frage nach dem Baumaterial auf der sehr kar- gen und steinigen Insel, der Verbindung, dem Kontrast oder der Abgrenzung. Die Lehre aus dem Bauch 78 79 100 Stück: Eine Frage nach Möglichkeiten der Archivierung in einem geordneten, strukturierten System, der Stapelung oder des Nebeneinanders von Dingen oder dem chaotischen Prinzip. Die Person des Monsieur Le Retraite und seiner Sammellei- denschaft wird anschließend jeweils von den Bearbeitungs- teams festgelegt. Beantwortet werden soll, ob er Gegen- stände, Musik, Düfte oder anderes sammelt und wie die Sammlerstücke präsentiert, versteckt oder einfach nur auf- bewahrt werden. Ein Raumprogramm soll auf Grund dieser Vorüberlegungen erstellt werden. Die Festlegung des Bau- platzes definiert die Beziehung von Land, Wasser und Ge- bäude. Beispielaufgabe: Strandhafer Das fiktive Hochzeitsgeschenk von Königin Beatrice zur Hochzeit der Fachberei- che Architektur und Stadt- und Landschaftsplanung war ein Grundstück in den Dünen bei Castricum aan Zee/NL. Der neue Fachbereich wollte dort ein Gäste- haus für 30 Personen bauen, das einen günstigen Standort für die Durchführung von Workshops und Exkursionen in den Niederlanden sichern sollte. Der zu bear- beitende Ort war ein nicht eingezäuntes Gelände mit 20.000m2 Dünenlandschaft und einem direkten Zugang zum Meer. Referate: Verschiedene Konzepte und Lösungen zum Verhältnis von Architek- tur und Landschaft wurden als Referat erarbeitet. Exkursion: Eine Exkursion diente der Annäherung an die Aufgabe, dem Kennenler- nen der anderen Teilnehmer und bot die Möglichkeit, die Weite der Landschaft, den Geruch des Meeres und die Größe des Himmels vor Ort zu erkunden. Sandburg: Vor Ort wurde eine Stegreifaufgabe zum Gegensatzpaar offen – geschlossen als Sandburg am Strand ausgeführt. Die Lehre aus dem Bauch 80 81 Auswertung: Die fiktiven Geschichten, die die Entwurfsaufgaben begleiten motivierten die Bearbeiter, diese in ihrem eigenen Duktus weiterzuspinnen. Diese spielerische Zugangsweise ließen eine größtmögli- che Freiheit für den Entwurfsansatz sowie eine außerordentlich große Identifizierung mit der Entwurfs- aufgabe. Das der Entwurfsaufgabe zu Grunde liegende Thema, z.B. die Beziehung von Architektur und Landschaft, erforderte eine Positionierung, die aus mangelnder Erfahrung und Kenntnis den Studierenden im zweiten Semester nur schwer möglich war. Es wurden Referate zu einzelnen Themenkomplexen von den Studenten vorbereitet. Sie hörten sich gegeseitig aufmerksamer zu als den Inputs der Lehrenden. Eine Exkursion als Einstieg war eine ideale Form, ein gemeinsames Interesse zu bekunden, sich kennen zu lernen und ein Vertrauensverhältnis herzustellen. Dies galt für die Studenten untereinander sowie für Lernende und Lehrende. Außerdem wurden bei der Erkundung des Ortes erste Ideen freigesetzt und konnte sofort und unmittelbar überprüft werden. Die vorbereitenden Stegreifentwürfe stellten durch ihre Vielfältigkeit eine emotionale und gleichzeitig intel- lektuelle Annäherung an das Entwurfsthema und das jeweilige Umfeld dar. Mit ihrer Hilfe konnten individuelle Entwurfsschwerpunkte festgelegt werden. Diese ersten Stegreifentwürfe als Einzelarbeit anzulegen hat- te den Vorteil für die Studierenden, zuerst eine eigene Auseinandersetzung und Positionierung zu versu- chen, bevor diese zur Diskussionsgrundlage in den Bearbeitungsteams werden konnten. Die folgenden in Arbeitsgruppen zu bearbeitende Stegreifentwürfe setzten den Gruppenfindungsprozess in Gang. Insgesamt ist zusammenzufassen, dass sich die Teilung des Projekts in eine Vorbereitungsphase und in die Bearbeitungszeit des eigentlichen Entwurfs posi- tiv auswirkte, weil sie der natürlichen abflachenden Kurve der Motivation entgegengewirkten. Die Begeisterung am Anfang wurde durch die wechselnden Anforderungen der Referatbearbeitung, der Exkursion und der Stegreifentwürfe gehalten. Die anschließende Phase der intensiven Bearbeitung war nicht mehr so lang. Auch konnte die Furcht vor dem weißen Blatt, vor dem ersten Schritt des Entwurfs genommen werden, indem Angebote zur möglichen Herangehens- weise gemacht wurden. Hierzu gehörte auch die Absteckung des zeitlichen Rahmens mit allen seinen Eckdaten, Zwischenpräsentationen und Abgabefristen, die von der Seite der Lehrenden am Anfang des Studiums streng vorgegeben werden sollten. Wichtig war, dass ein Projekt mit Ende des Semesters auch wirklich abgeschlossen ist, inklusive der Projektdokumentation. Vor dem Hinter- grund der Teamarbeit und der damit verbundenen Abhängigkeiten untereinan- der waren die Studenten letztendlich froh über diese Vorgaben, die sie von Diskussionen über diesen Punkt entlasten. Sie konnten mit einem guten Gefühl in die Semesterferien gehen, die Arbeit der Zusammenstellung der Projektdoku- mentation blieb nicht an wenigen von ihnen hängen. Die Lehre aus dem Bauch 82 83 Die Lehre aus dem Bauch Rückblick der Studierenden Im Rückblick mit den Studierenden werden die Arbeitsergebnisse in Bezug zu den anfänglich formu- lierten Lehrinhalten und Lernzielen gesetzt, um einen Dialog zwischen Lehrendem und Lernenden zu initiieren und um das Lehrkonzept im Zusammenhang von Arbeitsergebnissen und Lernerfolg der Studierenden zu reflektieren. Der individuelle Hintergrund der Lernenden, ihre Vorkenntnisse, Erfahrungen, aber auch ihre Ansprü- che und Lernziele spielen in der Reflexion eine wesentliche Rolle. Im ersten Semester wissen die Studierenden oft noch gar nicht, wohin der Weg geht, welche Fähigkeiten sie besitzen und ausbauen möchten und welche Aufgabenfelder sie reizen. Wie in der Schule hängen die Interessen und Absich- ten am Anfang des Studiums stark mit der Persönlichkeit der Lernenden zusammen. Einen eigenen Weg, der eigenen Person entsprechende Aufgaben und adäquate Bearbeitungsformen zu finden, ist ein Prozess, der selbst mit dem Ende des Studiums nicht abgeschlossen sein wird, aber ein gutes Stück weiter gekommen ist. Drei Studenten aus höheren Semestern wurden zu ihrer Erfahrung und ihrem im Grundstudium erlangten Basiskenntnissen und -fähigkeiten mittels Interview befragt. Die Interviews dienen der Reflexion der dargestellten Lehransätze, der damit verbundenen Vermittlungsmethoden und ange- leiteten Arbeitsschritte. Die befragten Studenten aus höheren Semestern werden als Experten der reflektierenden Betrachtung ihres individuellen Lernprozesses angesehen. Rückblickend können sie ihre anfänglichen und jetzt aktuellen Vorstellungen von Studium und Berufsbild benennen, Aussagen zu dem treffen, was sie gelernt haben, den Abschnitt Grundstudium in ihren Ausbildungsprozess einordnen und eine Vision für das Architekturstudium entwickeln. Darüber hinaus ist zu überprüfen, inwieweit das Lehrkonzept den Bedürfnissen der Studenten entgegenkam, wo Kritik ange- bracht ist und welche Einflüsse das geheime Curriculum (die Persönlichkeit des Lehrenden und seine Beziehung zu den Studierenden) auf den Lernerfolg der Studierenden hat. Die Fragen nach der Bewertung der Chancen und Grenzen des Projektstudiums, nach der Unterstützung und Hilfe für den individuellen Studienweg durch die Lehrenden und nach Wünschen und Empfehlungen für die Ausbildung, werden in die Bilanzierung eingehen. 84 85 Die Interviews sind in ihrer Form an das narrative Interview10 angelehnt. Dieses ist wie das autobiogra- phisch-narrative Interview und die mündliche Befragung eine empirische Forschungsmethode in den Sozialwissenschaften. Die Technik des narrativen Interviews ist maßgeblich von dem Soziologen Fritz Schütze entwickelt worden. Sie besteht darin, den Interviewpartner nicht mit standardisierten Fragen zu konfrontieren, sondern frei zum Erzählen zu animieren. Es gibt, so die Grundthese, subjektive Bedeutungsstrukturen, die sich im freien Erzählen über bestimmte Ereignisse herausschälen, sich aber einem systematischen Abfragen gegenüber eher verschließen würden. Es können auch Informationen gewonnen werden, die bei der Konzeption einer Untersuchung nicht von vornherein bedacht wurden. Das narrative Interview lebt vor allem davon, dass die Interviewerin bei den Befragten eine persönli- che Betroffenheit zu dem jeweiligen Themenkreis auslösen kann. Ziel ist, dass die Befragten ein Bedürf- nis entwickeln, zu den angeschnittenen Fragen Stellung zu nehmen. Ein wesentliches Merkmal des narrativen Interviews ist es, möglichst wenige Fragen zu stellen – vielmehr sollen die Befragten dazu gebracht werden, von sich aus zu erzählen. Der Interviewer hat hier vor allem die Funktion eines Stichwortbringers bzw. durch eingestreute Fragen dafür zu sorgen, dass der Erzählfluss nicht abreißt und die Befragten nicht allzu sehr vom Thema abweichen. Der Form des freien Erzählens kommt hierbei eine besondere Rolle zu. Wiedemann definiert die Erzählung als „natürliches, in der Sozialisation einge- übtes Diskursverfahren, mit denen sich Menschen untereinander der Bedeutung von Geschehnissen ihrer Welt versichern.“11 Durch Erzählungen werden also übergreifende Handlungszusammenhänge und -verkettungen sichtbar und dienen darüber hinaus der Verarbeitung, der Bilanzie- rung und Evaluierung von Erfahrungen. Bei den narrativen Interviews handelt es sich um offene Interviews, bei denen es keine Antwortvorgaben gibt und bei denen die Befragten ihre Ansichten und Erfahrungen möglichst frei artikulieren sollen. Ausgangspunkt ist daher ein entsprechender erzählungsgenerierender Sti- mulus, der eine Stegreiferzählung der oder des Befragten hervorruft; es soll jedenfalls im Rahmen dieser ersten Erzählung eher vermieden werden, dass die/ der Befragte das Erzählte z.B. begründet, aus einer theoretischen Perspektive kommentiert oder umfassend bewertet. Im einzelnen verläuft das narrative In- terview im Regelfall folgendermaßen: Am Anfang steht die Erzählaufforderung, die den Befragten zur Haupterzählung veranlasst. Während dieser Haupterzählung soll der Befragte durch keinerlei (Nach-)Fragen unterbrochen oder gelenkt wer- den. Die Erzählung wird vielmehr durch drei Erzählzwänge gesteuert12: - den Gestaltschließungszwang angefangene Themen oder Erzählstränge auch in irgendeiner Art und Weise abzuschließen - den Kondensierungszwang, die Erzählung soweit zu verdichten, dass sie an- gesichts begrenzter Zeit für die/den Zuhörer nachvollziehbar bleibt - der Detaillierungszwang, Hintergrund- oder Zusatzinformationen einzubrin- gen, die für das Verständnis der Erzählung erforderlich sind. Die Lehre aus dem Bauch Theoretischer Hintergrund und Begründung der Methode Interview 86 87 Zusammengenommen sollen diese Zwänge dafür sorgen, dass einerseits die wichtigsten Ereignisse berichtet werden, andererseits das Interview für die Beteiligten – Befragte wie Befragende – hand- habbar bleibt. Die Haupterzählung wird meist abgeschlossen durch eine Erzählkoda, also eine Äuße- rung, die das Ende der Erzählung signalisiert, wie z.B.: „Ja, das wär’s eigentlich“. Hierauf folgt eine Nachfragephase durch den Interviewer. Es lassen sich zwei Formen von Nachfragen unterscheiden: Immanente Nachfragen, also solche, die sich direkt auf das vorher Erzählte beziehen (z.B. auf Unklar- heiten, auf Dinge, die nur angedeutet, aber nicht ausgeführt wurden, z.B.: „Wie war das genau?“), und exmanente Nachfragen, die sich auf Sachverhalte oder Probleme beziehen, die von den Befragten überhaupt nicht angesprochen wurden, die aber der Interviewerin aus bestimmten Gründen, z.B. wegen Fragestellungen, die im Forschungsprojekt geklärt werden sollen, wichtig erscheinen. Auch in dieser Nachfragephase soll der Befragte möglichst zu Erzählungen animiert werden. Am Ende steht die Bilanzierungsphase, in der das bisher Erzählte abschließend zusammengefasst und bewertet wird. An dieser Stelle können nun auch Bewertungen des Geschehens und Erklärungen desselben seitens der Befragten erfolgen, z.B. warum eine Äußerung so getroffen wurde. Die Interviewpartner fanden sich im Umfeld der Universität des Interviewers, wobei keine engen oder freundschaftlichen Beziehungen bestanden, was sich für einen unbefangenen Erzählfluss eventuell störend ausgewirkt hätte. Die Interviews sind im Sinne eines qualitativen Forschungsansatzes als Einzelfall- studien konzipiert, Fragen der Repräsentativität spielten hier keine Rolle. Um eine Variation der Perspektiven zu erreichen, wurde darauf geachtet, dass die Interviewpartner, die alle Teile des Grundstudiums in den Projektgruppen der Interviewerin absolviert hatten, auch in anderen Projektgruppen involviert waren, unterschiedlichen Semestern angehörten, und dass sowohl Männer als auch Frauen befragt wurden, um aus möglichst unterschiedlichen Sichtweisen allgemeingültige Aussagen herauszufiltern. Den ausgewählten Personen wurde die Fähigkeit zur Reflexion, zum Überdenken eigener Handlungsmotive, zur Formulierung von Alltagstheorien und ein gewisser Grad an Selbstinterpretation zugeschrieben. Sie waren in den jeweiligen Projekt- gruppen als außerordentlich aufmerksame, kritische und kritikfähige Beobachter aufgefallen, mit denen schon zur Zeit der durchgeführten Projekte und auch später Gespräche über Inhalte und Vermittlungsmethoden geführt wurden. Die Lehre aus dem Bauch Vorbereitung, geplanter Ablauf und dreistufige Auswertung der Interviews 88 89 Die Interviewpartner wussten durch die Anfrage vom Hintergrund des Interviews, dem Rahmen der Arbeit und ungefähr welche Themen von Interesse sind. Die Interviews wurden mit einem Tonbandgerät aufge- zeichnet und anschließend vollständig transkribiert. Sie sind im Anhang vollständig wiedergegeben. Das Ablaufmodell des narrativen Interviews gliedert sich in vier Phasen (A.1 - A.4), die in der vorliegenden Variante aber nicht deutlich getrennt, sondern nahtlos in den Gesprächsverlauf eingebunden sind. Es wurden im Vorfeld ein Fragen- bzw. Themenkatalog erstellt, der aber keinesfalls standardmäßig in der genannten Reihenfolge durchgegangen wurde. In der ersten Phase, der biographischen Anfangserzählung, sollte sich dem Befragten ein möglichst breiter Erzählraum eröffnen. Er wurde dazu bewegt, den in Frage stehenden Gegenstandsbereich als eine zusammenhängende Geschichte zu erzählen. Dies geschah durch eine erzählgenerative Anfangs- frage, die wie folgt in allen Interviews lautete: A.1: Studienbeginn, Berufsbild, Vorstellung über und tatsächlich vorgefundenes Architektur- studium „Ich möchte Dich bitten zu erzählen, wie Du dazu gekommen bist, Architektur (bzw. Landschafts- architektur) zu studieren, wie Dein damals angestrebtes Berufsbild und in diesem Zusammenhang die Vorstellung über das Studium aussahen und was Du dann tatsächlich vorgefunden und erlebt hast.“ Die Befragten sollten darauf möglichst ungestört die Geschichte eines selbster- lebten Ereigniszusammenhanges ohne thematische oder inhaltliche Einschrän- kungen erzählen. Der Interviewer übernahm während dieser Erzählung die Rolle des Zuhörers, unterbrach möglichst nicht und gab vor allem keine Werturteile ab. Die Aufgabe der Interviewerin bestand darin, sich in die Geschichte hinein- zuhören, die Perspektive des Erzählers zu verstehen und dieses Verstehen auch durch Zeichen zu signalisieren („hm“), so dass sich der Erzähler angenommen fühlte13. Diese Erzählung bildet die Hauptphase des Interviews. Untersuchun- gen aus der Linguistik zufolge besitzen Erzählungen in der Alltagskonversation einen immer ähnlichen Aufbau14 , den der Interviewer gegebenenfalls auch aktiv unterstützen soll. Die Erzählungen beginnen mit der Schilderung einer Aus- gangssituation, mit der alles anfing, werden dann als zusammenhängender Fort- gang, wie sich die Dinge entwickelten, dargestellt und enden schließlich in der Darstellung dessen, was daraus geworden ist. In der Nachfragephase wurden anhand der Notizen der Interviewerin Fragen entlang des roten Fadens der Erzählung gestellt. In den vorliegenden Interviews wurden solche Fragen be- reits in den Fluss der Haupterzählung eingeflochten, entweder um eine Wieder- aufnahme der ins Stocken geratenen Erzählung zu initiieren oder um detaillierte Beschreibungen von Situationen, Zuständen oder typischen Verfahrensweisen Die Lehre aus dem Bauch 90 91 zu erhalten. Den Interviews lag zwar kein konkreter Fragenkatalog oder Leitfaden zugrunde, aber eine Themenliste, vor deren Hintergrund die Erzählung beobachtet wurde. Ergab sich die Möglichkeit, eines dieser Themen zu unterstützen, wurde sie wahrgenommen – ein gegebener Erzählfluss sollte dabei aber nicht unterbrochen werden. Es wurde darauf geachtet, die vom Erzähler benutzten Begriffe wieder aufzunehmen, um in dessen Relevanzsystem zu verbleiben. A.2: Rückblick: Lerninhalte, Lernfelder, Quellen der Unterstützung für eigene Vorhaben „Kannst Du rückblickend sagen, was hast Du gelernt hast? Was hast Du im ersten Jahr/Grundstudi- um gelernt/mitgenommen? Worin siehst Du Quellen der Unterstützung und oder Hilfe für Deine Vorhaben?“ Die erst in der Bilanzierungsphase zu stellenden, klärenden Fragen ließen sich in den vorliegenden Interviews nicht eindeutig abgrenzen. A.3: Rückblick Bewertung des Projektstudium „Wie bewertest Du rückblickend das Projektstudium?“ Erscheint die Haupterzählung als abgeschlossen, wurde versucht, einen erneuten Erzählstimulus zu setzen, um eines der oben genannten Themen aufzugreifen, falls dieses bis dahin nicht behandelt worden ist. So wie es eine Eingangsfrage gab, gab es schließlich eine Frage, die das Ende markieren sollte. Der zeitliche Bogen der Haupterzählung von der Ver- gangenheit zur Gegenwart wird mit einem Ausblick in die Zukunft verlängert. A.4: Ausblick: eigener zukünftiger Werdegang und Wünsche / Empfeh- lungen für die Ausbildung „Wie geht das Studium weiter? Was sind deine Wünsche und Phantasien bezüg- lich der Ausbildung allgemein und für Dich? Wie sieht Dein Berufsbild heute aus? Was sind Deine Wünsche und Empfehlungen in Bezug auf das Studium der Architektur, bzw. Landschaftsarchitektur?“ Diese Frage zielt darauf, visionäre Vorstellungen in Hinsicht auf das Architektur- studium anzuregen und ein persönliches Resümee zu initiieren. Zum Schluss bedankte sich die Interviewerin bei der erzählenden Person für ihre Offenheit und die Bereitschaft, zum Interview zur Verfügung gestanden zu haben. Die Transkriptionsregeln sind zahlreich. Sie reichen von der wörtlichen Tran- skription bis zur kommentierten Transkription, legen bestimmte Abkürzungen fest und erfassen alle „äh“ und „hm“. Je mehr Regeln befolgt werden, umso Die Lehre aus dem Bauch 92 93 schwerer ist es allerdings, den Interviewtext zu lesen. Da aber mit dieser Arbeit keine linguistische Studie betrieben, sondern die vorangegangenen Semester reflektiert werden sollen, sind Passagen der Interviews als Fließtext wiedergegeben. Die Auswertung der Texte stützt sich auf Kernsatzaussagen, in Bezug auf das konkrete Lernen am Gegenstand bzw. am Projekt und wie Lerninhalte und Vermittlungs- methoden von studentischer Seite aus bewertet werden. Die vollständigen Interviews befinden sich im Anhang. In einem mehrstufigen Verfahren15 wurden beim ersten Durchlesen der voll transkribierten Interviews alle Textstellen markiert, die Antworten auf die entsprechenden Fragen des Leitfadens darstellen. Hier wurden vor allem objektive Fakten und eventuell auch besonders ausgeprägte Verarbeitungsformen/ -strategien herausgearbeitet. Dieser Arbeitsschritt ist in die vier o. g. Fragefelder unterteilt und enthält Interviewausschnitte. Beim zweiten Durchlesen wurde der Text in ein im Vorfeld erstelltes Kategorien- schema eingeordnet, wobei dieses zugleich erweitert wurde, um sowohl objektive als auch subjektive Dimensionen zu erfassen. Das Interview wurde also zerlegt und Einzelinformationen extrahiert. Die inhaltliche und interpretative Auswertung enthält Interviewausschnitte und stellt schließlich den Prozess der Verarbeitung dar. Zwischen den Einzelinformationen wurde wieder eine Logik hergestellt, besonders prägnante Passagen sollten identifiziert werden. Bedeutungsgleiche ebenso wie sich wi- dersprechende Informationen werden untereinander abgewogen. Die Lehre aus dem Bauch Interview mit Student K. K. ist der Interviewerin als Student der Architektur aus dem Grundstudium, einigen Seminaren und vielen Gesprächen anlässlich von Ausstellungen oder anderen Veranstaltungen bekannt. K. hat ein Jahr in den USA studiert und dort seinen Master absolviert. Zur Zeit des Interviews arbeitete er als Kollege mit einem Lehrauftrag am Fachbereich Architektur. Zum Gesprächsverlauf: Das Interview fand in einem Arbeitsraum im Hauptge- bäude der Architekturfakultät in der Henschelstraße statt. Nachdem wir einige hier nicht relevante Neuigkeiten ausgetauscht hatten, began das Interview, indem ich auf dessen Anfang verwies, die ersten Fragen stellte und das Ton- bandgerät einschalte. Die Stimmung während des Interviews war entspannt. Die Initiative beim Erzählen ging von dem Befragten aus. Ohne die einzelnen vorbereiteten Interviewteile konkret abzuschließen, wurden weiteren Fragen in die Erzählung eingeflochten, wenn diese ins Stocken geriet. 94 95 Die Lehre aus dem Bauch A.1: Studienbeginn, Berufsbild, Vorstellung über und tatsächlich vorgefundenes Architektur- studium Schon während der Schulzeit hatte der Erzähler den Wunsch, Architektur zu studieren. Er wollte den Weg beschleunigen und machte nach der 10. Klasse eine Ausbildung als Bauzeichner. Er sagte, hier habe er „[...] eher das Bauen gelernt, als die Architektur.“ Nach der Ausbildung holte K. das Abitur nach und begann sein Studium in Kassel. „[...] jetzt geht’s los und jetzt wird hier Architektur gemacht.“ Sein anfängliches Bild vom Studium war geprägt von einer Zweiteilung, den klassischen Architektur- fächern und seinem Kerninteresse, „[...] wie lerne ich Entwerfen, [...] wie funktioniert dieser Prozess, dieser nebulöse Prozess, den jeder abhandelt aber den niemand beschreibt oder benennt.“ Er stellte fest, dass er es eigentlich bis heute nicht wirklich gelernt habe, dass dieses Thema lediglich in Ent- wurfsprojekten angesprochen wurde. Die Frage nach dem eigentlichen Entwurfsprozess und der kreativen Arbeit in diesem Zusammenhang verknüpfte er mit seinem Bild vom Architekten als „Kulturschaffenden“ und mit seinem Bild von Architek- tur: „Innerhalb derer (Architektur ist einfach auch eine Wissenschaft) muss ich mich ja bewegen, wenn ich hinterher zu einer Architektur kommen möchte und nicht nur diese baulichen Schachteln handwerklich entwickeln, sondern eine gewisse Kultur, die sich in der Architektur spiegeln soll.“ A.2: Rückblick: Lerninhalte, Lernfelder, Quellen der Unterstützung für eigene Vorhaben Rückblickend bewertete K. die kleinen Projekte im Grundstudium positiv. “[...] wir lockern uns von all dem was wir alles als Ballast mit in das Studium rein- nehmen, von allen Voreingenommenheiten die wir haben, dass man sich diese erst einmal abschüttelt und dann sozusagen ganz locker und frei ans Entwer- fen herangeht. Das finde ich einen sehr guten Ansatz, viel besser als anders herum zu sagen, ich entwerfe gleich Häuser mit all den Kenntnissen, die ich dafür brauche, aber den Faktor nicht habe. Ich denke, über diese Stegreif- entwürfe, die wir ja z.B. auch gemacht haben, ist es, denke ich einmal, ein guter Ansatz, weil man kreativ arbeiten kann und kreativ arbeiten lernt [...].“ Quellen für die Unterstützung im Entwurfsprozess benannte K. nicht. In einer negativen Formulierung könnte man allerdings einen Wunsch in Bezug auf diese Frage ablesen. „[...] wie entwerfen beispielsweise unsere Professoren, der eine entwirft anders als der andere und jeder hat verschiedene Ansatzpunkte, die ich nicht verwissenschaftlichen würde, aber einfach mal benennen würde, dann denke ich, dann wird für die Studenten einfach mal transparent, wie funktioniert dieser Prozess des Entwerfens.“ 96 97 Einen Missstand sah K. eher in der Vermittlung und dem Angebot der „Architekturfächer“, die für ihn den Unterbau darstellen. „[...] denn irgendwo her müssen ja diese Fähigkeiten kommen, die ich hinterher in meinen Entwurf einbinden lasse und wenn die nicht da sind, denke ich, ist irgendwo ein Misstand da und endet doch mehr oder weniger in der Beliebigkeit.“ A.3: Rückblick Bewertung des Projektstudium K. sah im Projektstudium selbst ein Problem der Ausbildung. “[...] einfach weil das Entwurfsprojekt, reden wir mal vom 2-semestrigen Projekt, einen gigantischen Stellenwert einnimmt und um dieses Projekt gesellen sich dann diese Architekturfächer, die dann irgendwann in dieses Projekt einfließen sollen und ich finde, das Projekt hat einfach einen viel zu hohen Stellenwert im Gesamtfachkanon [...]. Wenn man sich überlegt wie viele Entwürfe macht man im Laufe des Studiums, wenn man das einmal zusammenzählt sind das sehr, sehr wenige und wenn man vier, fünf Jahre studiert und man hat zehn verschiedene Sachen entworfen, finde ich das deutlich zu wenig.“ A.4: Ausblick: eigener zukünftiger Werdegang und Wünsche / Empfehlungen für die Ausbil- dung Der ausgedehnteste Interviewteil ist der, dem die Frage nach den Wünschen und Empfehlungen für die Architektenausbildung voranstand. K. ging auf diesen Teil am stärksten ein, er kommt an verschiedenen Punkten immer wieder zu diesem Thema. Er formulier- te hierbei allgemeine Ausbildungsinhalte und -ziele und darüber hinaus spezielle für Kassel. K. knüpft seine eigenen Erfahrungen und Bedürfnisse sehr stark an die ge- wünschte Ausbildungssituation. „Ich habe mich im Laufe des Studiums immer mehr von der Praxis abgewandt, weil ich einfach versucht habe für mich die Frage zu klären, wie komme ich dieser kreativen Arbeit näher, wie komme ich dieser Architektur näher, denn diese ganzen Fertigkeiten konnte ich alle schon und die habe ich hauptsächlich damals gelernt, bevor ich hier angefangen habe und glaube von denen zehre ich heute noch und ich habe also versucht für mich zu klären, wie komme ich zu dem, alle dem, was hinter der Architektur steht, also hinter diesem Entwurf, wie komme ich gedanklich, wie komme ich zu diesem Prozess, über den Kopf in die Hand in die Zeichnungen und dann in die Architektur, dass war für mich immer der entscheidende Prozess, über den ich eigentlich heute auch noch nachdenke und ich bin von der Praxis immer weiter angekommen und bin so auch zur Theorie gekommen und ich denke es ist auch ein wertvoller Prozess sich zu fragen, was mache ich denn überhaupt, Die Lehre aus dem Bauch 98 99 bevor ich zum Entwurf komme. [...] Entwurf ist für mich eine Transferleistung, von einer Idee die ich habe, der diesen Prozess dann ausbildet in diese bauliche Lösung also immer dieses Wechselspiel von Idee und abstrakten Bild zu einer architektonischen oder baulichen Lösung [...].“ K. formulierte, dass es die Entwurfslehre stärker an den Prozess des Entwerfens selbst geknüpft sehen möchte, als an die Ergebnisse. „Also ich denke, wir sollten auf jeden Fall einmal probieren zu irgendei- ner Art von Entwurfslehre zu kommen, also nicht nur im Projekt zu sagen, wir entwerfen jetzt, es gibt eine Aufgabe und alle rennen nach Hause oder in den Projektraum und versuchen zu entwerfen, sie versuchen irgendetwas zu machen, also einen Prozess zu beschleunigen, den man gar nicht kennt und den man bis dato auch noch nicht beherrscht hat und ich denke, da müssen wir versuchen eine Art von Entwurfslehre, vielleicht sogar in didaktischer Form wirklich zu lehren. [...] Einfach nur, dass man versucht, diese Fähigkeit zu Entwerfen auch zu einem gewissen Teil zu einer Fertigkeit zu machen, auch als handwerkliches Instrument versuchen zu schulen [...].“ Der erwähnte und gewünschte Fächerkanon wurde im letzten Abschnitt präzisiert. „Für mich sind klassische Architekturfächer die wir haben, seien sie in technischer Natur, Bauphysik, TGA usw. aber auch sagen wir mal theoretische Fächer wie die Theorie, wie die Geschichte oder auch Sachen, die dazwischen liegen, Seminare die angeboten werden, die vielleicht gar nicht diesen klassischen Fächerkanon benennen, sondern sich einfach auch ein bisschen von der Architektur entfernen und nicht immer nur über Architektur reden, sondern vielleicht über Kultur [...] es gibt ja auch Seminare Musik und Architektur [...] mit Metaphern arbeiten wir ja nun gerade beim Entwerfen sehr sehr gerne und die sind auch sicherlich wertvoll, wenn wir über das Entwerfen reden und über solche Prozesse kann ich sicherlich das Entwerfen einfach bereichern, einfach viel breiter streuen [...] Um das Entwerfen zu schulen muss man immer wieder, immer wieder ansetzen, neue Aufgaben formulieren, völlig konträre Aufgaben bearbeiten, um die Kreativität zu schulen, um wirklich schnell kreativ arbeiten zu können, sich wirklich abzukapseln in eine andere Welt, entwerfen zu können und das dann in wieder in den Kontext einbringen zu können. Ich denke, gerade durch diese kurzen Aufgaben muss viel mehr gefördert werden.“ Zur eigenen Fortsetzung des Studiums hatte K. während des Interviews nichts gesagt, wohl aber im Vorfeld. Sein Grund, in den USA zu studieren, war der benannte Mangel an theoretischer Auseinandersetzung um den Entwurfprozess. Er hatte in den USA seinen Master gemacht. Für sich sah K. die Zukunft an der Universität, er möchte promovieren. Die Lehre aus dem Bauch 100 101 Kategorien für die Auswertung Bild von Architekt und Architektur Anfang des Studiums / der Entwurfslehre Projektsstudium Quellen der Unterstützung/Hilfe Empfehlungen für die Ausbildung Individuelles Hauptanliegen im Studium negativ Architektur als handwerklich entwickelte bauliche Schachteln zu wenig Unterfütterung von anderer Seite (klassische Architekturfächer) zu wenig Auseinandersetzung über Entwurfsprozess, Anfänge des Entwerfens / Wechselspiel von Idee und abstraktem Bild zu einer architekto- nischen oder baulichen Lösung keine Entwicklung von Kontrollinstrument über Entwurfsprozess, Fähigkeit des Entwerfens zu Fertigkeit machen zu wenig Input in Bezug auf Fächerkanon, Wissen keine Angaben keine 2-semestrigen Entwurfsprojekte hohen Stellenwert der großen Entwurfsprojekte reduzieren 10 verschiedene Entwürfe während des Studiums sind zu wenig positiv Architekt als Kulturschaffender lockern von mitgebrachtem Ballast und Voreingenommenheiten frei an das Entwerfen herangehen Stegreifentwürfe kreativ arbeiten lernen Professor könnte durch benennen des eigenen Prozes- ses als Vorbild im Entwurfsprozess fungieren keine Angaben Förderung von kurzen Entwurfsaufgaben /-projekten konträre, immer wieder neue Aufgaben ausgeben, die Zugang zu anderer Welt eröffnen und ein Abkapseln ermöglichen Fähigkeit des Entwerfens zu Fertigkeit machen, Instrumente dafür entwickeln Fächerkanon erweitern: Theorie, Kultur, neue Fächer wie z.B. Architektur und Musik Begreifen des Entwurfsprozesses / Fertigkeit in Form von Entwurfsinstrumenten entwickeln 102 103 Auswertung des Interviews Ausgehend von dem Bild des Architekten als Kulturschaffendem, formuliert K. sein Bedürfnis nach Auseinandersetzung über den Entwurfsprozess selbst und knüpft es sehr stark an die gewünschten Ausbildungsinhalte. K. bringt in das Studium einen großen Erfahrungshorizont mit, bedingt durch seine Ausbildung und Berufserfahrung. Trotzdem gibt er zu bedenken, dass die, von ihm so formulierten, klassischen Architekturfächer, wie Bauphysik, Tragwerkslehre, Architekturtheorie und Architektur- geschichte zu kurz kämen. Er fände eine Erweiterung des Fächerkanons um ein allgemeinbildendes kulturelles Fach, um Angebote wie Architektur und Musik und vor allem um die Theorie des Entwerfens sinnvoll. Hier sollte eine Auseinandersetzung über den Entwurfsprozess, vor allem über die Anfänge des Entwerfens, stattfinden und im Wechselspiel von Idee und abstraktem Bild zu einer architektoni- schen oder baulichen Lösung die Fähigkeit des Entwerfens zu einer Fertigkeit gemacht werden. K. wünscht sich während des Studiums die Entwicklung von einsetzbaren Entwurfsinstrumenten. Offen bleibt allerdings, wo und wie genau er sich diese Auseinandersetzung und Entwicklung vorstellt. Lediglich in den positiv bewerteten Anfängen des Studiums, den kleinen Entwurfsaufgaben, dem Freimachen von Voreingenommenheiten und mitgebrachtem Ballast und in der Förderung des kreati- ven Arbeitens kann man eine auf die Struktur bezogene Antwort finden. Eine inhaltliche Antwort wird angedeutet, indem er vorschlägt, dass die Professoren ihren eigenen Entwurfsansatz benennen und für andere nachvollziehbar nach außen transportieren. Die Lehre aus dem Bauch M. war der Interviewerin als Student der Landschaftsplanung aus dem Grund- studium, dem ersten Entwurfsprojekt, einigen Seminaren, als Tutor für die Grundstudiumsbetreuung und aus vielen Gesprächen anlässlich von Ausstel- lungen oder anderen Veranstaltungen bekannt. Außerdem gab es gemeinsame Erfahrungen in Bezug auf mehrere Exkursionen in unterschiedlichen Zusam- menhängen und die Bearbeitung eines Wettbewerbs. M. war zur Zeit des Interviews im siebten Semester und gerade mitten im Diplom, das die Inter- viewerin betreute. Zum Gesprächsverlauf: Das Interview fand in einem studentischen Arbeits- raum in einem Nebengebäude der Architekturfakultät in der Mombachstraße statt. Im Arbeitsraum war niemand anders zugegen, weil der Termin in der Mittagszeit lag. Nach einer informellen Phase am Anfang startete das Inter- view, indem auf dessen Anfang verwiesen wurde, die ersten Fragen gestellt und das Tonbandgerät eingeschaltet wurde. Die Stimmung während des Inter- views war entspannt. Da M. über den Inhalt des Forschungsprojekts informiert war, wurden die Fragen nur kurz am Anfang genannt, die weitere Initiative beim Erzählen ging von dem Befragten aus. Interview mit Student M. 104 105 Die Lehre aus dem Bauch A.1: Studienbeginn, Berufsbild, Vorstellung über und tatsächlich vorgefundenes Architektur- studium Durch die Umweltarbeit während des Zivildienstes beim BUND entstand für M. die Idee, Umwelt- technologie zu studieren oder Umweltprodukte zu gestalten. Die Aufnahmekriterien bewegten M. dazu, vorerst eine Ausbildung im Garten- und Landschaftsbau zu machen. Nach der Lehrzeit dauerte es einige Zeit, bis er sich um einen Studienplatz bewarb. Die Entscheidung, nach Kassel zu gehen, wurde mit der Begründung des interdisziplinären Studiums und dem in Deutschland zentral liegenden Studien- ort gefällt. Die anfänglichen Erwartungen waren stark von seiner Geschichte geprägt. Ökologischer Landschaftsbau und Pflanzenökologie standen neben Regionalentwicklung im Vordergrund seines Inter- esses. Im Zusammenhang mit der obligatorischen Erstsemesterexkursion hatte Moritz am Thema Plattenbau gearbeitet. „Irgendwie was ich nie erwartet hätte, dass ich das bearbeiten würde, das fand ich auch das eigentlich Spannende, das war ASL! Modelle zusammen zu tragen, sich mit Architekten zusam- menzutun, halt diese Zusammenarbeit. Das fand ich auch recht ganz schön, es war recht analytisch und irgendwie hatte ich auch Lust zum Gestalten, aber das kam dann später.“ A.2: Rückblick: Lerninhalte, Lernfelder, Quellen der Unterstützung für eigene Vorhaben Wegen dem Mangel an Professoren im Studienbereich Landschaftsarchitektur und der Enttäuschung über Mitstudierende seines Studienbereichs, die aus Ms. Sicht wenig Interesse und Engagement in gemeinsamen Entwurfsprojekten an den Tag legten, wende- te er sich mehr den Architekten zu. Bis auf zwei Professoren bzw. Mitarbeiter „[...] ist da einfach kein richtig guter Professor, der es wirklich schafft, einen zu motivieren, also keiner der irgendwie einladend wirkt.“ Im Studienbereich Architektur war M. dann sehr zufrieden. „[...] also mit dem ersten Projekt, und da habe ich glaube ich dann viel mitgekriegt, also die Grundlagen des Entwerfens sozusagen würde ich sagen, das habe ich haupt- sächlich bei den Architekten gelernt, plus die Grundlagen, was die Landschafts- architektur angingen.“ Entwurfswerkzeuge wie Zeichnen und Modellbau wurden von Betreuern ange- regt, teilweise hatte er es sich einfach bei höheren Semestern abgeguckt. „[...] allein diese Zeichenarbeit, habe ich gemerkt, das bringt total viel, dass man sich wirklich hinsetzt und nicht denkt, sondern die Gedanken aufs Papier bringt [...].“ M. benannte mehrere Unterstützungsquellen und Hilfe bei der Verfolgung seiner Vorhaben. Das Wichtigste sei, neben dem Lesen von Fachzeitschriften, sich im 106 107 Die Lehre aus dem Bauch Fachbereich umzugucken, Veröffentlichungen und Ausstellungen von Projekten anderer Studenten anzuschauen. „[...] dass man in den ersten Semestern irgendwie Ziele steckt, die steckt man nicht wo anders hin, sondern immer höher, das kommt wahrscheinlich durch Vergleich zu anderen Studen- ten oder dass man aufmerksam durch die Uni geht. Wichtig ist die Diplomausstellung, dass man einfach sieht, was überhaupt machbar ist in der Zeit.“ Er bewertete die Aufforderung seiner Grundstudiumsbetreuer, sich schon im ersten Semester Korrektu- ren von anderen Lehrstühlen oder älteren Semestern zu holen, sehr positiv. Die Form der Gastkritik ist eine weitere Möglichkeit andere Kritiker kennen zu lernen und „[...] Hemmschwellen zu überwinden. [...] er wird dir auch sagen, was du machen kannst und wer einen Blick darauf werfen kann, und jeder hilft dir weiter! Es bringt dir auch wieder ein Stück Motivation sozusagen und dann geht es einfach auch nicht, dass man irgendwo stehen bleibt, sobald man irgendwann das Gespräch hat und auch mit Studenten, da ist man dann nicht unbedingt einen Schritt weiter, aber man kommt weiter und ich denke, dieses Vorantreiben das hängt hauptsächlich davon ab, wie man arbeitet und ob man diese Möglichkeiten gelernt hat oder nicht. [...] Man muss es wahrscheinlich einmal vorführen.“ Wie schon oben erwähnt, hat M. die schwache Besetzung mit Professuren in seinem Studienbereich bemängelt, die zu einem geringen Angebot an Seminaren geführt hatte. „[...] das räumliche Denken und solche Geschichten, das gab es einfach nicht. Es gab keine Seminare, die so etwas behandelt haben.“ Auch der Sprung von der Entwurfsidee auf die Realisierungsebene sei nicht adäquat betreut worden. „[...] halt nur alles auf so einer spinnerten Ebene, sag ich mal in Anführungsstrichen, zu belassen, ist für mich schade eigentlich. Und es gibt gar keinen, der irgendwie was mit ausführungsplanerischem Bau- en...“ angeboten habe. „Aber das fand ich gut, dass das Studium diesen Schwer- punkt hat, den Entwurfsschwerpunkt sozusagen und auch erst einmal losge- löst von der Realisierung und Machbarkeit, wobei dann aber der nächste Schritt fehlt, was aber denke ich viel mit der personellen Besetzung zu tun hatte.“ A.3: Rückblick: Bewertung des Projektstudium M. bewertete das Projektstudium rückblickend sehr positiv. „[...] also mit dem ersten Projekt, und da habe ich viel mitgekriegt [...] das Entscheidende was ich gelernt habe ist wirklich, dass ich mich selber vorantreibe, also die eigene Motivation zu entwickeln und wirklich durchzuziehen, also etwas zu wollen und das auch bis zum Ende zu verfolgen und das, glaube ich, dass ist auch ein entscheidender Pluspunkt für das Projektstudium.“ 108 109 Die Lehre aus dem Bauch Einen Vorteil sah M. auch im individuellen Zeitmanagement. „[...] immer vorantreiben und loszulassen und wieder ein Stück zurück gehen und das wirklich auch verfolgen bis man in jeder Ecke gekehrt hat und es umzusetzen. [...] Da hatte man teilweise schon mal Zeit, etwas Tiefe reinzubringen.“ „Ansonsten muss ich sagen, hatte man total viel Freiheiten, das habe ich sehr genossen. Ich konnte also machen, was ich wollte, mir selber Sachen suchen, die mich interessiert haben und meine Zeit investieren konnte, wo ich sie für mich sinnvoll einsetzen konnte. Da muss man erst mal rausfinden, was einem Sinnvolles einfällt. Da muss man zusehen, dass man seinen Weg geht und das wird vielen schwer fallen. Mir ist das nicht allzu schwer gefallen. Aber das ist eben eine Möglichkeit, die einem die Universität gibt, dafür war ich sehr dankbar!“ A.4: Ausblick: eigener zukünftiger Werdegang und Wünsche / Empfehlungen für die Aus- bildung Die Empfehlungen von M. für die Ausbildungsstruktur, aber vor allem für das Herangehen der Studieren- den an ihr Studium waren den positiven Äußerungen über seinen eigenen Studienweg zu entnehmen. Darüber hinaus sind die folgenden Zitate zu einem breit gefächertem Rundumblick am Anfang und einer Spezialisierung bis hin zur Ausführungsplanung wie folgt zusammengefasst. „Diese Motivation muss wahrscheinlich am Anfang geführt werden, gerade im Grundstudium, um die Anregungen zu kriegen, viel zu sehen, denke ich, also das fand ich teilweise schlecht sozusagen im Grundstudium, dass die Seminare im Grundstudium sehr speziell waren. Also das fehlte, also ich hatte die Erwartung, dass man überhaupt erst einmal weiß, was alles ist oder was alles dazugehört. [...] also war es trotzdem gut im Grundstu- dium einen Rundumblick zu kriegen und das muss vielleicht auch ein Stück weit in den Projekten mit drin sein. Wir haben Häuser nachgebaut und da haben die alle Referate gehalten. Das musst du mal mitgemacht haben, damit du weißt, was es alles gibt. Es geht nicht darum einen Architekten von vorn bis hinten auswendig zu kennen, sondern zu sagen, das interessiert mich mehr oder auch nicht, dann kann man das sehr gut selbst vertiefen. ... Und deswegen denke ich, ist es gerade wichtig, wenn man ein zusammenhängendes Studium hat, dass man früh ziemlich weit gefächerten Einblick sozusagen kriegt, um relativ früh zu erkennen, was einen interessiert und was nicht, ohne sich total festzulegen. Also nicht so durch Seminare in eine Richtung gedrängt wird.“ Auch die freie Wahl von Projekt- und Studienarbeitsthemen wollte M. den Studierenden lassen. „Für Studienarbeiten ist das eine wunderbare Geschichte, dass man sich das selbst suchen muss. Man kann sich hiermit beschäftigen, [...] und sich noch einmal zu vertiefen in die Sachen, die interessieren und einfach noch einmal die Zeit zu nehmen, die man später nicht mehr hat.“ 110 111 Kategorien für die Auswertung Bild von Landschaftsarchitektur Anfang des Studiums / der Entwurfslehre Projektstudium Quellen der Unterstützung/Hilfe Empfehlungen für die Ausbildung Individuelles Hauptanliegen im Studium negativ keine Angabe zu wenig Rundumblick / zu spezialisierte Seminare kein motivierender, einladender Professor personelle Besetzung im eigenen Studienbereich Gruppenarbeit erwies sich teilweise als Bremse keine Angabe keine zu spezialisierten Seminare keine Festlegung einer Fachrichtung am Anfang positiv Zusammenarbeit mit anderen Fachdisziplinen Grundlagen des Entwerfens und der Landschaftsarchitektur Entwurfswerkzeuge wie Zeichnen und Modellbau Hemmschwellen überwinden Zeit für Dinge haben, die man später nicht mehr hat eigenen Weg gehen / selbst was rausfinden verändert Dich / sich selbst vorantreiben / eigene Motivation entwickeln / etwas durchziehen / viele Freiheiten Zeit dafür haben, in die Tiefe gehen zu können, an den Punkten, die einen interessieren eigenes Zeitmanagement Zusammenarbeit mit anderen Fachdisziplinen Gastkritiker andere Lehrstühle und höhere Semester als Gesprächs- partner, Kritiker und Motivationshilfen Fachzeitschriften gute personelle Besetzung Rundumblick und Motivation am Anfang / umfassende Projekte von der Entwurfsidee zur Realisierungsplanung Projektstudium Offenheit und Freiheit des Studiums interdisziplinäres Studieren und Arbeiten an Projekten eigenen Weg finden (s.o.) 112 113 Die Lehre aus dem Bauch Auswertung des Interviews M. war zum Glück in der Lage, aus der Not, der personellen Unterbesetzung in seinem Studienbereich der Landschaftsplanung, eine Tugend zu machen. Er nahm die Anregung seiner Grundstudiumsbetreuer an, suchte Gespräche und holte sich Kritik auch von anderen Lehrstühlen und bei höheren Semestern. Darüber hinaus war er ein oft gesehener Besucher von Ausstellungen und Vorträgen am Fachbereich sowie von vielen CAD Kursen. Er hat das Angebot, das vorhanden ist, ausgeschöpft und seinen Weg gefunden. Trotz einem zunächst erlebten Mangel kann M. die Situation positiv bewerten: „Wenn du selber etwas rausfindest, das verändert dich sehr [...].“ M. ist ein Vorzeigebeispiel für gelungene Selbstorganisation und individuelles Zeitmanagement im Studium. Trotz der von ihm beschriebenen schwierigen Situation ist er nicht gescheitert, sondern hat im Gegenteil schon im 7. Semester sein Diplom gemacht. Sein BPS II hat er während des Studiums in den USA absolviert. In das gleiche Büro ist er direkt nach dem Diplom wieder gegangen „[...] um dort die Ausführungsplanung richtig zu lernen [...]“, die ihm im Studium gefehlt hat. „Abschließend kann ich sagen, es fehlte mir zwar viel, aber es hat auch viele Möglichkeiten gegeben, das muss man dann einfach sehen. [...] Man wird es einfach nicht schaffen, irgendwie alle Bedürfnis- se zu befriedigen.“ G. ist der Interviewerin als Studentin der Architektur aus dem Grundstudium, einigen Seminaren, als Tutorin für die Grundstudiumsbetreuung und aus vielen Gesprächen anlässlich von Ausstellungen oder anderen Veranstaltungen be- kannt. Außerdem wurden mehrere Exkursionen, u. a. nach Cuba zusammen unternommen. G. hat soeben ihr Diplom I gemacht und wird das Vertiefungs- studium in der Studienrichtung Städtebau angehen. Zum Gesprächsverlauf: Das Interview fand in einem Arbeitsraum im Haupt- gebäude der Architekturfakultät in der Henschelstraße statt. Nach der infor- mellen Eingangsphase startet das Interview, indem auf dessen Anfang verwie- sen, die ersten Fragen gestellt und das Tonbandgerät einschaltet wurde. Die Stimmung während des Interviews war entspannt. G. versuchte konkrete Ant- worten auf meine Fragen zu finden und ließ sich mit der Formulierung Zeit. Interview mit Studentin G. 114 115 Die Lehre aus dem Bauch A.1: Studienbeginn, Berufsbild, Vorstellung über und tatsächlich vorgefundenes Architektur- studium Vor dem Architekturstudium hat G. Sozialpädagogik studiert und auch einige Zeit im sozialen Bereich gearbeitet. Sie gab an, vor dem Studium wenig Vorstellung von Architektur und dem Beruf der Archi- tektin gehabt zu haben. „Ich fand das Fach interessant, einfach weil es eine Verbindung ist zwischen Technik und Kreativität oder Entwurf.“ Außerdem begründete sie ihre späte Studienwahl mit einem weiteren Argument und einem kleinen Augenzwinkern: „Was ich eben noch toll fand an der Architektur oder was noch so ein Wunschtraum war, etwas Großes zu machen irgendwie, nicht was Kleines, sondern so was Großes und Gebäude sind einfach was Großes.“ Ihre anfänglichen Erwartungen an das Studium wurden nicht bestätigt. „Ich hatte vielleicht erwartet, ich komme hier an und ich lerne erst einmal diese technischen Sachen, so eine Grundausbildung, so hatte ich es mir vorgestellt und wenn ich diese Grundausbildung habe, dann kann ich sozusagen loslegen und was dann passiert ist, war genau das Umgekehrte, nämlich dass ich erst einmal Ideen entwickeln musste und entsprechend dann auch in der typischen Darstellungsweise der Architektur präsentieren musste. [...] Im Grundstudium ging es mir erst einmal so, dass ich gar nicht wusste, wovon reden die hier überhaupt, also war erst einmal alles sehr fremd, und gut, es gab dann konkrete Arbeitsziele, die sehr konkret formuliert wurden, die auch gut zu bewältigen waren, obwohl vieles fremd war an der ganzen Spra- che oder auch schwer zu erkennen war, was ist eigentlich das Ziel.“ G. beschrieb darüber hinaus, dass sie eine neue Arbeitswelt mit dem Architektur- studium kennengelernt habe [...] wo ich merke, mir ist eigentlich die Arbeits- welt der Architektur sympathischer.“ A.2: Rückblick: Lerninhalte, Lernfelder, Quellen der Unterstützung für ei- gene Vorhaben Im Rückblick hat G. das Grundstudium in Bezug auf den erlangten Überblick über das Berufsbild positiv bewertet. „Ich fand mich eigentlich ganz gut vorbereitet auf den Entwurf durch das Grundstudium, also da hatte ich dann so eine Vor- stellung, worum geht es eigentlich, also was heißt eigentlich Entwurf [...] da waren hauptsächlich die Grundstudienhefte (gemeint sind die Dokumentationen der Arbeitsergebnisse) und Grundstudiumsarbeiten (kleine Entwürfe in den Studien- arbeiten), die man machen musste, das habe ich auch so als Schwerpunkt 116 117 Die Lehre aus dem Bauch gesehen und erlebt im Grundstudium, das war auch das was ich regelmäßig und gewissenhaft ausgiebig besucht habe und mich sehr drum gekümmert habe. [...] Es waren ja eigentlich im gewissen Sinne große Aufgaben an denen wir gearbeitet haben. Große Aufgaben, im Sinne von Entwurf und dass dadurch der Gesamtblick entstanden ist, der Gesamteindruck der Architektur.“ Einen Mangel empfiand G. eher im parallel laufenden Vorlesungs- und Seminarangebot, bis auf die Vorlesung in der Tragswerkslehre, durch deren Abdeckung eines klar umrissenen Themenbereichs sich G. gut auf ihre zukünftigen Aufgaben in Studium und Beruf vorbereitet fühlte. „Was ich mir noch mehr gewünscht hätte, wäre eben dieser technische Bereich oder vielleicht auch im Entwurfsbereich, dass man so ein bisschen noch mehr so konsumieren kann. Es war auch so in Vorlesungen, die angesagt waren, dann hat es sich aber als Seminar entwickelt, es gab Referate. Ich hätte mir gewünscht, dass es mehr Professoren gibt, die sich vorne hinstellen und eine Vorlesung halten. Referate sind auch wichtig, man lernt sich Themen zu erarbeiten usw., aber als Zuhörer ist es natürlich anders, wenn ein Professor spricht, weil er einfach einen ganz anderen Horizont hat und eine andere Zugangsweise, als wenn jetzt ein Student mir Dinge vorstellt, wo es dann einfach nur einen kurzen Kommentar des Professors dazu gibt. [...] Zum Teil habe ich Tipps gekriegt von den Lehrenden, wo ich was finden kann oder vielleicht auch mal eine Antwort auf eine ganz konkrete Frage.“ Eine Unterstützung für die Bewältigung von Entwurfsaufgaben bekam G., neben den oben erwähnten Bereichen, durch die intensive Zusammenarbeit mit einigen anderen Studenten aus Göttingen. „Also eigentlich komme ich ja aus Göttingen und muss jedes Mal nach Kassel fahren und es gab mehrere Studenten aus Göttingen und wir sind dann immer zusammen gefahren und haben uns in Göttingen auch immer ge- troffen zu Arbeitsgruppensitzungen, wo wir gegenseitig unsere Entwürfe vorge- stellt haben und uns gegenseitig beraten haben bei irgendwelchen Fachfragen, und hier konnte man noch einmal gucken und der eine hatte die DETAIL abon- niert und der andere wusste, was in dem und dem Buch zu dem Thema steht.“ A.3: Rückblick: Bewertung des Projektstudium Das Projektstudium bewertet G. rückblickend als sehr positiv. Die meisten ihrer Äußerungen beziehen sich auf diese Frage. „[...] ja was habe ich eigentlich gelernt. [...] Ich glaube, es war schon der Sprung ins kalte Wasser oder auch dieses Gefordertsein genauso wie im Hauptstudium. Es gibt eine bestimmte Aufgabe, die muss irgendwie bewältigt werden. ... Überhaupt erst einmal eine Vorstellung zu kriegen, was heißt das eigentlich und ich denke, dass ist eben in diesen Projekten auch ganz gut rübergekommen, also was gehört eigentlich alles dazu. Gehören die Schwarzpläne dazu, gehören die Modelle dazu und 118 119 Die Lehre aus dem Bauch Schwerpunkt ist natürlich der Entwurf gewesen im Grundstudium, aber einfach eine Vorstellung, was kann das heißen Architekt zu sein oder was beinhaltet eigentlich Architektur. [...] Besonders habe ich das empfunden in meinem ersten Projekt im Hauptstudium, wo ich dann zusammen kam mit meinen drei Semestern, die ich studiert habe, mit Leuten, die im Vertiefungsstudium schon waren und zum Teil 2 Jahre Berufserfahrung oder noch länger hatten und die diesen ganzen Architekturjargon wun- derbar konnten einfach und ich dann das Gefühl hatte, ich muss mit denen irgendwie mithalten, gut, ich werde jetzt gesehen als jemand der aus dem Grundstudium kommt, aber im Grunde arbeiten wir an der gleichen Aufgabe und auch von mir muss für dieses Projekt am Ende ein Grundriss, ein Entwurf auf dem Tisch liegen [...] ich kann das genau so wie die, ich brauch zwar noch eine Weile bis ich das erarbeitet hab, aber ihr werdet schon sehen, ich kann das auch. Das war so der Ansporn. [...] Es hat mich auf keinen Fall abgeschreckt.“ „[...] also man wird nicht mit irgendwelchen isolierten Problemen konfrontiert, sondern es ist einfach so ein Ding an dem man arbeitet, nämlich an seinem Entwurf und das ist vielleicht auch noch so eine Motivation [...] also für mich war Statik nicht irgendwas, was ich abhaken muss, sondern ich habe gemerkt, okay wenn ich Häuser bauen will, dann muss ich darüber Bescheid wissen. Man konnte da ja theoretisch auch drauf kommen, aber einfach durch dieses Arbeiten an diesen Projekten hat das eine ganz andere Färbung gekriegt.“ A.4: Ausblick: eigener zukünftiger Werdegang und Wünsche / Empfeh- lungen für die Ausbildung G. wollte hier ihrer Begeisterung für die Architektur im Vertiefungsstudium noch eine Weile nachgehen. Sie ist eine Befürworterin des Projektstudiums, auch wenn sie sich manchmal gewünscht hatte, mehr konsumieren zu können. Sie würde eine Schritt-für-Schritt-Vermittlung der „[...] klassischen Handwerks- zeuge, wie Schwarzpläne, Pläne wie Grundrisse und Schnitte und den Modell- bau [...].“ begrüßen. Und „[...] dass man schon ein umfassendes Bild von dem Beruf kriegen sollte, oder in alle Bereiche zumindest mal reingerochen haben sollte. [...] Ich finde das wichtig, dass man die Möglichkeit hat, an der Uni alles abzudecken.“ Sie sieht aber auch gleichzeitig die Gefahr, die in einem verschulteren Aus- bildungssystem stecken würde. „Mehr Input im Sinne von Vorlesungen, also auch von den Professoren und mehr Vorgaben [...] mehr Struktur vielleicht. [...] Aber da ist auch die Gefahr, es sollte auch nicht so eng gestrickt sein, nicht so nach Schema F, weil dann die Selbständigkeit auch leidet.“ 120 121 Kategorien für die Auswertung Bild von Architekt und Architektur Anfang des Studiums / der Entwurfslehre Projektsstudium Quellen der Unterstützung/ Hilfe Empfehlungen für die Ausbildung Individuelles Hauptanliegen im Studium positiv Verbindung zwischen Technik und Kreativität etwas Großes zu machen sympathische Arbeitswelt der Architektur konkrete Arbeitsziele Grundstudiumsprojekte waren gute Vorbereitung auf Entwürfe im Hauptstudium Vorstellung von der Bedeutung des Entwurfs bekommen hoher Organisationsgrad: zeitliche Vorgaben, Dokumentation der Grundstudiumsprojekte, Verbindlichkeit der Grundstudiumsprojekte große Aufgaben in Projekten boten Gesamtblick über Architektur und Berufsbild Selbstorganisation und weitgehendes autodidaktisches Studieren jahrgangsübergreifende Projektgruppen boten Ansporn keine isolierte Problemstellung kein Abhaken der Fächer intensive Auseinandersetzung in Arbeitssitzungen mit Mitstudierenden Projektstudium Schritt für Schritt-Vermittlung der klassischen Handwerkszeuge umfassendes Bild vom Beruf erzeugen mehr Input durch Vorlesungen Motivation und Ansporn in großen Projekten erfahren Lernen am Gegenstand negativ alles war sehr fremd Seminare und Vorlesungen decken bestimmte Themenbe- reiche nicht ab zu wenig konsumierbares Wissen zu viele studentische Referate in Seminaren / Vorlesungen zu wenig technisch orientierte Veranstaltungen keine Angabe zu wenige Tipps von Professoren Antworten nur auf konkrete Fragen Gleichschaltung durch Stundenplan 122 123 Die Lehre aus dem Bauch Auswertung des Interviews Obwohl sich G. am Anfang ihres Studiums als wenig vorbereitet und unerfahren bezeichnete, bewer- tete sie den Sprung ins kalte Wasser als positive Erfahrung. Durch die Projekte im Grundstudium sah sie sich gut auf die Anforderungen im Hauptstudium vorbereitet. Dort ließ sie sich nicht durch das größere Wissen der älteren Semester in der gleichen Projektgruppe abschrecken. Sie empfand es eher als Ansporn, mithalten zu können und schöpfte daraus ihre Motivation zu lernen. G. war die stärkste eine Befürworterin des Projektstudiums und damit des Lernens am Gegenstand, obwohl sie den geringen Input durch die Lehrenden auch als Mangel erfahren hatte. Trotz des Verlangens nach Grundlagen und das Abdecken von bestimmten Themenbereichen durch Seminare und Vorlesungen sah sie auch eine Gefahr in isolierten Problemstellungen sowie in eng gestrickten Vorgaben und Strukturen. Sie befürwortete die vorhandene Parallelität von Projektstudium und Semi- nars, bzw. Vorlesung und sah den Missstand eher in der Umsetzung. Eine große Bedeutung hatte für G. die enge Zusammenarbeit mit den anderen Studenten. In den intensiven Arbeitssitzungen bekam sie die größte und inhaltlich wichtigste Unterstützung für ihr Studium. Zusammen- fassung und Ausblick 124 125 Die drei Interviewpartner haben im Rückblick auf ihr Studium eine kritische Re-flexion vorgenommen, die ihren individuellen Lernprozess, eine durchdachte Stellungnahme zu Inhalten und Struktur des Architektur bzw. Landschafts- architekturstudiums und eine Bewertung des Projektstudiums beinhaltete. K. und M. begannen mit Vorerfahrungen im Umfeld der Architektur und mit konkreten Vorstellungen ihr Studium. G. beschrieb sich eher als unerfahren und neugierig. Mit diesen unterschiedlichen Ausgangsvoraussetzungen erlebten sie das Studium teilweise ähnlich, aber auch in manchen Punkten sehr unter- schiedlich. Die massivste Kritik wurde von allen drei Interviewten am Fächerkanon geübt, der vom ersten Semester an mit verschiedenen Lehrinhalten neben dem Projektstudium angeboten wird. K. gab zu bedenken, dass die klassischen Architekturfächer nicht nur zu kurz kämen, sondern noch um ein allgemein bildendes kulturelles Fach und vor allem um die Theorie des Entwerfens erwei- tert werden müssten. Dieser Aspekt stand im Mittelpunkt seines Interesses. M. sah auch im theoretisch systematischen Lehrangebot und hier vor allem in der Vermittlung der Ausführungsplanung das größte Manko, aber eher vor dem Hintergrund der nicht besetzten Professuren. M. hatte allerdings, wie oben schon erwähnt, aus der Not eine Tugend gemacht und für sich die eigene Die Lehre aus dem Bauch nur vertieft hat. G. bewertete das Projektstudium trotz dem empfundenen Sprung ins kalte Wasser als überaus positiv. Sie schrieb den großen Entwurfsaufgaben die Möglichkeit zu, einen Gesamtüberblick zu bekommen und autodidaktisch und selbstorganisiert zu arbeiten. Die jahrgangsübergreifenden Projektgruppen be- wertete sie im Sinne des eigenen Antriebs sehr positiv. M. und G. räumten der Auseinandersetzung und Zusammenarbeit mit den Mitstudierenden einen gro- ßen Stellenwert ein. Bei M. ist diese Aussage auf den Mangel an Seminaran- geboten zurückzuführen, bei G. herrschten das Interesse an Auseinanderset- zung und ein ausgeprägter Teamgeist vor. K. äußerte sich nicht zu diesem Punkt, was vermuten ließ, dass er ihm keine große Bedeutung zumaß. Insgesamt machten die Interviews deutlich, dass das Kennenlernen und Erproben unterschiedlichster Herangehensweisen, Entwurfsstrategien und -methoden ih- ren individuellen Einsatz erst möglich machen. Die Herangehensweise über die Zeichnung, das Modell, den Text oder die intellektuelle Auseinandersetzung muss der jeweiligen Person entsprechen, um möglichst fruchtbar zu sein. Neben den fachspezifischen Inhalten eine möglicht große Methodenkompetenz und damit möglichst viele verschiedene Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten im Grund- studium zu vermitteln ist sinnvoll. Sie helfen Aufgaben und Probleme zu bewälti- 126 127 Suche nach Antworten im Nachhinein positiv gewertet. G. äußerte an dem geringen Input ebenfalls Kritik, verortete den Missstand aber eher in den vorhandenen Seminaren und Vorlesungen. Sie gab als Einzige zu bedenken, dass aber auch eine Gefahr in isolierten Problemstellungen bestehen könnte. Allen dreien fiel es schwer konkret zu benennen, was sie im Studium gelernt haben. K. bezog sich in seinen positiven Äußerungen lediglich auf das Grundstudium, wo er kreatives Arbeiten gelernt habe und sich von mitgebrachtem Ballast und Voreingenommenheiten befreien konnte. Zum weiteren Studium brachte er eher Verbesserungsvorschläge an. M. hingegen resümierte positiv, die Grundlagen des Entwerfens und der Landschaftsarchitektur gelernt sowie Handwerkszeuge im Grundstudium mitbe- kommen zu haben. Auch habe er Hemmschwellen überwunden und Zeit gefunden, sich in individuelle Interessensgebiete einzuarbeiten. G. empfand das Grundstudium als gute Vorbereitung auf das Haupt- studium. Sie beschrieb, dass sie in dieser Zeit eine Vorstellung von dem Arbeitsfeld des Architekten und der Bedeutung des Entwurfs bekommen habe. Zum Projektstudium äußerte sich K. negativ, indem er die fehlende Auseinandersetzung über den Ent-wurfsprozess anprangerte. K. würde dem Projekt innerhalb des Studiums nicht einen so hohen Stellenwert zukommen lassen, nicht, weil er nicht wichtig fände, sondern weil er sich mehr Entwurfseinheiten wünschen würde. M. hingegen sah im Projekt- studium die Freiheit, seinen eigenen Weg gehen zu können. Er nannte im Projektzusammenhang auch die Eigenmotivation, das Zeitmanagement und die Zusammenarbeit mit anderen Fach-diziplinen, ob- wohl hier nicht genau herauszuhören war, ob er diese Kompetenzen mitgebracht hatte und im Studium gen, indem sie die Auswahl, Planung und Umsetzung adäquater Lösungsstrategien ermöglichen. Erst damit ist der Student in der Lage, ein-zelne Entwurfsstrategien und -methoden auswählen zu können, seinen Neigungen nachzugehen und sie mit der Zeit zu vertiefen. Analyse- und Problemlösefähigkeit, Entscheidungsvermögen, abstraktes und vernetztes Denken sind für jedes weitere Entwurfsprojekt, aber auch für andere fach- und nicht fachgebundene Aufgaben unbedingt zu erlangende Basiskompetenzen. Die drei Interviewpartner hatten diese Punkte nachdrücklich bestätigt, indem sie sich positiv zu dem erlernten kreativen Arbeiten und Handwerkszeug, der Befreiung von mitgebrachtem Ballast und Voreinge- nommenheiten und zum Ausloten individueller Interessensgebiete im Grundstudium geäußert haben. In dieser sensiblen Anfangsphase, in der nicht nur die neue Situation des Studiums zum Tragen kommt, erste Ideen in Entwürfe umgesetzt werden, sondern auch, wie M. betonte, so manche Hemmschwelle erst überwunden werden will, ist es wichtig, den Entwurfsprozess nicht zu beurteilen, ihn aber mög- lichst oft zu reflektieren. Dieser Prozess sollte nicht nur zwischen Lehrenden und Lernenden stattfin- den, sondern im Team trainiert werden. Dabei werden Sozialkompetenzen, wie Kommunikationsfähig- keit, Kooperations- und Konfliktfähigkeit sowie Einfühlungsvermögen und Durchsetzungsfähigkeit er- probt, die dazu befähigen, in den Beziehungen zu anderen Menschen situationsadäquat zu handeln. Die individuelle Betreuung nimmt neben den Zwischenpräsentationen in der ganzen Projektgruppe ebenfalls einen wichtigen Stellenwert ein. Inputs und Anregungen, die auf eine spezielle Problemstellung abzie- len, werden besser angenommen als allgemeine Hinweise. Außerdem kann hierbei eine Binnen- differenzierung in den Anforderungen sowie in Lob und Kritik vorgenommen wer- den. Das Engagement, die Lern- und Leistungsbereitschaft und die damit ver- bundene Zuverlässigkeit und Ausdauer der Studierenden in den Studienarbeiten und in den Entwurfsprojekten bestätigen, dass es wichtig ist, dass die Studie- renden individuelle Schwerpunkte und Zielsetzungen im Rahmen einer Aufga- benstellung formulieren können. Hier werden Fähigkeiten und Einstellungen, in denen sich die einer Person eigene Haltung zur Welt und insbesondere zur Arbeit ausdrückt und darüber hinaus Persönlichkeitseigenschaften, die nicht nur im Arbeitsprozess Bedeutung haben, entwickelt. In den Interviews wurde dieser Prozess als die Freiheit, seinen eigenen Weg gehen zu können beschrie- ben und bestätigt, dass er eine höchst effektvolle Antriebsfeder zu sein kann. Vor dem Hintergrund dieser Aussagen kann man folgende Punkte benennen, die am Anfang eines Architekturstudiums für die Studierenden stehen sollten: - möglichst viele Entwurfsstrategien kennenzulernen und auszuprobieren - individuelle Schwerpunkte und Ziele im Rahmen einer Aufgabenstellung setzen - den Arbeitsprozess und die -ergebnisse reflektieren - Sozialkompetenzen und situationsadäquates Handeln in Gruppenarbeits- prozessen erproben. Die Lehre aus dem Bauch 128 129 Es scheint trotz der bestehenden Kritikpunkte unbedingt erforderlich zu sein, diese Grundlagen im Rahmen von Projekten zu vermitteln, weil dieser Methode eine größtmögliche Offenheit in der Struktur und in den AufgabensteIlungen zu Grunde liegt. Die fachlichen Inhalte müssen exemplarisch gesehen werden, sie richten sich nach den jeweiligen Schwerpunkten der Lehrenden. Sie sollten aber in jedem Fall die Entwicklung eines architektonischen Grundverständnisses beinhalten und eine Vorstellung des breiten Aufgabengebietes der Architekten vermitteln. In einem weiteren Entwurfsprojekt, das quasi als exemplarischer Versuchsaufbau zu sehen ist, soll der Frage nach den konkreten fachlichen Lern- inhalten nachgegangen werden sowie die Basiskompetenzen formuliert und die Vermittlungsmethoden konkretisiert werden. Im Vorfeld soll ein Exkurs zu Lehr- und Lernkonzepten verschiedener Hochschulen einerseits deren Ansätze und Ausbildungsziele für das Architekturstudium aufzeigen, aber auch die Frage nach eventuell allgemeingültigen Grundlagen klären. Anmerkungen: , Tutoren sind Studenten im höheren Semester, die Aufgaben der Beratung und Betreuung der Studierenden überneh- men. Die Tutoren stellen eine Verbindung zwischen den Studenten und Lehrenden dar, bekommen und geben informel- le Informationenund dienen den Anfängern als Vorbilder. , Die meisten Projekte habe ich mit meiner Kollegin Dipl. Ing. Angela Siever, LB am FB Architektur, entwickelt und durchge- führt. Angela Siever ist Architektin und war lange Jahre meine Büropartnerin im Architekturbüro mandodersiever. , In meiner Zeit als Grundstudiumskoordinatorin im Rahmen meiner Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin war ich 130 131 Die Lehre aus dem Bauch nicht nur für den Ablauf und die inhaltliche Abstimmung der Studienarbeiten und ersten Entwurfsaufgaben verantwortlich, sondern habe eine gemeinsame erste Aufgabe für die Stu- dierenden des ersten Semesters eingeführt, die bis heute durchgeführt wird. Die Aufgabe war mir in ähnlicher Form aus meiner eigenen Studienzeit an der HBK Kassel bekannt. , Barcelona Projektgruppe der TU Berlin (Hrsg.): Barcelona - Tradition und Moderne, S. 2l. 5 Huse, Norbert: Le Corbusier, S. 25. 6 Huse, Norbert: a.a.O., S. 32. , Begriff den le Corbusier für die Bewegung im Raum, die durch Licht und Ausblicke auf die Natur oder in andere Räume gelenkt wird, geprägt hat. , Nicolic, Vladimir Lalo: hausleeren, S. 9. , Böhringer, Hannes: Kunst contra Architektur, in: Moneten, S. 31 ff. 10 Vergi,' Schütze, Fritz: Biographieforschung und narratives Interview, in: Neue Praxis 13, S. 283-293. U Wiedemann, P. M.: Erzählte Wirklichkeit, S.24. " Vergl.: Schütze, Fritz: Ebenda. U Hier ergeben sich Parallelen zu nicht-direktiven Verfahren der Gesprächsführung nach Carl R. Rogers. " Vergl.· Mayring, Philipp: Einführung in die qualitative Sozialforschung. Eine Anleitung zu qualitativem Denken. " Das mehrstufigen Verfahren ist angelehnt an die Praxis der Auswertung nach Werner Strangl, Arbeitsblätter Forschungsmethoden, in: www.strangl-taller.at. abgerufen am 12.5.2006. hallo Untersuchung aktueller Lehrkonzepte vor dem Hintergrund des Workshops arch eins* Neue Grundlagen für die Architekturausbildung? 134 135 Die Ausbildungssituation in Deutschland bietet ein breites Spektrum, von den Fachhochschulen über die Universitäten und Technischen Universitäten zu den Kunstakademien. Diese Institutionsarten sind auf inhaltlicher Ebene schwer miteinander zu vergleichen, soll es nicht nur um die Auflistung des Fächerkanons gehen. Es steht ein jeweilig anderes Ausbildungsziel und ein anderes Bildungsideal im Hintergrund. Dieses bewegt sich zwischen Ausbildung und Bildung, zwischen konkreter Einsetzbarkeit der Absolventen auf dem Arbeitsmarkt und der Aufrechterhaltung von Denkfabriken1 – in jeder Hinsicht. In den derzeitigen Debatten um die Architektenausbildung geht es eher um formale Bedingungen, Studienstrukturen und messbare Erfolge – wohl auch vor dem Hintergrund der sich verschärfenden Konkurrenz der Hochschulen. „Bedenkt man die Umbruchsituationen innerhalb der Hochschullandschaft, so fällt ein Zwang zur Vereinheitlichung auf. Dieser resultiert aus den Überlegungen zur Einrichtung eines so genannten Europäischen Hochschulraumes. Die Reizworte auf den Tagesordnungen sind bekannt: Bachelor- und Masterstudiengänge, Akkreditierungsfragen, Verkürzung der Regelstudien- zeiten, Architektenkammerfähigkeiten etc.“2 Eine inhaltliche Diskussion um Ausbildungskonzepte, -ziele und konkrete Lehrinhalte wurde bisher nicht wirklich geführt. Was sollen Absolventen nach drei Jahren Architekturstudium mit einem Bachelor-Abschluss und zwei Jahre später mit dem Master eigentlich können? Potentielle Arbeitgeber haben konkrete Vorstellungen von einsatzfähigen Berufsanfängern, aber die Hochschulen müssen wachsam bleiben, um nicht als Ausbildungsbetriebe benutzt zu werden und um ihren mühsam erkämpften Platz im Umfeld der Wissenschaften gegenüber dem fordernden Markt zu behaupten. Andererseits stellt der Praxisbezug des Studiums durch realitätsnahe Entwurfs- aufgaben, studieninterne Praktika und Lehrende, die ihre Erfahrungen aus der eigenen Praxis beziehen, ein Potential für die Lehre dar. Hierbei ist allerdings zu bedenken, ob das geforderte, anwendungsbezogene Wissen nach dem Abschluss des Studiums überhaupt noch aktuell und wie groß der Bedarf an fachspezi- fisch ausgebildeten Absolventen tatsächlich ist. Welche Fähigkeiten und Fertigkeiten müssen denn vermittelt werden, um ei- nerseits auf das höchst komplexe Berufsfeld des Architekten hin auszubilden und andererseits auf einen nicht definierbaren Markt und eine sich ständig verändernde Arbeitswelt vorzubereiten? Diese Frage wird ungerne mit konkre- ten Vorschlägen für Lehr- und Lerninhalten beantwortet, aber wird damit nicht auch die Verantwortung für die Zukunft der Absolventen umgangen? In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der Rolle der Universitäten, die zu einem zukunftsorientierten Berufsbild beitragen sollten. Wolfgang Schulze, der damalige Dekan des Fachbereichs Architektur der Uni- arch eins* Der Workshop – Hintergrund, Konzept und viele Fragen versität Kassel formuliert seine Fragen wie folgt: „Besteht noch eine für unseren Lebensraum relevan- te, aus der Architektur sich ergebende Fragestellung? Wenn ja, so würde dies den Architekten erneut in die Rolle des Generalisten versetzen, der die Summe der erreichbaren wissenschaftlichen Erkennt- nisse sowie der künstlerischen Strategien zugunsten einer architektonischen oder besser kulturellen Aussage verarbeitet. Wenn nicht, so findet er sich in einer Reihe von Spezialisten wieder. Sein Job wäre die Gestaltung von Einzelteilen über deren Zusammensetzung irgendwer entscheidet. Dass sich die Architekten gern in der Gestalt des ganzheitlich Denkenden mit entsprechendem Auftrag wieder finden, liegt auf der Hand. Zweifellos ergibt sich dies auch aus der Tradition des Berufsbildes. Alles andere hätte zuliefernden und bestenfalls designerischen Charakter. Aber existiert es noch, das Ganzheitliche, gibt es überhaupt einen solchen Bedarf und wie kann es für die Lehre formuliert werden, in einer Gesellschaft, die zunehmend auf Individualisierung in allen Bereichen setzt?“3 Vor dem Hintergrund dieser Fragen und ersten möglichen Antworten führte ich mit meiner Kollegin Astrid Lückel im Juli 2002 nach einer halbjährigen Vorbereitungs- und Konzeptionsphase einen interna- tionalen Workshop zum Thema „arch eins* – Neue Grundlagen für die Architekturausbildung“ an der Universität Kassel durch. Der Workshop wollte der Frage nach den Anfängen des Entwerfenlernens innerhalb der Architektenausbildung nachgehen. Die Grundlehre stellt im Kontext der Ausbildung eine besondere Herausforderung dar, weil die Studienanfänger noch einen direkten Bezug zur Welt der Nicht-Architekten haben und der Lehrende „selbst massiv mit dem Grundsätzlichen in der Architektur, der Essenz und der Basis, auf die der Entwurf aufbaut“4 konfrontiert ist. Dieses Grundsätzliche muss in den ersten zwei Jahren vermittelt werden, das weitere Studium und die Lehre bauen darauf auf. Aber was macht das Grundsätzliche aus? Wenn Bachelor und Master zum Stan- dard werden, die Studierenden ihre Credits aus verschiedenen Hochschulen zu- sammentragen und Architektur als weiterführendes Studium eigentlich nur in Zürich, Wien und London studiert werden kann, wie Aaron Betsky, Direktor des NAI in Rotterdam voraussieht5 , kommt den Grundlagen und damit dem Grundstu- dium letztendlich eine größere Bedeutung zu. Ihm nach müsse es den Studieren- den eine allgemein verwendbare und sichere Basis anbieten, egal ob der zweite Abschluss des Masters angestrebt wird, sich der Absolvent sofort in der Praxis behaupten können will, oder eventuell einen neuen Weg einschlagen wird. Damit komme ich wieder auf die anfängliche Fragestellung zurück, auf die Su- che nach dem gemeinsamen Grund, den allgemein angenommenen, den unter- schiedlich gemeinten und den neu zu formulierenden Grundlagen. Anders als vor vier Jahren die TU Berlin mit dem o. g. Symposium zur Darstellung und Diskussi- on von Entwurfslehrkonzepten, sollte der Workshop in Kassel neben der Fach- arch eins* 136 137 diskussion unser Metier, also das Produzieren von Prozessen und Ergebnissen in den Vordergrund stellen. Die aufgeworfenen Fragen boten den Hintergrund für die Initiierung eines Workshops. Dabei kam es uns nicht darauf an, eine beste Hochschule zu jurieren – der Workshop sollte kein Wettbewerb sein. Herausgefunden wer-den sollte: - welche inhaltlichen Schwerpunkte heute im Grundstudium der Architektur gesetzt werden, - welche Lehrmethoden und -strategien angewendet werden, - welche Lernziele angestrebt werden, - welche Anteile die künstlerische, die fachliche und die gesellschaftsbezogene Vermittlung ausmachen, - welche Rolle die Lehrenden in diesem System spielen. Das Anwenden und Überprüfen des Bekannten, wie auch das Experimentieren in einem neuen und ungewohnten Umfeld, stand im Mittelpunkt dieses Unternehmens. Dass die relativ junge Universität Kassel Austragungsort war, kam nicht von ungefähr: Seit ihrer Gründung wird die gesellschaftliche Position von Architekten und Planern hier kontrovers diskutiert und dem Entwerfen, auch in der Lehre, eine unterschiedliche Bedeutung beigemessen. Einen Workshop zum Thema Architekturausbildung durchzuführen, erschien als beste Möglichkeit, um ein ideales Arbeits- und Beobachtungsfeld im Rah- men der vorliegenden Arbeit zu schaffen. Darüber hinaus würde er allen teil- nehmenden Lehrstühlen einen Zugewinn an Erfahrung, Reflektion und Aus- tausch bieten können. Der Workshop als Untersuchungsmethode konnte si- cher keine umfassende Übersicht über den deutschsprachigen Ausbildungsraum geben, er war exemplarisch zu betrachten. Die Positionen der Lehrenden sollten neue Erkenntnisse über den aktuellen Stand der Entwurfslehre liefern. Ein weiterer wesentlicher Grund einen Workshop zu veranstalten, war, die zu erwartende und damit in Augenschein zu nehmende, informelle Ebene inner- halb des Arbeitsprozesses. Oft konnte hier eine große Diskrepanz zwischen einem theoretisch formulierten Lehrkonzept, wenn überhaupt vorhanden, und der tatsächlich umgesetzten Lehre beobachtet werden. Studierende und Leh- rende urteilen aus verschiedenen Positionen über Sinn und Unsinn von Arbeit- saufträgen, über Vermittlungsstrategien und Ergebnisse. Zusammen in einem Boot, also die gleichzeitige Präsenz von Lehrenden und Lernenden, bot nicht nur die Möglichkeiten, ein Lehrgebäude und seine Ergebnisse zu demonstrie- ren. Unmittelbar und gemeinsam konnte es hinterfragt werden, um dabei die Untersuchungs- methode Workshop arch eins* 138 139 diskussionswürdigen Stellen zu entdecken und mit neuen Kommunikationsformen, neuen Arbeitsmetho- den und Entwurfsstrategien auf neutralem Grund zu experimentieren. Folgende Gründe standen für den Workshop als Untersuchungsmethode: - Der Workshop bot die Chance, die Rahmenbedingungen selbst zu setzen. - Der Workshop war eine Möglichkeit, Lehrende und Studierende, die nur zusammen ein Lehr- und Lerngebäude in Theorie und Praxis darstellen können, als gemeinsame Arbeitsgruppe auftreten zu lassen. - Eine für alle neue Aufgabenstellung, die von den teilnehmenden Arbeitsgruppen bearbeitet werden sollte, würde einen direkten Vergleich der Arbeitsstrategien und -methoden ermöglichen. - Der Kontext der jeweiligen Hochschule konnte von den Teilnehmenden zumindest temporär vernach- lässigt werden, um an einem neutralen Ort mit Arbeitsstrategien und -methoden zu experimentieren. Theoretische Lehransätze würden sich in der Lehrpraxis beobachten, nachvollziehen und am Ergeb- nis überprüfen lassen. - Beobachtungen des geheimen Curriculums sollten möglich sein: Wie wird eine positive Stimmung und Motivation erzeugt und gefördert, in welcher Beziehung stehen Lernende und Lehrende zueinan- der? Auch hier sollten Studierende und Lehrende mit Kommunikationsstrukturen experimentieren. Der Workshop bot ein großes Experimentierfeld. Das Experiment implizierte Wis- senschaftlichkeit und Freiheit gleichzeitig, es birgt unvorhersehbare Qualitä- ten. „Das Experimentieren akzeptiert die operativen Bedingungen ebenso, wie es sie herausfordert. Jegliche Forschung richtet sich genau gegen das, was sie voranzubringen versucht und beinhaltet eine subversive Komponente, die innerhalb des Verfahrens Momente des Zweifels gegenüber etablierten Si- cherheiten einführt“6 Im Vorfeld haben wir im Inland und dem deutschsprachigen Ausland Lehrstühle aufgesucht, die ein ablesbares didaktisches Konzept für das Grundstudium vertreten. Insgesamt war festzustellen, dass es aber nur möglich war, Lehr- konzepte von Lehrstühlen zu untersuchen, sie in ihrer konkreten Vermittlungs- arbeit zu beobachten und zu vergleichen sowie ihre Erfolgen zu messen, wenn ein Eigeninteresse an Reflexion und eventueller Auseinandersetzung mit ande- ren Lehrkonzepten bestand. Die Auswahlkriterien waren: - Herausragende Ansätze zur Grundlagenvermittlung in der Architekturentwurfs- lehre, die durch ein markantes Profil, innovative Lehrkonzepte, durch Publi- kationen und den guten Ruf belegt wurden. - Ein breites Spektrum sollte durch den unterschiedlichen Kontext in Bezug auf arch eins* 140 141 die Ausbildungsstruktur hergestellt werden: Technische Universität, bzw. Technische Hochschule, Universität und Akademie. Fachhochschulen wurden auf Grund der stark verschulten Ausbildungsgänge und des mangelnden Entwurfsschwerpunkts nicht miteinbezogen. Diese Entscheidung war im Hin- blick auf sehr engagierte und umfassende Ausbildungskonzepte einiger Fachhochschulen nur schwer zu rechtfertigen. - Es sollte ein internationaler Vergleich im deutschsprachigen Raum entstehen. - Der wichtigste Punkt war der ausdrückliche Wunsch nach einem Austausch mit Fachkollegen und die Bereitschaft zur Reflexion der eigenen Lehre. Ausgewählt wurden schließlich sechs Professoren aus sechs Hochschulen mit unterschiedlichen insti- tutionellen Rahmenbedingungen. Die Lehrgebäude weisen eine Vielfalt an innovativen Konzepten auf. Sie wurden, wie die unter gleichen Voraussetzungen teilnehmende Universität Kassel, eingeladen ein kleines Team aus Lehrenden und Studierenden des ersten Jahres zu entsenden. Im nächsten Kapitel werden die Lehrstühle mit ihren Lehrkonzepten im Rahmen ihrer Hochschulen vorgestellt. Die Informationen habe ich vor Ort zusammen getragen, andere Teile stammen aus den Vorträgen, die während des Workshops arch eins* in Kassel im Rahmen des Abendprogramms gehal- ten wurden. Die Bilder sollen einen Eindruck der Örtlichkeiten und einiger studentischer Arbeitsergeb- nisse an den Lehrstühlen vermitteln. arch eins* 1.Eidgenössische Technische Hochschule, ETH Zürich, Schweiz: Andrew Whiteside und Cary Siress, Assistenten von Prof. Marc M. Angélil im Jahres- kurs Entwerfen I+II 2.Die AngewAndte Wien, Östereich: Reiner Zettl, Oberassistent in der Mei- sterklasse Prof. Wolf D. Prix 3.Technische Universität, TU/e Eindhoven, Niederlande: Hans van Well und Theo Hauben, Dozenten im ersten Jahr 4.Rheinisch Westfälisch Technische Hochschule, RWTH Aachen: Prof. Vladimir Lalo Nicolic, Lehrstuhl für Baukonstruktion 5.Brandenburgisch Technische Universität, BTU Cottbus: Prof. Jo Achermann und Heinrich Weid, Assistent, Lehrstuhl für Plastisches Gestalten und Karin Sander, Assistentin am Lehrstuhl Architekturdarstellung und -informatik 6.Akademie der Bildenden Künste Stuttgart: Prof. Peter Herms, Lehrstuhl Ent- werfen Architektur und Prof. William Firebrace, Lehrstuhl Grundlagen der Gestaltung 7.Universität Kassel: Prof. Hans Frei, Lehrstuhl für Architekturtheorie, Prof. Gustav Lange, Lehrstuhl für Landschaftsarchitektur, Anne Rommel, Assi- stentin am Lehrstuhl Entwerfen im städtebaulichen Kontext, Annekatrein Quast und Andreas Schuchardt, TutorInnen Die eingeladenen Hochschulen/ Lehrstühle 142 143 arch eins* Eidgenössische Technische Hochschule, ETH Zürich, Schweiz: Andrew Whiteside und Cary Siress, Assistenten von Prof. Marc M. Angélil im Jahreskurs Entwerfen I+II Die ETH Zürich ist jährlich mit insgesamt 220 Anfängern, die ohne eine besondere Zugangsvoraus- setzung außer der Allgemeinen Hochschulreife das Studium beginnen, konfrontiert. Neben dem Jahres- kurs Entwerfen I+II, den alle Studierenden durchlaufen, werden in Konstruktionsmethoden und bildne- risches Gestalten eingeführt und Kenntnisse in den ingenieurtechnischen, geistes- und sozialwissen- schaftlichen Disziplinen vermittelt. Der Jahreskurs Entwerfen, der von Prof. Marc M. Angélil mit zehn Assistenzen in zehn Kojen betreut wird, nimmt einen ganzen Tag in der Woche ein. Marc M. Angélil beschreibt seine Position als Supervisor, er lehrt seine Mitarbeiter zu lehren: „Der Tradition des Grundkurses folgend, welcher von Bernhard Hoesli eingeleitet und von Herbert Kramel weiterentwickelt wurde, wird der Kurs als ein Experiment in Didaktik verstanden. Der methodi- sche Ansatz, der das Modell der Architekturlehre an der ETH bis anhin prägte, bildet die Ausgangslage des Programms. Die didaktischen Inhalte des Kurses aber orientieren sich an einem neuen Praxis- verständnis. Architektur ist unmittelbar mit dem Begriff der Praxis verbunden. Auslegungen dieses Begriffs werden unterschieden, welche verschiedenen Modi der entwerferischen Arbeit entsprechen – das handwerkliche, intuitive und intellektuelle Vorgehen. [...] Im Entwurfsunterricht des ersten Jah- res soll das Verständnis für Prozesse gefördert werden. Statt ein vorgefasstes Bild der Architektur als fertiges Produkt zu vermitteln, werden mögliche Methoden, Strategien und Techniken als Entwurfswerkzeuge entwickelt. Dieses verfahrensorientierte Vor- gehen gründet auf der Vorstellung, dass nicht nur Objekte, sondern auch Prozesse entworfen werden können. Im Unterricht wird dieser Prozess in sei- ner architekturbestimmenden Funktion untersucht und in einer Reihe einzel- ner, zueinander in Beziehung stehender Übungen ein architektonisches Instru- mentarium spielerisch eingeführt. Konzeptuelle Methoden wie auch konkrete Arbeitstechniken werden als Entwurfswerkzeuge erprobt. Die inhaltliche Struk- tur der Übungen wird durch übergeordnete Themen – u. a. Raum, Programm, Technologie, Kontext – festgelegt, die für das Verständnis der Architektur als Disziplin von grundlegender Bedeutung sind. Im Laufe des Studienjahres wird eine Vernetzung der Themen angestrebt, wobei der Grad der Komplexität in den Übungen kontinuierlich zunimmt. [...] Die Priorität der Oberflächenerscheinungen, die Negierung des kollektiven Unternehmens der Architekturproduktion und das Objekt als Selbstzweck werden hinterfragt und durch einen offenen und unabgeschlossenen Zustand ersetzt. Der ausgeprägte Bestandteil von theore- tischen Untersuchungen und die Konstruktion konzeptioneller Randgebiete wird als Strategie der Gedankenproduktion als eine wichtige Grundlage hervorgeho- ben. Die Vielfalt und Heterogenität von Ansätzen und Strategien bilden mit den 144 145 erlernten Fertigkeiten eine große Bandbreite, die in diversen Lebenslagen einsetzbar sein könnte. [...] Leidenschaft und Obsession gegenüber einem bestimmten Fach, seinen intellektuellen und materiel- len Praktiken sollen geweckt werde. Trotz des optimistischen Zugs, den ein solcher Anspruch trägt, beinhaltet die Lehre immer auch eine Widersprüchlichkeit, insofern sie sowohl die regulierenden Prin- zipien einer Disziplin vermittelt als auch diese scheinbar sicheren Grundlagen in Frage stellt.“7 Im ersten Semester werden in diesem Jahreskurs mittels klar abgegrenzter Arbeitsschritte 12 kleine aufeinander aufbauende Projekte bearbeitet, die sich mit Raum, Konstruktion und Nutzung vor einem geschichtlichem und gesellschaftlichen Hintergrund beschäftigen. Bei diesen Übungen spielt die Bezie- hung von Experiment, handwerklicher und intuitiver Praxis eine große Rolle. Die Übungen im folgenden Semester beziehen sich auf einen größeren städtischen Kontext, jeder Mitwirkende übernimmt mit einem Teilentwurf Verantwortung für das Ganze. Nach dem Grundstudium besteht freie Lehrstuhlwahl. Die AngewAndte Wien, Östereich: Reiner Zettl, Oberassistent in der Meisterklasse Prof. Wolf D. Prix Die Entwurfsklassen an der AngewAndten Wien von den Professoren Wolf D. Prix, Zaha Hadid und Greg Lynn sind mit ca. 50 Studierenden im Vergleich sehr klein und handverlesen. Die Aufnahmeprüfung setzt eine Beschäftigung mit Ar- chitektur und die bewusste Entscheidung für eine der Entwurfsklassen voraus. Die Autorenschaft des Entwurfsarchitekten wurde von Reiner Zettel in seinem Vortrag während des Workshops hervorgehoben und als Ziele des Professors, die von von den Studenten in dessen ideologischer Nähe verfolgt werden, be- schrieben. Die Arbeitssituation in den jahrgangsübergreifenden Klassen gleicht seiner Meinung nach einer selbstorganisierten Wohngemeinschaft, die Studie- renden leben quasi im Atelier und lernen von- und miteinander. Eine Entwurfs- aufgabe wird also von Studierenden im ersten Semester, wie auch von höheren Semestern bearbeitet. Reiner Zettl betonte die horizontale Vermittlung, eine intensive Projektbearbeitung und individuelle Betreuung, die zur Identifizierung mit der Familie beitragen. Aber auch die Auflehnung wird geprobt: Vor dem Hintergrund Sachzwänge als Regelwerk eines anderen zu begreifen, werden Aufgabenstellungen hinterfragt und somit eine hohe Kritikfähigkeit entwickelt. arch eins* 146 147 Der Semesterstart beschrieb Zettel mit einem warming up, das die Angst vor dem weißen Blatt nimmt, einen großen Anteil an Spaß beinhaltet, Selbstsicherheit im Umgang mit Problemstellungen vermittelt und Vorlieben für bestimmte Materialien und Formen kultiviert. Diese erworbenen Fähigkeiten und die Neu-Interpretation von vorgegebenen Aufgabenstellungen können in komplexere Entwurfsprozesse ein- gebaut werden und bilden letztendlich auch eine Grundlage für andere Aufgabengebiete. Technische Universität, TU/e Eindhoven, Niederlande: Hans van Well und Theo Hauben, Do- zenten im ersten Jahr Die Technische Universität, TU/e Eindhoven ist mit 250 Studienanfängern ohne besondere Zulassungs- bedingungen ein relativ großer Fachbereich. Die faculteit bouwkunde beinhaltet neben der Architektur Städtebau, Konstruktion, Ausführungstechnik, Design Systems und Projektentwicklung. Nach dem ersten Jahr studieren weniger als die Hälfte mit dem Schwerpunkt Architektur weiter. In diesem ersten Jahr arbeiten die Studierenden neben theoretischen und konstruktiven Seminaren zwei Tage im Atelier. 18 Gruppen werden von jeweils einem Dozenten, der von einem studentischen Assistenten unterstützt wird, betreut. Das Jahr ist in drei Schwerpunkte gegliedert, Basisfähigkeiten, Architektur und Städte- bau, die jeweils von kleinen Übungen zu komplexeren Aufgaben führen. Mit einem Spektakel werden die Ergebnisse eines Trimesters einer größeren Öffentlichkeit vorgestellt. Das Eindringen in große Entwurfsaufgaben, mittels anfänglich separater Übun- gen zu verschiedenen Disziplinen, wie z.B. technischen oder konstruktiven De- tails, soll die Komplexität des Architekturfeldes bewusst machen und anschlie- ßend mit umfangreicheren Aufgaben unter den Fachdisziplinen vermitteln. Der Maßstabssprung in städtebaulichen Projekten, das Denken von Groß und Klein ist ein ständiger Kommunikationsprozess. Die Kommunikation selbst steht nach den Dozenten Hans van Well und Theo Hauben im Mittelpunkt des Lehrkonzepts Lehren entwerfen – Entwerfend lehren. Die Studierenden lernen aufgrund von Aufgabenstellungen Probleme und Zielsetzungen als Ausgangspunkte zu formu- lieren, die produzierten Bilder zu beurteilen und sie wieder mit dem Ausgangs- punkt zu konfrontieren. So werden die Fragen, die die Studierenden mitbringen, miteinbezogen und im Austausch mit den Lehrenden auch das Lehrkonzept einer ständigen Selbstreflexion unterzogen. „Wir legen großen Wert auf den Prozess. Die Studenten müssen ein Problem kriegen, es zu ihrem machen und es lösen wollen.”, betonen die Dozenten in ihrem Vortrag während des Work- shops. arch eins* 148 149 Rheinisch Westfälisch Technische Hochschule, RWTH Aachen: Prof. Vladimir Lalo Nicolic, Lehr- stuhl für Baukonstruktion Das Studium an der RWTH Aachen ist durch einen örtlichen Numerus Clausus zulassungsbeschränkt. Jährlich beginnen ca. 235 Studierende im Fachbereich Architektur. Neben den Pflichtfächern konstruk- tiv-technischer, gesellschaftlich-kultureller und allgemeiner Art in den ersten vier Semestern bleibt „für das Entwerfen, die zentrale Aufgabe des Architekturstudiums, [...] wenig Zeit. Der Kleine Entwurf, angesiedelt im dritten und vierten Semester, garniert neben den klassischen Fächern wie Zeichnen, Darstellen und Bildhauerei das trockene Brot der Faktenwissensvermittlung.”8 Prof. Vladimir Lalo Nicolic misst aber gerade dem kleinen Entwurf eine zentrale Bedeutung bei und stellt, entgegen den üblichen Aufgabenstellungen am Fachbereich, fünf kleine Aufgaben, die inhaltlich aufeinander aufbauen. „Da es sich um Entwurfsanfänger handelt, müssen diese Aufgaben in ihrer Komplexität zwar zunächst stark eingeschränkt, können aber sukzessive hochgerüstet werden. [...] Ein kreatives Entwerfen ist [...] über die ausgesprochene Ermutigung zum Neuausprobieren zu erreichen, denn durch ein immer noch allzu gern praktiziertes – knechtisches Nachmachen und Nachschauen bei selten berühmten und statt dessen häufig recht unrühmlichen Vorbildern.”9 Brandenburgisch Technische Universität, BTU Cottbus: Prof. Jo Acher- mann und Heinrich Weid, Assistent, Lehrstuhl für Plastisches Gestalten und Karin Sander, Assistentin am Lehrstuhl Architekturdarstellung und -informatik Die Brandenburgische Universität BTU Cottbus ist mit zehn Jahren eine relativ junge Universität. Ohne besondere Zugangsbedingungen beginnen jedes Jahr ca. 140 Studierenden ihr Studium am Fachbereich Architektur, Stadt- und Re- gionalplanung. Das Grundstudium ist mit vier Semestern als Projektstudium an- gelegt, in dem „viele Einzeldisziplinen praxisnah an den von den Studierenden erarbeiteten Lösungsansätzen vermittelt werden. Das Zusammenspiel der Fach- ingenieure, [...] der CAD-Einsatz im Entwurfsprozess und ein 8-wöchiges Bau- praktikum gehören zum unverzichtbaren Basiswissen.“, erklärte Jo Achermann während seines Vortrags. Prof. Jo Achermann mit dem Lehrgebiet Plastisches Gestalten ist der einzige eingeladene Lehrstuhl, der nicht Entwurf unterrichtet. Er folgte der Einladung zum Workshop in Kooperation mit dem Lehrstuhl für Architekturdarstellung und - informatik vor dem Hintergrund des interdisziplinären und integrativen Lehrkonzepts arch eins* 150 151 des Fachbereichs. Die beiden Lehrstühle verstehen die Darstellungsmethoden wie auch die haptischen Erfahrungen des Modellierens mit unterschiedlichen Materialien als gleichberechtigte Entwurfswerkzeuge und stellen somit ebenfalls wesentliche Grundlagenbereiche dar. Karin Sander stellte ihre Position während des Vortrags vor: „Mit den Medien der Darstellung kann man nicht nur Architekturentwürfe präsentieren, sondern auch entwerfen. Der Prozess der Wahrnehmung ist im Sehen und Interpretieren des Gesehenen, wie auch im Übersetzen z.B. in ein anderes Material ein äußerst kreativer Prozess, der eine der wichtigsten Grundlagen für die Architektur darstellt. Die Größe des Objekts spielt dabei keine Rolle, der Input interessanter visueller und skulpturaler Ansätze ist für alle gestaltenden Bereiche ein Pool, aus dem man schöpfen kann.” Die gemeinsamen Vorstellungen vertraten beide Lehrenden wie folgt: „Das Lernen im Naturstudium, die erworbenen Materialkenntnisse, das ausreichende Experimentieren wie das Wecken des Forschungs- drangs fördern die Entwicklung einer Persönlichkeit. Das auseinandersetzende Vergleichen der eige- nen Arbeit mit denen der Mitstudierenden schult die Betrachtungen und führt dazu, Worte für das Geschaffene zu finden. So lernt der Student die Komplexität seiner Arbeit seinem Gegenüber ver- ständlich zu vermitteln. [...] Architekturdarstellung ist eine Fiktion der Realität. Dazu ist es notwen- dig, innerhalb diverser Abstraktionsprozesse ein interpretierbares Bild der möglichen Realität aufzu- zeigen. Abstraktes Denken im Hinblick auf visuelle Kommunikation zu schulen ist deshalb für uns von immenser Bedeutung. [...] Als Lehrende verstehen wir uns im Umgang mit kreativen Arbeitsprozessen eher als Schuhlöffel oder als Starthilfekabel. Wir versuchen die Studenten in ihrem individuellen Umgang mit den Aufgaben zu unterstützen und zu bestärken. Durch das vermittelte Basiswissen und die Sensibilisierung persönlicher Darstellungsoptionen bekommt der Student einen Einblick, den es gilt in den anschließenden Semestern weiterzuentwickeln.“10 Akademie der Bildenden Künste Stuttgart: Prof. Peter Herms, Lehrstuhl Ent- werfen und Architektur, Prof. William Firebrace, Lehrstuhl Grundlagen der Gestaltung und Tillmann Heller, Assistent An der Akademie der Bildenden Künste Stuttgart arbeiten ca. 50 Studierende aus Architektur und Design im ersten Jahr an gemeinsamen Projekten neben dem theo- retischen Lehrangebot. Unterschiede im Berufsbild werden lediglich mit der differie- renden Größe der Objekte beschrieben. Neben dem Lernen und Denken unter- schiedlicher Architektur- und Gestaltungsansätze, dem projektbezogenen Erlernen von verschiedenen Fertigkeiten auf medialer und haptischer Ebene steht die indi- viduelle Erfahrung im Mittelpunkt. arch eins* 152 153 Der Vortrag „Just (f) do it” von Prof. William Firebrace war Konzept. Er zeigte in fünf kurzen Filmen Semesterproduktionen zu vorgegeben Stichworten, wie Klangkörper, New York Triologie oder Picknick, ohne dazu viel zu erzählen. Die Aufgaben bekommen die Studenten im ersten Semester, ohne dass ein konkreter Arbeitsauftrag formuliert wird. Die Interpretation der Aufgabe, sogar das Medium ist frei zu wählen. Die Studenten sollen mit ihrem Projekt ihre ganz eigenen Interessen verfolgen. Ergebnisse sind Modelle, Objekte, Zeichentrickfilme oder Performances, die dokumentiert als Portfolio am Ende des Semesters abgegeben werden und sich einer Kritik stellen müssen. William Firebrace verfolgt damit vier Aspekte des Lernens, die er in seinem Vortrag während des Workshops in Form eines Skripts vorstellte: - We ask our students to design at various scales – from the object such as held in the hand, to an interior, to a house to thinking at large scale about cities and landscapes. - We experiment with a range of design techniques, such as quick drawing and rapid models, varieties of materials, through to hard line drawings to video and animation. - We seek to create a design method, so the students evolve their projects gradually and in depth, learning also to take risk and leaps. - We are continuously investigating ways to avoid the dull and academic, to get away from the notion of student work being just something that is pinned up on the wall and given a mark. We experiment, with shows, performances, out of the ordinary venues for discussions. Die Arbeitsergebnisse, die sich in ihrer Vorgehensweise und den Darstellungs- mitteln unterscheiden, sind stark ambitioniert. „Die Erfahrung, für eine Idee, einen Entwurf die adäquate Darstellung zu finden, eine Performance, ein Pro- jekt konsequent durchzuziehen und umzusetzen, steht in großer Verbindung zu dem Alltag der Studierenden und lässt eine große Unbefangenheit und Spon- tanität zu.” Als kreative Energie erzeugt sie ein Potential, das zusammen mit den erworbenen skills auf größere Maßstäbe und andere Bereiche angewendet werden kann. Darüber hinaus proklamierte er als einziger: „Wir gehen davon aus, dass die Studenten nach dem Studium meist etwas anderes machen.” Universität Kassel: Prof. Hans Frei, Lehrstuhl für Architekturtheorie, Anne Rommel, Assistentin am Lehrstuhl Entwerfen im städtebaulichen Kon- text, Annekatrein Quast und Andreas Schuchardt, Tutoren Der gestufte Studiengang Architektur an der Universität Kassel mit einem er- sten und einem zweiten Diplom hat eine gewisse Nähe zu dem diskutierten Bachelor/Master-System. Die Studienbereiche Architektur, Stadt- und Land- schaftsplanung wurden als Fachbereich -asl- zusammengelegt. Ca. 150 Studie- arch eins* 154 155 rende erhalten durch einen örtlichen Numerus Clausus für Gymnasial- und Fachoberschulabsolventen einen Studienplatz. Projektstudium, Praxisbezug und interdisziplinäres Arbeiten sind die Grundsteine der Ausbildung. Zwei Berufspraktika garantieren während des Studiums das Lernen aus der Praxis. Die Grund- und Hauptstudiumsprojekte werden rotierend von allen entwerfenden Fachgebieten angeboten und zum Teil fachübergreifend betreut. Eine obligatorische Exkursion am Anfang des Semesters ermög- licht schon nach drei Wochen ein Eintauchen in die Architektur, Stadt- und / oder Landschaftsplanung. Sie bietet den Stoff für die Nachbearbeitung und erste Entwürfe. Der Vormittag ist dem theoretisch- systematischen Lehrangebot gewidmet: Baukonstruktion, Tragwerkslehre, Haustechnik, Bauwirtschaft, Zeichnen, Entwurfsmethoden und -übungen, Vorlesungen zu Gebäudelehre, Architekturgeschichte und -theorie, der Nachmittag dem Projektstudium. Die Arbeitsgruppe wurde von Prof. Hans Frei, Lehrstuhl für Architekturtheorie, der seit einigen Jahren neben seinen Vorlesungen und Seminaren das Grundstudium betreut, in Zusammenarbeit mit einer Assi- stentin und zwei Tutoren geleitet. In seinem Vortrag während des Workshops legte er seine theorie- geprägte Position zur Lehre im ersten Jahr wie folgt dar: „Architektur lässt sich als eine Disziplin betrachten, die die Begegnung und den Austausch mit dem Andern räumlich organisiert. Die erste und wichtigste Angelegenheit eines Architekten wäre dann, auf den Fremden, die Natur, den Ort etc. zu hören, statt ihnen die eigene Logik aufzuzwingen. Zu diesem Zwecke muss man allerdings die Idee aufgeben, dass Architektur in erster Linie eine Formalisierung von spezifischem Wissen ist, denn die Sprache des Anderen ist etwas, was ex definitionem gerade der eigenen Formalisierung entgeht. Dies ist keine Attacke gegen das formalisierte Wissen in der Architektur, so wie ja auch niemand den Dialog einer Mutter mit ihren neu geborenen Kind als Attacke gegen die formalisierte Sprache auffasst, obwohl sie alle grammatikalischen Regeln bricht. Nur gibt es etwas Wichtigeres in der Archi- tektur als den korrekten Aufbau des Wissens, auch wenn wir darauf letztlich nicht verzichten können. Arch bedeutet Anfang, Ursprung, Tech das technische und poetische Hervorbringen. Architektur ist demzufolge das, was dem Machen vorangeht und dieses bestimmt. Dann geht es am Anfang nicht um den Gehor- sam gegenüber den eigenen Grundlagen, als vielmehr um die Bereitschaft, das eigene Gebiet dem Anderen gegenüber zu öffnen und den eigenen Standpunkt – das Gefängnis der Formalisierung – zu verlassen.“ arch eins* 156 157 Die Hochschulteams traten an, eine ihnen bis dahin unbekannte Aufgabe in vier Tagen zu bearbei- ten, ihren Arbeitsprozess transparent zu machen und sich anschließend mit den Arbeitsergebnissen einem Fachpublikum und Gastkritikern zu stellen. Den theoretischen Rahmen bildeten die abendlichen Vorträge der teilnehmenden Lehrstühle. Sie boten die Möglichkeit die unterschiedlichen Ansätze mit einer breiten Öffentlichkeit zu diskutieren. Die Teilnehmer reisten am Sonntag vor dem Workshop an. Einige nutzten die Zeit, um die Stadt zu erkunden, die documenta zu besuchen oder ihren Arbeitsplatz für die Woche einzurichten. Abends fand ein Begrüßungsfest auf dem dach 111 statt, einem documenta-Übernachtungs-und-Lounge-Projekt, das von Kassler Architekturstudenten initiiert und auf dem Dach der Leipziger Straße 111 gebaut und betrieben wurde. Das hochschulinterne Institut Zentrum für umweltbewusstes Bauen stellte uns seine Räume für den Workshop zur Verfügung. Am Montagmorgen startete der Workshop. Wir stellten die Aufgabe, die von uns in Zusammenarbeit in Zusammenarbeit mit Dan Hoffman von der Arizona State University entwickelte wurde vor: Die Hoch- schulteams waren aufgefordert, vor dem Hintergrund des Ausnahmezustandes documenta, einer alle fünf Jahre stattfindenden, international bedeutenden Kunstausstellung in der eher unauffälligen Stadt Kassel, das Märchen „Des Kaisers neue Kleider” von Hans Christian Andersen neu zu lesen und einen Ort für eine mögliche Intervention zu finden. Die Bearbeitung setzte eine Positionierung zwischen techni- Der Workshop – Rahmen- programm und Aufgabenstellung arch eins* scher und künstlerischer Herangehensweise voraus. Die Aufgabe sollte aber auch einen Freiraum bieten, nicht nur bisher eingesetzte Lehr- und Lernmethoden anzuwenden, sondern darüber hinaus neue Wege zu erproben. Die ersten Entwurfsansätze sollten am Tag darauf in einer kurzen Zwischen- präsentation vorgestellt werden, um Vorgehensweisen zu erläutern, ein Nachfra- gen zu provozieren, die Endergebnisse später nicht als Geniestreiche erscheinen zu lassen und um begleitend eine konstruktive Auseinandersetzung innerhalb des Workshops aufzubauen. Die Endpräsentation und die anschließende Ausstellung fanden nach fünf Tagen in einem leer stehenden Gebäude statt, dem ehemaligen Theaterfundus des Kasseler Staatstheaters am Renthof. Bei der Endpräsentation, zu der viele Studierende, Hochschullehrer und ortsansässige Architekten erschienen, wurden die Ergebnis- se vorgestellt und mit eingeladenen Gastkritikern diskutiert. Da es sich bei diesem Workshop ausdrücklich nicht um einen Wettbewerb der Hochschulen handelte, wurde kein Gewinner juriert. Im Anschluss wurden die Arbeiten für einige Wochen im Rahmen einer Ausstellung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. 158 159 Ein Märchen von Hans Christian Andersen als Grundlage der Aufgabenstellung: Des Kaisers neue Kleider10 Vor vielen Jahren lebte einmal ein Kaiser, der so viel auf schöne neue Kleider hielt und sich so gern putzte und schmückte, daß er all sein Geld dafür ausgab. Er kümmerte sich nicht um seine Soldaten, machte sich nichts aus dem Theater und fuhr auch nicht in den Wald hinaus, außer um seine neuen Kleider zu zeigen. Er hatte einen Rock für jede Stunde des Tages, und ebenso wie man von einem Kaiser sonst sagt, er sei im Schloß oder im Senat, sagte man hier: „Der Kaiser ist in der Garderobe“. In der Großen Stadt, in der er wohnte, ging es immer sehr lustig zu. Jeden Tag kamen viele Fremde, und eines Tages kamen auch zwei Betrüger; sie sagten, sie wären Weber und sie verstünden das feinste Tuch und die schönsten Muster zu weben. Es sei aber auch noch etwas besonderes mit ihrer Weberei. Nur derjenige könne sie sehen, der klug sei und für sein Amt tauge – für alle anderen aber, die Dummen und Untauglichen, bleibe das Zeug unsichtbar. „Das wären ja prächtige Kleider!“ dachte der Kaiser. „Wenn ich die anhätte, könnte ich schnell dahinterkommen, welche Männer in meinem Reich nicht für das Amt Taugen, das sie innehaben. Auch wären die Klugen von den Dummen bald zu unterscheiden. Ja, das Zeug muß gleich für mich gewoben werden.“ Und er gab den beiden Betrügern viel Geld im voraus und hieß sie an die Arbeit gehen. Zwei Webstühle wurden aufgestellt, und dahinter setzten sich die beiden und taten, als ob sie arbeiteten; sie webten aber nur leere Luft und hatten nicht einen Faden aufgespannt. Sie verlangten die feinste Seide und das prächtigste Gold, das steckten sie in ihre eigne Tasche, und so arbeiteten sie an den leeren Stühlen bis tief in die Nacht hinein. Nun möchte ich doch wohl wissen, wie weit es mit dem Zeug ist! Dachte der Kaiser. Dabei war ihm recht beklommen zumute bei dem Gedanken, daß Dumme und Untaugliche es nicht sehen könnten. Nun glaubte er zwar, daß er für sich selbst nichts zu fürchten brauche; es war aber vielleicht doch besser, zuerst einen anderen hinzusenden, um zu erfahren, wie weit es mit der Sache stünde. In der ganzen Stadt hatte sich die Geschichte von den beiden Webern und dem sonderbaren Zeug, das sie herstellten, herumgesprochen, und alle waren neu- gierig, zu sehen, wie dumm oder schlecht ihre Nachbarn seien. „Ich will meinen alten, ehrlichen Minister zu den Webern senden“, sagte der Kaiser, „er kann am besten beurteilen, wie sich das Zeug ausnimmt, denn er hat Verstand, und keiner versteht sein Amt besser als er.“ Nun ging der gute, alte Minister in den Saal hinein, in dem die beiden Betrüger saßen und leere Luft verwebten. Er riß die Augen auf, als er sah, daß hier gar nicht zu sehen war; aber das sagte er nicht. Die beiden Betrüger baten ihn, so gut zu sein und näherzutreten, und fragten ob es nicht ein schönes Muster und herrliche Farben wären. Dann zeigten sie auf den leeren Webstuhl, und der arme, alte Minister fuhr fort, die Augen aufzureißen, aber er konnte nichts sehen, denn es war nichts da. „Großer arch eins* 160 161 Gott!“ dachte er, „sollte ich also wirklich dumm sein oder für mein hohes Amt nicht taugen? Das hätte ich nie geglaubt, und das darf kein Mensch erfahren.“ Als ihn die Betrüger nun fragten, warum er denn nichts dazu sage, antwortete er: „Oh, es ist wunder- bar! Dieses Muster und diese Farben! Ja, ich werde dem Kaiser sagen, daß es mir sehr gefällt!“ „Nun, das freut uns!“ sagten die beiden Weber, und dann nannten sie die Farben mit Namen und erklärten das seltsame Muster. Der alte Minister paßte gut auf, damit er dem Kaiser dasselbe sagen könne, und das tat er. Die Betrüger verlangten nun noch mehr Geld und Seide und Gold zum Weben, und wieder steckten sie alles in ihre eigene Tasche, auf den Webstuhl kam kein Faden; aber sie fuhren fort, wie bisher an den leeren Webstühlen zu arbeiten. Der Kaiser sandte bald einen anderen hohen Staatsmann hin, um zu erfahren, wie es mit den Webern stünde und ob das Zeug bald fertig sei. Es erging ihm wie dem Minister, er schaute und schaute, aber weil nichts zu sehen war außer den beiden Webstühlen, konnte er nichts sehen. Nur die Weber fuchtelten mit den Armen und traten mit den Beinen und webten ganz gewöhnliche Luft. „Ist das nicht ein hübsches Zeug?“ fragten sie den Staatsmann und zeigten und erklärten das herrliche Muster, das gar nicht da war. „Dumm bin ich gewiß nicht!“, dachte der Mann, „vielleicht tauge ich aber für mein hohes Amt nicht. Aber nur nichts merken lassen!“ Und so lobte er das Zeug, das er nicht sah, und tat, als freue er sich über die schönen Farben und das herrliche Muster. „Ja, es ist reizend!“, sagte er zum Kaiser. Alle Leute sprachen von nichts als dem prächtigen Zeug. Nun wollte der Kaiser aber endlich selbst die Arbeit sehen, während das Zeug noch am Webstuhl war. Deshalb ging er mit einer ganzen Schar auserlesener Männer zu den beiden listigen Betrügern hin, die nun aus Leibeskräften webten, aber ohne jeden Faden. Die zwei gutmütigen Beamten, die schon früher dort gewesen waren, standen auch dabei. „Ja, es ist allerliebst!“, sagten sie, „sehen Eure Majestät die Farben und dieses Muster!“, und sie zeigten auf die leeren Webstühle, weil sie glaubten, daß die anderen das Zeug sicherlich sehen konn- ten. Ja, das war fürchterlich: der Kaiser konnte beim besten Willen nichts sehen, rein gar nichts! „Bin ich denn dumm?“, dachte er, „oder tauge ich am Ende nicht zum Kaiser?“ Es war ihm schrecklich zumute. „Oh, es ist sehr schön!“, sagte der Kaiser. „Ich sehe alles; es hat meinen allerhöchsten Beifall!“ Und er nickte zufrieden und betrachtete die leeren Webstühle. Das ganze Gefolge, das er mit sich hatte schaute und schaute, und es sah doch keiner mehr als der andere, nämlich gar nichts; doch sie sagten wie der Kaiser: „Oh, es ist sehr schön!“ und rieten ihm, die Kleider aus diesem neuen, prächtigen Zeug, das erstemal bei einer der großen Prozession, die bevorstand zu tragen. „Ach, wie schön! Ganz reizend!“, ging es von Mund zu Mund. Der Kaiser steckte jedem der Betrüger arch eins* 162 163 eine Orden ins Knopfloch und verlieh ihnen den Titel Kaiserliche Hofweber. Die ganze Nacht vor dem Morgen, an dem die Prozession stattfinden sollte, waren die beiden Betrüger auf und hatten mehr als sechzehn Lichter angezündet. Die Leute konnten sehen, wie stark beschäftigt sie waren. Sie taten, als ob sie das Zeug vom Webstuhl nähmen, sie schnitten in der Luft mit großen Scheren, sie nähten mit Nadeln ohne Faden und sagten zuletzt: „Seht, nun sind die Kleider fertig!“ Der Kaiser kam am Morgen mit seinen vornehmsten Hofleuten selbst in den großen Saal, und die beiden Betrüger hoben den einen Arm in die Höhe, als ob sie etwas hielten, und sagten: „Seht, hier ist die Hose und hier der Rock, da der Mantel! – Sie sind so leicht wie Spinngewebe, als trüge man nichts am Leibe, aber gerade das ist das Schönste daran.“ „Ja!“, sagten alle Höflinge, aber sie konnten doch nichts sehen, weil nichts da war. „Wollen Ihre Kaiserliche Majestät nun allergnädigtst belieben, die Kleider abzulegen!“, sagten die Betrü- ger, „dann werden wir Ihnen die neuen hier vor dem großen Spiegel anziehen!“ Der Kaiser legte alle seine Kleider ab, und die Betrüger gebärdeten sich so, als würden sie ihm jedes Stück der neuen Kleider anziehen; sie faßten ihn um die Taille und banden scheinbar etwas fest, das war die Schleppe, rückten hier eine Falte, schlossen dort eine Schnalle und strichen und glätteten durch die Luft, und der Kaiser wendete und drehte sich vor dem Spiegel. „Wie gut sie sitzen!“, sagten alle, „welches Muster, welche Farben! Das ist ein kostbares Gewand!“ Den Kaiser aber begann zu frieren, denn er hatte ja nichts am Leibe; aber er wendete sich nocheinmal vor dem Spiegel, als betrachte er so recht seine neuen Kleider. Die Kammerherren bückten sich, als wollten sie die Schleppe aufheben, und wagten nicht, sich anmerken zu lassen, daß sie nur Luft in den Händen hielten. So ging denn der Kaiser in der Prozession unter dem prächtigen Thronhimmel, und alle Menschen auf der Straße und an den Fenstern sagten: „Ach, wie unvergleichlich des Kaisers neue Kleider sind! Wie lang die Schleppe ist! Wie wunderbar alles sitzt!“ Keiner wollte sich anmerken lassen, daß er nichts sah als den nackten Kaiser unter seinem Baldachin, denn sonst hätte er ja nicht für sein Amt getaugt oder wäre sehr dumm gewesen. Noch nie war eines von des Kaisers Kleidern so bewundert worden wie das, das es gar nicht gab. „Aber er hat ja gar nichts an!“, rief da ein kleines Kind. „Hört die Stimme der Unschuld!“, sagte der Vater, und einer flüsterte es dem andern zu, was das Kind gesagt hatte. „Aber er hat ja wirklich nichts an!“, rief zuletzt das ganze Volk. Der Kaiser, den in seiner Nacktheit schon erbärmlich fror, hörte den Ruf, und es schien ihm nun selbst, als hätte er nichts an. „Ich muß aber noch aushalten“, dachte er, „die ganze Prozession hindurch!“ Und dann hielt er sich noch stolzer, und die Kammerherren gingen und trugen die Schleppe, die gar nicht da war. Die beiden Betrüger aber waren längst über alle Berge. arch eins* 164 165 arch eins* Tatsächlich wurden, wie durch die Aufgabenstellung provoziert, die zwei elementaren Ansätze der Architektenausbildung, die technische und die künstlerische, in einen dynamischen Austausch ge- bracht. Die technische Ausbildung ist grundsätzlich durch Prinzipien gekennzeichnet. Die Welt wird durch Erklärungen, wie die Dinge funktionieren, eingefasst. Bezogen auf „Des Kaisers neue Kleider“ legt die technische Herangehensweise nahe, die physische Struktur einer möglichen Mauer, einer Fassade zu definieren und sie auf eine existierende Situation zu beziehen. Die künstlerische Ausbil- dung legt einen besonderen Wert auf die Formulierung von Fragen. Eine künstlerische Annäherung beginnt damit, die Situation einzugrenzen, gefolgt von einer Suche nach dem passenden Ausdruck und seiner Umsetzung. Das Herausstellen dieser beiden konträren Ansätze führte im Workshop zu einem Dialog, zu Synergien und einem dynamischen Austausch beider, der zwar eine Positionierung provozierte und doch alle einen dritten Weg einschlagen ließ. Das Märchen und die Belegung der handelnden Personen wurden sehr unterschiedlich interpretiert. Die naheliegende architektonische Analogie Kaiser – Bauherr, Schneider – Architekt und Kleid – Fassa- de wurde jedoch nur am Rande erwähnt. Die Zuordnung einer positiven Rolle für das Kind und die damit verbundene Zielsetzung, diese unabhängige, keinen sozialen Zwängen unterworfene Haltung auf einen Entwurf zu übertragen, setzte als Beispiel andere Schwerpunkte, wie die Nacktheit des Kaisers als Befreiung anzusehen und diese mit der Nacktheit der Stadt in Bezug zu setzen. Andere Lesarten der Geschichte waren, dass die Eitelkeit des Kaisers vom Volk getragen und nur von einem Arbeits- ergebnisse des Workshops kleinen Kind erkannt wird oder es stand die Demaskierung des Betrachters und das geheime Bedürfnis den anderen zu idealisieren im Vordergrund. In der Stadt, in der documenta-Umgebung wurden teilweise Orte gefunden, die das Potential haben, eine Intervention als Antwort auf die Geschichte zu ver- tragen. Für andere spielten festgelegte Orte in den Entwürfen nur eine unter- geordnete Rolle. Die Zwischenpräsentationen waren das Schlüsselelement für die Diskussionen und den Austausch. Sie wurden neben der Vorstellung der Ergebnisse dazu benutzt, die unterschiedlichen Ansätze hervorzuheben. Das Programm, der Weg wurde von allen Gruppen in einem eigenen Notizbuch festgehalten und an- schließend mitausgestellt. Die Intensität der Zusammenarbeit und die Präsenz und Einheit der Gruppen waren ebenso unterschiedlich ausgeprägt, wie die Rolle der Lehrenden. Sie reichte vom Initiator bis zum Diskussionspartner. Spannend zu beobachten war der Ernst, der der Sache entgegengebracht wurde, wie auch der Spaß, der selbst bei den nächtlichen Sitzungen nicht verloren ging. Die erklärte Absicht, 166 167 arch eins* von unserer Seite keine Gewinner ermitteln zu wollen, sowie die geforderte Transparenz der Arbeits- weise führte nicht nur zur Reflexion der eigenen Lehre. Ein überaus interessanter und reger Aus- tausch zwischen Lehrenden und Studierenden innerhalb der Gruppen sowie der Austausch zwischen den Lehrstühlen und den Studierenden untereinander war zu beobachten. Die Ergebnisse reichten schließlich von konkreten, wenn auch außergewöhnlichen Gebäudeentwürfen über künstlerische Entwürfe, die eher einen Prozess abbilden als einen Endpunkt setzen, bis zu einem interaktiv angelegten Prozess-Instrument, das irgendwo im Umfeld der documenta positioniert werden könnte. Für zwei Gruppen wurde die Ausbildung selbst Gegenstand der Auseinandersetzung und brach- te als Ergebnis, wenn auch unter anderen Vorzeichen, eine Performance und mehrere Einzelarbeiten hervor. Die im folgenden präsentierten Aussagen der Mitwirkenden zu ihren jeweiligen Arbeitsergebnissen sind Zusammenschnitte aus den Videoaufzeichnungen, die während der Endpräsentation gemacht wur- den. Die Aussagen der Gastkritiker werden ebenfalls auf die wesentlichen Aussagen reduziert. Ich habe die Aussagen zur besseren Übersicht in die Punkte Konzept, Prozess, Präsentation und Diskus- sion gegliedert. Eidgenössische Technische Hochschule, ETH Zürich, Schweiz Mitwirkende: Andrew Whiteside und Cary Siress, Assistenten von Prof. Marc M. Angélil im Jahreskurs Entwerfen I+II mit Jessica von Bachallé, Andreas Kast, Christian Liechti, Johann Reble, Mia Ryffel und Johannes Schöpfer Konzept: „Erste Analysen suchten in der Überlagerung verschiedener Zwischen- zustände und unterschiedlicher Wahrnehmungsebenen der Stadt nach Schnitt- stellen. Eine Strategie wurde entwickelt, die auf drei Ebenen operierte: Kas- sel als physisch erlebbare Struktur, die Beziehung Kassels zur documenta und die Wirkung der vorgefundenen Situation auf den individuellen Besucher. Die Sichtbarmachung dieser Ebenen soll mit der Überlagerung eine neue Sicht auf die Stadt ermöglichen, die Suche nach der Identität der Stadt anregen: Die unsichtbare Stadt – Eine Werbekampagne.“ Prozess: „Am zweiten Tag probten wir Studenten eine kleine Revolution, weil die Arbeitsweise als zu analytisch und von den Betreuern als stark vorgegeben empfunden wurde. Außerdem vermissten wir eine poetische Komponente, die die Ausgangslage zugelassen hätte. Es fand eine intensive Auseinandersetzung mit unserer Ausbildung und ihren Ansätzen im Vergleich mit den anderen Schu- len statt. Die Woche diente der Reflexion des eigenen Seins an der Universität.“ 168 169 arch eins* Präsentation: „Die Strategie der Schichtung führte zu einer Strategie der „konzeptuellen Faltung”, die sich mit den Beziehungen Subjekt – Objekt, innen – außen und real – irreal auseinandersetzt. Auslöser für den Strategiewechsel im Märchen ist die unterschiedliche Wahrnehmung. Wer bin ich und wie sieht mich die Gesellschaft? Eine intensive Beschäftigung mit diesen Fragen führte über verschie- dene Ebenen der Wahrnehmung zu vielseitigen Fragestellungen. Die von uns entwickelte Infobox kann als Studie zu diesem Prozess gelesen werden und stellt ein Prozess-Instrument dar, das keinen spezifischen Ort in der Stadt sucht. Wo immer die Box steht, nimmt sie Einfluss auf ihre Umgebung und die Umgebung beeinflusst das Innere der Box.“ Das Prozess-Instrument war Teil einer Rauminstallation, die den Betrachter mit einbeziehen wollte: Er wurde zu einem Teil der Installation. Das Publikum wurde gebeten sich auf die ausgegebenen Stadtplä- ne zu setzen und die Augen zu schließen: Sie sollten sich vorstellen, dass aus den Fäden der neuen Kleider des Kaisers eine Straße durch Kassel gewebt würde. Diese Fäden verbanden die Box mit dem umgebenen Raum und den anderen Ausstellungsstücken. Anschließend wurde ein Jury-Mitglied aufge- fordert, in das Innere der Box zu tauchen. Er wurde mit Video gefilmt und per Direktübertragung außerhalb der Box auf eine Wand projiziert. Dabei bekam er Anweisungen zum Verhalten: Drehen, Hochschauen usw. Die Projektion konnte er selbst vom Inneren der Box aus nicht sehen. Auf den Innenwänden waren Schnittstellen der Stadt dargestellt, die nicht auf den ersten Blick sichtbar waren und sich auf Kassel zwischen den zwei Zuständen documenta und nicht-documenta bezogen. In eine Stadtkarte von Kassel sind Verbindungsachsen zwischen den Ausstellungsorten und Situationen, die unterwegs gefunden wurden, wie Müllboxen vor der documenta, ein besetztes Haus in Kassel, etc. eingetragen. Zum Schluss verteilte die Gruppe ein Souvenir: ein zusammengefaltetes Papier, das verschiedene Bilder von Kassel, der documenta und dem Arbeitsprozess der Gruppe zeigte und „[...] die unterschiedlichen Ebenen der Stadt in ihrer Paralle- lität darstellt. Das Souvenir ist Ausdruck für verschiedene Wahrnehmungs- ebenen, die diversen Möglichkeiten der Faltung lassen ein Ganzes entstehen.“ Diskussion: „Die Spiegel im Inneren der Box können als Erbe des Barocks gesehen werden und rufen wiederum zwei Lesarten hervor: den gebrochenen Spiegel oder den Spiegel, der die Verbindungsachsen besetzt. Die Ideen von Kassel, der Barock und die Moderne sind nicht durch eine einfache Überlage- rung zusammen zu bringen. (Jos Bosman) [...] Kann man sehend werden, wenn man mit Bildern zugemüllt wird? Die Reaktion auf die Informationsflut kann nicht eine ebensolche Informationsflut sein. (Anita Aigner) [...] Durch die kleinen Einblicke und Ausschnitte findet eher eine Fokussierung statt. Es ist ein Versuch eine Stadtidentität im Zeitalter von Neid und Konkurrenz der Städte 170 171 arch eins* zu gewährleisten. Das gerne eingesetzte Grand Projet kann Identität erzeugen, aber auch stadt- feindlich sein. Was ist denn wahre Identität? Das Spannungsfeld entsteht im globalen Bedarf zwi- schen den hier Wohnenden und den documenta-Besuchern. Die Lokalitäten sollten noch wahrnehm- bar sein. Der anfängliche Gedanke, Werbung für die documenta in Form von selektiven Projektionen spezifischer Eigenschaften mündete in der Entwicklung eines Instruments zur Verdeutlichung der relativen Realitätsskala. Diese Vermischung von Stadtkarte und Repräsentationsebene bleibt als Überlagerung abstrakt. (Andrew Whiteside) [...] Der interessanteste Aspekt ist die Doppellesbarkeit des Märchens auf die Stadt Kassel zu beziehen. Kassel ist gleich wahr, die documenta ist gleich falsch. Es handelt sich hierbei um den Bayreuth-Effekt, der der Stadt ein Image verschafft und Bilder produziert, die weltweit herumgehen. Aber interessanter wäre doch zu beschreiben, wie denn das Bild aussieht: Was hat es direkt mit Kassel zu tun, wie sehen die Aktionsorte zur Zeit der documenta aus und wie, wenn alles vorbei ist? (Nikolaus Kuhnert)“ Mitwirkende: Reiner Zettl, Oberassistent in der Meisterklasse Prof. Wolf D. Prix mit Eva Diem, Lukas Galehr, Eldine Heep, Gerhild Orthacker, und Judith Schafelner Konzept: „Die Thematisierung der Nacktheit als positives Erlebnis stand im Vordergrund. Vier Sätze aus dem Märchen waren Ausgangspunkt und bildeten als Fundstücke die Initialzündung für das weitere Vorgehen.“ Das Kind wurde nicht mit den Attributen rein und wahr belegt, es galt der Arbeitsgruppe eher als fantasielos, konservativ und moralisch. Die Gruppe legte sich auf einen Ort in Kassel fest: Die die Stadt prägenden Straßenunterführungen aus den 1950er- Jahren. Verfremdete Bilder eines tanzenden nackten Kaisers, der im Morgenne- bel im Auepark aufgenommen wurde, wurde „[...] mit Bildern aus der Unterwelt überlagert [...]“ und in dreidimensionale Raumkonzepte übersetzt. Prozess: Die Wiener Studenten arbeiteten intensiv und sehr eng mit Reiner Zettl zusammen. Sie saßen fast gleichzeitig am Rechner, bauten Modelle und unternahmen gemeinsame Fahrradtouren durch die Stadt. Präsentation: Bilder, Zeichnungen und Modelle aus allen Arbeitsphasen wur- den vorgestellt. „Auf der Suche nach der Nacktheit für Kassel, stießen wir auf Die AngewAndte Wien, Österreich 172 173 arch eins* die für Kassel typischen Straßenunterführungen, die in den 50er-60er Jahren angelegt, damals den Fortschrittsgeist der Stadt verkörperten. Sie wurden damals als wichtig, schön und modern angese- hen, jetzt aber von den Bewohnern der Stadt als ungenutzt und geradezu nackt empfunden. Diese Wahrnehmungsverschiebung soll wieder ins Bewusstsein der Stadt geholt und die Unterführungen als neue Ästhetik, als schicker Ort, vorgeführt werden. Das unsichtbare Kleid des Kaisers, die Bewegung des Tanzes und der dadurch entstandene Raum wurden auf die Unterführungen projiziert. Der ihnen vorherrschenden Horizontalität haben wir eine vertikale Bewegung hinzugefügt, also durch die neuen Einbauten, die Hinzunahme der Z-Achse, durchbrochen. Der Fremdkörper schiebt sich in den vor- handenen Raum und verstärkt durch den Kontrast sein Profil. Der Raum soll tanzen und neue Mög- lichkeiten schaffen ein Programm anzusiedeln. Die Belegung mit studentischen Arbeitsräumen, Cafés und Proberäumen bietet eine Erweiterung der städtischen Infrastruktur an. Ein neues Erleben, das Zurückholen der Attraktivität des Ortes Unterführung wird ermöglicht. Das Verstehen des Hinter- grundes dieser Intervention ist nicht nötig um den Raum selbst funktionieren zu lassen.“ Diskussion: „[...] Die Präsentation überzeugt. Die Gruppe wirkt wie ein großer Kopf, der denkt, spricht und fühlt. (Cary Siress) [...] Das Märchen und die Situation der Stadt wurden scharf beobachtet, aber ob das Ergebnis der gemachten Tanzerfahrung in einen Raum übersetzt wurde oder das Ergebnis eher eine Bühne darstellt und somit nur eine Selbstinszenierung ist, bleibt offen. Die Überprüfung der Form, auch in der Konfrontation mit ihrer neuen Umgebung steht noch aus. (Jos Bosman)“ Mitwirkende: Hans van Well und Theo Hauben, Dozenten im ersten Jahr mit Renze Evenhuis, Andre van Leth, Lex van der Meer und Stephan Petermann Konzept: „Rastplatz. Als wir die Aufgabe bekommen hatten, sind wir zuerst in die Stadtmitte gefahren, um die documenta anzuschauen und uns inspirieren zu lassen. Während wir in Kassel herumliefen, haben wir große Gegensätze gesehen, wie uns auch beim Märchen Gegensätze aufgefallen waren. Kassel war für uns eine graue Stadt, die nur lebt, wenn die documenta da ist. Deswe- gen wollten wir etwas machen, das an die documenta erinnert, auch wenn die documenta nicht stattfindet. Ein Kunstwerk wo sich normale alltägliche Dinge abspielen. Wir haben uns vorgenommen einen Rastplatz, einen Ort für Entspan- nung, zu machen, denn das gab es bisher nicht. Für diesen haben wir uns einen Ort gesucht. Die Kreuzung der Königsstraße mit der Treppenstraße, denn das ist ein zentraler Ort, wo die Achse der documenta und die Achse der Stadt Kassel einander kreuzen. Diese Umgebung hat zur Materialisierung unseres Kunstwerks/Gebäudes beigetragen: der Gegensatz zwischen Gras auf der einen und Straße auf der anderen Seite der Fassade. Auch wollten wir die Höhe suchen, so dass das Gebäude ein Erkennungszeichen werden könnte, das Kunst- werk/das Gebäude bekommt dadurch auch eine Ausblickfunktion. [...] Für die Technische Universität, TU/e Eindhoven, Niederlande 174 175 arch eins* Funktion haben wir uns Kassel angeschaut und danach gesucht, was die Stadt braucht. Es fiel uns auf, dass die documenta wenig Entspannung bietet. Hierzu haben wir Funktionen wie Midgetgolf und ein Schwimmbad geplant. Dies sind auch die Funktionen, die wir ausstellen wollen; das tägliche Ritual der Entspannung wird zum Kunstwerk erhoben. Die Aussage unseres Projektes ist ein interaktives Kunst- werk, das zugleich der Erkennungspunkt Kassels sein soll – das Logo der documenta..“ Prozess: „Mit diesen Daten haben wir angefangen. Jeder für sich hat einen Entwurf gemacht, dann haben wir uns zusammengesetzt und verwendbare Ideen herausgeholt und weiter entwickelt. Wir haben das einige Male gemacht und kamen zur Folgerung, dass wir uns zu weit vom Märchen entfernten. Wir haben das Märchen noch einmal analysiert, und es kam dabei heraus, dass es zwei wichtige Punkte gibt: das Unbehagen (des Kaisers) und das Bild, das die Umstehenden von den Kleidern hatten (für jeden war es wieder etwas anders). Das Unbehagen ist später sehr wichtig für die Funktion des Gebäudes geworden. Das Bild ist wichtig geworden für den Anblick des Gebäudes; wo man auch steht, man hat immer einen anderen Anblick des Gebäudes. Auch haben wir eines der ersten Schemas wieder entdeckt, das einen Gegensatz zwischen der Rechtschaffenheit des Kindes und den manchmal merkwürdigen Gedankengängen von Erwachsenen ausdrückt. Wir haben dann wieder einmal jeder für sich einen Entwurf gemacht und danach zusammen weiter gearbeitet.“ Präsentation: Gezeigt werden mehrere Arbeitsmodelle, ein Präsentationsmodell als „vorläufiges End- ergebnis“, Pläne und eine Powerpointpräsentation mit den wichtigsten Arbeits- schritten und Zwischenergebnissen: die Verortung des Objekts in der Stadt, der Nutzung des Gebäudes und das Zusammenspiel von statischer und dynami- scher Form. „Kassel mit, gegenüber Kassel ohne documenta wurde als Bild verwendet, als zwei Achsen, die sich ineinander drehen, verdrehen, schlingen. Durch das Winden von zwei Richtungen – das ist die Lösung – bis das Unbeha- gen an die Oberfläche tritt“. Diskussion: „[...] Ein Bild der aktuellen Niederländischen Architektur wurde mitgebracht und reproduziert. (Cary Siress) [...] Die Analyse, d.h. die Frage- stellungen und die daraus entstandene Folgerungen bleiben unverständlich. (Jos Bosman) [...] Der angebotene Rastplatz ist kein Ort der Ruhe, sondern eine weitere Aufregung in der aufgeregten documenta-Zeit. (Anita Aigner) [...] Es besteht ein Bruch mit der Geschichte: die Mehrdeutigkeit des Märchens, die verschiedene Lesarten zulässt, wird mit der Eindeutigkeit des Objekts nicht aufgegriffen. (Nikolaus Kuhnert) [...] Der Entwurf stellt ein gut gelöstes Er- gebnis ohne große Architekturtheorie dar. Der Kaiser wurde neu eingekleidet. Für einen Ort ist ein Inhalt entwickelt und dafür eine gute Hülle gefunden worden! (Wilfried Turk)“ 176 177 arch eins* Mitwirkende: Prof. Vladimir Lalo Nicolic, Lehrstuhl für Baukonstruktion mit Sascha Glasl, Moritz Groba, Kristine Krings und Daniel Schulze-Wetmar Konzept: „Das Märchen bot Anlass die eigene Ausbildung am Reiff (Franz Reiff, Gründungsmitglied der Architekturfakultät, ist Namensgeber des Fakultätsgebäudes) zu reflektieren und den individuellen Umgang mit der Ausbildungssituation, die eigene Veränderung und Prägung darzustellen. Die Stoff- Haut als sichtbare Hülle, ist auch immer Träger eines Inhalts. Die Haut ist Abbildung eines bestimm- ten Zustandes in einer Zeit. Die Haut ist Dokument der Veränderung. Die Haut dient als Projektions- fläche von äußeren Einflüssen.“ Prozess: Die Studenten der RWTH arbeiteten als einzige zurückgezogen oder außerhalb des Workshops- tandorts. Ihr Professor reiste erst am letzten Tag an. Präsentation: Nach der Ankündigung des Vorhabens, die Auseinandersetzung mit dem „Reiff“ darzu- stellen, folgte eine Performance von vier Studenten. In hautfarbene Unterwäsche gekleidet, ein „Sym- bol für die Nacktheit und Unbefangenheit“, schlüpften sie in einen eigens dafür gebauten Raum, eine Installation aus vier Wänden, die auf einem quadratischen Grundriss vier Kabinen bildeten und mit „Stoff-Haut“ bespannt war. Von innen heraus wurde der Stoff bearbeitet: Er wurde betastet, gedehnt, geboxt, eingeritzt und von einer Person sogar soweit zerstört, dass sie als Höhepunkt aus ihrer stark Rheinisch Westfälisch Technische Hochschule, RWTH Aachen zerschnittenen Stoffkabine heraussprang und durch den Ausstellungsraum flüch- tete. Jede der vier Personen übernahm eine andere Rolle, die in der unterschied- lichen Bearbeitung des Stoffs deutlich wurde. „Das Potential wurde individuell genutzt.“ Man könnte diese Rollen vielleicht mit den Namen der Vorsichtige, der Aktive, der Unzufriedene und der Gescheiterte beschreiben. Im Anschluss stell- ten sich die Akteure den Fragen des Publikums: „Die Performance war eine Reaktion auf die besondere Situation, die offene Aufgabe und die gute Atmo- sphäre des Workshops, die eine Reflexion der eigenen Ausbildung ermöglichte. Die Ausbildung spiegelt sich in der Konzeptfindung wieder: Wie auch im Unialltag gab es kein bestimmtes Mittel oder Methode, keinen Rucksack voll mit Arbeits- instrumenten, um sich einem Ziel zu nähern. Die Performance soll einen Anstoß geben und hinterfragen, ob es überhaupt ein ideale Ausbildung gibt und geben soll, da unterschiedlichste Ansprüche und Anliegen bei den Studenten bestehen.“ Diskussion: „[...] Die Performance zeugt von Mut und einer großen Präsenz der Studenten. [...] Der Aktion fehlt die Wechselwirkung mit dem Publikum, die Aufnahme und Weiterverarbeitung der Reaktionen. (Jos Bosman) [...] Was können wir daraus lernen? Die sich selbst bestätigenden und sich selbst dar- stellenden Metaphern bedürfen einer Reflexion. (Cary Siress)“ 178 179 Mitwirkende: Prof. Jo Achermann und Heinrich Weid, Assistent, Lehrstuhl für Plastisches Gestalten und Karin Sander, Assistentin am Lehrstuhl Architekturdarstellung und -informatik mit Benjamin Haupt, Yngve Heinzerling, Tanja Kinberger, Annett Kluge und Moritz Treese Konzept: Durch die Analyse des Märchens gingen für die Bearbeiter die Betrüger als die kreativsten aller am Prozess beteiligten Personen hervor. Sie stellten eine Utopie auf, die auf den Kaiser wirken, auf das Volk projiziert und durch das Kind aufgelöst werden sollte. Der Kaiser stand für die Stadt Kassel, das Volk für die Bürger von Kassel. Die Rolle des Kindes wurde positiv besetzt, es würde als einzige Person die Dinge sehen wie sie wirklich seien, da es noch keinen sozialen Zwängen unterwor- fen ist. Die Gruppe stelle dar, dass anfängliche Ziel das Herausarbeiten des Kindes sein sollte, das in den aktuellen Bezug, die Stadt Kassel und die documenta, gesetzt wurde: Kassel mit Kleid: documenta – Kassel ohne Kleid: die Zeit zwischen den documenten. Thematisiert wurde letztendlich, wie sich der Mensch durch die Utopie Kassels, die documenta bewegt. Prozess: „Die Bearbeitung der Aufgabe begann sehr theoretisch, wurde im Lauf der Zeit immer spontaner und emotionaler und fand ihren Höhepunkt in einem Tanz um den Turm, der dabei mit selbst klebenden Tapes bespannt wurde. Das Medium der Darstellung war am Anfang offen, die Betreuer machten keine Vorgaben, sie waren als Diskussionspartner in unser Team integriert.“ Die Lehrenden beschreiben sich selbst als „[...] Gegensatz zum Prinzip Leuchtturm: ein Schuhlöffel, der hilft, vorangeht, sich aber, wenn etwas von den Studenten kommt, zu- rückzieht. Eine der wichtigsten Rahmenbedingungen für kreative Arbeit ist eine gute Stimmung in der Gruppe zu erzeugen.“ Präsentation: In der Rauminstallation spielte ein Turm, der mit 20 Mensa- tabletts bestückt war, die wesentliche Rolle. Auf diesen in den Turm einge- steckten Tabletts lagen gesammelte Gegenstände aus dem Umfeld der documenta. „[...] Diese gesammelten Eindrücke sind nur während dieser Zeit in Kassel zu finden: documenta-Eis-Verpackungspapier, Garderobenmarken, abgerissene Ein- trittskarten, ein mit Draht nachgebautes documenta-Eis, Frottagen und Gips- abdrücke von Spuren. [...] Der Turm ist ortsungebunden, man kann ihn sich auch als wandelnden Turm in der Stadt vorstellen, auf den verschiedene Per- sonen ihre Eindrücke ablegen können, oder auch vorhandene Erfahrungen in Form von Sammelstücken entnehmen dürfen um wiederum neue dazuzulegen.“ Parallel läuft eine Diaprojektion mit langsamen Bildern und ein Film mit beschleu- nigten Sequenzen. Die Bilder und Filme haben ebenfalls das documenta-Umfeld, seine Besucher, Aktionen, Belanglosigkeiten am Rande zum Inhalt. Sie werden auf das Publikum, das um das Turmobjekt herumlief, projiziert. Parallel zum Film wird ein Tonband mit hörbaren Eindrücken abgespielt, „[...] das die akustische Brandenburgisch Technische Universität, BTU Cottbus arch eins* 180 181 arch eins* Veränderung des Stadtraumes in einem neu zu- sammengesetzten Sampling darstellt“. Die vi- suellen Erfahrungen, durch den Film dargestellt, wurden wiederum mit akustischen Reizen über- lagert, die anwesenden Personen mit den ge- sammelten Eindrücken konfrontiert. „[...] Die un- terschiedlichen Charaktere der Geschichte wie auch die zwei Zustände von Kassel werden be- nannt, zwischen denen über die vielschichtigen Wahrnehmungsebenen eine Verbindung herge- stellt werden soll. Die Mehrschichtigkeit der Ge- schichte, wie auch der Stadt findet ihren Aus- druck zwischen eigener Interpretation und der Deutung anderer.“ Diskussion: „[...] Der subversive Charakter der Aufgabe hebelt die documenta aus. Die Wahr- heit ist die Nacktheit, die Nacktheit der Stadt, in der Zeit ohne documenta. (Peter A. Herms)” Mitwirkende: Prof. Peter Herms, Lehrstuhl Entwerfen und Architektur, Prof. William Firebrace, Lehrstuhl Grundlagen der Gestaltung und Tillmann Heller, Assi- stent, mit Stefan Förg, Lukasz Lendzinski, Valeria Tarkova und Korinna Zechner Konzept: Die Fotografie sollte als Mittel eingesetzt werden. Kein Endresultat wurde abgeliefert, sondern der Prozess abgebildet. Den Ausgangspunkt stellten Satzfragmente aus dem Märchen: – das hätte ich niemals geglaubt – Dumme und Untaugliche es nicht sehen könnten – neugierig zu sehen – verwerten um zu erfahren – die Augen aufreißen – tat als freue er sich – nichts als Theater – ... Prozess: Pofessor Firebrace war nur am ersten Tag anwesend und hat bis in die Nacht mit seinen Studenten die Vorgehensweise der Bearbeitung bespro- chen. Am Tag der Präsentation war Professor Herms zugegen, um die letzten Dinge zu besprechen. Die mitwirkenden Studenten suchten während der Wo- che Kontakt und Auseinandersetzung zu den anderen Studenten. Sie arbeite- ten intensiv mit viel Spaß zusammen. Präsentation: Titel: “try and error”. Die Präsentation stellte die Abbildung des Prozesses und kein Endresultat dar. Sie gliederte sich in vier Bereiche: Die Akademie der Bildenden Künste Stuttgart 182 183 ausgewählten Sätze aus dem Märchen, Kassel und die Bewohner, das Medium Fotografie und sein Einsatz in Bezug auf die angesprochenen Personen, Bewohner der Stadt und documenta-Besucher und ein Experiment zum Thema Charakterraum. „Die documenta-Besucher standen im Mittelpunkt des Interesses. Deren Aussehen und Erscheinungs- bild wurden mit festgelegten Charaktereigenschaften gekoppelt. An doppelten, ineinander gesteckten Drahtwürfeln sind Wörter und Fotos befestigt. Der innere Würfel steht für Eigenschaften des Men- schen, wie Eitelkeit, Neugier, Ehrlichkeit und Zufriedenheit. In ihm sind dünne Fäden kreuz und quer gespannt. Der äußere Würfel trägt Begriffe für das Sichtbare, nach außen getragene, wie Kleidung, Qualität, Status und Mode. Alle diese Begriffe hängen eng mit dem Märchen zusammen. Diese beiden Würfel stellen innere und äußere Charaktereigenschaften als zwei voneinander abhängige Elemente dar. Die Schnittpunkte lassen einen Charakterraum entstehen, der sich von Würfel zu Würfel und von Mensch zu Mensch unterscheidet und der auch auf die unterschiedlichen Aggregatzustände von Kassel übertragen werden könnte. Das Schlüsselerlebnis war für uns der Rückschluss, den wir wieder- um aus den Beteiligten ziehen konnten, die wir aufforderten, einen Würfel für sich auszuwählen.“ Diskussion: „[...] Welche Schlüsse kann man aus diesem Projekt für die Architektur ziehen? Eine naheliegende Auseinandersetzung mit der Stuttgarter Schule und Frei Ottos leichten Tragwerks- konstruktionen könnten den Hintergrund für das Experiment mit den Seifenblasen geboten haben. [...] Das Experiment mit den Seifenblasen hätte eine These zur Architektur hervorbringen müssen. (Jos Bosman) [...] Eher wirkte der Titel des Vortrages bzw. das Lehrkonzept von William Firebrace prägend: just fuck’n do it! Es war eine ständigen Suche nach neuen Methoden. Die Reflexion jedes Arbeitsschrit- tes und der Diskurs führte uns durch den Prozess. Diese Arbeitsweise der konsequenten Verfolgung eines Projekts, das auch ein mögliches Scheitern beinhalte, ist für Stuttgart kennzeichnend. (Lukaz Lendzinsky) [...] Wo bleibt der Spaß an der ganzen Sache? Eine dritte Haut des Menschen hätte bei diesem Experiment herauskommen können, es war aber nur eine Seifenblase, die nicht bleibt. (Frank Stepper)“ arch eins* 184 185 Mitwirkende: Prof. Hans Frei, Lehrstuhl für Architekturtheorie, Anne Rommel, Assistentin am Lehr- stuhl Entwerfen im städtebaulichen Kontext, Annekatrein Quast und Andreas Schuchardt, TutorInnen mit Till Braukmann, Anja Heilmann, Julia Kaulbach, Daniel Klapsing und David Vogel Konzept: „Die Interpretation des Märchens führte zu der Gleichsetzung des Kaisers mit dem Bau- herrn aus dem Architektenalltag und zu dem Kind, das die Unschuld verkörpert. Das Kind als wichtig- ste Person im Märchen bot den Ansatz für eine Architekturkritik und damit einer neuen Architektur, indem sie die Architektur selbst ausklammert. Kassel als Ort wurde nicht bearbeitet, sondern zwei extreme Landschaftssituationen: das wüstenähnliche Jemen mit den Rudimenten einer architektoni- schen Anlage und das feucht-grüne Island, die als naturgetreues Modell unschuldig und naiv, ent- sprechend einer kindlichen Herangehensweise, nachgebaut wurden. Diese meditative und haptische Annäherung bereitete die Ausgangssituation für das weitere Vorgehen. Hintergrund dieser Heran- gehensweise war die Auseinandersetzung mit der Kassel-spezifischen Verbindung von Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung in der Ausbildung.“ Die Präsentationsmodelle sind nach zwei Tagen fertig, dann beginnt das Experiment, das ausdrücklich kein Endergebnis produzieren soll. Auf den geschaffenen Ort soll reagiert, eine eigene Interpretation gefunden und eine Verbindung mit Kassel gesucht werden. Prozess: „Die Betreuergruppe hat einen Auftrag formuliert. Die Begründung liegt darin, ein Experiment zu wagen, das dem Kasseler Modell bewusst entge- gensteht: Die Bereiche von Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung sollten vorerst soweit wie möglich auseinander gehalten werden, weil sie eine eigene Logik besitzen. Zwischen diesen beiden Wissensständen sollte etwas entste- hen, die unterschiedlichen Sprachen sollten ohne Vorgaben und Vorurteile zu- sammengebracht werden und eine eigene Position gefunden werden. Eigent- lich ist nur ein eigener Gedanke zu der gestellten Aufgabe dazuge-kommen, zum „A“ (Architektur) wurde das „L“ (Landschaftsarchitektur ) dazugetan. Man könnte das Experiment als gescheitert ansehen, weil sich die Ergebnisse nicht direkt auf die Modelle beziehen und nicht alle Fragen, die im Prozess gestellt wurden, beantwortet wurden. Wichtig aber war der Weg, wenn er auch kein gradliniger war.“ (Hans Frei) Präsentation: Die Studenten reagierten auf die Vorgaben der Betreuer sehr unterschiedlich, die Auseinandersetzung mit der erweiterten Aufgabenstellung führte in der weiteren Bearbeitung zu Einzelarbeiten. Julia Kaulbach zeichnete neue Kleider für den Kaiser. „[...] Der Versuch, dabei Universität Kassel arch eins* 186 187 vom Kind auszugehen ließ Architekturen entstehen, die Namen wie Luftschloss, Feuerschloss, Rosarotesschloss und Verstecktesschloss tragen.“ Anja Heilmann reagierte direkt auf die Landschaftsmodelle und baute für den Kaiser Wolkenschlösser, die zwischen einem aufgespannten Himmel und dem Modell hängen. „[...] Himmel und Wolken stehen für Kassel, das durch die Spiegelung des Modells in ihnen eingefangen wird.“ Daniel Klapsing suchte Kinder im Kindergarten auf, las ihnen das Märchen vor und ließ die Kinder neue Kleider und Schlösser malen. Diese wurden für die Präsentation in ein Bild zusammengeschnitten. „[...] Ich fühlte mich von den gebauten Modellen und den Vorgaben gefangen und musste für mich diesen Rahmen sprengen, was mir nur dadurch gelang, die Aufgabe von dritten, also den Kindern, bearbeiten zu lassen.“ Till Braukmann und David Vogel bezogen sich mit ihrer Arbeit auf „[...] das Bedürfnis von Menschen sich alltägliche Dinge individuell anzueignen. Handy-Taschen, Eingangssituationen von Reihenhäusern und Sonnenbrillenvariationen sind Beispiel unserer Konsumkultur.“ Die Präsentation zeigte eine große Anzahl von kleinen Häusern mit gleicher Kubatur, einer einfachen Grundform, wie vielleicht ein Kind es bauen würde. Die Häuser besaßen unterschiedliche Oberflächen. Um diese Individualität erzeugen zu können, ließen die Studenten die Häuser von unterschiedlichen Personen bearbeiten. arch eins* Diskussion: „[...] Die Herangehensweise an die Aufgabe wirkt wie durch die Betreuer vorgegeben. (Jos Bosman) [...] bzw. wie durch einen Filter gedrückt und umgeformt, bevor sie an die StudentInnen weitergegeben wurde (Heinrich Weid) [...] Die Ergebnisse vermitteln einen kreativen und poetischen Eindruck. (Andreas Kast)“ 188 189 Auch wenn es der Workshop mit seiner offenen Aufgabenstellung den teilnehmenden Gruppen er- möglichte, außerhalb des Rahmens der eigenen Hochschule andere Vorgehensweisen als die gewohn- ten zu erproben und grenzüberschreitende Ergebnisse zu produzieren, schienen doch die mitgebrach- ten Lehr- und Lernkonzepte durch. Wir erhielten einerseits nach einer extrem kurzen Bearbeitungszeit interessante Beiträge zu den beiden Aggregatzuständen von Kassel – die Stadt mit und ohne documenta – andererseits entstand im Zusammenhang mit den Vorträgen ein greifbares Bild angewandter Entwurfs- werkzeuge, sowie unterschiedlicher und artverwandter Lehrinhalte und Vermittlungsstrategien. Die am Anfang aufgeworfenen Fragen nach dem Grundsätzlichen, den Fertigkeiten und Fähigkeiten, die im Grundstudium eines Architekturstudiums vermittelt werden müssen, konnte der Workshop sicher nicht abschließend beantworten, er erweiterte eher noch die Diskussion um die neuen Grundlagen. Die Vorbereitung auf ein komplexes Berufsbild und das Reagieren der Ausbildung auf die sich verändernde Arbeitswelt stellten den Kontext dar, in dem sich die Ausbildungsinhalte und Lehrkonzepte bewegten. Die präsentierten Arbeitsergebnisse im Vergleich Eindhoven: Die Eindhovener Arbeitsgruppe arbeiteten in einem diskursiven Prozess auf ein konkretes und anwendungsbezogenes Ergebnis hin. Sie bemerkten die fehlende Möglichkeit, sich zwischen den Ausstellungsorten der documenta auszuruhen und betonten das Manko eines markanten Punktes, an Zusammen- fassung und Ausblick dem sich alle Besucher, ob fremd oder vertraut mit der Stadt, orientieren können sollten. Vor diesem Hintergrund entwickelten sie ein Gebäude, in dem die Kreu- zung zweier Wege, dem der permanenten Stadt und dem der expressiven documenta seine Entsprechung fand. Der diskursive Prozess war als Prozess in der Arbeitsgruppe positiv zu sehen. Jos Bosman, ein Gastkritiker aus den Nieder- landen, kritisierte genau diesen Prozess als „[...] Problem sich persönlich zu äußern. Sie beharrten darauf, sich zusammen auf einen möglichen Entwurf zu einigen, und taten dies in der abstrakten Sprache eines Schnittes durch die Landschaft, welche sie verfremdeten und fast karikaturhaft zu einem abstrak- ten Diagramm entwickelten [...].11 Wien: Die Gruppe aus Wien interpretierte das Märchen und seine Schlüsselfigu- ren anders als die anderen Gruppen. Das Kind wurde, wie schon in der Dokumen- tation der Beiträge dargestellt, nicht mit den Attributen rein und wahr belegt, es erschien ihnen eher fantasielos, konservativ und moralisch. Die Nacktheit des Kaisers wurde hingegen positiv besetzt, er fühle sich wohl in seiner Haut. Für ihre Lesart der Geschichte fanden die Wiener in Kassel einen Ort, der diesem Thema ihrer Meinung nach entspricht: Die die Stadt prägenden Straßenunterführungen aus den 50er-Jahren sind ungeliebte, ungenutzte, eben nackte Orte. Zu ihrer arch eins* „Bildung ist Erzeugung eines Universums in der Individualität.“ Wilhelm von Humboldt 190 191 Horizontalität wurde eine vertikale Bewegung hinzugefügt. Verfremdete Bilder eines tanzenden nackten Kaisers wurden mit Bildern aus der Unterwelt überlagert und in ein dreidimensionales Raumkonzept übersetzt. Der Fremdkörper rückte den vorhandenen Raum durch den erzeugten Kontrast ins Bewusstsein. Das Projekt schaffte es, trotz seines spielerisch poetischen Ansatzes einen Raum zu entwickeln, der ein Programm aufnehmen kann. Auf methodischer Ebene war der professionelle Transfer dieses spiele- rischen Anfangs hin zu einem real funktionierenden und verortetem Gebäudeentwurf höchst interes- sant – auch wenn hier natürlich der Meister stark durchschien. Die Dichte, die den Wiener Entwurf und die Präsentation der Gruppe – eine große Einheit, die gemeinsam denkt und spricht – auszeichnete, hatte sicherlich mit der Präsenz und Verbundenheit der Gruppe zu tun, die in den fast familiären Entwurfsklassen eine große Rolle spielt. Eindhoven – Wien: So unterschiedlich die Herangehensweise der Wiener und der Eindhovener sein mochte, beide Gruppen arbeiteten auf einen konkreten Gebäudeentwurf hin, der mit einer Nutzung belegt werden sollte. Während die Eindhovener Schritt für Schritt ihre Analyse mithilfe von vielen kleinen Arbeitsmodellen in einen Entwurf umsetzten, entwickelt sich der freche Start eines tatsäch- lich nackten (Wiener) Tänzers im Morgennebel fast unerwartet zu einem greifbaren Ergebnis. Beide Gruppen verfügen über Methoden und Entwurfswerkszeuge, die angewendet der Umsetzung ihrer Konzepte dienen. Die professionelle Handhabe vermittelte Leichtigkeit und Gelassenheit im Umgang mit der Aufgabenstellung, ohne an Ernst einzubüßen. Beide Ergebnisse bringen allerdings auch, viel- leicht wegen ihrer Dominanz und Überzeugungskraft, den Verdacht auf mitge- brachte Bilder hervor. Als architektonisches Zeichen erinnert der Eindhovener Entwurf an den Niederländischen Pavillon der EXPO 2000, obwohl es hier weni- ger um das Stapeln von Landschaften geht, als um das sich umeinander Winden von zwei Bewegungen. Die funktionale Belegung der Raststätte mit den unter- schiedlichsten Freizeitbeschäftigungen wie Skatebahnen, Liegewiesen und ei- nem Café ist allerdings zu hinterfragen: Stellt der Rastplatz nicht eher einen weiteren aufgeregten Beitrag dar als den gewünschten Ort der Ruhe und Ent- spannung? Den Wienern hingegen wird aus der Position der Nicht-Meisterklassen- systeme eine zu deutliche Nähe zum bekannten dekonstrukti-vistischen Formen- spiel ihres Lehrstuhls unterstellt. Die anderen Gruppen nutzen die besondere Situation des Workshops ebenfalls als Experimentierfeld, aber auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Konzeptionelle Ansätze wurden angewendet und neue Ausdrucksformen erprobt, wie zum Beispiel Rauminstallationen und Performances: Zürich: Die Züricher Gruppe wählte den Titel Prozess-Instrument, was auf die theoretisch-analytische Herangehensweise des Lehrstuhls schließen ließ und arch eins* 192 193 auf ein Verständnis von Architektur als offenen und unabgeschlossenen Zustand verwies. Die Suche nach der Identität der Stadt und das Überlagern verschiedener Zwischenzustände und Wahrnehmungs- ebenen führte über die Strategie der konzeptuellen Faltung zu einer Box, die sich mit der Beziehung von Subjekt – Objekt und real – irreal auseinandersetzt. Die Box war Bestandteil einer interaktiven Rauminstallation und wurde mittels einer Performance zum Mittelpunkt, ohne sich auf einen spezifi- schen Ort im Stadtraum zu beziehen: per Videodirektübertragung nahm die Box, bzw. das Geschehen in der Box, Einfluss auf ihre Umgebung und wurde gleichzeitig von ihrer Umgebung beeinflusst. Das von Marc M. Angélil theoretisch formulierte Lehrgebäude spiegelte sich in dieser Arbeit sehr deutlich wie- der. Jos Bosman sah neben dem Spiel mit den neuen Medien in der Installation eine Demonstration von Denken, Beobachten und Interpretieren. Das Prozess-Instrument war ein reales Ergebnis eines ent- worfenen Prozesses im Sinne der Lehre. Cottbus: Die Cottbusser Gruppe arbeitete ebenfalls mit einer Rauminstallation und Projektionen. In Cottbus sind es mehr die Mittel der Bildhauer und Maler, die eingesetzt werden um Architektur zu entdecken: Projektionen und Abgüsse halfen, gefundene Gedanken in Bilder umzusetzen. Die Überlagerung unter- schiedlicher Wahrnehmungsebenen, gesammelte Eindrücke in Form von Bildern, Filmen und realen sowie überarbeiteten Fundstücken, verhalfen dem Kaiser mittels auf ihn projizierter Bilder zu einem neuen Kleid. Die Gleichzeitigkeit von virtueller und fast naiv anmutender bildlicher Ebene machte nicht nur den Reiz der Installation aus, sondern bot dem Betrachter verschiedene Zugangsebenen zum Erleben einer Situation an. Stuttgart: Der Beitrag der Stuttgarter Studenten try and error bildete eher den Arbeitsprozess als ein Endergebnis ab. Der Titel stand in enger Beziehung zu dem vorgestellten Lehrkonzept Just (f) do it von William Firebrace. Die Be- reitschaft einer Selbst-Erfahrung im Rahmen eines offenen Experiments spiegel- te das Lehren und Lernen an der Akademie wieder. Ausgehend von einigen Sätzen aus dem Märchen bildeten feine Drahtkuben innere und äußere mensch- liche Charaktereigenschaften ab, deren Schnittpunkte als Charakterräume be- zeichnet wurden, die sich auf die Stadt mit ihren unterschiedlichen Aggregat- zuständen übertragen ließen. Diese sensibel die Situation reflektierende und analysierende Vorgehensweise ließ keine Anwendung erlernter Werkzeuge er- kennen, sie zeichnete einen offenen, emotional geprägten Diskurs nach, der im Extrem auch das Scheitern eines Projekts zugelassen hätte. Der ursprüngliche Projektgedanke, Themen zu bearbeiten, die einer persönlichen Motivation fol- gen und das im eigenständigen Lernen Angestrebte zu einem Teil von einem Selbst werden zu lassen, kam hier am deutlichsten zum Tragen. Hana Cisar, eine Gastkritikerin aus Zürich, meinte dass „[...] die Gruppe aus Stuttgart zwar an der schwierigen architektonischen Umsetzung der philosophischen Frage nach dem Zwischenraum von inneren wahren und äußeren repräsentativen Ich- Eigenschaften scheiterte. Ihre Installation try and error – aus in Seifenwasser arch eins* 194 195 getauchten Kupferdrahtwürfeln – demonstrierte aber den Ansatz ihrer Schule: learning by doing und löste insofern mit ihrer Auseinandersetzung mit dem Thema und mit der eigenen Lehre die an die Gruppen gestellte doppelte Erwartung ein, nicht mit dem Anspruch auf die Rolle des Schneidermei- sters, sondern im Sinne eines verspielten Schneiderlehrlings.“11 Sie unterstrich die kritische Neugier, der mehr an try and error als an einer Wettbewerbshaltung läge. Zürich – Cottbus – Stuttgart: Die Installationen aus Zürich, Cottbus und Stuttgart stellten aber nicht nur eine große Experimentierfreude zur Schau, sie betonten die Vielschichtigkeit und unterschiedlichen Lesbarkeiten des Märchens und somit der Stadt. Die Gruppen reagierten auf die von ihnen beobachtete, schon vorhandene Informationsflut mit einer durch viele unterschiedliche Medien erzeugten, neuen Informationsdichte und liefen dabei Gefahr ebenfalls eine Übermüdung zu provozieren. In den Entwurfsprozess wurden gleichermaßen künstlerische und handwerkliche Fähigkeiten integriert sowie das parallel analytische und intuitive Arbeiten. Die Beiträge könnte man eher prozess- als ergebnis- orientiert beschreiben. Und doch waren die unterschiedlichen Lehrgebäude deutlich abzulesen. Die Züri- cher Arbeit befand sich weiterhin im Prozess, sie war nicht fertig, nicht als Ergebnis konzipiert. Der Veränderung unterworfen, zeigte sich das Prozess-Instrument durch die Interaktivität von Benutzer und Objekt immer wieder anders, Denkprozesse wurden in Gang gesetzt. Ein Architekturbegriff, der nicht nur das Entwerfen von Objekten, sondern auch von Prozessen vorsieht, wurde somit deutlich sichtbar. Die Cottbusser hingegen fassten ihre Beobachtungen in einem, wenn auch vielschichtigen Produkt zusam- men, entfernten sich davon und überließen dem Beobachter und Nutzer eine plastisch-skulpturale, mit neuen Medien überlagerte Arbeit. Die Stuttgarter entäu- ßerten sich nicht, sie führten uns ihre Beobachtungen vor, die aber nicht festzu- halten waren, sondern wie Seifenblasen bildlich zerplatzten. Daher rührte auch die Enttäuschung der Gastkritiker, die das Ergebnis Seifenblase gerne als Form-Erfin- dung, neue Haut, als Vorstufe für einen potentiellen Entwurf gesehen hätten. Aachen: Die Studenten der RWTH Aachen nutzten den Freiraum des Workshops, um ihre eigene Ausbildung zu reflektieren, ohne sich jedoch auf die Stadt Kassel und die besondere Situation der documenta zu beziehen. Die Performance stellte unterschiedliche Umgangsformen und Entwicklungsmöglichkeiten von Studenten mit und während ihres Studiums dar. Sie war durch den buchstäblich körperlichen Einsatz der Gruppe stark emotional aufgeladen, wurde vom Publikum mit großer Neugier verfolgt und rundete die insgesamt vierstündige Endpräsentation auf eine erfrischende Weise ab. Die individualisierte Rollenbelegung reagierte allerdings auf etwas dem Publikum nicht Zugängliches, Unsichtbares, nämlich eine sehr indivi- duelle und emotional belegte Ebene, und ließ somit keine inhaltliche Kritik oder Auseinandersetzung zu. Der Betrachter wurde mit seinen Erkenntnissen, die er aus der Performance zu ziehen vermochte, auf sich selbst zurückgeworfen. arch eins* 196 197 Kassel: Auch der Kasseler Beitrag suchte eine Auseinandersetzung mit der Ausbildung selbst, hier mit dem Schwerpunkt der für Kassel spezifischen Ausbildung, dem Zusammenspiel von Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung. Der Bezug zur Stadt Kassel und der temporären Ausstellung documenta wurde nicht gesucht, sondern durch andere Landschaften ersetzt. Das Experiment der Ausklammerung von architekto- nischem Wissen im Entwurfsprozess, d.h. die Rolle des naiven, noch nicht von gesellschaftlichen Normen beeinflussten Kindes aus dem Märchen einzunehmen, war stark durch die Betreuer geprägt. Der Gast- kritiker Jos Bosman unterstellte dem Kasseler Team, dass „[...] zwei Professoren, die in Kassel sehr betont die Bedeutung des Konzeptes und der persönlichen Auseinandersetzung der Studenten mit dem Thema des Studiums fördern, hatten – gerade aus diesem Grund – offenbar nicht damit gerechnet, dass ein Meister des konzeptuellen Unterrichts, Dan Hoffman, die Spielregeln mitbestimmen würde. Sie hatten vorab bestimmt die Aufgabe zu boykottieren, wurden aber in ihrer Absicht gleich am ersten Tag entlarvt, als es sich herausstellte, dass sie – im Gegensatz zu dem, was sie offenbar erwartet hatten – durch die konzeptuelle Aufgabe des Workshops extrem herausgefordert waren, sich aber nicht mehr darauf einstellen konnten, weil sie sich bereits anders determiniert hatten.“13 Aus welchem Grund auch immer – vielleicht war es lediglich die Gast-geberrolle der eigenen Hochschule und der damit verbundene hausgemachte Stress, sich besonders gut präsentieren zu wollen – führte die Situation nach einer anfänglichen Verunsicherung der Studierenden zu Einzelergebnissen. Die Universität Kassel, die auf das Projekt als Lernobjekt setzt und die interdisziplinäre Zusammenarbeit fördert, was sich nicht nur in der Kombination unterschiedlicher Lehrstühle bei der Projektbetreuung, sondern auch in fachbereichsüber- greifenden Projektgruppen widerspiegelt, arbeitete im Workshop eher un-ty- pisch. Die sonst geforderte Selbstständigkeit, die Anleitung zum autodidakti- schen Lernen und die angestrebte Teamarbeit fanden sich in den Vorgaben der Betreuer und den letztendlich entstandenen Einzelentwürfen nicht wieder. Ausblick So vielfältig die Arbeitsergebnisse auch waren und differenzierte Lehrinhalte und -methoden sichtbar wurden, waren sich alle anwesenden Hochschulvertreter in dem Punkt einig, dass die zu vermittelnden Grundlagen dringend Transfer- eigenschaften aufweisen müssen. Das Lösen von komplexen Aufgaben erforde- re immer wieder neue und andere Handlungsstrategien, ohne dass man in jedem dazugehörigen Gebiet Spezialist sein müsse. Der Generalist sei überholt, es entstand eher das Bild eines integrativ denkenden Manager-Architekten. Unter- schiede im Abverlangen bestimmter Fertigkeiten und Fähigkeiten hingen von den jeweiligen Lehrstühlen ab, das parallele Erlernen und Arbeiten mit analogen und digitalen Werkzeugen wurde von allen als selbstverständlich erachtet, wobei William Firebrace in seinem Vortrag offen lässt, welche skills wann und wie einge- arch eins* 198 199 setzt werden sollen. Wien stellte den Modellbau als wichtigstes Medium im Entwurfsprozess heraus, sogar der parallele Rechnereinsatz produziert wiederum mithilfe einer CNC-Fräse Arbeitsmodelle, die manuell weiter bearbeitet werden sollten. In Zürich wird eine Gleichzeitigkeit von verschiedenen Entwurfs- werkzeugen gelehrt, das handwerkliche, intuitive und intellektuelle Vorgehen in wechselseitiger Bezie- hung angewendet. Auch künstlerische Fähigkeiten werden in den Entwurfsprozess integriert und nicht als Nebenbei banalisiert. Die parallele Vermittlung von Fachwissen - anstelle einer integrativen - in den künstlerischen wie auch in den technischen Bereichen wurde von allen anwesenden Lehrstühlen be- mängelt. Als geschlossene Einheiten würden die Entwurfsklassen gut funktionieren und zufriedensteI- lende Ergebnisse produzieren, die aber in der Zusammenarbeit mit anderen Fachdisziplinen oftmals an Qualität verlieren. Die AngewAndte Wien will in Zukunft versuchen mit der Einführung einer Eingangs- klasse dem entgegenzuwirken: Erste Entwurfsaufgaben werden von den Entwurfslehrstühlen und den technischen Gebieten gemeinsam entwickelt. Das frühe Miteinbeziehen der technischen Institute soll den Studierenden das komplexe Feld der Architektur deutlich machen und lässt diese Fächer nicht als unangenehme Pflichterfüllung am Rande stehen. Letztendlich wurde davon ausgegangen, dass die Architekturfakultäten nicht nur auf ein konkretes Berufsbild hin ausbilden sollen bzw. in der Realität werden, sondern eine allgemeine Bildung im Bereich Kreativität, Ästhetik, Gestaltung, Darstellung und räumliche Wahrnehmung vermitteln. Parallel soll eine gesunde Kritikfähigkeit trainiert, prozessorientiertes Denken gefördert, kooperative Arbeitsstrategien 200 201 erprobt und, vielleicht das wichtigste, Leidenschaft für eigene Vorhaben ent- wickelt werden. Die genannten Fertigkeiten, Fähigkeiten und Handlungsstrategien bieten im Sinne aller anwesenden Diskussionspartner nicht nur für weiterfüh- rende Entwurfsprojekte in höheren Semestern, sondern sowohl dem Feld der Praxis wie auch dem potentiellen Theoretiker eine Basis. Anmerkungen , Kleine, Holger und Passe, Ulrike (Hrsg.): Einleitung, in: Nach dem Bauhaus, S.8. , Schulze, Wolfgang: Vorwort, in: Mand, Kat ja: arch eins*, S. 6. , Ebenda. , Leon, Hilde: entwurfslehre: finden und erfinden, in: Jahrbuch Uni Hannover (Hrsg.) hoch ', S. 20. , Aaron Betzky: Beitrag während einer Veranstaltung in Eindhoven, 2002. , Adorno, Theodor: Ästhetische Theorie, S. 42. , Marc M. Angelil: Grenzüberschreitungen, in: Mand, Kat ja : arch eins*, S. 36 ff. , Ni co lic, Vladimir Lalo: hausleeren, S. 8. , Ebenda. " Andersen, Hans Christian: Märchen, S. 30 ff. 11 Bosman, Jos: Eins, zwei, drei ... Architektur erfunden/gefunden?, in: Mand, Kat ja: arch eins*, S. 137. 12 Cisar, Hana: Kind, Kaiser, Betrüger?, in: Mand, Kat ja: arch eins*, S. 15l. 13 Bosman, Jos: Ebenda. arch eins* Erfahrungen verfestigen sich Das Modell freischwimmer Die Reflexion und Auswertung der Projektverläufe und -ergebnisse aus den ersten Erfahrungen in der Lehre, dokumentiert im Kapitel „Die Lehre aus dem Bauch“, verdichtete sich dahingehend, am Anfang eines Architekturstudiums möglichst viele Entwurfsstrategien anzubieten. Die Studierenden sollen individuelle Schwerpunkte und Ziele im Rahmen einer Aufgabenstellung setzen lernen, den Arbeitsprozess und die -ergebnisse so oft wie möglich reflektieren sowie Sozialkompetenzen und situationsadäquates Handeln in Gruppenarbeitsprozessen erproben. Die Ergebnisse der Untersuchungen aktueller Lehrkonzepte im Rahmen des Workshops arch eins* haben diesen Ansatz bestätigt und darüber hinaus, auf Grund der unsicheren Berufsaussichten, den Aspekt zu allem in der Lage zu sein in den Vordergrund gerückt. Konkret gemeint ist hiermit in der Lehre die Transfereigenschaft von Lerninhalten und Entwurfs- strategien in den Entwurfsaufgaben zu bedenken, das prozessorientierte Denken zu fördern, eine allgemeine Bildung im kreativen und gestaltenden Bereich anzulegen, kooperative Arbeitsstrategien zu fördern sowie eine Leidenschaft für eigene Vorhaben zu stärken. Die in dieser Arbeit dokumentier- ten Voruntersuchungen führen zu der Formulierung konkreter Lernziele, Bearbeitungsmodi, Arbeits- formen und Aufgabenstellungen. Daraus wurde ein exemplarisches Ent-wurfsprojekt für das Grund- studium der Architekturausbildung entwickelt. Dieses Entwurfsprojekt ist im Sinne Deweys und Heipckes als Projekt konzipiert. Das Projekt soll die Reflektion des eigenen Handelns und das In-Beziehung-Setzen der Arbeitsergebnisse und der dabei gemachten Erfahrungen provozieren. Das Ent - werfen1 selbst ist als Verknüpfung der individuellen Das Modell freischwimmer 204 205 Geschichte der einzelnen Projektanten und „… der Absicht, sich nach vorne zu wenden, sich vom Gegenstand anrühren zu lassen und das Selbstwerden zu erfahren und in die Hand zu nehmen“2 zu verstehen. Diese Parteilichkeit3 , also das persönliche Interesse der Studierenden am Ergebnis, soll der Motor des Projekts sein. Das Entwurfsprojekt erfordert eine große Spontanität der Leh- renden in Kritik und Impulsgebung, weil die Lernziele teils sehr offen formuliert sind. Es muss durch die Lehrenden und die Tutoren ständig reflektiert werden und erfährt somit während des Verlaufs eine unmittelbare Anpassung und Ände- rung des Lehrkonzepts und der inhaltlichen und didaktischen Inputs. Dadurch erfordert es in der Vorbereitung, Begleitung und intensiveren und individuelleren Betreuung der Lernenden mehr Zeit als der Arbeitsprozess in einem Seminar. Das im Folgenden dargestellte und während des Verlaufs untersuchte Entwurfs- projekt ist im zweiten Semester angesiedelt. Es ist quasi als Versuchsaufbau zu verstehen. Das dafür entwickelte Lehrkonzept wird als das Modell freischwimmer eingeführt. Hintergrund Filmdesigner Ken Adam, der die Sets zu den meisten James-Bond-Filmen ent- wickelt hat. Adam ist nicht nur ein hervorragender Zeichner, er besitzt die besondere Fähigkeit, einen Raum in seiner Dimension, Atmosphäre und Wirkung zu denken und ihn mittels seiner Vorstellungskraft von allen Seiten zu betrach- ten. Wenn man seine ersten Skizzen und die daraus weiter entwickelten Zeich- nungen betrachtet, ist es fast verblüffend zu beobachten, wie genau die Räu- me danach von Bühnenbildnern konstruiert wurden. Die Zeichnungen sehen aus wie ein Abbild der Räume – die Reihenfolge der Entstehung ist aber genau umgekehrt. Darüber hinaus soll vermittelt werden, dass das Entwerfen einer Denkweise entspricht, die sich bewusst etwas Unbekanntem zuwendet. Das meint nicht, dass das Bekannte verleugnet oder verworfen werden soll, es geht vielmehr um ein Abstrahieren oder Umformulieren des Vorgefundenen, das Ein- beziehen verschiedener Faktoren, die einen Rahmen setzen, um das Neue im Vorhandenen aufzuspüren. In diesem Zusammenhang birgt das experimentelle Arbeiten unvorhersehbare Qualitäten und erlaubt, neue Bereiche zur Erkundung freizugeben. Statt ein vorgefasstes Bild von Architektur als fertigem Produkt zu vermitteln, werden mög- liche Methoden, Strategien und Techniken als Entwurfswerkzeuge entwickelt. Das Modell freischwimmer Das Entwurfsprojekt ist der erste große Entwurf im Grundstudium, in dem parallel zu den harten Fächern des theoretisch-systematischen Lehrangebots weitere Grundlagen vermittelt werden, die den Rahmen eines Projekts benötigen. Hier steht neben dem Erlernen von Fertigkeiten und dem Üben und Ausbauen von Fähigkeiten natürlich das Entwerfen selbst im Mittelpunkt. An einer exemplarischen Problemstellung soll ein architektonisches Grundverständnis entwickelt werden. Dies umfasst im We- sentlichen den Raum in allen Maßstäben und die Koordinaten, die ihn ausmachen: Kontext, Dimension, Licht, die Konstruktion des Raumes, die eingesetzten Materialien und ihre Wirkung sowie das Verhält- nis von einer Person zum Raum, ihrer Bewegung im Raum, die Beziehung der Menschen im Raum untereinander und das Verhältnis der Räume zueinander. Die Erfahrungen im Grundstudium wie im Hauptsstudium zeigen, dass die Studenten im Entwurfsprozess oft von den vorgegebenen Nutzungsanforderungen ausgehen, zweidimensionale Raumkonstellationen im Grundriss anlegen und sie dann auf eine beliebige Raumhöhe dreidimensional aufziehen. Das Vor- stellungsvermögen von Raum, seinen Dimensionen und was einen Raum unter den Bedingungen Licht und Oberflächenbeschaffenheit ausmachen könnte war bei den meisten Studenten, auch in den höheren Semestern, ebenso wenig vorhanden wie eine Idee dazu, welchen Einfluss diese Eigenschaf- ten auf das Befinden einer Person in einem Raum haben könnte. Es ist daher ein wichtiges Anliegen, die Studenten zu ermutigen, eine konkrete Vorstellung eines Raumes zu entwickeln, bevor sie Grund- risse und Schnitte zeichnen und Modelle bauen. Vorbild für eine ausgeprägte Vorstellungskraft ist der 206 207 Lernziel: Entwicklung eines architektonischen Grundverständ- nisses Das Modell freischwimmer Lernziel: Erwerb allgemeiner Basis- kompetenzen Parallel zu den theoretischen und praktischen Problemlösestrategien sollen Schlüsselqualifikationen erworben werden. Diese sollen in möglichst vielen Be- reichen von Nutzen sein, so dass eine Handlungsfähigkeit entsteht, die es ermöglicht, sowohl individuellen Bedürfnissen als auch gesellschaftlichen An- forderungen gerecht zu werden. Darüberhianus werden die Kompetenzberei- che der Sozial-, Methoden-, Sach- und Selbstkompetenz in Hinsicht auf den Kreativbereich, zu dem die Architekturausbildung mit ihrem außerordentlich breiten Lernspektrum gehört, konkretisiert. Im Folgenden werden die ange- strebten Basiskompetenzen als Lernziele konkretisiert: Sich öffnen: Die Studenten sollen ermutigt werden, sich ihre Umwelt vorurteils- frei anzusehen, eine freie, selbst bestimmte Wahrnehmung zu gewinnen und eigene Standpunkte bzw. Interessen zu formulieren. Sehen Lernen: Das Sehen Lernen ist im Sinne eines Wahrnehmungsprozesses eine Grundlage, die Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit bedeutet. Durch die Entwicklung des Sehens als kritische Fähigkeit entsteht in der Reflexion und Interpretation des Gesehenen eine Vorstellung der Dinge, die als erster gestaltender Prozess verstanden werden kann. Das Sehen wird zum Erkenntnis- 208 209 Die Auseinandersetzung mit aktuellen Lehrkonzepten führt an diesem Punkt zu einer Erweiterung der Entwurfswerkzeuge um das Verständnis für Prozesse und um die Akzeptanz unbestimmter Konditionen der Architektur. Hier scheint das methodische Lehrkonzept von Prof. Marc M. Angélil4 durch, das auf der Vorstellung gründet, dass in einem verfahrensorientierten Vorgehen nicht nur Objekte, sondern auch Prozesse entworfen werden können. Das Entwerfen von Prozessen und das Experimentieren stellen die scheinbar sicheren Grundlagen einer Architekturausbildung in Frage, überschreiten ihre Grenzen und führen zu vorher nicht absehbaren Ergebnissen. Die Auseinandersetzung mit dem Lehrkonzept von Prof. William Firebrace5 mit dem Titel „Just do it“ bestätigt das Anliegen um einen offenen Entwurfsprozess, indem es ebenfalls kein vorher absehbares Ergebnis als Antwort auf eine Entwurfsaufgabe vorsieht. Durch die offene Aufgabenstellung, die oft nur einen Titel vorgibt, sind die Studierenden gezwungen ihre eigenen inhaltlichen Schwerpunkte der Bearbeitung und auch der Präsentationsform zu setzen. Firebrace hat darüber hinaus die Ausbildung von allgemeinen Kompetenzen stärker in den Mittelpunkt gerückt, weil er in ihrer Transferleistung eine Zukunftschance für die Absolventen sieht. instrument, über das bloße Auffinden von Vorgegebenem hinaus. Diese Erkenntnis erlaubt Veränderun- gen vorzunehmen, Visionen zu formulieren und damit eigene Vorhaben zu entwickeln. Die Erkenntnis ist somit Ausgangssituation für kreative Prozesse, in diesem Fall für das Entwerfen. Visionen formulieren: Bilder entstehen im Kopf. Eine Vorstellung von einem selbst formulierten Ziel oder konkreter z.B. von einem zu entwerfenden Raum soll entwickelt werden, bevor der erste Strich auf das Papier gesetzt wird. Unterstützt von folgenden Zeichnungen und Modellen, Collagen und Simulationen soll diese Vorstellung verfeinert und konkretisiert werden. Eigenmotivierte Vorhaben entwickeln: Die Selbstmotivation ist die größte Antriebsfeder zu lernen und Erfahrungen zu machen, sie ist die Voraussetzung für Kreativität. Das Lernen als subjektiv autono- mer Vorgang, das in sich selbst seinen Zweck hat, geht über die Aneignung von Wissen und Kenntnis- sen hinaus. Im Rahmen einer Aufgabenstellung soll vom Studierenden eine Zielvorstellung formuliert werden, die in mehreren Schritten, je nach individueller Schwerpunktsetzung bearbeitet werden soll. Es entsteht somit auch eine größtmögliche Identifikation mit dem Gegenstand selbst. In diesem Zusammen- hang formulieren die Studierenden Fragen, die eine dringliche Beantwortung einfordern und daher mit kreativer und leidenschaftlicher Konsequenz verfolgt werden. Leidenschaft entwickeln: Die Studierenden beginnen ihr Studium als so genannte Laien in ihrem Das Modell freischwimmer zukünftigen Berufsfeld. Auf verschiedenen Ebenen wird der Übergang zum lei- denschaftlichen Architekturstudenten vorangetrieben. Die Leidenschaft ist eng verbunden mit der Motivation, der Lern- und Leistungsbereitschaft sowie mit der Zuverlässigkeit und der Ausdauer, sie ist Voraussetzung für das Überwinden von unabsehbaren Hürden, langwierigen Entscheidungsprozessen und eventu- ellen Sackgassen. Archiv anlegen: Inhalte und Wissen werden in Bezug auf die Fragestellungen erarbeitet. Die Selbstmotivation des Aneignens und die Anwendungsbezogenheit spielen eine wichtige Rolle. Dieses individuelle Archiv im Kopf soll ermöglichen, das angeeignete Wissen verknüpfend und auf den jeweiligen Fall bezogen ein- zusetzen. Handlungsstrategien, Entwurfs- und Präsentationsmethoden und -werkzeuge aneignen: Das Experimentieren mit unterschiedlichen Handlungs- strategien, Entwurfsmethoden und -werkzeugen ermöglicht es, eigene Wege zu entdecken, zu erproben und zu professionalisieren. Unterschiedliche Arbeitswei- sen und Ausdrucksformen müssen ausprobiert werden, um eine individuelle Her- angehensweise an Aufgabenstellungen zu finden. Hierbei geht es weniger um das 210 211 Bearbeitungs- modi Das Modell freischwimmer Einstiegsaufgabe: Das Anknüpfen an den vorhandenen Erfahrungshorizont, die Ansprache der Wahrnehmungsebene und die Entwicklung der Begeisterungs- fähigkeit bilden den bewährten (Unter-) Grund für das Entwurfsprojekt. Hierfür muss eine kleine Einstiegsaufgabe formuliert werden, in der die Studenten einer- seits ihre mitgebrachten Erfahrungen und Kenntnisse einbringen können, diese zum Ausdruck bringen sollen und in der sie sich andererseits von vorgefertigten Bildern und Meinungen freischwimmen sollen. Es sollte eine möglichst freie Auf- gabe sein, die keinen Maßstab oder Material für das Modell vorgibt. Die Ar- beitsergebnisse sollen neugierig auf das neue Projekt und auf die Projektgruppe machen, Spaß an der Arbeit vermitteln und einen Anlass zur Kommunikation bieten. Inputs – Referate: Die Inputs beinhalteten das Kennenlernen von Architek- ten, ihren Gebäuden und prägnanten dahinter steckenden Entwurfskonzepten. Aber auch künstlerische Konzepte im Grenzbereich zwischen freier und ange- wandter Kunst, zwischen Architektur, Design und Konzept werden vorgestellt, um die Bereiche nicht gegeneinander abzugrenzen, sondern zu öffnen. Dieses Anlegen eines Archivs im Kopf soll von den Studierenden ermöglichen während der Bearbeitungszeit immer wieder darauf zugreifen zu können, das angeeig- nete Wissen in Vorbildfunktion verknüpfend anzuwenden und auf das eigene 212 213 Besondere, Extraordinäre oder Geniale, sondern darum, Handlungsstrategien, Entwurfsmethoden und -werkzeuge zu erarbeiten und zu vertiefen, die der jeweiligen Person entsprechen. Das Kennen und Wissen darum ist die Voraussetzung für die potentielle Verfügbarkeit und somit für einen erfolgreichen Einsatz. Sich Positionieren: Ein neues Verständnis von Entwurf und Projekt in Bezug auf eine weiterentwik- kelte Gesellschaftsstruktur soll sich im Laufe des Studiums entwickeln, so dass schließlich eine Posi- tion in der aktuellen Architekturdebatte bezogen werden kann. Soziale Kompetenzen erwerben: Kritikfähigkeit ist als Sender sowie als Empfänger eine wichtige soziale Kompetenz. Planendes Denken und Handeln im Team, Zeitmanagement und eine adäquate Selbstpräsentation sollen erlernt, in der Wiederholung ausgebaut, trainiert und verfestigt werden. Diese Kompetenzen befähigen die Studierenden dazu, neue Aufgaben in anderen Bereichen oder Berufs- feldern zu bewältigen. Zu allem in der Lage sein: ... vor allem zu wissen, wie und wo man sich projektbezogenes Wissen aneignen kann. Letztendlich geht es nicht nur darum, auf dem enger werdenden Arbeitsmarkt neue Arbeitsbereiche für Architekten zu erschließen und an die Fachingenieure verloren gegangene even- tuell zurück zu gewinnen, sondern auch darum, zu wissen, wie man gänzlich neue Aufgabenfelder entwickeln und gestalten kann. Projekt zu übertragen. Einige Themenschwerpunkte werden in Form von Kurzvorträgen von den Dozen- ten eingeführt. Andere Themen werden als Kurzreferate von den Studenten vorgestellt. Exkursion: Als gute Ausgangsvoraussetzung für das gemeinsame und motivierte Arbeiten hat sich ein intensives Kennenlernen in der neu zusammengesetzten Gruppe gleich zu Anfang bewährt. Die Studieren- den und die Lehrenden finden sich mit einem gemeinsamen Interesse an einem bestimmten Thema wieder und können erste Beziehungen in einem lockeren Umfeld knüpfen. Da im Sommersemester keine längeren Exkursionen vorgesehen sind und auch die finanzielle Situation der Studenten zu berücksichtigen ist, muss eine Kurz- oder Tagesexkursion ausreichen, um themenbezogene Anschauungsobjekte vor Ort zu erschlie- ßen. Ortsbegehungen, Besichtigungen und Referate, die vor Ort gehalten werden, können direkt in ihren Inhalten und Thesen überprüft werden, bieten Stoff für Diskussion und Auseinandersetzung. Diese exem- plarischen Untersuchungen vor Ort sind durch kein Bildmaterial zu ersetzen und schaffen eine inhaltliche Basis für das weitere Studium der Architektur. Die Exkursion bietet auch neue Ausgangspunkte für weitere Stegreifaufgaben, die zum Teil schon vor Ort bearbeitet oder vorbereitet werden sollen. Stegreifentwürfe: Eine komplexe Entwurfsaufgabe im Vorfeld mit Stegreifen zu bearbeiten hat sich in mehrfacher Hinsicht als positiv herausgestellt. Die Stegreifaufgaben haben die Funktion, den schnel- len, eingeschränkten und unorthodoxen Entwurf zu trainieren. Durch die eingeschränkten Aufgaben ist die Konzentration auf nur ein Element oder eine detaillierte Betrachtung eines umfassenden Themen- komplexes möglich. Es können zum Beispiel verschiedene Komponenten, die einen Raum ausmachen, aufgeschlüsselt werden: Dimension, Form, Oberflächen- beschaffenheit, Licht, Programm, Übergang zu anderen Räumen und Lage und Bedeutung einzelner Räume im Gesamtkontext. Die Stegreifentwürfe befähigen somit die Studierenden die eigentliche Aufgabe anzugehen. Durch die unter- schiedliche Schwerpunktsetzung im Vorfeld eines größeren Entwurfsvorhabens können individuelle Neigungen entdeckt werden und gezielte Vorhaben und damit selbst bestimmte Ziele leichter formuliert werden. Außerdem werden durch eine Vielzahl an Stegreifentwürfen die handwerklichen, intellektuellen und intuitiven Aspekte des Entwerfens angeregt und ihre Wechselwirkung angestrebt. Je mehr Fertigkeiten erprobt werden und Fähigkeiten zum Einsatz kommen, desto größer wird der Handlungsspielraum. Erster großer Entwurf: Der folgende große Entwurf soll die einzelnen erforsch- ten Elemente, z.B. eines Raums, im zweiten Zeitabschnitt des Projekts zur Synthese führen. An ihm können exemplarisch die Anwendung der erlernten Entwurfswerkzeuge und der Einsatz von unterschiedlichsten erworbenen Fer- tigkeiten und Fähigkeiten zu erprobt und zu vertieft werden. Eine fiktive Entwurfsaufgabe die weitergedacht werden muss, stärkt die Identifizierung der Das Modell freischwimmer 214 215 Studierenden mit dem Gegenstand und lässt die Aufgabe zu einem eigenmotivierten Vorhaben werden, das mit Leidenschaft verfolgt werden will. Lerntagebuch: Um zu einem vertiefenden Verständnis der im Projekt behandelten Inhalte und Entwurfs- strategien zu gelangen, wird ein Lerntagebuch eingeführt. Lerntagbücher können auch Logbuch oder Bericht heißen. Sie werden vermehrt im pädagogischen Bereich, in der Schule, in ausbildungsbegleitendem Unterricht und in universitären Lehrveranstaltungen verwendet. Das Führen von Lerntagbüchern ist eine Methode, die eigene Lernpraxis zu dokumentieren, bewusst zu machen, zu überprüfen und mögli- cherweise zu verändern. Wesentliche Lerninhalte und -ziele von Lehrveranstaltungen führen durch die Vergegenwärtigung und die persönliche Auseinandersetzung der Studierenden zu einer kritischen Re- flexion. Ebenso können individuelle Lern- und Arbeitsstrategien aus dem bewussten Nachvollziehen des eigenen Arbeitsverhaltens entwickelt und benannt werden. Die aktive Wiederholung, das Filtern des Lehrstoffs und die Herstellung der Beziehung zu eigenen Erfahrungen sind besonders wichtige Faktoren im Lern-prozess. „Lernen im 21. Jahrhundert heißt, aus der Fülle auswählen, selbst entscheiden, aktiv umsetzen. Lerntagebücher unterstützen diesen Prozess.“6 Eine regelmäßige schriftliche Explikation der als subjektiv besonders interessant und neuartig empfundenen Inhalte und eigenen Gedanken ist notwendig, um den Lernprozess verfolgen zu können. Nach jeder Sitzung oder mindestens einmal in der Woche soll ein Eintrag ins Lerntagebuch erfolgen. Auch soll ein persönlicher Stil gefunden werden – es gibt keine allgemeinverbindliche Form, wie man es richtig macht. Lediglich folgende Leitfragen, die als Das Modell freischwimmer 216 217 Anhaltspunkte dienen können, liegen dem Führen des Lerntagebuchs zu Grunde: - Welche Sachverhalte erscheinen mir so wichtig, dass ich sie mit eigenen Worten auf den Punkt bringen möchte? - Welche Aspekte des Gelernten fand ich interessant, überzeugend und nütz- lich? Warum? - Fallen mir Beispiele aus meiner eigenen Erfahrung ein, die das Gelernte illu- strieren, bestätigen oder ihm widersprechen? - Welche Bezüge/Anknüpfungspunkte gibt es zu anderen Seminaren/Fächern? - Welche weiterführenden Fragen wirft das Gelernte auf? - Welche Aspekte des Gelernten kann ich bei zukünftigen Projekten nutzen? - Welche Fragen bleiben offen? Was erschien mir unklar oder auch falsch? Die Lerntagebücher dienen darüber hinaus der Rückkoppelung im Rahmen der Reflexion des Lehrkonzepts freischwimmer, der damit verbundenen Vermittlungs- methoden und der angeleiteten Arbeitsschritte. Es ist zu überprüfen, inwieweit das Lehrkonzept den Bedürfnissen der Studenten entgegenkommt, welche Lern- ziele als erfüllt angesehen werden können, wo Kritik angebracht ist. Die Aus- wertung ist wiederum eine Grundlage auf der die Lehre im Grundstudium weiter entwickelt werden kann. Das Modell freischwimmer Mehrere Stegreifübungen, Referate und eine kurze Exkursion nehmen die erste Hälfte des Semesters ein. In der zweiten Semesterhälfte werden die konkrete Nutzung und der Ort für den sich anschließen- den Entwurf bekannt gegeben. Der Zeitplan sieht abwechselnde Phasen von Inputs, Aufgabenstellun- gen, Bearbeitungszeiten, Zwischenpräsentationen und Präsentationen vor. Das Projekt wird am Ende des Semesters zum Rundgang, inklusive einer Dokumentation, ausgestellt und abgeschlossen. Das Arbeiten in Projektgruppen sowie das Arbeiten vor Ort werden vorausgesetzt. Einzelarbeit und Gruppenarbeit sind vorgesehen. Beide Arbeitsformen bieten Möglichkeiten und weisen Probleme auf. Die Einzelarbeit ist immer wieder wichtig, um den eigenen Standpunkt zu klären und um eigene Lernfortschritte zu überprüfen. Eine individuelle Beratung, Förderung und Bewertung kann von der Projektbetreuung gezielter vorgenommen werden. Aufgrund der Gruppengrößen von c.a. 20-30 Stu- denten besteht nicht die Möglichkeit, mehrere Einzelarbeiten einzuplanen. Die Besprechung und Korrektur von Einzelentwürfen, Referaten und Zeichnungen würde für alle eine Zumutung bedeuten. Daher wird nur der erste Stegreifentwurf in Einzelarbeit anzufertigen sein, was den Studierenden ein Herantasten an die neue Projektgruppe ermöglicht. Die Gruppenarbeit hingegen bietet neben der thematischen Ebene, die gemeinsam er- und bearbeitet werden kann und somit zu Arbeitsteilung und Zeitersparnis führt, auch Erfahrungen auf der arbeits- organisatorischen Ebene: Semester- struktur und Arbeitsformen - thematische/inhaltliche Ebene: gemeinsame Ziele festlegen, Arbeitsprozesse und -ergebnisse visualisieren, Präsentation vorbereiten - Arbeitsorganisation: Organisation von Zusammenarbeit, Absprache, Kom- petenzklärung, Aufgabenverteilung, Zeitmanagement - Teamarbeit: Wahrnehmung der eigenen Rolle und Kompetenzen, Konflikt- management, Kompromissbereitschaft und Durchsetzungsvermögen, Grenzen der Anderen akzeptieren, Eigeninitiative und Übernahme von Verantwortung, Reflexion aus verschiedenen Perspektiven, Kritikfähigkeit Verschiedene Methoden wie Blitzlicht, Brainstorming, Bewertungsverfahren und das Üben konstruktiver Kritik werden vorgestellt, um eine erfolgreiche Gruppen- arbeit anzuregen. Die Stegreifentwürfe und Referate sollen im Laufe der ersten Hälfte des Semesters in unterschiedlichen Konstellationen bearbeitet werden, um unterschiedliche Arbeitspartner kennen zu lernen und die Auswahl nicht nur nach dem Gesichtspunkt Freundschaft zu treffen. Mehrere Zwischenpräsen- tationen im Rahmen der gesamten Projektgruppe ermöglichen es, einerseits individuelle Fragen zu klären. Sie trainieren andererseits das freie Reden mit Hilfe von präzisen Formulierungen vor einer Gruppe. Darüber hinaus sind alle angehalten, den vorgegebenen Zeitplan einzuhalten. 218 219 Das Modell freischwimmer Um die oben aufgeführten und angestrebten Lernziele zu erreichen, mussten Aufgaben entwickelt werden, die die Lernziele Entwicklung eines architektonischen Grundverständnisses und Erwerb von Basiskompetenzen beinhalten sollten. Das im Folgenden dokumentierte Entwurfsprojekt „Konstruktion von Atmosphären“ wurde von den wissenschaftlichen Mitarbeitern Dipl. Des. Katja Mand und Dipl. Ing. Jan Läufer und den studentischen Tutoren Sascha Weinreich und Marcel Schweiker vorbereitet und durchgeführt. Die Zusammenarbeit in der Konzeptionsphase, sowie in der Projektbetreuung und -kritik ermöglichte eine Reflexion aus verschiedenen Perspektiven und Kompetenzbereichen. Der Begriff Atmosphäre ist weniger aus der Architekturdiskussion bekannt als aus anderen Zusammen- hängen, wie der Atmosphäre eines Lokals, einer Stadt, einer Landschaft, aber auch der Atmosphäre eines Tages, einer Gruppensituation, der zwanziger Jahre oder der Atmosphäre der Macht. In der Ety- mologie versteckt sich hinter Atmosphäre folgendes: Lufthülle, übertragen Fluidum, Umwelt, Stimmung (gelehrte Neubildung des 17. Jahrhunderts) griech.: atmos = Dunst, spaira = Scheibe, Kugel, Erdkugel7. Was macht Atmosphäre in der Architektur aus? Atmosphäre beschreibt das Dazwischen. Sie schafft eine Beziehung zwischen Objekt (dem Raum, der Architektur) und Subjekt (dem Menschen als Be- wohner, Nutzer, Vorbeigehendem). Die Atmosphäre macht den Mehrwert der Architektur aus. Sie ist allerdings auch abhängig von Zeitgeist, Moden und Umwelt. Die Atmosphäre ist schwer planbar und doch vorstellbar. Beispiel: das Entwurfsprojekt Konstruktion von Atmosphären In der ersten Projektphase sollte untersucht werden, wie Licht, Material, Form- gebung, aber auch Programm und Kontext den architektonischen Raum bestim- men. Es wurde gefragt, wie diese Parameter wahrgenommen werden und wie sie im Entwurfsprozess eingebracht werden können. Ein Schwerpunkt wurde auf das Experimentieren mit unterschiedlichsten Herangehensweisen, Entwurfs- strategien und -methoden gelegt. In der zweiten Projektphase sollte ein Drehbuch für eine Raumfolge entwickelt werden, das eine konkrete Vorstellungen von Raum mit all seinen Koordinaten, seiner Dimension, seiner Oberflächenbeschaffenheit und seinem Lichteinfall und natürlich seiner Stimmung und der damit verbundenen Aufenthaltsqualität be- inhaltet. Die oben genannten Entwurfselemente wurden somit in ihrer Anwen- dung überprüft und vertieft. Für den Entwurf wurden Architekturpläne, Bilder und Modell verlangt. Das Projekt fand im Sommersemester 2003 statt. Aufgrund der Aufhebung des Numerus Clausus für die Stadt- und Landschaftsplanung zum Wintersemester 2002/3 wurde in diesem Jahr mit größeren Studentengruppen als die Jahre zuvor gearbeitet. 29 Studierende wählten sich kurz nach der Vorstellung der 220 221 verschiedenen Projekte mit Erstwunsch in die Projektgruppe ein, was eine gute Ausgangssituation auf Grund der zu erwartenden Motivation darstellte. Die anschließende Dokumentation des Projekts ist wie folgt gegliedert: - Aufgabe: Die Aufgabenstellungen der Entwurfsaufgaben bzw. die Inputs und Kurzreferate werden vorgestellt. - Arbeitsergebnisse: Einzelne studentische Arbeiten werden in Form von Fotos und ggf. Texten präsentiert. - Aus den Lerntagebüchern: Der Projektverlauf wird aus der Sicht der Studenten beschrieben. Sie werden als aktuelle Experten des Lernens im Grundstudium gesehen, die nicht nur über die gemach- ten Lernerfahrungen und über ihren Lernprozess berichten, sondern auch Vorhaben für ihr weiteres Studium formulieren. Die Aussagen stützen sich auf Kernsatzaussagen der Lerntagebuchauf- zeichnungen. Einige Lerntagebücher wurden kontinuierlich geführt, andere fassen bestimmte Phasen zusammen. Manche Tagebücher weisen eine hohe Reflexionsfähigkeit auf, andere dokumentieren eher das Geschehen. Viele sind sehr liebevoll mit Zeichnungen, Bildern, Fotos aus dem Arbeitsraum gestaltet. - Auswertung: Sie ist als Dialog der Lernenden und Lehrenden zu verstehen. Das Modell freischwimmer Nach einer ersten Runde in der sich Lehrende und Studierende beim ersten Projekttreffen vorstellten und der Erwartungshorizont abgesteckt wurde, ga- ben wir die erste zu bearbeitende Aufgabe heraus. Ausschnitte aus den Brie- fen und Fotos der Modelle dokumentieren die Ergebnisse. Aufgabe „Brieffreund“ Person A: Beschreibe einen Dir bekannten komplexen Raum/eine Raumfolge. Versuche dabei die Dimensionen des Raumes, das Licht, seine Oberflächen- beschaffenheit und vor allem seine Wirkung/Atmosphäre zu präzisieren. Die Beschreibung geht als anonymer Brief an Person B. Person B: Versuche Dich in den beschriebenen Raum hineinzudenken und ihm eine Gestalt zu geben. Baue ein Modell, das in einem adäquaten Maßstab das Wesentliche verdeutlicht. Aus einem Brief: „... und dann gibt es da in der dunklen Ecke an der Seite ein Fenster, durch das ein bisschen Licht hineinkommt. Dann ist der Ort nicht mehr ganz so dunkel, sondern eigentlich ganz gemütlich. Zu einer kurzen Zeit am Nachmittag, meist um drei Uhr scheint die Sonne genau durch ein Loch Stegreifentwurf als Einstieg und Kommunikations- übung 222 223 Das Modell freischwimmer Aus einem Brief: „Wenn ich darüber nachdenke fällt mir nicht ein wie der Ort genau aussieht, aber ich bekomme jedes Mal einen totalen Kick wenn ich mit dem Fahrrad durchfahre. Zuerst ist es dunkel, mit Neonlicht, ich habe immer ein bisschen Angst, auch am helllichten Tag, und dann fahre ich um eine kleine Kurve und am Ende ist plötzlich Licht, da ist der Ausgang. Es fühlt sich an wie eine Fessel, ein Gitter um den Brustkorb, das in dem Moment platzt, wo das Ende in Sicht ist.“ Aus den Lerntagebüchern „Unser Einstiegsstegreif war ein super Einstieg. Einerseits war es ziemlich in- teressant, sich in die Beschreibung einer fremden Person über einen fremden Raum hinein zu versetzen und andererseits war es extrem lustig, seinen Raum irgendwo wieder zu entdecken. ... Außerdem konnte man bei diesen ersten Modellen auch schon mal seine neuen Mitstudenten und Studentinnen unter die Lupe nehmen, da sich hier bereits einige Qualitätsunterschiede gezeigt haben, was später wichtig war für die Wahl der Gruppenpartner.“ (Leonie Sommer und Caroline Gottschalk) im Dach. Das Loch ist eigent- lich kein richtiges Loch, es ist glaube ich ein Dachziegel aus Glas. Die Sonnenstrahlen kann man dann einzeln sehen, wie auf alten Kirchenbildern. ...“ Aus einem Brief: „Mein Lieb- lingsort ist ein Flur und eigent- lich gar nicht gemütlich. Er ist superlang, eng und cool. Das Coole ist, dass man das Ende fast nicht sieht. Man sieht auch sonst nichts, nicht was hinter den Türen ist, nicht wo man ist. Man verliert die Ori- entierung, wie ein Flash. Aber alles ist in supermodernen 70er-Farben gestrichen.“ 224 225 „Nachdem ich nun den Raum mit meinem geistigen Auge durchschritt, merkte ich erst wie sehr es mir dort gefallen hatte. Ich vermerkte alles haargenau.“ (Gunnar Stallmann) „Was ich sehr gut fand in der ersten Woche, dass wir sofort mit einer sehr kreativen Aufgabe angefangen haben. [...] Man sah die Schwächen seiner Beschreibung und auch die Uminterpretation des Partners.“ (Antje Renzihausen) „[...] dabei habe ich auch gemerkt, wie schwer das eigentlich ist und wie wenig Aufmerksamkeit ich solchen Dingen gebe. War für mich ein Denkanstoß, das in Zukunft zu ändern, sich die Dinge bewusster anzuschauen.“ (Rebecca Friesen) Auswertung Einige Tage nach der Aufgabenstellung wurden die Briefe zur Aufgabe Brieffreund ausgetauscht. Die meisten begannen sofort zu lesen, sie waren offensichtlich neugierig. Daraufhin gab es einige erstaun- te, fragende oder irritierte Gesichter auf Grund der Inhalte der Briefe zu sehen. Nach einer Woche wurden die Modelle zur Aufgabe Brieffreund auf einem langen Tisch im Arbeitsraum präsentiert. Die Studenten waren an den Ergebnissen sehr interessiert und nahmen sich viel Zeit um alle Arbeiten anzuschauen. Die in den Modellen zum Ausdruck kommende intensive Auseinandersetzung mit den Das Modell freischwimmer Vorgaben des Briefes, die Detailgenauigkeit und auch die phantasievolle Bear- beitung waren beeindruckend. Auf die Frage, wer sich, d.h. seine Beschreibung in einem Modell wiederfinden könne, meldeten sich erstaunlich viele der Stu- denten. Die Empfänger kommentierten den jeweiligen Brief in Hinsicht auf Ein- deutigkeit, Konkretisierung, Detailvorgabe und Stimmung und erläutern anschlie- ßend ihre Vorgehensweise und oder ihr Modell. Die Sender ergänzten und befür- worten Teilbereiche. Da alle Arbeiten besprochen wurden, kamen auch die Punkte zur Sprache, an denen die Kommunikation nicht erfolgreich oder schwierig war. Diese Stegreifaufgabe bot auf Grund der freien Materialwahl und der individuel- len Ausdrucksmöglichkeit den Lehrenden darüberhinaus die Möglichkeit einen ersten Eindruck der Projektteilnehmer zu gewinnen. Die Rückmeldung war insgesamt äußerst positiv. Die Studenten begrüßten, dass sie sich in einen erinnerten Raum hineindenken und diesen beschreiben mussten, was für sie zu einer genauen Vorstellung der Erinnerung führte. Auch das Zuhö- ren in Form des Brieflesens wurde positiv bewertet, weil es die Sensibilisierung für die Wahrnehmungen anderer fördere. Die erzeugte Spannung durch die An- onymität der Aufgabe und der damit verbundene Überraschungseffekt – finde ich mein Modell? – wurde lobend erwähnt. 226 227 Das Modell freischwimmer Die Inputs, die als Anregungen für das gesamte Projekt dienen sollten, waren vielfältig angelegt und fanden in den ersten Wochen des Semesters statt. Input „Präsentation von Architekturmodellen“ Studenten der Arbeitsgruppe von Prof. Maya Reiner des vorangegangenen Semesters wurden einge- laden, ihre Architekturmodelle zu Klassikern der Moderne vorzustellen. Sie wurden gebeten, den Schwerpunkt der Präsentation auf Wegeführung, Licht, Material, Aufenthaltsqualität und Atmosphäre zu legen. Bei den Gebäuden handelte es sich um Meilensteine der Architekturgeschichte. - Raimund Schindler: Lovel Beach House, L.A. - Lina Bo Bardi: Haus in Sao Paulo - Shigeru Ban: Haus ohne Wände, Japan - Le Corbusier: Villa Savoye, France - Herzog & de Meuron: Haus Koechlin, Basel Referate zu Beispielen aus Architektur und Kunst Prägnante atmosphärische Innenräume, sowie Künstler, die im Grenzbereich zwischen Kunst und Architek- tur arbeiten wurden in kurzen Referaten von den Projektbetreuern und von den Studenten vorgestellt. InputArchitektur: - NOX Architekten: H20 Pavillion, NL - Future Systems: Cricket Stadion (Media Centre, London) - Toyo Ito: Temporärer Pavillon in London - Daniel Libeskind: Jüdisches Museum, Berlin - Le Corbusier: La Tourette / promenade architectural - Peter Zumthor: Felsentherme Vals - Würzburger Residenz - Sénanque: Romanisches Kloster, Provence / France - Ken Adam: Filmarchitektur (James Bond Filme) Kunst: - Atelier van Lieshout: Master and Slave Einheiten - Andrea Zittel: Personal Programs, A - Z Escape Vehicles - Ilya Kabakov: Installationen - Pipilotti Rist: Installationen - Candida Höfer: Innenräume, Fotografien - Andreas Gursky: Außenräume, Fotografien - Haus Rucker Co: Installationen im Stadtraum - Dan Graham: Homes for America - Thomas Struht: Orte der Identität, Fotografien 228 229 Aus den Lerntagebüchern „Interessante Referate, hätte ich nicht gedacht. [...] und wir hätten doch ‘nen Grundriss gebraucht! Hab noch nie so’ n schlechtes Referat gemacht! Naja aus Fehlern lernt man.“ (Christiane Henze) „Der Vortrag eines Referates gehört nicht gerade zu meinen Lieblingsaufgaben, aber es war in Ord- nung, wir hatten faire Zuhörer.“ (Anika Schmidt) „Es gab ziemlich viele neue Eindrücke eines ziemlich großen Spektrums heute, am Referatstag, der sehr voll gepackt war. Überraschend fand ich die Parallelen zwischen dem Kloster von Le Corbusier und dem von uns bearbeiteten Kloster Notre-Dame de Sénanque.“ (Antje Renziehausen) „Internet und Bibliothek, Referatrecherche, sehr sehr viel Informationen – was ist wichtig?!??“ (Olga Popanzewa) „Die Vorträge am Dienstag waren sehr informativ, obwohl es sehr lange gedauert hat, war es sehr interessant. Es trägt auch schon Früchte – mir ist die Idee gekommen das Haus bei Prof. B. Häntsch im Stil von Toyo Ito zu bauen. [...] Musste mal wieder feststellen, dass ich nicht besonders gebildet bin. Von den weißen Gebäuden und Architekten weiß ich nämlich nicht sonderlich viel, deswegen, um das zu mindest etwas auszugleichen, habe ich mich bei Architekturgeschichte für ein Referat gemeldet – freiwillig!“ (Rebecca Friesen) „Man lernt, nicht voreilig über ein Haus zu urteilen, sondern die Grundidee zu verstehen und somit auch zu sehen, was sich der Architekt dabei gedacht hat. Ein weiterer Vorteil von Referaten ist, sich vor anderen Leuten zu behaupten und seine Anliegen verständlich zu machen.“ (N.N.) Auswertung Für die Präsentation der Klassiker der Moderne wurden Studenten aus dem letz- ten Semester eingeladen, um die Wertschätzung studentischer Arbeiten unse- rerseits sicherzustellen und den Studenten einen direkten Kontakt zu der vor- tragenden Person zu ermöglichen. Die Nähe zu den Mitstudenten und deren Begeisterung für ihre selbst gebauten Modelle ließ die Arbeitsgruppe sehr auf- merksam zuhören und sie wurden ermutigt weiterführende Fragen stellen. Aus technischen Gründen musste für die Vorträge der Referate auf den Bespre- chungsraum von Prof. Maya Reiner, bzw. den Hörsaal ausgewichen werden. Dies Das Modell freischwimmer 230 231 Die Exkursion führte die Projektgruppe für zwei Tage in die Niederlande. Sie wurde mit Referaten vorbereitet, die aber erst bei den Besichtigungen gehal- ten wurden. Unterwegs wurden mehrere Aufgaben gestellt, die vor Ort ange- fangen und in Kassel nachbereitet oder fertiggestellt wurden. Die werden hier im Einzelnen vorgestellt und ausgewertet. Aufgabe „Drehbuch“ Arbeite in Deinem Referat zu dem angegebenen Gebäude die Punkte Raum- folge, Weg durch das Gebäude, Licht, Oberfläche und Wirkung heraus und versuche, die Atmosphäre einzufangen. Überprüfe Deine Vorstellung vor Ort und referiere darüber. Ausgewählte Gebäude sind: - Wiel Arets: Kunstakademie und Galerie, Maastricht - Bert Dirrix: Vertigo - Fakulteit Bouwkunde, Eindhoven - Neutelings/Riedijk: Minnaert-Gebouw/Universitätsgebäude, Utrecht - Mecanoo: Fakultät für Volkswirtschaft/Universitätsgebäude, Utrecht - OMA, Rem Koolhaas: Educatorium/Universitätsgebäude, Utrecht - Gerriet Rieveld, Haus Schröder, Utrecht - mvrdv, Doppelhaus, Utrecht Das Modell freischwimmer Exkursion in die Niederlande: Referate, Besichtigungen, kleine Aufgaben trug zu einer relativ distanzierten Atmosphäre zwischen Vortragenden und Zuhörenden bei. Besser wäre gewesen, trotz der Enge, im Arbeitsraum zu bleiben, da dieser ein bekanntes Territorium der Studenten darstellte und eher ein gemeinsames Erarbeiten als eine Konsumhaltung impliziert hätte. Nach den Kurzvorträgen gab es nur wenige Nachfragen. Es stellte sich somit die Frage, ob nicht auf Inputs dieser Art verzichtet werden könnte. Selbsterarbeitete Inhalte, am besten in dem Moment, in dem sie von den Studierenden erfragt werden, bleiben wahrscheinlich besser im Gedächtnis hängen, als fremdbestimmte Inhalte. Andererseits ist es wichtig, den Blick für das Thema Atmosphäre zu öffnen, Ideen und Anknüpfungspunkte anzubieten und ein gewisses inhaltliches Niveau zu erreichen. Nach der Einheit der Vorträge, die jeweils zwei Nachmittage umfassten, bleib die Effektivität der Inputs in der Nachbesprechung vorerst unbeantwortet. Die Tagebucheinträge schließlich ergaben ein neues Bild. Die Studenten hatten mehr Informationen und Eindrücke mitgenommen, als das Betreuer- team vermutet hatte. Zahlreiche Tagebucheinträge enthielten Informationen über die Architekten und ihre Gebäude. Verknüpfende Erkenntnisse, wie z.B. die von Antje Renziehausen benannte Paral- lele der beiden besprochenen Klöster, fanden sich wenige. Das von ihr benannte Vorhaben, sich weiterzubilden und das das nächste Referat besser vorzubereiten, ist hier hervorzuheben. Auch die Vorträge im Sinne eines Selbstzwecks positiv verbuchen zu können, indem mdie Studierenden ihre Anliegen verständlich machen mussten oder wider Erwarten faire Zuhörer antrafen, war eine der wichtigen Erfahrungen. 232 233 Aus den Lerntagebüchern „Um 7.00 aufstehen! 16 Leute wollen duschen! Was für eine Wasserschlacht! Frühstück: alle die keinen Toast mit Schokostreuseln gegessen haben sind Spielverderber! [...] Ein Gebäude noch, wird laut. Wir liegen in der Sonne und hören das Referat. Das Gebäude ist ehrlich gesagt zwar interessant aber spuckhässlich von außen. Aber nicht jeder hat einen See im Haus. [...] Die Exkursionseindrücke sind langsam verarbeitet worden. Nachdem man sich als erstes mit dem unmittelbaren Geschehen beschäftigt hatte, denkt man noch mal über die gesehenen Gebäude nach [...]“ (Christiane Henze) „Eine Super Sache, die mir viel gegeben hat. Eigentlich war dies meine erste Architekturexkursion. Ich habe viele Umsetzungen von Licht und Materialität gesehen, die ich in einem Buch so nicht aufneh- men würde. Ich finde diese Fahrt und die Besichtigung der Gebäude hat mir Ideen und Anregungen geliefert, auf die ich auch später nochmal zurückgreifen kann.“ (Antje Renziehausen) „Ich war überwältigt von der holländischen Architektur. Diese Einfachheit aber doch sehr ausdrucks- stark [...] Ich brauchte fast eine Woche um meine neu gewonnenen Eindrücke zu verarbeiten, diese Flut an Erfahrungen waren sehr schwer zu verdauen. Exkursionen bringen auf jeden Fall was, sie erweitern den Horizont. Andere Kulturen und Bauweisen beflügeln einen, es genau so gut hinzu- bekommen, eventuell sogar besser.“ (Gunnar Stallmann) „Eine Besichtigung der Universitäten mit den Bauten Superdutch-Generation kann durch kein Buch und kein Referat ersetzt werden.“ (N.N.) „Auf jeden Fall sehr kuschelig!“ (Olga Popanzewa) „Die Aufgaben schienen uns jedoch in den Tagen vor und nach der Exkursion durch ihre Fülle fast zu erschlagen. Erst durch die vorlesungsfreie Woche war es möglich sie abzuarbeiten.“ (N.N.) Nach der Exkursion: „Fotos anschauen und noch mal diskutieren. Was nicht so richtig klappt.“ (Christiane Henze) Auswertung Bei der Besprechung der Exkursion Superdutch in die Niederlande entstand der Eindruck, dass alle Projektteilnehmer Lust auf einen Ausflug hatten. Auch hier liegen zahlreiche Tagebuchaufzeichnungen zu den Inhalten der Exkursion vor. Viele vor Ort entstandene Zeichnungen und Stichworte zu den Gebäuden ver- Das Modell freischwimmer 234 235 mitteln den Eindruck einer intensiven Auseinandersetzung während der Besichtigungen vor Ort. Die Verteilung von Referaten, die vor Ort gehalten wurden, trugen zur Identifikation mit dem jeweiligen Gebäude bei. Für die Zuhörer spielte die Nähe zu den Vortragenden bei der Aufnahme der Informatio- nen eine wesentliche Rolle. Auch wenn einige von einer längeren Verarbeitungsphase berichteten, ist der unmittelbare Eindruck eines Gebäudes, gerade am Anfang des Studiums, nicht zu ersetzen. Der Wunsch nach einer fundierten Reflexion des Gesehenen im Anschluss an die Exkursion blieb alleiniger Wunsch der Lehrenden. Der angestoßene Meinungsaustausch mit Hilfe von Fotomaterial der Exkursion führte leider nicht zur Beteiligung der Studenten, was auf mangelndes Interesse nach einem Aus- tausch über das Gesehene im Nachhinein zurück zu führen war. Der Aspekt des Kennenlernens untereinander, der gemeinsamen Erfahrungen und des Gruppen- zusammenhalts in schwierigen Situationen, wie in diesem Fall die der unangenehmen räumlichen Situa- tion der Herberge, ist für jede Teamarbeit unbedingt erforderlich. Es erleichtert auch beiden Seiten, den Lehrenden wie den Studierenden, eine gemeinsame Sprache zu entwickeln. Das Modell freischwimmer Aufgabe „Stadtraum Utrecht“ Die Stadt kann man als eine Folge von Stadträumen wahrnehmen. Versuche Dich auf eine konkrete Raumfolge zu beschränken und diese mit einer zu be- stimmenden Methode zu abstrahieren. Baue ein Modell, dass in einem adäqua- ten Maßstab die wesentliche Aussage darstellt. (Bearbeitung: zwei bis drei Personen, während der Exkursion zu bearbeiten und zu Hause fertig zu stellen.“ Aus den Lerntagebüchern „Die Abstraktionsaufgabe ist jedoch ein großes Problem, weil wir uns zuviel zugemutet haben und unfähig sind es umzusetzen [...]. Obwohl der Kritikpunkt an unserem Projekt der Abstraktion ziemlich offensichtlich war, haben wir den Mangel vorher einfach nicht gesehen! Es ist echt komisch, dass man da vorher nicht darauf kommt und erst andere Meinungen einem die Augen öffnen.“ (Antje Renziehausen) 236 237 „Diese Aufgabe war etwas ungenau. Wir hatten eine Idee (die sogar ziemlich schnell), aber man wusste nicht so genau, ob das okay ist, und mit dem Rest der Gruppe war es nicht vergleichbar, da jeder einen anderen Ansatz hatte.“ (Anika Schmidt) „Die Hoge Veluwe Aufgabe war nicht so gelungen. Die Bearbeitung hat zwar Spaß gemacht und auch das Abstrahieren, aber im Endeffekt kam dann bei der Präsentation heraus, dass wir und noch ein paar andere die Aufgabe anscheinend falsch verstanden hatten.“ (Leonie Sommer und Caroline Gottschalk) „Meine Erkenntnis aus dieser Aufgabe ist bestehende Räume zu abstrahieren und in andere architektoni- sche Räume/Gebilde umzuformen. Eine komplexe jedoch sehr spannende Aufgabe.“ (Gunnar Stallmann) Auswertung Die Aufgabe war zu unkonkret formuliert, die Bearbeitungsmöglichkeit zu offen und die Zielvorgabe unklar, wodurch das Aufkommen einer positiven Konkurrenz weitgehend ausgeschlossen blieb. Die Studierenden hatten zwar die Möglichkeit, eigene Kenntnisse und Fähigkeiten einzubringen, konnten aber wenig Neues und Konkretes lernen oder vertiefen. Eine Abstraktion eines Außenraums vorzunehmen, ist eine Möglichkeit, diesen als eigenen Raum zu erkennen, die Qualitäten, Beschaffenheiten und Oberflä- chen zu benennen und schließlich das Dazwischen zu besetzen. Vielleicht wäre besser gewesen, die Arbeitsschritte des Abstrahierens vorzugeben, z.B.: Denke den vorhandenen Außenraum, die Raumfolge der Plätze und Straßen um, indem dieser Nicht-Raum, dieser nicht fassbare Luftraum in einen Körper umgewan- delt wird. Die angrenzenden Gebäude sind dann der Nicht-Raum, der nicht begehbare, nicht zugängliche Luftraum. Es erfolgt eine Positiv-Negativ Umkeh- rung, erst in Form eines Schwarzplanes, dann in Form eines Modells. Das Modell freischwimmer 238 239 Das Modell freischwimmer Aufgabe „Superdutch“ Fertige Skizzen, Fotos und Reisenotizen vor Ort an. Der stärkste vorgefundene Raumeindruck wird in Kassel in Form eines Guckkastens 30 x 30 x 30 cm festgehalten. (Bearbeitung: zwei bis drei Personen, während der Exkursion zu bearbeiten und zu Hause fertig zu stellen) Aus den Lerntagebüchern „Alles lief so gut, dass wir erst um 1.00 Nachts zufrieden – sogar sehr – nach Hause gingen!!!“ (Olga Popanzewa) „[...] eine wirklich gelungenen Form sich mit dem Gesehenen auseinanderzusetzen.“ (N.N.) „Bei der Guckkasten-Aufgabe war die Tatsache beeindruckend, dass in äußerlich völlig kargen Boxen und auf kleinstem Raum absolut ausdrucksstarke Atmosphären vermittelt werden konnten. Der Be- trachter wurde in die Atmosphäre des Guckkastens förmlich hineingezogen.“ (N.N.) Auswertung Die Aufgabe wurde von den Studenten mit viel Spaß bearbeitet. Sie war nach dem Brief- freund die zweite Modellbauaufgabe. Während die Brieffreund-Aufgabe keine Materialvor- gaben vorgab und die Aufgabe alleine zu be- arbeiten war, mussten sich die Studenten hier auf eine gemeinsame Aussage in der Klein- gruppe einigen und die Materialvorgaben ein- halten. Das Bestmöglichste aus einem eng ge- steckten Rahmen herauszuholen, stellte eine außerordentlich befriedigende und darüberhin- aus sehr realitätsnahe Erfahrung dar. Der Ver- gleich untereinander konnte relativ leicht voll- zogen und Anregungen ausgetauscht werden. Das Ergebnis war für alle ebenfalls sehr be- friedigend und wurde auf der Rundgangsaus- stellung von anderen lobend beachtet. 240 241 Das Modell freischwimmer Aufgabe „Farbtag“ Halte die Stimmung einer der beiden Tage (oder beider Tage) in einer Farbfolge fest, die sich am Verlauf des Tages orientiert. (Einzelarbeit, während der Exkursion zu bearbeiten und zu Hause fertig zu stel- len) Aus den Lerntagebüchern „Witzig fand ich die Idee des Farbtages. Man musste sich explizit seiner Stim- mung bewusst werden, um sie dann auch noch umzusetzen.“ (Antje Renziehausen) „Durch die Aufgaben Farbtag, Abstraktion und Licht hab eich etwas in Richtung Gestaltung dazugelernt. In diesem Bereich hatte ich vor diesem Projekt noch überhaupt keine Erfahrung gesammelt. Ich konnte, bzw. musste meine Kreati- vität ausbauen und bin auch ab und zu an meine Grenzen gestoßen, bevor es weiter gehen konnte.“ (Michael Noll) 242 243 Das Modell freischwimmer Die beiden folgenden Stegreifentwürfe schlossen sich an die Niederlanden- sequenz an. Da sie sehr unterschiedliche Aspekte ansprachen wurden die Aufgaben parallel gestellt und bearbeitet. Aufgabe „Licht“ Untersuche einen Aspekt zum Thema Licht im Raum experimentell. Was pas- siert? Belege den beleuchteten Raum mit verschiedenen Oberflächen und hal- te die Beobachtungen fotografisch fest. Licht von innen: Lampe, Leuchtkörper, diffuses Licht, gerichtetes Licht .... Licht von außen: fixiere die Lichtquelle und beobachte das eindringende Licht im Raum (Bearbeitung: eine Woche, 2-4 Personen) Aus den Lerntagebuüchern „Das Konzept stand innerhalb von 5 Minuten, da wir während der Eventplanung nicht so viel Zeit hatten. Mir hat diese Aufgabe am besten gefallen, da wir die Möglichkeit hatten, mit ungewöhnlichen Materialien zu experimentieren und StegreifentwürfeAuswertung Im Gegensatz zu den anderen Präsentationen wollte keiner der Studenten seine Farbauswahl und Anordnung der Farben in der Gruppe erläutern, was damit begründet wurde, dass die emotionale Verfassung sehr ehrlich in der Aufgabe umgesetzt wurde. Sich mit einem so stark individuell gepräg- ten Ergebnis in der Öffentlichkeit zu präsentieren, war den Studenten bisher fremd. Einzelgespräche, die in der großen Projektgruppe keinen Platz hatten, fanden anschließend statt. Die Aufgabe wurde von lernender wie lehrender Seite positiv bewertet, weil sie den individuellen und bewussten Umgang mit und Einsatz von Farbe förderte. Der Inhalt der Ergebnisse war hier nicht zu bewerten, lediglich ihre Ausführung. Da die Farbauswahl individuell getroffen wurde, gab es keine Möglichkeit der Überprüfung einer richtigen oder falschen Anwendung der jeweiligen Farben. 244 245 Das Modell freischwimmer 246 247 dadurch ungewöhnliche Effekte gefunden haben. An dieser Aufgabe hätte ich gerne länger gearbei- tet.“ (Anika Schmidt) „Die Aufgabe war durch das Experimentieren und die angenehme Zusammenarbeit mit den anderen die beste Stegreifaufgabe des Projekts.“ (N.N.) „Beim Experimentieren mit Licht waren die Versuche interessant, verschiedene Farben untereinander und in Verbindung mit diversen Materialien zu kombinieren und auch die Unterschiedlichkeit von natürlichen, diffusen und punktuellem Licht einer Glühlampe kennen zu lernen. Das Ergebnis waren beeindruckende Effekte mit geringem Aufwand, die sicherlich auch in zukünftigen Arbeiten nicht unberücksichtigt bleiben.“ (N.N.) „Auch waren wir immer wieder fasziniert, was man mit so einem Modell alles erforschen kann und was andere Betrachter feststellen. Besonders wichtig war uns in diesem Zusammenhang auch eine Rückmeldung von den anderen zu bekommen.“ (Leonie Sommer und Caroline Gottschalk) „Ich habe erst im Nachhinein gemerkt, dass man einfach ausprobieren muss und nicht im Vornhinein sagen soll, „nein das sieht doof aus“ oder „das ist gut so, wir brauchen nicht mehr“. Das kann man vorher nicht ahnen und deshalb muss man einfach lange genug ausprobieren.“ (Lars Elsasser) Das Modell freischwimmer Auswertung Der Stegreifentwurf wurde mit großem Einsatz bearbeitet. Einige Kleingruppen experimentierten nach einem vorher aufgestellten Plan, einige arbeiteten eher spontan. Sehr schön zu beobachten war, dass es keine Konkurrenz untereinan- der aufkam, sondern ein intensiver Austausch, was sicherlich mit der Vergleich- barkeit der Ergebnisse zu tun hatte. Bestimmte Ideen und Konzepte wurden von einer Gruppe initiiert, getestet und anschließend oft von anderen aufge- nommen, uminterpretiert und weiterbearbeitet. Es entstanden im Ganzen ein großer, allen zugänglicher Ideenfundus, aus dem die Studenten nicht nur im Rahmen dieses Projekts schöpfen können. Die Kritik, dass die Zeit zu kurz bemessen sei, war berechtigt. Experimentellen Aufgaben sollte mehr Raum und Zeit gegeben werden. Die Möglichkeit, einige Experimente in einem anderen Maßstab auszuführen zu können, wäre sicher spannend gewesen. Ein begehbarer Licht-Raum, in dem die Lichtwirkung einiger Experimente unmittelbar von jeweils einer Person wahrgenommen werden könn- te, wurde bei der Präsentation vorgeschlagen. 248 249 Aufgabe „Event“ Entwickle für einen realen Ort eine Vision. Verstärke die vorgefundene Atmosphäre mit einer Geschich- te, mit Licht, Musik, einem Text, einem bestimmten Getränk, einer Mahlzeit, oder ... Begeistere die anderen von Deiner Idee. Der Wettbewerb entscheidet, welche Vision für einen Abend oder einen Morgen in einem Event umgesetzt wird! (Bearbeitung: mehrere Wochen, 2-4 Personen) Aus den Lerntagebüchern „Die Präsentation zur Event-Aufgabe fand ich ziemlich gut. Es waren total viele unterschiedliche Ideen, Ausarbeitungs- und Präsentationsformen. Aber ich denke das Holland-Event hat verdient ge- wonnen, weil die Idee einfach genial ist!“ (Antje Renziehausen) „Endlich mal um was kümmern! [...] Endlich mal Zeit sich um das Projekt zu kümmern, weil keine Vorlesungen!“ (Anne Assenwert) „Was ich bei dieser Aufgabe gelernt habe? Quer zu denken! Auf jeden Fall von diesem Schema Event = Party wegzukommen, habe gelernt, dass Organisation sehr wichtig und zeitaufwendig ist, dass man Das Modell freischwimmer auch ohne viel Geld was zustande kriegt, wenn man sich nicht auf der ersten Idee festbeißt und versucht Alternativen zu finden.“ (Rebecca Friesen) „Warum es – neben der Licht & Materialaufgabe – die Aufgabe mit dem meis- ten Spaß war, lag mit Sicherheit an der freien Gestaltungsmöglichkeit unserer Präsentation.“ (N.N.) „Für mich persönlich habe ich herausgefunden, dass die Zustimmung oder Ablehnung eines Projekts im besonderen Maße davon abhängig ist, wie es vor- gestellt wird. Dabei sollte man sich nicht scheuen kreativ zu sein und sich von der Masse abzuheben und das Projekt den Interessenten mit besonderem Einsatz ans Herz zu legen.“ (Julia Dörnbach) Auswertung Im Anschluss an die Aufgabenstellung war es außergewöhnlich unruhig. Erste Ideen wurden sofort geschmiedet und vorläufige Arbeitsgruppen gebildet. 250 251 Die Bearbeitung der Aufgabe wurde mit einem so großem Enthusiasmus betrieben, der von dem Betreuer- team nicht erwartet wurde. Sicher hatte diese Begeisterung mit dem Wettbewerbcharakter der Aufga- be zu tun. Die Präsentation der Wettbewerbsbeiträge reichte von Plakaten über Theateraufführungen bzw. kleinen Performances, über PowerPointPräsentationen bis zu drei Filmen. Die Präsentation der Ergebnisse dauerte mehr als drei Stunden, wurde aber von allen als sehr kurzweilig erlebt. Anschließend wurde im Punktvergabeverfahren die Gewinner des Wettbewerbs durch die gesamte Projektgruppe ermittelt, die den Vorschlag umsetzen durften. Präsentiert wurden unter anderem Plakate, Performances, Power-Point-Präsentationen und Filme. Ein Film zeigte eine außerordentlich witzige Schnitzeljagd durch Kassel. Diese wurde mit einem echten Schnitzel durchgeführt, das auf seinem Weg durch die Stadt per Kamera verfolgt wurde. Der Film bekam den meisten Applaus. Ein anderer Film, der seinen Event-Vorschlag in minimalistischer Weise zur Schau stellte, gewann. Die Gruppe besaß keinerlei Erfahrung mit dem Medium Film und hatte daher ihre Hauptdarsteller, Playmobilfiguren, in kurzen Sequenzen Bild für Bild festgehalten, diese aneinander gereiht und somit eine sehr amüsante Form des Trickfilms produziert. Geworben hatte die Gruppe für die Idee, einen Abend ein leeres Schaufenster in der Innenstadt in Realzeit zu bespielen. Für das später ausgeführte Event wurden tatsächlich Möbel und Lampen einer Wohnzimmereinrichtung an- geliefert. Die gesamte Projektgruppe feierte unter Beobachtung von Vorbeige- henden die holländisch transparente Lebensweise, die den Studenten auf der Exkursion in den Niederlanden so gut gefallen hatte. Das Event in der Gruppe durchzuführen und zu feiern, war ein weitere Baustein, der die Gruppe zusam- menwachsen ließ. Die Gewinner hatten allerdings auf Grund des sehr aufwendi- gen Vorhabens einen hohen Zeitaufwand zur Vor- und Nachbereitung, an der die übrige Projektgruppe wenig Teil hatte. Vielleicht hätte man die Gewinner entlasten können, indem man die anderen zur Mitarbeit verpflichtet hätte, oder sie um die Bearbeitung einer der anderen Aufgabe erleichtert hätte. So war für sie zwar das Erfolgserlebnis des ersten Preises und auch des gelungenen Abends vorhanden, der Arbeitsaufwand jedoch außerordentlich hoch. Das Modell freischwimmer 252 253 Das Modell freischwimmer Erster großer Entwurf Nach der Hälfte des Semesters und der Vorbereitung durch Stegreifentwürfe auf die vielen Aspekte des Entwurfs waren die Studenten gespannt auf die große nun zu bearbeitende Entwurfsaufgabe. Aufgabe: EG K10 Formuliere mit der Minimalvorgabe Eingangssituation–Mensa/Café–Ausstellung/Präsentation des Fach- bereichs–Bibliothek ein Vorhaben für das Erdgeschoss der Architekturfakultät (EG K10). Setze indivi- duelle Schwerpunkte. Konkretisiere die Nutzungen, Bereiche und Übergänge und schaffe hierfür die jeweiligen Atmosphären. Erstelle Zeichnungen, Grundrisse und Schnitte und baue ein maßstabsgetreues Modell. Entwickle für den Entwurf ein Pictogramm, das die Grundidee auf einen Blick erkennen lässt. Doku- mentiere das gesamte Projekt in der Layoutvorgabe und stelle es bis zum Ende des Semesters fertig. Abschließend wird das Projekt zum Rundgang ausgestellt. (Bearbeitung: 2-4 Personen, 5 Wochen) Lerntagebuch „Die Idee das K10 umzugestalten fand ich gut, da man das Gebäude kannte und genau wusste, wo die Knackpunkte waren. Ich bin so mit viel offeneren Aufgaben durch das Gebäude gelaufen.“ (Anika Schmidt) „Zuerst fand ich die Aufgabe der Umgestaltung des EGs des K10 zu konkret, zu weit weg vom künstlerischen Aspekt der vorherigen Aufgaben, aber jetzt wo ich mir schon einige Gedanken gemacht habe und viel Ideen auf mich einge- stürzt sind, freue ich mich darauf, sie zu bewältigen.“ (Antje Renziehausen) „Im Endeffekt war ich über die letzte Aufgabe ein bisschen enttäuscht, da ich mehr davon erwartet hätte. Ich kann jetzt nicht genau sagen, was ich mir vorgestellt habe. Die Aufgabe veränderte jedenfalls die Herangehensweise.“ (Gunnar Stallmann) „Ich glaube es war jetzt der beste Zeitpunkt mit der richtigen Aufgabe anzu- fangen, wir sind alle etwas ausgepowert und diese Wochenetappenaufgaben waren ziemlich kräftezehrend und man war nie wirklich zufrieden, denn es schwirrten einem immer tausende Ideen im Kopf was man alle noch hätte machen können, weiterentwickeln, verbessern. Jetzt haben wir wirklich schön viel Zeit an einer Sache zu arbeiten.“ (Rebecca Friesen) „Das Wahrnehmen von Atmosphären in Räumen hat sich seit dem Beginn un- serer Projektarbeit deutlich verändert. Seit sich diese dann auch noch um die 254 255 konkrete Situation des K10 drehte, kam es noch einmal zu einer Veränderung der Wahrnehmung des Gebäudes, was wirklich beeindruckend war. Im Moment habe ich das Gefühl, jeden Morgen dort anzukommen und den roten Riegel des ,RedBoxExperiment’ zu vermissen.“ (N.N.) „Ich weiß nicht ob mich die Stegreifentwürfe zu diesem Entwurf gebracht haben, aber es hat mich in die Richtung gelenkt, dass ich nun zuerst Skizzen mache und am Modell ausprobiere.“ (Lars Elsasser) „Wir fertigten zwei Listen. Eine mit unseren Erfahrungen über die Defizite des Gebäudes und eine mit den Vorstellungen davon, wie ein ideales Architekturgebäude gestaltet sein sollte. [...] Bei dieser Aufgabe lernte ich, dass ein Entwurfsprozess mit ganz einfachen schematischen Mitteln, wie einer Negativ- und einer Wunschliste in Gang gesetzt werden kann.“ (Julia Dörnbach) „Die erste Schwierigkeit lag darin, sich vom kleinteiligen Denken zu lösen. Da zwei von uns schon praktische Erfahrungen besitzen und als erstes an DIN Normen denken, mussten wir lernen wie man ein Konzept entwickelt. [...] Der Entwicklungsprozess hat sehr viel Spaß gemacht und wird mir, vom Ablauf her, auch bei meinen nächsten Entwürfen weiter helfen können.“ (Mathias Hillebrand) „Diese Woche wurde davon bestimmt, mit den verschiedenen Projektpartnern zu beraten. Dabei lernte ich mich auf verschiedene Herangehensweisen und Arbeitsmethoden einzustellen.“ (Julia Dörnbach) „Zwischenpräsentation: Endlos lang! Vorher zu wenig Betreuung, deshalb wird über viel Nebensächliches & Details gesprochen. [...] 5er Gruppe – jeder bringt seine Vorstellungen mit ein – alle wollen was anderes, aber irgendwie haben alle auch ähnliche Vorstellungen – viel Diskussionspotential – Verständigungs- probleme – jeder sagt was, aber man kann nicht immer voraussetzen, dass die anderen es verstanden haben. [...] Große Meinungsverschiedenheit. Keine Einigung. Gruppe droht an solchen Problemen in zwei Teile gespalten zu wer- den. [...] Insgesamt war die Gruppenarbeit nicht unbedingt die beste, aber zum Ende hin ist sie immer besser geworden. Am Anfang ist zuviel aneinander vorbei gearbeitet worden. Keiner der so richtig das Heft in die Hand genom- men hat. [...] Insgesamt fand ich die Anlaufphase bis zum endgültigen Projekt zu lang. Die meiste Zeit war es sehr stressig, es wurde sehr viel in kurzer Zeit gefordert und man war schon ein bisschen ausgepowert als man an den letz- ten Entwurf gekommen ist. Was auch ein bisschen schwierig war, dass man nicht immer eine klar formulierte Aufgabe bekommen hat und die mündlichen Vorstellungen jedes Mal anders rüber gekommen sind = Verwirrung und manch- mal auch erste Planung in die die falsche Richtung. Außerdem kann man bei einer klar formulierten Aufgabe die Grenzen und Schlupflöcher die eine Aufga- benstellung bietet, herausfinden und nutzen.“ (Anne Assenwert) Das Modell freischwimmer 256 257 „Je mehr ich zu tun habe, umso mehr Spaß macht es eigentlich. [...] (auf mehreren Seiten beschrie- bener Frust über die Zusammenarbeit mit anderen, Anm. der Autorin) [...] lerne ich daraus, dass man nicht unbedingt nach Sympathie gehen sollte bei der Wahl seiner Projektpartner, sondern eher nach der Zuverlässigkeit + Arbeitswille + Motivation. [...] Neue Gruppenkonstellation: Das erste Mal seit Anfang des Semesters kann ich etwas mit dem Wort Teamarbeit anfangen und ich muss zugeben es gefällt mir auch ganz gut. Die Jungs sind mindestens genauso motiviert wie ich, haben die gleiche Einstellung, haben super Ideen und ich lerne eine Menge von Ihnen. [...] Habe gemerkt wie sich meine Denkweise verändert hat, versuche mittlerweile immer vom Nutz- und Sinnpunkt an die Sache heran- zugehen und nicht so wie mal am Anfang – Hauptsache es sieht irgendwie geil aus, kann ich die Sachen die ich mache viel besser begründen und erklären: entwickle langsam, architektonisches Denken [...] sprich ich habe was gelernt und es auch gleich gemerkt!“ (Rebecca Friesen) „Es wurden hohe Erwartungen gestellt und einiges vorausgesetzt, z.B. PC-Kenntnisse oder Perspektiven konstruieren, zwar hatte man in beidem eine Einführung, nur wenn man wie ich keine Ahnung hatte, war es einfach zu wenig. [...] Wir haben in geringer Zeit ziemlich viele Aufgaben bearbeitet, das fand ich gut, da man ein Thema nicht so schnell satt wurde, weil es sich über Wochen zieht.“ (Anika Schmidt) „Abschließend ist zu sagen [...] wir sind am Ende! Wortwörtlich [...] Unser Projekt war sehr gefüllt mit vielen kreativen, „spannenden“ (wie Katja sagen würde) Aufgaben, für die der Zeitplan nicht immer wirklich ausreichend war und dessen Erfüllung und Ausarbeitung so manche Nerven und Privatleben gekostet hat (Der eine oder andere war schon samt Kücheneinrichtung – Kühlschrank, Wasserkocher, Milchaufschäumer in den Projekt- raum umgezogen.) Dennoch Hut ab vor unseren Betreuern, für die kreative und umfangreiche Vorbereitung des Projekts, bei dem viel neues entdeckt/erfahren wurde und passiert ist. Besonders herausragend war der Aspekt des Zusam- menarbeitens, des Von- und Miteinanderlernens. Auch der Zusammenhalt der Gruppe hat mich positiv überrrascht. Durch etliche eingelegte Nachtschichten und dem gemeinsamen Durchstehen entstand ein fast familiärer Zuzsammenhalt/ Gruppenverband. Ebenso zum Gelingen der Projektarbeit beigetragen hat die fürsorgliche Betreuung der beiden Tutoren, die fast immer und überall ein offenens Ohr für uns hatten. [...] So, nun genug der lobenden Worte, ich gehe nun wohlverdient mit viel Input in die Semesterferien und gönne Körper & Geist etwas Urlaub [...] Danke für dieses Sommersemester!!“ (Madet Böttjer) „Ich habe festgestellt, dass ich eher ein Mensch bin, der vorarbeitet, statt alles auf die letzte Minute zu machen. Schlecht, wenn der Projektpartner ge- nau das Gegenteil ist. [...] Was ich nicht so gut fand, war die Besprechung in Kleingruppen, weil ich es immer interessant finde, die anderen Ideen auch alle Das Modell freischwimmer 258 259 kennenzulernen. [...] Ist halt einfach ein guter Orientierungspunkt, aber auch Ansporn, falls man hinterherhängt. Mir fiel auf, dass es in den Projektgruppen ziemlich viele unterschiedliche Ansätze gibt. Wir sind z.B. eher eine Gruppe, die mit dem Konzept beginnt, die meisten anderen fangen mit der Modifizierung des Grundrisses an, wohingegen Wendelin, Gunnar und Florian immer mit einem theoreti- schen Vorgerüst starten, was ich für ziemlich spannend halte, man allerdings Gefahr läuft, zu lange zu unkonkret zu bleiben oder zu komplexe Anforderungen zu stellen. [...] Ich fand die Präsentation (Rund- gang) sehr sehr gut. Dieses Hochgefühl alles fertig zu haben, war da und der Zusammenhalt in der Gruppe wurde nun auch offensichtlich. Mir hat das Projekt echt sehr viel Spaß gemacht, ob seiner Kreativität, der Betreuung, die immer wieder neue Anregungen gegeben hat, dazu animiert hat sich verschiedene Lösungen anzusehen, der unterschiedlichen Aufgaben. Ich bin gerade sehr glücklich mit dem was wir geschafft haben [...] ich bin ein ganzes Stück daran gewachsen und selbstbewusster geworden und mir ziemlich sicher, dass ich Architektur studieren möchte. Dankeschön, war ein ver- dammt cooles Projekt!“ (Antje Renziehausen) „Die Gruppe war toll! Jeder hat jeden motiviert! 100 Punkte. Jeder war für jeden da!!! 100 Punkte. Zusammenhalt! Zusammen durch dick und dünn! [...] Betreuung: sehr direkt, finde ich gut, sehr kritisch, sehr aufmerksam, hilfreich, anspruchsvoll – weiter so !!!“ (Olga Popanzewa) „Es war ein Projekt was mir sehr viel Spaß gemacht hat und mich sehr interessiert hat. Es hat bei mir sehr viele Türen aufgestoßen, die man weiter verfolgen kann. Es war das erste Mal, das ich auch eine gewisse Bestätigung bekomme, indem was ich tue. Es hat mir gezeigt, das es das richtige für mich ist und ich auf dem richtigen Weg bin.“ (Gunnar Stallmann) Auswertung Den ersten großen Entwurf erst nach der Bearbeitung mehrerer Stegreifentwürfe zum Thema anzugehen, stellte sich als eine gute Entscheidung heraus. Einige Studenten waren zu diesem Zeitpunkt schon recht ausgepowert, andere emp- fanden die verbleibende Zeit auf Grund der anstehenden Selbstorganisation als langen Zeitraum. Viele freuten sich auf die große zu bewältigende Aufgabe, obwohl einige anfangs vom Inhalt der Aufgabenstellung enttäuscht waren. Die Identifikation mit der Aufgabenstellung, in die eigene Hochschule konzeptio- nell und gestalterisch einzugreifen, wuchs jedoch mit der Bearbeitungszeit. Die Schwerpunktsetzung ist unterschiedlich ausgefallen, die individuelle Wahrneh- mung und Bewertung in Bezug auf die Nutzung und die Gestaltung des Ein- Das Modell freischwimmer 260 261 gangsbereiches der Hochschule, also auch des eigenen Ankommens, konnte in den Entwurf einge- bracht werden. Der Umfang der Veränderungen im Gebäude sowie die Bearbeitung von bestimmten Detailbereichen wurden im Rahmen der vorhandenen Energie und Vorerfahrung selbst bestimmt. Schön zu sehen war, wie mit der Zeit eine Sensibilisierung für die architektonische Atmosphäre entwickelt wurde. Die Erfahrung mit Raumdimensionen, Materialbeschaffenheiten und Lichtexperimenten fanden offensichtlich Einzug in den großen Entwurf. Die in den Stegreifentwürfen erprobten Fertigkeiten im Modellbau und in den Zeichnungen wurden vertieft und teilweise in sehr raffinierten und aussagekräf- tigen Präsentationsmodellen umgesetzt. In dieser letzten Projektphase mussten Arbeitspartner für mehrere Wochen gesucht werden. Durch die unterschiedlichen Besetzungen in den verschiedenen Stegreif- entwurfsphasen, haben sich die Studierenden kennengelernt und wussten auf wen sie sich eingelassen haben. In den Arbeitsgruppen entstand ein regelrechter Wettei- fer, das Projekt für sich gut abzuschließen. Trotzdem haben sich die Arbeitsgruppen untereinander inspiriert, sich gegenseitig geholfen und im Arbeitsraum dominierte eine konstruktive und lustbetonte Arbeitsatmosphäre, die in nächtlichen Arbeitsein- sätzen und Partys ihre Höhepunkte fand. Das Modell freischwimmer Zusammen- fassung Zusammenfassend ist zu sagen, dass die Studierenden durch das Projekt ein architektonisches Grundverständnis entwickelt und sich allgemeine Basis- kompetenzen angeeignet haben. Die Erfahrung des Durchhängens in der Mitte einer Projektphase innerhalb eines Semesters wurde mit dem Ansatz der vielen zu bearbeitenden Teilaufgaben ausgeschlossen. Die anhaltende Energie für die immer wieder neuen Aufgabestellungen aufzubringen, fiel sicher nicht allen gerade leicht, jedoch führt diese Semesterstruktur zu vielen kleinen Erfolgser- lebnissen während des Semesters. Wenn eine der Aufgaben nicht befriedigend gelöst oder bearbeitet werden konnte, war das Gesamtergebnis nicht in Ge- fahr – neues Spiel, neues Glück. Die Studierenden hatten insgesamt das Ge- fühl viele Aspekte kennengelernt und Ideen erprobt zu haben, auch vieles, was sie in folgenden Projekten anwenden könnten. Die Wahrnehmung von Gebäuden und deren Aufenthaltsqualitäten hatte sich im Lauf des Projekts stark verändert und konkretisiert. Mögliche individuelle Herangehensweisen und Entwurfsstrategien wurden erprobt und auch für die Zukunft als Hilfestellung angesehen. Die eigene Entwicklung in Hinsicht auf die eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten, aber auch auf soziale Kompetenzen wurde von den Meisten sehr positiv bewertet. Im Großen und Ganzen war daher die 262 263 Struktur des Projekts sowie seine inhaltliche Ausrichtung auf die atmosphärischen Komponenten der Architektur ein guter Start in die Welt der Architektur, der Gestaltung und Planung. Die Bearbeitung der Entwurfsaufgaben im Team spiegelte die reale Situation in einem Entwurfsprozess wieder, in dem immer mehrere Parteien operieren. Hierbei waren Schlüsselqualifikationen, wie Sozial- kompetenz, Methodenkompetenz, Sachkompetenz und Selbstkompetenz zu erlangen. Die Teamarbeit, die in verschiedenen Konstellationen in den einzelnen Bearbeitungsphasen durchgespielt wurde, er- möglichte es, Arbeitspartner zu finden, die nicht immer die besten Freunde sein mussten. Aufgaben und Verantwortungsbereiche wurden in der Arbeitsgruppe verteilt, eigene Stärken und Schwächen erkannt und die Zusammenarbeit, die diese ausgleichen kann, wurde nicht nur kennen gelernt, sondern als Bereicherung erfahren. Die Studierenden haben viel voneinander gelernt, sich gegenseitig moti- viert, engagiert zusammen gearbeitet und die Freude an der Arbeit geteilt. Die Atmosphäre eines Projekts, das unsichtbare Curriculum, spielte eine nicht unwesentliche Rolle im Lernprozess. Dass die Studierenden Kritik und Anregungen annehmen konnten, dass sie keine Angst haben mussten, Schwä- chen zu äußern und Fragen zu stellen, konnte der Projektleiter initiieren. Gemeinsame Unternehmungen wie die Exkursion und der Event-Abend unterstützten eine vertraute, freundliche und intensive Arbeits- atmosphäre. Die studentischen Tutoren hatten auf Grund ihrer Position oft eine vermittelnde Rolle zwischen Dozent und Studierenden inne. Sie waren dichter dran an den Studenten und wurden schneller wegen kleiner Fragen oder Hilfestellungen in Anspruch genommen. Auch die Sorgen und Nöte erfuhren sie eher als die Dozenten. Die studentischen Tutoren waren daher eine außer- ordentlich wichtige Institution im Rahmen des Projekts. Die Reflexion des eigenen Lernprozesses in Form des Lerntagebuchs wurde von einigen Projektteilnehmern sehr ernsthaft betrieben, von anderen weniger. Eini- ge Fachbereiche und Institute arbeiten mittlerweile während des Studiums und für Prüfungen mit Portfolios. Portfolio bezeichnet eine Zusammenstellung von Dokumenten, die die Lernbiographie eines Individuums dokumentieren. Das kön- nen Aufzeichnungen, Referate, Lerntagebucheinträge, aber auch Zeugnisse, Auszeichnungen, Zertifikate, Teilnahmebescheinigungen und anderes mehr sein. Solche Portfolios dienen dazu, Lernerfahrungen und -erfolge systematisch zu erfassen und persönliche Lernstrategien zu planen und zu optimieren. In Hin- sicht auf die Wahrnehmung des eigenen Lernzuwachses und die Reflexion der gelernten Inhalte, Fertigkeiten und Fähigkeiten erscheint das Festhalten und Überdenken des eigenen Lernens und Wollens sinnvoll. Viele der Studierenden hatten sich in ihrem Lerntagebuch über genau diesen Lernzuwachs und die eigene Entwicklung geäußert. Am Ende des ersten Semesters feststellen zu können, dass man an den Aufgaben gewachsen ist, selbstbewusster geworden ist und sich auf dem richtigen Weg befindet ist ein großer Gewinn. Das Modell freischwimmer 264 265 Zusammenfassung und Fazit Die Entwicklung eines Lehrkonzepts, das letztendlich den Namen freischwimmer erhielt, beinhaltet die Erkenntnisse aus den ersten Erfahrungen in der Lehre am Fachbereich Architektur (Studienbereich Architektur, Stadt- und Landschafts- planung) der Universität Kassel, einer sogenannten „Lehre aus dem Bauch“, der Untersuchung aktueller Lehrkonzepte im europäischen Raum auf dem Hin- tergrund des Workshops „arch eins*“ und dem exemplarischen Entwurfsprojekt „Konstruktion von Atmosphären“. Alle Teile waren wichtig, um eine Ausgangsla- ge zu bestimmen, eine Position inmitten aktueller Lehrkonzepte zu finden und mit konkreten Erfahrungen und Fragestellungen ein Lehrkonzept zu formulieren, das exemplarisch einen Weg mit vorgegebenen Lernzielen und Vermittlungs- methoden beschreitet. Die Lehrforschung bezieht sich zwar auf die spezifische Situation in Kassel, „... die formulierten Zielsetzungen für die Entwurfslehre haben aber eine Allgemeingültigkeit, die über die Kasseler Schule hinausgeht und auf die Startbedingungen von Studienanfängern in unserem Kulturraum generell zu beziehen ist.“1 Das freischwimmen beinhaltet das Sehen Lernen, das im Sinne eines Wahr- nehmungsprozesses die Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit bedeutet. Durch die Entwicklung des Sehens als kritische Fähigkeit entsteht in der Reflexion und Anmerkungen: 1 Vergl. im selben Buch: Entwurfsprojekte als Motor: Klaus Heipcke – Lernen in Projekten, S. 35 ff. 2 Ebenda. 3 Vergl. im selben Buch: Entwurfsprojekte als Motor: John Dewey – Vater des Projektgedankens, S. 32 ff. 4 Angélil, Marc: ETH Grundkurs – Grenzüberschreitungen, in ARCH+ 163, S. 35 ff. 5 Firebrace, William: Just (f) do it, in: Katja Mand: arch eins*, S. 45. 6 Verg.: öi - Österreich Institut, in: www.oei.org, abgerufen am 5.7. 2006. 7 Das Herkunfstwörterbuch, S.53. 266 267 Interpretation des Gesehenen eine eigene Vorstellung der Dinge, die als erster gestaltender Prozess verstanden werden kann. Das Sehen wird zum Erkenntnisinstrument, über das bloße Auffinden von Vorge- gebenem hinaus. Diese Erkenntnis erlaubt den Studierenden bzw. fordert Veränderung und damit die Entwicklung eigener Vorhaben, die im Sinne des Projektgedankens das Zentrum des Lernens bilden. Die Reflexion der ersten Erfahrungen in und mit der Lehre sowie die rückblickenden Interviews mit den beteiligten Studenten machen deutlich, dass das Kennenlernen und Erproben unterschiedlichster Her- angehensweisen, Entwurfsstrategien und -methoden ihren individuellen Einsatz erst möglich macht. Das Entwerfen ist eine Denkweise, ein bewusstes sich Hinwenden zu etwas Unbekanntem. Das meint nicht, dass das Bekannte verleugnet oder verworfen wird, es geht eher um ein Abstrahieren oder Umformulieren des Vorgefundenen, um das Neue im Vorhandenen zu finden. Das ausschlaggebende Lernziel ist, Leidenschaft für die eigenen Entwurfsvorhaben zu entwickeln. Dieses Lernziel ist verbun- den mit dem Erfolg – wie auch immer Erfolg individuell gemessen wird. Ohne sich die Entwurfsvorhaben zu eigen zu machen, bleibt die Motivation immer fremdbestimmt. Das Entwurfsprojekt als zentralen Lernort zu nutzen, hat sich in vielfacher Weise bestätigt. Für den Erwerb eines architektonischen Grundverständnisses und das Anschieben kreativer Prozesse unter verschiedenen Voraussetzungen und mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen ist das Projekt ein idealer Lernort. Die Vielschichtigkeit der beschriebenen Bearbeitungsformen, wie der Einsatz von inten- siven Arbeitsphasen und Zwischenpräsentationen, Stegreifentwürfen und Maßstabssprüngen, sind beim Lernen am Gegenstand sehr gut einzusetzen. Die Gefahr besteht allerdings darin, dass in breit angelegten Projekten nur an der Oberfläche operiert und somit ein geringes Qualitätsniveau erreicht wird. Ein weiterer allgemeiner Kritikpunkt an Projekten ist, dass in größeren Bearbeitungs- teams nur den persönlichen Neigungen entsprechende Gebiete von den Studie- renden abgedeckt werden. Die Frage, ob Studierende durch egalisierte Prüfungs- leistungen mehr und nachhaltig lernen, sei dahingestellt. Die Rahmenbedingungen der Entwurfsprojekte werden im Hauptstudium und na- türlich später im Berufsfeld realer, vor allem aber komplexer – darauf muss im Grundstudium vorbereitet werden. Dem städtebaulichen Kontext, dem land- schaftlichen Bezug und der Detaillierung, also dem größeren und dem kleineren Maßstab um die eigentliche Aufgabe herum, wird in höheren Semestern zuneh- mend eine größere Aufmerksamkeit gewidmet. Fachingenieure werden mitein- bezogen, die obligatorische Teamarbeit wird interdisziplinär ausgeweitet. Die Teilnahme an Wettbewerben wird gefördert sowie die öffentlichen Zwischen- und Endpräsentationen mit eingeladenen Gastkritikern werden ausgeweitet, um einerseits das Spektrum der Betrachtungs- und Bewertungsweisen zu erweitern Zusammenfassung und Fazit 268 269 und andererseits eine produktive Konkurrenz anzuregen. Die zunehmenden Simulation der Berufspraxis reduziert das Entwurfsprojekt aber nicht auf rein wirtschaftlich und berufsbezogene Kriterien, es bleibt in seiner Vielschichtigkeit als zentraler Ort des Lernens bestehen. Vor dem Hintergrund der neuen Studienabschlüsse Bachalor und Master, die zur Zeit der schriftlichen Ausarbeitung dieser Arbeit am gerade fusionierten Fachbereich -06- asl (Architektur, Stadt- und Land- schaftsplanung) eingeführt wurden, muss das Entwurfsprojekt formal in das System der Credit Points eingegliedert werden. In Kassel hat es im Modul „Spezielle Aufgaben und Lösungen“ seine Entspre- chung gefunden: „Das Modul dient der Aneignung von instrumentalen Kompetenzen, d.h. Wissen und Verstehen anzuwenden und Problemlösungen und Argumente im eigenen Berufsfeld zu erarbeiten und weiterzuentwickeln. Der Schwerpunkt des Moduls liegt in der Entwurfskompetenz, d.h. der Fähigkeit, räumlich- gestalterische Entwürfe wissenschaftlich und künstlerisch zu entwickeln. Damit verbunden ist die Entwicklung eines Verständnisses für Entwurfsverfahren und Entwurfsprozesse und für den sicheren methodischen und inhaltlichen Umgang mit vergleichsweise einfachen baulich- räumlichen bzw. freiraumbezogenen Fragestellungen in den verschiedenen Maßstabs- und Planungsebenen. Fach- bezogene Schlüsselkompetenzen (systemische und kommunikative Kompetenzen) werden erreicht in den Bereichen: Kreativität, Abstraktionsfähigkeit , dreidimensionales räumliches Denken in verschie- denen Maßstäben, konzeptuelle Handlungsfähigkeit, d.h. Fähigkeit, Wissen und Informationen zu fil- tern, zu verdichten und zu strukturieren, Probleme zu definieren, Analysen anzuwenden, kritisch zu beurteilen, Konzepte und Handlungsstrategien zu formulieren etc., Komm- unikations-, Organisations- und Transferfähigkeit (auch Teamfähigkeit, Ver- teidigung), Fähigkeit des integrativen Arbeitens.“2 Neben diesen Lernzielen/ Kompetenzen wird eine Inhaltsbeschreibung abgeben, sowie der vorgesehene workload von 360 Stunden/Semester und die Präsenzzeiten von acht Semester- wochenstunden festgelegt. Trotzdem ist im Sinne des erweiterten Projektgedankens (siehe Dewey und Heipke) ein Projekt nicht an einen zeitlichen Rahmen gebunden. Es geht um die lernende Person, die für sich etwas herausfinden will. Dies impliziert Nachhaltig- keit und ist eine Voraussetzung für ein lebenslanges-Lernen-Wollen. Das zweite große Lernziel, der Erwerb allgemeiner Basiskompetenzen/Schlüssel- qualifikationen, ist meiner Meinung nach nur im Projektstudium möglich, ebenso wie die Leidenschaft für Entwurfsvorhaben und die Fähigkeit Visionen zu formu- lieren sich nur in offenen, eigenmotivierten Lernsituationen entwickeln können. Auch die von vielen Seiten erwarteten Sozial-, Methoden- und Selbstkompetenzen können am besten in Projekten erworben werden. Die Schnittmenge von Basis, Sozial-, Methoden- und Selbstkompetenzen ist die Befähigung eines Menschen, Zusammenfassung und Fazit 270 271 selbstverantwortlich Probleme zu lösen, bestimmte Leistungen zu erbringen und mit anderen Men- schen angemessen umzugehen. In anderen Berufsfeldern wird schon lange von Basis- oder Schlüsselkompetenzen gesprochen. Neben dem Erwerb der Sachkompetenz, die nicht nur Fachwissen, sondern Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten, die in fachübergreifenden Bereichen einsetzbar sind, beinhaltet und somit nicht an die Anwendung in einer Disziplin gebunden sind, sind Kompetenzbereiche wie Methoden-, Selbst- und Sozialkompetenz gemeint. Die Methoden beinhalten u. a. EDV-Kenntnisse, Fremdsprachenkenntnisse und allgemeine Kenntnisse von Arbeitsprozessen. Letztere kann man als planendes Denken und Han- deln, die Formulierung und Konkretisierung von Vorhaben, die Verknüpfung von Wissen sowie Team- fähigkeit, Kritikfähigkeit, Zeitmanagement und eine adäquate Selbstpräsentation zusammenfassen. Sie sind unbedingt notwendig, um nicht nur im ausgewählten Studium zu bestehen, sondern später eventuell auch andere Bereiche und Berufsfelder zu bewältigen. Vielleicht könnte man hier auch auf eine deutsche Industrienorm Bezug nehmen, die DIN 69901. Diese beschreibt das Projekt als ein Vorhaben, dass im Wesentlichen durch die Einmaligkeit der Bedingungen in ihrer Gesamtheit gekenn- zeichnet ist. Weiter ausgeführt wird, dass Organisationen, die regelmäßig Projekte durchführen, be- strebt sein sollen, diese zu Produkten weiterzuentwickeln.3 Der Workshop arch eins* hat trotz unterschiedlicher Positionen zu Lehrinhalten und Vermittlungs- strategien im Wesentlichen die Wichtigkeit der Transfereigenschaften der er- worbenen Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten hervorgehoben. Die für mich wichtigsten Erkenntnisse waren darüber hinaus folgende: - Die Meisterklasse von Wolf Prix (die angewAndte, Wien) verdeutlichte die Auswirkung des „geheimen Curriculums“, die Beziehung zwischen Meister und Schüler, auf den Entwurfsprozess und die Ergebnisse. - Die supervidierende Lehre von Marc Angélil (ETH Zürich) geht nicht von einem Kern von Grundlagen aus, der erweitert werden will, sondern will eine Vernet- zung von übergeordneten Themen (Raum, Programm, Technologie und Kon- text) anlegen, die im Laufe des Studiums immer komplexer werden. Hierzu werden Entwurfswerkzeuge wie Methoden, Strategien und Techniken ent- wickelt. Der Hintergrund ist immer ein Experiment und eine damit verbundene Akzeptanz unbestimmter Konditionen. - William Firebrace (Akademie Stuttgart) ist noch radikaler, er gibt nur Über- schriften vor. Die Studierenden lernen sich selbst die Werkzeuge anzueignen, die sie zur Lösung ihrer eigenen Aufgabe benötigen. Er formulierte als einziger, dass die Studierenden nach dem Studium sowieso etwas anderes machen würden und genau darauf vorbereitet werden müssten. Zusammenfassung und Fazit 272 273 Da ein konkretes Berufsbild auf Grund dreier Faktoren – der Komplexität des Berufsfelds des Architek- ten, der sich ständigen Veränderung dieses Berufsfeldes, sowie die mangelhaften und unsicheren Berufsaussichten – nicht Bestand hat, wurde davon gesprochen, Fertigkeiten, Fähigkeiten und Handlungsstrategien zu vermitteln, die sowohl dem breiten Feld der Praxis wie auch dem des potenti- ellen Theoretikers eine Basis bieten. Mit anderen Worten heißt das, dass die Studenten nach dem Studium zu allem in der Lage sein müssen. Sicher sind viele Studierenden direkt nach der Schule nicht in der Lage zu wissen, wohin die Reise gehen soll. Die Realität zeigt leider, dass viele aber auch nach dem Diplom noch nicht wissen, wohin der Zug eigentlich fahren soll. Um dem entgegen zu wirken müssen die Studienanfänger bei der Suche nach ihren eigenen Interessen und dem Erkennen und Ausbilden ihrer mitgebrachten Fähigkeiten unterstützt werden. Für die Lehrenden bedeutet die Begleitung eines komplexen Projekts eine große Herausforderung. Im Gegensatz zu isolierbaren Unternehmungen oder verwaltbaren Einheiten sind der Verlauf und auch das Ziel eines Projekts nicht konkret zu planen. Darüber hinaus ist eine große Spontanität in Kritik und Im- pulsgebung gefordert. Die Durststrecke oder auch das Scheitern müssen genauso ihren Platz haben wie die von Heipcke geforderte Muße, die es als wesentliches Moment des Lernens zu erfahren gilt. Am gravierendsten ist die Veränderung der Rolle des Lehrenden. Er muss binnendifferenziert vorgehen, den Lernenden und seine Vorhaben entsprechend betreuen, loben und kritisieren. Nur so werden die Stu- dierenden darauf vorbereitet, eigenen Ideen, Neigungen und Stärken nachzu- gehen und vor allem mit dem Unberechenbaren umzugehen. Aber auch die Hochschulen sollten mehr voraussetzen dürfen: Die Motivation, aber auch die Begabung, für die Wahl eines Fachs vor dem Studium abzufragen, würde zu einer bewussteren Entscheidung bei der Studienwahl beitragen. Wenn die Hochschulen diesen vordergründig als allgemeingültig angesehenen Bildungsanspruch ernst nehmen und ihn im Zusammenhang mit den jeweiligen Möglichkeiten der Hochschulen überprüfen, entstehen einerseits differenzierte und vielfältige Ausbildungsprofile und andererseits eine Offenheit, die über den gesteckten Rahmen hinausblicken lässt. Ein Aufgabenbereich der Hochschulen könnte in Zukunft sein, neue Perspektiven und Aufgabenfelder, vielleicht ganz neue Berufe aus den Universitäten heraus zu denken und zu entwickeln. Der Verantwortung für ihre Absolventen müssen sich die Universitäten stellen und sollten sie im Sinne der internen Entwicklung von Ausbildungssystemen und -strategien als Potential begreifen. Ein wichtiger Punkt hierbei ist, dass viele Studierende den Beruf des Architekten später gar nicht ausüben werden; die Vertreter der ETH beim Workshop arch eins* sprachen sogar von 60 Prozent. 274 275 Zusammenfassung und Fazit Die Niederlande stellen in diesem Punkt eine Ausnahme dar, weil der Staat auch nach dem Studium Forschungsinteressen oder einen Einstieg in das Berufsleben explizit unterstützt. Dazu trägt sicher auch die sich verändernde Arbeitswelt bei. Die Tendenz dauerhafte Arbeitsstellen in unabhängige, zeitlich begrenzte Jobs umzustrukturieren, mag dem Bild des freien Architekten entsprechen. Aber ob auch die Freiheit des Auftragslosen gemeint ist, der – eher aus der Not geboren als der Tugend verhaftet – zwar auf dem eigenen Chef-Sessel sitzt, aber in der Realität als Ein-Personen-Büro ledig- lich Wettbewerbsprojekte produziert, bleibt offen. Was bei der aktuellen Entwicklung des Berufsbildes und der sich parallel verändernden Ausbildungssituation nicht bedacht wird, ist der wirtschaftlich bedingte Rückgang der Auftragssituation in der Baubranche und die kleiner werdende Zahl an Arbeits- plätzen für Architekten trotz neu oder wieder zu besetzender Berufsfelder. Zur Zeit haben wir ca. 7.000 Hochschulabsolventen der Architekturstudiengänge aller Ausbildungsstätten pro Jahr in der BRD, ohne die internationale Konkurrenz zu zählen. In Deutschland sind um die 110.000 Architekten bei den Kammern gemeldet, „…was eine/einen Architekt auf 750 Einwohner ausmacht – die höchste Architekten- dichte in ganz Europa und wahrscheinlich sogar auf der ganzen Welt“4. Für die Architektur, die keine klassische reine Wissenschaft ist und sich eher aus dem Bereich der Handwerks- und Baukunst als Beruf entwickelt hat, ist die Diskussion um Bildung versus Ausbildung keine Neuheit. Die neuen Aufgabenfelder der Ausbildung die eine Entwicklung von Handlungs- und Lösungsstrategien vorsehen, prozess-orientiertes Denken, die Leidenschaft für eigene Vorhaben und kooperative Arbeitsstrategien fördern sowie Soziale Kompetenzen anlegen, stellen eine neue Herausforderung dar. Nicht nur die Studierenden müssen sich im Grundstudium von mitgebrachten und vorgefertigten Meinungen entledigen, auch das Denken dieser neuen Ausbildungsschwerpunkte seitens der Lehrenden setzt den freischwimmer voraus. In Baden-Württemberg wird schon seit 1993 ein Landeslehrpreis von der Stutt- garter Regierung verliehen. Hierbei geht es anders als bei anderen Rankings im Hochschulwesen mehr um den guten Lehrer als um den exzellenten Forscher. Die ZEIT berichtete im Mai 2007 über diese Tendenz in einem Artikel mit der Überschrift „Die Entdeckung der Lehre“. Anmerkung: 1 Prof. Maya Reiner in einem Beratungsgespräch zur Disputation. 2 Beschreibung des Gesamtmoduls „Spezielle Aufgaben und Entwurfslösungen“, Erläuterun- gen zum modularisierten Grundstudium im WS 2005/06 und SS 2006 vom 7.7.2005, Fachbereich -06-, Universität Kassel 3 www.quality.de/lexikon/din_69901.htm, 2.7.2008 4 Wiarda, Jan-Martin: Die Entdeckung der lehre, ZEIT Nr. 20, 10. Mai 2007 5 Kraft, Sabine u.a.: Vogel-Strauß-Politik, in: ARCH+ 163, S. 17. 276 277 Zusammenfassung und Fazit Literatur Zur Architekturausbildung Böhringer, Hannes: Moneten – Von der Kunst zur Philosophie, Berlin 1990. Conradi, Peter: Baukünstler oder Dienstleister? – Anforderungen an die Architektenausbildung, in: FAZ-Beilage Architektur, Planen, Bauen. Frankfurt 27. Februar 2001. Dohnanyi, Klaus von: Mehr Masse und mehr Klasse, in: Die Zeit, Nr. 7, 6. Februar 2003. 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Kein Teil dieser Arbeit ist in einem anderen Promotions- oder Habilitationsverfahren verwendet worden. Die Abbildungen der Kapitel 1-3 und 5 habe ich selbst angefertigt. In Kapitel 4 sind teilweise Fotos verwendet worden, die mir die Workshopteilnehmer für die Veröffentlichung „arch eins*“ zur Verfügung gestellt haben. Unterschrift (Katja Mand) 282 283