Kinder im Medienbrei: Was »passiert« tat- sächlich, wenn Kinder fernsehen? Wird die Fernsehsymbolik zur Verständigungsbasis? Warum schauen sich Jugendliche so gerne grausame Filme an? S.20 JOURNAL Hartmut Urban Kollegschulen: Streit auf Kosten der Schüler Margret Köhler Schülerfilme: Auf nach Hollywood Monika Sieg!ried-Hagenolll Pro und Contra: Fluoridtabletten in der Schule Peter DascllIler Richtlinien für Erziehung und Unterricht: Hamburg auf Reformkurs Frohmut Menze Offener Brief: Lehrerin gegen öffent- liches Gelöbnis Anne Riedel Wortschatz: "Übelbehagen« an Schulbüchern Peter E. Kalb Kqmmentar: Was hat sich eigentlich in zwei Jahrzehnten geändert? Klaus Farin Fußball-Fans: Projekte gegen Vorurteile Ulrike Sander-Reis Kindetunfälle: Katastrophen schon beim Frühstück 4 6 9 10 12 14 16 16 18 INHALT Warum soll eigentlich die Schule »geöffnet« werden? Für ,was? Ist dieser Ansatz nur ein Reformpopanz wie andere Reformansätze der letzten Jahre? S.30 TITIlLTHEMA Ben Bachl1lair Kinder im Medienbrei. Fernseh- erlebnisse und Fernsehsymbolik Dagl1lar Hen/ligsen, Astrid Strohmeier Horrorvideos: Die Lust an der Angst PRAXIS Heinz Klippert Erfahrungslernen in der Lehrerfortbildung BEIT&lfGE Jörg Ramseger Die Schule öffnen? Wieso? Für was? Dagmar Sauer "Ich hab' noch eine Idee, Sir!« Erfahrungen im englischen Tutoren- system für lernschwache Schüler HallS Schmidt Experimentalunterricht in der Dritten Welt: Lehrmittel als Konsumgut Alois Kraus Elternabend und Förderstufendisput: "Schuster bleib bei deinem Leisten« Maude Bauer Erinnerungen an Hermann Lietz: Leben im Landwaisenheim Veckenstedt 20 26 35 30 44 48 54 68 . Lehrmittel als Konsumgut: Bildungseinrich- tungen in der Dritten Welt umgeben sich . immer häufiger mit einer Aura von Status- symbolen. Den Einheimischen nutzen diese Lehrmittel nur wenig. S. 48 B[:JCHER Amul! Zitell1lann Die Bibel. Monument und Utopie Klaus Peter Creal1ler Biogarten: Ohne Chemie HallS Briigell1lallll Hirnforschung: Faszinierender Reisebericht Norbert Kühne Kollegschulen: Zunehmende Attraktivität Wolfgang Geisler Kindertherapie: Keine Träne mehr Musik: Witzig, treffend und unter- haltsam. wg Halls-Peter Heekerens Elternratgeber: Kein Rezeptbuch Wilhelm Heitl1leyer Elternpartizipation: Vielfältiges Angebot Georg HallSeIl Minderheiten: Kein Lexikon Ilse Brehm~r Frauen: Bericht über3 Jahre RUBRIKEN UrteHe Termine Medien-Infos Pinn-Wand Im nächsten Heft/Impressum 58 60 61 63 63 64 64 65 66 66 12 14 43 67 74 betriflt:erziehung März 1986 3 In: betrifft erziehuryg, I Heft 3, März 1986, s. 20 - 26 und Mediennetz beschleunigt ausweitet. Ohne eigene Erfahrung stehen wir vor einer Flut ständig neuer Medien, im Mo- ment sind es die Video-Clips. Wie können wir mit diesen Ängsten, dem Mißtrauen, der Hilflosigkeit umge- hen? Bevor wir uns erziehend auf Vielse- her oder vorbeugend auf Benutzer von Gewalt-Videos stürzen, brauchen wir ei- nen Bezugsrahmen und Sensibilität für das, was bei den Kindern tatsächlich >passiert<. Dazu zwei Argumentations- pole. Der eine Pol läßt sich mit der Metapher vom Medien- und Konsum- netz fassen. Dieses Netz strukturiert, überformt oder verhindert Handeln, Wahrnehmen und Fühlen der Kinder, macht sie zu reaktiven Medien- und Kommerzobjekten. Der Gegenpol der Argumentation: Kinder sehen, fühlen, reden wie eh und je, nur die Ausdrucks- mittel haben sich verändert. Beide Argu- mente zusammen besagen, daß sich Kin- der mit der Symbolik des Leitmediums Fernsehen verständigen und darstellen und daß sie sich damit mehr und mehr in das Konsum- und Mediennetz inte- grieren. Die folgenden vier Beispiele, in einer ländlichen Grundschule, dritte Klasse, beobachtet, sollen diesen Zusammen- hang entwickeln und belegen. Vorab ein aktuelles Beispiel, um einige theoreti- sche Annahmen zu erläutern. Das Bei- spiel stammt mit Absicht aus der »Er- wachsenenwelt«, weil für uns die glei- chen Zusammenhänge wirksam sind wie für die Kinder. An diesem Beispiel werden folgende Begriffe und Gedanken entwickelt: Me- diensymbolik (damit läßt sich der Inhalt eines Mediums erfassen; das sind insbe- sondere Figuren und deren Handlungs- schema, aber auch Filmtitel, Bilder, Ge- genstände, Ereignisse, Episoden z. B. im Filmverlauf), Medienerlebnisse (das ist das, was man als Zuschauer von einem Medium mitbekommt), Interpretations- muster (das ist der Rahmen für die Deu- tung von Mediensymbolik, Medienerleb- nissen oder Alltag), praktische Themen (das ist das, was uns im Alltag beschäf- tigt), Situationen (das ist der jeweilige soziale Kontext). An Rambo 11 kommt man nicht vor- . bei. Auch ohne den Film zu sehen, kenne ich ihn, das heißt seine wesentliche Sym- bolik, die Heldenfigur, einige Episoden, und zwar aus Erzählungen von Jugendli- chen, aus einem Flugblatt, aus drei Zei- 22 belriflt:erziehung März 1986 tungen, aus einer Zeitschrift. Das Me- diennetz funktioniert also auch für Er- wachsene. Alle Informationen über den Film weisen auf die Heldenfigur des Rambo: »Ein Macho fürs Vaterland« (DIE ZEIT vom 20.9.85, S. 57), Body- building mit Maschinengewehr im Arm. Diese Figur und ihr Handlungsschema - nach dem von US-Politikern verlorenen Krieg führt der Held einen »erbarmungs- losen Ein-Mann-Krieg« gegen Vietna- mesen und Russen - verbindet sich mit einem Interpretationsmuster. »Die ZEIT« beschreibt es als »Stimmung für Kriegslust, Männlichkeit und harte Poli- tik«. Dieses Interpretationsmuster macht diesen Film für Politiker attraktiv. So die Aussage eines US-Abgeordneten zur amerikanischen Handelspolitik: »Reagan sollte wie Rambo sein« (HNA vom 24.9.85). Oder Reagan selber wäh- rend einer Mikrofonprobe auf dem Hö- hepunkt des Beiruter Geiseldramas: »Kinder, bin ich froh, daß ich Rambo gesehen habe. Jetzt weiß ich, was ich das nächste Mal zu tun habe« (DIE ZEIT). Die Symbolik des Films (Heldenfigur , sadistische Kampfszenen) werden als Ausdrucks- und Verständigungsmittel wichtig, weil damit praktische Themen, das heißt Themen, die unabhängig vom Film sind, aufleuchten: Politische Pro- bleme (Geiseldrama, Handelsbilanz) und praktische Persönlichkeitsthemen: Körperkult, männlicher Narzißmus, Na- tur- und Wildnisphantasien, Radikal-In- dividualismus usw. (nach »Die ZEIT«). Soweit der terminologische Exkurs in die aktuelle Film-Szene. Der Blick in den Kinderalltag bringt unauffälligere Bei- spiele zutage; die Ereignisse und die Me- dien regen nicht auf, man übersieht sie in der Regel. Für Kinder ist nun auch der Kinofilm nicht maßgeblich; das Fernse- hen ist ihr Leitmedium. Und hier sind es Fernsehfilme bzw. -serien, die wir Er- wachsenen kaum kennen, zum Beispiel die Serie Captain Future, die bei den Kindern voll »in« war, von den Erwach- senen jedoch kaum zur Kenntnis genom- men wurde. Die folgenden Beispiele bringen Fern- seherlebnisse und Fernsehsymbolik, wie sie in Schulszenen zutage treten. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, welche praktische Funktion Fernsehsymbolik und Fernseherlebnisse bekommen: Kin- der »unterhalten sich« über Familiener- eignisse, Größenphantasien und Akzep- tanzgrenzen (1. Beispiel); stellen ihre Ängste und soziale Wahrnehmung mit- tels einer Fernsehszene dar (2. Beispiel); suchen sich ihren Weg zu einem Film als Interpretationsmuster (3. Beispiel); set- zen in verschleierter Form Fernsehsym- bolik gruppendynamisch ein (4. Bei- spiel). Diese Beispiele sind Episoden aus .einem Unterrlchtsprojekt, das Kindern Freiraum für eigene Ideen, für Phanta- sien und Aktivitäten einräumt. Über mehrere Unterrichtsvormittage basteln Kinder Requisiten und Figuren für ein Spiel» WeHraumreise«, das dann vor der Klasse aufgeführt wird. Was sich mit Filmtiteln 'verdecken läßt Eine kurze Unterhaltung zwischen Jun- gen und Mädchen, wie sie für den Mon- tagvormittag typisch ist: Das Fernsehen macht sich lautstark in der Schule breit. Der Schein der Fernsehsymbolik trügt. Es geht um praktische Themen der Kin- der und erst in zweiter Linie um Fernseh- erlebnisse. Die Fernsehsymbolik, hier die Filmtitel, erschließt die Themen Angst, Familie, Größenphantasien, Ak- zeptanzgrenzen. In der Regel übersieht man als Lehrer solch ein Gespräch, wird man jedoch darauf aufmerksam, wertet man es zumeist nur als Störung. Worum geht es in dem Gespräch? Wichtig ist, daß die Kinder die Fernsehsymbolik als Verständigungsbasis nutzen, als Band, das ihre Alltagserlebnisse und Themen zusammenhält und das dazu taugt, sich über so komplizierte Themen wie Angst zu unterhalten. Birgit: Matthias, hast du den Film ge- guckt am Samstag? Matthias: Ah, die Frösche, das war ein guter Film! Birgit: Wie die dann reinkamen, ne? Matthias: Ja, da bei der Spinne war das. Birgit: Da hat meine Mutter geweint. Matthias: Ohh, die hat Angst gehabt vor den Viechern. Birgit: Natürlich, ich hab das jedenfalls nicht geguckt. Nicole: Was denn? Theo (verächtlich): Ah, der Idiotenfilm! Kind: Meine Mutter ist ins Bett ge- gangen. Matthias: Meine Mutter hat sich die Fin- gernägelabgeknabbert. Birgit: Meine Mutter ist unter die Bett- decke gekrochen. Theo: Ich habe mich totgelacht, Birgit. Babyfilm, ich hab noch viel Schlimmeres gesehen, Hexer. Birgit: Das durft ich noch nicht sehn. Theo (wendet sich an den Erwachsenen): Hexer, oh, haben Sie das auch gesehen? Neues vom HexeT. Oh, Hexaaa. Hast Neues vom Hexer gesehen? Ah, fies. Foto: Ben Bachmair Matthias: Das war aber nicht so gut. Erwachsener: Findest du Frösche besser? Den hab ich auch gesehen. Ohhh. Matthias: Meine Mutter hat sich die Fin- gernägel abgeknabbert. Erwachsener: War sie so ängstlich? Theo: Meine Uroma ... ouuh, meine Uroma. Matthias: Bei mir, mein kleiner Cousin, der Sven .... , der ist in der Vorschule, der hat auch noch mit mir geguckt, ne, der hat keine Angst gehabt. Birgit: Der gehört in die Irrenanstalt. Der gehört in die Irrenanstalt. Matthias: Zum Schluß sind der, ähm, der bei den Fröschen da wollte ja der, der Gelähmte, der wollte ja zum Schluß nicht heim, der wollte ja nicht mit von der Insel weg, aber die Frau, ähm, und der Mann im Kanu, der ist am Leben geblieben, und die zwei Kinder. Das Gespräch beginnt mit einer einfa- chen Eröffnung, die sich aufs Fernsehen bezieht: »Hast du nen Film geguckt«; »Frösche, das war ein guter Film«. Da alle Kinder regelmäßig fernsehen, bietet das Stichwort »Film« immer einen Ge- sprächsanlaß. Birgit gibt dem Gespräch Über Fernsehsendungen, span- nende und grausame Videos wird auch in der Schule geredet. Kin- der benutzen die Fernsehsymbo- lik, auch grausamer Filme, als Verständigungsbasis um sich über ihre Alltagserlebnisse, Ängste und Wünsche zu unterhalten seinen praktischen thematischen Kern, und der hat wenig mit dem Fernsehen, umso mehr mit Angst, Familie, Größen- phantasien zu tun. Zwar beginnt Birgit mit einer Filmszene, die sie vermutlich gesehen hat (»Wie die dann reinka- men«), kommt dann' auf die »weinende Mutter« und daß sie den Film »nicht geguckt« hat. Da tritt ein deutlicher Wi- derspruch zutage: Sie beschäftigt sich mit einer erlebten Filmszene. Die Angst da- zu schiebt sie jedoch auf die Mutter. Jetzt ist sie die Angst »los« und wieder ein »braves« Mädchen, das keine Grenzen überschreitet (»Natürlich, ich hab das jedenfalls nicht geguckt«). Diese Wen- dung verstehen die Jungen nicht. Sie greifen die Figur der ängstlichen Mutter auf; sie lassen ihre Mutter viel Angst haben (weinen, Angst vor Viechern, ins Bett gehen, Fingernägel abknabbern, unter die Bettdecke kriechen). Gegen Ende des Gesprächs verwandelt sich die Mutter dann sogar in eine Uroma. Ein Junge, Theo, greift das Thema Angst zwar auf, löst es jedoch von der Figur der Mutter. Er benutzt den angst- machenden Gruselfilm, um sich als stark, überlegen darzustellen (Idiotenfilm, hab ich mich totgelacht, Babyfilm) und trumpft mit einem viel »schlimmeren« Film auf (Der Hexer, ZDF). Um seine Stärke, was er aushalten kann, so richtig zu demonstrieren, zieht er einen Erwach- senen ins Gespräch: Mittels »fiesem He- xer« ragt er weit über die Kindergruppe hinaus. Der Erwachsene versteht das Phantasiespiel mit Fernsehtiteln nicht, nimmt die Aussage realistisch (»War sie so ängstlich?«). Aber damit erfüllt er für Theo natürlich gen au die gewünschte Funktion. Von der ängstlichen Mutter und dem auftrumpfenden Jungen, Theo, weitet sich das Gespräch auf Familie aus (Cou- sin, der keine Angst hat) und welche Grenzen beim Fernsehen nicht über- schritten werden dürfen (»Der gehört in die Irrenanstalt<~). Fazit: Das Gespräch benutzt die Filmtitel (Frösche, Hexer) als Symbolik, die auf folgende praktische Themen hinführt: - Angst, die der Mutter untergeschoben wird; - Größenphantasien, wozu ein Erwach- sener als Ansprechpartner nützlich ist; - Akzeptanzgrenzen in der Familie (Mutter, Cousin, Irrenanstalt). Das Gespräch bekommt diese Wendung durch ein Mädchen, das Filmerlebnisse wegschiebt, die Filmsymbolik jedoch nutzt, um über Angst und Familie zu reden. Erst später bringt dann ein Junge, Matthias, seine Filmerlebnisse. Er schil- dert eine Szene, kann diese Erlebnisse jedoch nicht mehr zum Gesprächsthema machen. betrifft:erziehung März 1986 23 Eine Filmszene als Hilferuf Götz ist das schwierigste Kind der Klas- se. Ohne Rücksicht auf Mitschüler und die jeweilige Situation drängt er sich lautstark und aggressiv in den Mittel- punkt. Seine Mitschüler wehren sich ve- hement dagegen. So war es auch nach der Spielvorführung, als die Klasse über die Vorführung redet. Götz wird für sein Spiel, es war eine wilde Verfolgungsjagd, »fertig« gemacht: Er, .als einziger der Klasse, hat wieder nur Unfug gemacht. Dafür wird er einhellig mit Verachtung gestraft. Götz verstummt. Doch nach kurzer Zeit, die Kinder unterhalten sich mit dem Lehrer gerade über Captain Future, wird er wieder aktiv. Er sprudelt eine Fülle von Details zu Captain Future heraus: Bei Captain Future kennt er sich aus. Es ist eine ihm vertraute Welt, mit Captain Future als bedrohten, doch letzt- lich immer siegreichen und strahlenden Helden. Er schildert nun eine Szene aus dem Captain-Future-Film »Der schwar- ze Planet«, der etwa 6 Wochen vorher im ZDF gelaufen war. In dieser Szene wird Captain Future von einem Bösewicht betäubt und in eine Glasvitrine gesperrt, in eine Art Glassarg. Per Telepathie kann Captain Future einen kleinen eisen- fressenden Hund herbeirufen und sich mit dessen Hilfe und per Faustschlägen befreien. Den betäubten und eingesperr- ten Captain Future beschreibt Götz als »eingeeist«. Seine Schilderung ist auch eine Botschaft an Lehrer und Mitschüler: auch er ist »eingeeist«. Dieser Hilferuf, eingekleidet in die Symbolik einer Fern- sehserie, wird jedoch von seinen Mit- schülern und den Lehrern nicht ver- standen. Der Vergleich von Götz' Schilderung mit dem Filmverlauf zeigt, daß er den Kern der Handlung und viele Details genau wiedergibt. Als erstes fällt auf, daß Götz sich an die Filmszene bis in Details hin genau erin- nert. Seine reduzierte Sprache »der hat irgendwie ... « täuscht leicht über diesen Sachverhalt hinweg. Es gibt jedoch viel Ungereimtes und sprachlich schwer Dar- stellbares in dieser Filmszene wie Tele- pathie und die Verwandiung eines tech- nischen Gerätes in zwei Tiere. Trotzdem hat Jörg den Kern der Szene verstanden und gibt ihn auch genau wieder: Warum erinnert sich Götz etwa sechs Wochen später an diese Szene? Warum ver- 24 betrifft:erziehung März 1986 Götz' Aussage Da harn sie die eingeeist. Und eins fand ich gut, wo der, wo dann die Hunde sich versteckt haben bei Captain Future, neo Da hat der son Loch reingebissen bei Captain Future, der hat irgendwie (= Te- lepathie). Und da hat er irgendwas ge- macht. Und da hat der Hund gefressen, etwas, neo Und da hat er noch was so gemacht. Ich weiß auch nicht, wie ers gemacht hat. Und dann kam der Hund mit und hat alles noch mitgefressen. Da hat er da seinen Fuß bewegen können. Da hat er voll drangetreten, da war alles kaputt. Literatur Bachmair, B. u.A.: Symbolische Verar- beitung von Fernseherlebnissen in asso- ziativen Freiräumen. Kassel 1984. Bauer, K. W./Hengst, H.: Wirklichkeit aus zweiter Hand. Kinder in der Erfah- rungsweit von Spielwaren und Medien- produkten. Reinbek 1980 Eurich, C./Würzberg, G.: 30 Jahre Fern- sehalltag. Wie das Fernsehen unser Leben verändert hat; Reinbek 1983 Jensen, K.lRogge, J.-U.: Der Medien- markt für Kinder in der Bundesrepublik. Tübingen, 1980. Postman, Neil: Das Verschwinden der Kindheit. FrankfurtIM. 1983 Postman, Neil: Wir amüsieren uns zu To- de. Urteilsbildung im Zeitalter der Unter- haltungsindustrie. Frankfurt/M. 1985 Winn, Marie: Die Droge im Wohnzim- mer. Reinbek 1984 Schilderung des Filmverlaufs Captain Future und seine Mannschaft werden aufrechtstehend in sargähnliche Glasvitrinen eingesperrt und mit Gas zur Erstarrung gebracht. Die beiden Tiere der Future-Mannschaft, ein- eisenfressender Hund und eine ver- wandlungsfähige Schildkröte hatten sich als technisches Gerät getarnt und verwan- deln sich wieder in Hund und Schildkröte. Der Hund beißt in den Sockel des Glaska- stens, wendet sich ab, weil ihm das Mate- rial nicht schmeckt; wird wieder angelockt und ermahnt, beißt dann ein Loch ins Glas, am Fuß der Vitrine, beim Fuß des Captain Future. Das Betäubungsmittel entweicht explo- sionsartig. schwimmt diese Szene nicht in dem Me- dienbrei, den er tagtäglich in sich auf- nimmt? Die Symbolik und die zentrale Mitteilung dieser Szene (Eingeeist, sich herausschlagen, helfende Wesen) dürf- ten die Motivation dafür abgeben, war- um er aus der riesigen Fülle von Fernseh- und anderen Medieneindrücken diese Szene herausgreift und sich einprägt. Ih- ren Sinn bekommt die Symbolik bzw. die Szene, weil sie Götz' Thema entspricht. Das bekannte und prägnante Serienmu- ster allein macht noch keine Szene ein- prägsam. Am Anfang von Götz' Aussage steht die Symbolik vom »Eingeeist sein«, die er an der Bewegungsunfähigkeit des Captain Future in der Glasvitrine/dem Glassarg festmacht. Dieses Eingeeist- sein entspricht seiner sozialen Situation in der Klasse zu Beginn des Unterrichts- gesprächs, als er isoliert und »fertig ge- macht« wird. Es ist eine der wenigen Situationen, in denen er verstummt und sich resigniert in sich zurückzieht: Er ist in sozialer Bewegungsunfähigkeit. Seine Situation stellt er nun mit der Symbolik dieser Captain-Future-Szene dar. Weil solche Szenen seinem praktischen The- ma entsprechen, war sie ihm auch schon beim Fernsehen wichtig. Sein Thema bil- det also den Relevanzrahmen für die Rezeption der Filmszene und für die sprachliche Wiedergabe. Hinzu kommt, daß die Symbolik der Fernsehszene eine Brücke zwischen seinem Thema und dem Filmerlebnis schlägt. Gegen Captain Future und hin zu Pippi Langstrumpf Vier ziemlich unauffällige Mädchen neh- men das Sujet »Weltraumreise« zum An- laß, im Spiel von zu Hause abzuhauen. Sie fliegen auf einen anderen Planeten, kehren dann jedoch reumütig wieder nach Hause zurück. Daß diese Geschich- te sich so entwickeln kann, entscheidet sich bei einer kurzen Auseinanderset- zung. Auf die Frage, was sie basteln, entwickelt sich folgendes Gespr.äch: Tanja: Strahlergewehr, wie bei Captain Future, ich mache mir gerade was für die Reise. Dagmar: Was denn? Tanja: Strahlergewehr wie bei Captain Future. Dagmar: Was? Tanja: Strahlergewehr wie bei Captain Future. Dagmar: So was Blödes brauchen wir doch nicht. Tanja: Ist aber praktisch. Es gibt mehrere solcher Episoden, in denen Tanja auf Captain Future zu spre- chen kommt, damit jedoch bei den ande- ren Mädchen auf Ablehnung stößt. Mit dem Strahlengewehr des Captain Future wird jedoch mehr als nur eine Captain- Future-Symbolik abgewehrt. Der Phan- tasieweg der Mädchen bekommt damit eine thematische Richtung: Weg von der Gewaltsymbolik und weg vom Hand- lungsmuster des Captain Future (Bedro- hung siegreich abwehren) hin zum eige- nen Abenteuer: Von zu Hause abhauen. Allzu eigenständig bleibt die Abenteuer- phantasie jedoch auch wieder nicht, Foto: Archiv Dr. Karkasch denn die Mädchen wollen wieder nach Hause. Wochen später erzählen die Mädchen im Zusammenhang mit ihrer Spielvor- führung etwa aus der Fernsehserie Pippi Langstrumpf, und zwar eine Geschichte mit dem gleichen Muster: Schimpfende Eltern - abhauen - brav zurückkommen.· In Alexandras Gesprächsteil kommt das besonders deutlich heraus: »Ja, weil die Mutter ... wird immer schimpfen, reißen sie aus, mit der Pippi .. , Das war in dieser Sendung, aber das .. , Annika hat einfach nur gemeint, daß sie zu arg schimpft . . , Und dann Annikas Bruder, der Tom, der hat san Buch> Wir reißen von zu Hause aus< und dann hat Annika sich das Buch mal angeguckt und damit hat sie gemeint, ach, dann reiß ich Angeregt durch Fernsehsendun- gen bauen Kinder nach dem Vor- bild von Captain Future Strahler- gewehre oder machen mit Pippi Langstrumpf Phantasiereisen auch aus. Und dann wollte Tom natürlich auch mit, und dann ist Pippi auch mitge- gangen . .. Ne, der (Tom) sagt nämlich ab und zu noch auf der Reise, wären wir doch zu Hause geblieben, dann müßten wir jetzt nicht im Regen ... mit kurzen Ärmeln im Regen rumspazieren ... Aber ich reiß nie aus. Ich finds zu Hause schön, auch wenn man manchmal Krach hat.« Alexandra erzählt hier nicht nur das Handlungsmuster eines Films, sie be- schreibt damit auch das Muster ihrer Geschichte. Obwohl die Symbolik von Pippi Langstrumpf erst spät und auch zufällig auftaucht, also die Geschichte der Mädchen ohne sie auskommt, spricht doch viel dafür, daß Pippi Langstrumpf, und zwar in der Version der Filmserie, zum Interpretationsmuster für das The- ma >Abhauen< der Mädchen geworden ist. Dieses Interpretationsmuster steht konträr zu Captain Futures Handlungs- muster , weshalb eine Symbolik wie das »Strahlergewehr« auch auf Widerstand stößt. Katastrophengeschichte mit Verschleierungstaktik Ein Mädchen, Julia, kommt bei d(;r Spielvorbereitung in Streß. Sie hat es als Chefin ihrer Gruppe schwer, sich gegen- über den Jungen durchzusetzen. Die Jungen sind eigentlich ganz willig zu ko- operieren, sprühen jedoch von Ideen, entwickeln schnell mal eine neue Ge- schichte, spinnen andere Handlungsfä- den weiter. Das bringt J ulia in Schwierig- keiten, eine Geschichte zu inszenieren, die vorführbar ist, und die auch noch die Zustimmung der Klasse finden soll. Julia steht also in der Gefahr zu versagen. Um die Gruppe nun bei der Stange zu halten, inszeniert sie ein Spiel, das von drohen- den Katastrophen und hektischer Flucht handelt. Kurz hintereinander bringt sie folgende Ideen: »Die Planeten sollen zusammenstoßen und wir müßten was sprengen. Dann wär was passiert, irgendwie, das wär danach verunglückt . .. Und davon wär die Rake- te untergegangen, und da müßten wir unten was, in echt, was Neues bauen, ja? ... Ja, und die Rakete wär in so ne Steinhöhle gefallen, und da müßten wir alles sprengen . .. Na, und dann wärn wir eingekracht, und dann wärn wir wieder an Start, weils keins gefunden hätten, dann 26 hAtrifft~~r7i1;~hunn Män 1QAB wärn wir in das Wasser gegangen, dann kam das, dann wärn wir in ner Höhle, Mann! '" Wir müssen unten durch das Stromgas! Und jetzt wär das passiert, jetzt wärn wir wieder gestartet, weil nich ging, und dann wärn wir, äh, in das Wasser mit der Höhle gefallen, ja?« Weil sie die Gruppe auf Dauer an sich binden will, müssen sich die Katastro- phen unter Zeitdruck eskalieren, bis hin zum dramatischen Höhepunkt, dem Weltuntergang. Mmm, Tag-, Tage-, in zwei Tagen und 65 Sekunden explodiert der Planet auf dem Kelvis, und wir müssen ... Nämlich Sprengstoff hilft nicht, sonst geht unsere ganze, unser ganzer Weltraum unter.« Solch eine anstrengende Katastrophen- und Panik-Regie ist nichts Ungewöhnli- ches; sie ist in kleineren Gruppen (Fami- lien, in der Schule) genau so zu finden wie sie mittlerweile in der Politik und deshalb auch in den Medien verbreitet ist. (Jede Nachrichtensendung türmt Berge von Katastrophenmeldungen auf!) Hat Julia ein Interpretationsmu- ster, mit dessen Hilfe sie ihr gruppendy- namisches Thema bearbeitet? (Ihr The- ma: sich in ihrer Gruppe erfolgreich als Chefin durchzusetzen) Der »Planet Kel- vis« ist ein erster Indikator; er verweist auf Captain Future. Vergleicht man de- tailliert Julias Katastrophen-Symbolik mit den Katastrophen der Serie Captain Future, so zeigen sich bemerkenswerte ParalelIen. Viel spricht dafür, daß Julia ihre Symbolik aus dieser Serie bezieht, insbesondere, weil das Muster dieser Se- rie (Captain Future fällt von einer Kata- strophe in die andere oder muß den Weltuntergang verhindern helfen) ihrer gruppendynamischen Inszenierung ent- spricht. Julia hat sich damit gefährlich mit dem Fernsehen verfilzt. Das ist schwer aufzulösen, weil sie ihre Quellen geschickt verschleiert, ja verschleiern muß, um erfolgreich zu sein. Ben Bachmair Ben Bachmair, Jg. 1943, ist seit 1978 Professor für Er- ziehungswissenschaft, Me- dienpädagogik und Me- diendidaktik an der Ge- samthochschule Kassel