DieZukunft der Kindheit Die Verantwortung der Erwachsenen für das Kind in einer unheilen Welt Herausgegeben von Dieter Spanhel und Stefanos Hotamanidis Mit Beiträgen von Ben Bachmair, Herwig Baier, Inge Birk, Ouo Friedrich Bollnow, Manfred Haidl, Stefanos Hotamanidis, Wemer Lauft, Fritz Loser, Wolfgang Memmert, Harald OUo, Harm Paschen, Dieter Spanhel und Heinz TIscher Werner Loch zum 60. Geburtstag gewidmet Deutscher Studien Verlag' Weinheim 1988 Über die Herausgeber: Dr. phi!. Dieter Spanhel.Jg. 40. ist Professor an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg. Dr. med. Dr. phi!. Stefanos Hotamanidis, Jg. 46, ist Assistenzarzt in der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Kiel. CIP-TItelaufnahme der Deutschen Bibliothek Die Zukunft der Kindheit: d. Verantwortung d. Erwachsenen für d. Kind in e. unheilen Welt; Wemer Loch zum 60. Geburtstag gewidmet I hrsg. von Dieter Spanhel u. Stefanos Hotamanidis. Mit Beitr. von Ben Bachmair ... -Weinheim: Deutscher Studien Verlag, 1988 ISBN 3-89271-074-0 NE: Spanhel, Dieter [Hrsg.]; Bachmair, Ben [Mitverf.]; Loch, Wemer: Festschrift Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Photokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. © 1988 Deutscher Studien Verlag' Weinheim Herstellung: Desktop Publishing Klaus Kaltenberg, 6940Weinheim Druck und buchbinderische Verarbeitung: Druckhaus Beltz, 6944 Hemsbach Seriengestaltung des Umschlags: Atelier Warminski, 6470 Büdingen 8 Printed in Germany ISBN 3 89271 074 0 Inhaltsverzeichnis Einleitung .............................•................ 7 Otto Frledrich Bollnow Salzmann und der Sturm und Drang Ein historisches Beispiel für die Zukunft der Kindheit als Zukunft der Gesellschaft ............................................. 13 1. Teil Unterschiedliche Sichtweisen des Kindes in der Gesellschaft (sprachlich, literarisch, pädagogisch) Wolfgang Memmert Kinder gibt's nicht überall Sprachliche Merk- und Denkwürdigkeiten Heinz Tischer 25 Erlch Kästner und das Elend der bürgerlichen Erziehung .......... 36 Werner Lauff Über die Vernachlässigung des Kindes in der Erziehung 2. Teil Kindheit in einer von Technik, Konsum und Medien geprägten Lebenswelt Harm Paschen Pädagogische Simulationen von Kindheit 47 61 5 Dieter Spanhel Die Zukunft der Kindheit angesichts der wissenschaftlich-technischen Entwicklungen ........................................... 72 Ben Bachmair Kindheit heute - historische und systematische Anmerkungen eines Medienpädagogen ........................................ 92 3. Teil Kindheit in einer von pädagogischen Institutionen bestimmten Lebenswelt FritzLoser Kinder als Schulkinder Manfred Raid! Schule in der Gemeinde: Überlegungen zu einer Vemetzung der 105 Schule mit den sozialen Strukturen ihres Umfeldes .............. 119 Herwig Baier Lembeeinträchtigungen: Lemschwierigkeiten, Lemstörungen, Lembehinderungen ....................................... 130 4. Teil Kindsein unter außergewöhnlichen sozial-kulturellen Lebensbedingungen IngeBirk Aspekte einer multikulturellen Kindheit ....................... 141 HaraldOtto Alleinerziehen: Notfall oder gewollte neue Lebensform? 155 S tefanos Hotamanidis Kind und Krankheit ....................................... 167 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 6 In: SPANHEL, D. /HarAMANIDES, S. (Hrsg.): Die Zukunft der Kindheit; Weinheim 1988, S. 92-101 Ben Bachmair Kindheit heute - historische und systematische Anmerkungen eines Medienpädagogen Vor mir liegt die Abschrift eines Gesprächs'" mit einer 85jährigen Frau, die, auf ihre Kindheit angesprochen, von bitterster Not und Ausbeutung erzählt: "Wann sind Sie geboren?" "In 1902. Am 12. August 1902. Bald's Jahrhundert voll, nicht. Und meine Mutter war seit meiner GebuT't"'viel krank und ist gestorben am 17. Mai 1906, wo ich drei Jahre und 9 Monat alt war.,i "Können Sie sich daran erinnern. daß die Mutter dann tot war, oder. .. " "Ja. so leise, nicht. Also ich weiß noch, wie sie mich ... wo meine Mutter ge- storben war, da hab ich viel geweint. Und da hat man mich genommen und zU.einem großen Bauern in Pflege gegeben, wo ich drei Jahre gewesen bin. In der Zeit. die drei Jahre waren in meiner Kinheit sehr schwer. Ich mußte schon ganz viel arbeiten in dem Hof. Was kleine Arbeiten waren, wie Stroh in' Stall tragen, Holz reintragen, Wasser holen. Früher mußte man's noch holen, nicht." "Sie hatten' nen Brunnen ... " "Ne, das war vorn auf der Straße. da mußte ich jeden Mittag einen - so' n Becher voll Wasser holen zum Trinken für mein' Pflegevater." Die alte Frau erzählt weiter: immer schwere Arbeit, morgens um halb drei aufstehen und kein eigenes Bett. .. Mein Blick geht zu einer englischen Reklamepostkart.e von 1910: Ein kleines Mädchen liegt im Bett, träumt von Süßigkeiten, die sie umschweben. Von dort zu einem Foto von Straßenjungen, die mit sichtlichem Vergnügen sich auf dem Rand eines Brunnens fotografieren lassen: die bettelarmen. gut- gelaunten Kinder vor der Kulisse bürgerlicher Wohlhabenheit der Großstadt Livexpool. ... Das Gespräch wurde von Bettina Becker geführt, Seminararbeit 1987 92 Das zwanzigste Jahrhundert begann mit Not, überall, für alle europäischen Kinder, bis auf ganz wenige; es begann mit der Hoffnung auf das Jahrhundert des Kindes, wie es Ellen Key (1902) fornlUliert hat. Die Kinder der altell Frau haben dann im zweiten großen Krieg dieses Jahrhur.jerts in der gleichen Not gelebt, der dann wiederum ein Traum folgte; auch auf Reklamebildern sicht- bar: "Das Christkind von 1950" als stopsellockiges Mädchen auf einem Mo- torroller mit Geschenkpäckchen für Weihnachten behängt (Sachs 1984, S. 32). Das andere Bild zeigt eine harmonische Fami.lie: Mutter, den Arm um den Sohn gelegt, Tochter neben dem Vater auf dem Sofa sitzend, im Halbrund vor dem Fernsehgerät im bürgerlich gepflegten Heim; alles Harmonie ausstrah- lend (vgl. auch Eurich u.a. 1983, S. 12 f.). Das Versprechen der Reklame wurde dann doch für die alte Frau, die von ihrer bitteren Kindheit erzählt hat; und für' ihre Enkel Realität. Nach der Armut, der schweren Arbeit ums tägliche Essen, dem Reichtum der Wenigen zuschauend, von Süßigkeiten träumend, brachten Auto und Fernsehen die Teilhabe an der großen und weiten Welt. die Verfü- gung über alI das, was mehr als das Lebensminimum ausmachte. Für die Urenkel wurde daraus dann die Überfütterung durch Werbung, die Überfütte- rung durch Fernsehen, Sport, Reisen, Bildung, Spielzeug, Spielplät.ze usw. Trotz der Überfütterung ist die Angst und die Not immer noch da, jedoch nicht mehr sichtbar, nicht mehr erlebbar. Auch dazu schaue ich auf ein Bild, von EItern nach Tschernobyl gemalt. Es zeigt die Angst und die Sorge. Schon vorher hatte Preuss-Lausitz (1983) die Entwicklung von den Konsum- zu den Krisenkindern skizziert: Krisen werden uns wieder bewußt. Ich will diese Eindrücke und die zugrundeliegenden Phänomene und Ideen ordnen und zwar bewußt aus der Sicht eines Medienpädagogen, der sich aus Gründen der Aktualität speziell mit Fernsehen beschäftigt. Dabei wiII ich die Spezialisierung überwinden, indem ich mich an die anthropologischen Theorie-Ansätze Wemer Lochs aus den 60er Jahren zUTÜcklerinnere; Versuche, deren Bedeutung damals verborgen waren. Sie hatten jedoch Erschließungs- und Startfunktionen für eine pädagogische Phänomenologie, die der notwen- digen Spezialisierung, z.B. auf Medienpädagogik und auf Aussagen wie Fern- sehkindheit, Konsumkindheit, den theoretischen Bezugsrahmen gibt. So war Werner Lochs Beharren auf der theoretischen und praktischen Bedeutung von G.H. Mead Ende der 60er Jahre notwendig, um z.B. in der Medienpädagogik einen theoretischen Bezugsrahmen dafür zu haben, von der vordergründigen Medienorientierung weg und hin zu einer Kommunikationsorientierung zu. kommen (vgl. Bachmair 1979, 1984). 93 1. Kinder im Medien- und Konsumnetz Die Veränderung, die sich innerhalb einer Lebensspanne erfahren läßt, ist eigentümlich versperrt, in der Regel nur theoretisch rekonstruierbar. Wie schwer sie zu verstehen ist, zeigt sich an den überall erlebbaren Aggressionen der Alten gegen die Kinder. Für mich ist das nicht nur der Neid gegenüber denen, die "ganz unverdient" jung und Kinder sind. Es ist speziell der Neid oder der Argwohn gegenüber einer Kinder- und Jugendgeneration, die alles hat, was sich Menschen unserer Kultur in der Vergangenheit erträumen konnten: Luxus. der weit über das hinausgeht. was man an Kleidung oder Nahrung zum Überleben braucht; eine nahezu unbegrenzte Mobilität; eine nahezu unbegrenzte Teilhabe an den kulturelien Ereignissen, nichts bleibt ver- borgen (s. Postmann 1983); kaum etwas ist verschlossen: Verfügbarkeit statt Not. Der Urgroßmutter wird es schwer fallen, die gesellschaftliche Entwick- lung innerhalb ihrer Lebensgeschichte in ihren Konsequenzen für ihre Urenkel zu verstehen, ihren Argwohn gegenüber dem Wohlstand zu relativieren, eine Dialektik von Fortschritt und Entfremdung zu entdecken, und damit die Not dieser neuen Generation. Technologisierung und Verfügbarkeit 'Konsum' ist die häl'fig diskutierte Schlüsselkategorie zum Verständnis kindlicher Lebensbedingungen he.ute: Kinder wachsen in einer Konsumwelt auf, erleben Konsum ganz sel!>stverständlich, ohne ihn je hinterfragen zu können, ohne Alternativen dafür zu finden, was die Eltern- oder Großeltern- generation für lebenswichJg erachtet hat: Nahrung. Kleidung. Wohnung. Zumeist ist dies in luxuriösem Maße. d.h. beliebig verfügbar, vorhanden, zu- mindest jederzeit und weit über einer Überlebensgrenze liegend. Auch das, was wir als Neue Armut bezeichnen. hat nichts mit dem lebensbedrohlichen Mangel des 1902 geborenen Mäd~hens zu tun. mit ihrem Kampf ums physi- sche Überleben. Was hat sich verändert? Das Prinzip der Technologisierung, das Prinzip der optimierten zweckrationalen Herstellung von Produkten und Ereignissen hat n9Ch und nach zunehmend mehr Lebensbereiche und Lebensfunktionen erfaßt: Vereinfacht gesagt, die Maschinisienmg und Optimierung der Nah- rungsmittelproduktion hat zu der beliebig verfügbaren und damit konsumier~ baren Ernährung unserer Kinder geführt. Sie können soviel Eis im Sommer haben, wie sie wollen. Tomaten im Winter, Fleisch täglich, Getränke überall aus den Automaten zu Taschengeldpreisen ... 94 Die Lebensbereiche, die zur Jahrhundertwende durch Not gekennzeichnet waren, sind in Deutschland seit den SOer Jahren der Technologisierung unter- worfen worden: Ernährung, Kleidung, Energie und Wohnung. Vorbereitet bzw. forciert wurde die Technologiesierung dieser Bereiche durch die Nationalso- zialisten, deren ungebrochenes Erbe wir hier leicht vergessen, bestenfalls noch für den VW-Käfer erinnern. Wir vergessen dabei auch, daß die Auswertung des Prinzips der Technologisierung und ihre Übertragung auf Ernährung, Klei- dung, Energie direkt mit dem Krieg verbunden war. Zu dieser Zeit wurde auch die Technologisierung der Mobilität und Kommunikation in der für uns heute üblichen individualisierenden Form vorbereitet, durch Auto und Rundfunk. Sie waren die 'Instrumente', die die Verfügbarkeit über den Raum und die Er- reichbarkeit aller Orte und Personen anschaulich, selbstverständlich und ak- zeptabel machten. Die Technik des Fernsehens ist in diese Entwicklungslogik eingestiegen. Das Fernsehen brachte neue Verfügbarkeit: zu jeder Zeit und überall alles erleben und sehen zu können; nie mehr Langeweile zu haben; immerwährend an den Geschehnissen in der Welt (Tagesschau), am Aufregen- den und Interessanten des Lebens und der Welt (zur Zeit ist es der Action-Film) teilzuhaben; die Verbundenheit mit allem (Bericht aus Bonn, Quiz-Sendungen wie 'Wetten, daß ... ') 'direkt' zu erleben. Egalisierung und Individualisierung Postman (1983) schreibt in seinem Buch über die kulturellen Auswirkun- gen des Fernsehens auf Kinder, daß es für sie keine Geheimnisse mehr gibt Das ist, verallgemeinert, ein Mechanismus, der mit der Technologisierung eines jeden Lebensbereiches einhergeht Nahrungsmittel für alle, Autos für alle, Fernsehen für alle. Diese Logik verträgt keine Abgrenzung, z.B. in dem Sinne, Abenteuerfilme im Fernsehen für Kinder ja, Sexfilme nein. Aber an dieser Stelle geht uns die demokratische und republikanische Legitimation für diesen Mechanismus der Gleichheit verloren! Damit beginnen wir diese Mt:- chanismen als Auswüchse, Krisen, Vermassung, Geflihrdung usw. zu erleben. Nach einer mehr oder weniger kurzen Anlaufzeit ergriff die Produktion und die Verteilung von Bild-ffoninformationen per Fernsehen alle Themen und alle potentiellen Adressaten. Und alle werden Adressaten der uneingeschränkt verfügbaren Filminformationen. Postmans Metapher vom "Verlust der Kind- heit" zeigt das sehr genau: Der Unterschied zwischen den Generationen ver- schwimmt und verschwindet möglicherweise ganz: Urgroßmutter und Enkel sitzen zwar nicht gemeinsam vor dem Fernseher, doch zumindest vor den glei- chen Sendungen und auch zu gleicher Zeit. Beide nehmen an der weiten Welt 95 welt. zu einem großräumigen Netz auflöste. Kinder bleiben jedoch auf eine direkte Umgebung verwiesen, um zu hören, zu sehen, zu riechen und zu schmecken. Sie brauchen eine sinnlich erfahrbare Welt als Lebenswelt. Die in Subsysteme zerfallende Welt grenzt sie von ihrer Angewiesenheit auf eigene Erfahrungen aus. So hat sich die Lebenswelt unserer Kinder zunehmend mehr auf betreute Einrichtungen reduziert: z.B. Sportstätten stall einfach herumzu- rennen. Dagegen gab es für Kinder noch nie so viele Möglichkeiten, sich kon- sumierend nicht zu langweilen, insbesondere wenn möglichst viele Fernseh- apparate mit möglichst vielen Kanälen zur Verfügung stehen. Die Fülle allein und auf die Dauer reicht jedoch nicht aus. Das zeigen alle Untersuchungen, die nach den bevorzugten TIitigkeiten der Kinder fragen: draußen mit anderen Kindern spielen. Wenn man, und 'man' heißt Fernsehen, etwas dagegen setzen will, muß die 'Fernsehsinnlichkeit' zunehmen. Die aktuelle Spielart dazu sind die überdimensionierten Gewaltdarstellungen, noch mehr 'action', immer näher mit den Filmen an die Kinderphantasien heran. Die Entsinnlichung und ihre kompensatorische Fixierung aufs Auge und auf die bewegten Bilder hat Tradition. Fernsehen wurde durch das Auto, an dessen Fenster die Landschaft vorbeizieht, vorbereitet. Da ist auch die Ge- meinsamkeit des ruhigen Sitzens im abgegrenzten Raum, an dem die Welt vor- beihuscht. Beim Auto muß man die Kinder noch in ihre Sicherheitssitze hin- einpressen, anschnallen. Beim Fernsehen gC:lt das zwanglos, weil die Ersatz-Aktivität nicht mehr auf den Erwachsenen am Steuer, auf seine Macht- &usübung per Gaspedal und pferdestärken beschränkt ist. Die Kinder sitzen nahezu gleichberechtigt an den Knöpfen und holen sich Abenteuer, Spannung, Harmonie, Erotik, Aggression auf den Bildschirm und ins Wohnzimmer. 2. Mit Kindern heute leben GÜllter Anders (1987, 7. Aufl.) nach seinem Exil aus den USA zurückge- kehrt, hat diese Entwicklung als verwirrende Vertauschung, als Verdrehung von R~alität und Bild beschrieben: Das industriell gefertigte Ton-/Bild-jgrleb- nis als Interpretations- und Handlungsmatrize unseres Lebens, die uns zeigt und uns sagt, was eigentlich Sache ist. Die Video-lnstallation "Roma" von Fa- bricio Plessi (document-Katalog 2, 1987, S. 194f.) führt diese Entwicklung künstlerisch vor. Das eindimensionale, aber sich unbegrenzt bewegende För- derband, Fließband, die Rolltreppe, hat von unseren Bildern und unserem Syhen Besitz ergriffen. Der Bachlauf, der von dem Förderband fließt, fließt per Monitor: der Bachlauf, das ewig fließende Wasser, ist simuliert, läuft per/durch 43 Video-Monitore. - Nein, soweit sind wir nicht! Gerade die Krea- 98 tivität und die Unmittelbarkeit der Kinder erhält uns die überschaubare, hand- feste, sichtbare, faßbare, direkt gestaltbare Welt. Dafür sind die Wünsche der Kinder, eben draußen mit den anderen zu spielen, viel zu stark. Daß wir schon so weit wie Plessis Videoinformationen sind, dagegen sprechen die vielen Bei- spiele eigenständigen und lustvollen Lebens der Kinder in der Stadt, wie sie z.B. Collin Ward (1978) gefunden und beschrieben hat. Dagegen sprechen die Untersuchungen von Heinz Hengst, z.B. über Geländefahrräder und Compu- terspiele (1985), der nach dem Sperrigen und Kreativen in der Art und Weise, wie sich Jugendliche die Konsum - und Medienangebote aneignen, fragt. Dabei stellt er fest, daß sie sich nicht einfach einvernehmen lassen, sondern eher dis- funktional in einem fremden und vorgegebenen Konsum- und Mediennetz agieren. Aber es spricht viel für den Trend gegen die Kinder. Wir brauchen nur einen kleinen effektiven Schritt weitergehen, Ander's oder Plessis Gedanken ein Stück weit radikalisieren. Wir brauchen Tschernobyl nur ein klein wenig fortschreiben und schon wird aus der Fiktion die Realität. Wie viel mehr Ra- dioaktivität hätte es gebraucht, damit unsere Kinder nur noch in Schutzanzü- gen aus unseren Wohnungen hätten gehen müssen? Dann sähen sie die Welt außerhalb nur noch durch den Fernsehapparat. Da die heutige Not sinnlich nicht erfaßbar ist, nicht unmittelbar schmerzt, bleiben wir bei unseren heutigen Realitätserfahrungen und vertrauen auf die Zuverlässigkeit unserer Lebenswelt. Dieses Vertrauen ist notwendig, insbe- sondere weil ohne dieses Vertrauen kein Kind aufwachsen kann. Wir kennen jedoch diese Brüchigkeit; sie war immer im Leben der Menschen. Heute müssen wir sie uns jedoch wissenschaftlich erschließen. Damit bekommt Bildung eine neue Qualität; sie kann nicht me.hr einfach auf direkter Erfah- rung aufbauen. Wir müssen uns der symbolischen Vermiltlungsprozesse unseres Alltags: Wissenschaft, Massenko.mmunikation, Konsum, Verfügbar- keit, Ohnmacht - stellen und dabei der Entfremdung nar;hspüren, die wir bei unserer Angst und bei unserer Hoffnung finden. Keinesfalls reicht der tradi- tionelle Wunsch der Elterngeneration, daß es die Kinder einmal besser haben sollen: also die Projektion der eigenen Hoffnung und des eigenen Ungenügens auf die Kindergeneration. Wir müssen uns stattdessen selber auf die symboli- schen Vermittlungsprozesse unserer Kultur einlassen, sie uns neu aneignen, bevor wir sie erziehend und unterrichtend an unsere Kinder weitergeben. Ich erinnere mich hier daran, wie Eltern und Studenten nach Tschernobyl in einem Seminar im Winter 86/87 sich daran gemacht haben, ein Bild davon zu malen, wie heute mit Kindern zu leben sei. Dabei haben sie sich auf die Vermittlungspro7.esse unserer Kultur eingelassen. Die Botschaft des Bildes liegt in seiner Entstehungsgeschichte. Dies ist auch ein wichtiger Aspekt. wieder genau auf die Form zu achten, das Formale 99 von Bildung nicht mehr abzuwerten gegenüber den Inhalten, da die Fonn, wie McLuhan (1969) das für die Massenkommunikation fonnuliert hat, die Bol- schaft ist: Fernsehen als Botschaft der Verfügbarkeit, des Wählens, des Wohl- behagens und der Abwechslung, des Sitzpunktes und der sehenden Teilhabe. - Auf die vernünftig aufklärende, historisch und systematische Beschäftigung mit Kindheit folgte der Schritt, die Biographien anderer Menschen zu erkun- den, zu verstehen, um dann die eigene Biographie - tatsächlich - zu erwan- dern und - geistig - sie wie in Häusern wohnend in Besitz zu nehmen. Diese sprachlichen Metaphern 'Baum', 'Haus' waren Programm - gehend sich auf das künftige gemeinsame Bild, also auf das zu malende Objekt und den Ideen- entwurf vorzubereiten, dabei assoziativ am Alltäglichen entlangzustreifen: Der Kleinkram mit delI eigenen Kindern, wie man sie nach Tschernobyl ernährt hat, wie die Angst im Alltagsstress weg war. Dann das Stehenbleiben "or Bäumen, vor den realen, so schönen und doch vom Sterben bedrohten, und vor den Baum-Bildern mit ihrer archetypischen Symbolik. Auch Goethes vom Deutschunterricht besetztes "Über allen Wipfeln ist Ruh" oder die matriarcha- le Baumsymbolik öffneten Wege zu den in der eigenen Lebensgeschichte ge- wachsenen Ängsten, Hoffnungen, Widerständen. Es galt sie malend zu finden. Aber auch den Gegenpol dazu, das klar umrissene Haus, im Haus die unbe- wußten Keller, die kristallinen Strukturen, die Abgegrenztheit von der Natur, die Abgegrenztheit von Bedrohung draußen - trotzdem und damit sich zu be- heimaten; diesen Ort den Kindern zu vennitteln, sie nicht in künstlichen Netzen zu belassen. Aber das setzt erst eigene Bildung, eigene Auseinander- setzung mit der Geschichte und der Lebenswelt voraus. Doch sie bringt, wenn sie nichts von alle dem ausgrenzt, Ennutigung, den minimalen Freiraum in der Lebenswelt der Kinder zu gestalten und so Verantwortung für die Bildungs- möglichkeiten unserer Kinder zu übernehmen. Literatur Anders, G.: Die Welt als Phantom \U1dMalrize; ders.: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd.1. München 1987,7. Aufl. S. 97-211 Baclunair. B.: Medienverwend\U1g in der Schule. Berlin 1979 Bachmair, B.u.M.: Symbolische Verarbeitung von Fernseherlebnissen in assoziativen Freirl!.umen. Kassel 1984 Eurich, C., Würzberg, G.: 30 Jahre Fernsehalitag. Reinbek 1983 Hengst, H.: Selbstbehauptung in der Medienkultur. Medienpraktisch 1985, Heft 4, S. 19-22 100 Jensen, K., Rogge, J.-U.: Der Medienmarkt für Kinder in der Bundesrepublik. Tübin- gen 1980 Key, E.: Das Jahrhundert des Kindes; Berlin 1902. Königstein 1978 McLuhan, M., Fiore, Q.: Das Medium ist Message. Frankfurt 1969 Mead, G. H.: Geist, Identität und Gesellschaft. Frankfurt 1968 Postman, N.: Das Verschwinden der Kindheit; Frankfurt 1983 Preuss-Lausitz u.a.: Kriegskinder, Konsumkinder, Krisenkinder. Weinheim 1983 Sachs, W.: Die Liebe zum Automobil. Reinbek 1984 Ward, C.: Das Kind in der Stadt. Frankfurt 1978 documenta 8: Katalog, Band 2. Kassel 1987 101