Siegener Studien Herausgegeben von der "Gesellschaft der Freunde und Förderer der Fachbereiche I-IV und VI-VIII an der Universität GH Siegen" Mitherausgeber sind Prof. Dr. Ingeborg Koza, Prof. Dr, Hans Dieter Erlinger (Red.) und Prof. Dr. Rudolf Feig, alle Universität- Gesamthochschule Siegen. Band 45 Hans Dieter Erlinger (Hrsg.) Kinderfernsehen 11 H~rlßHOJJIIII~ CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Kinderfernsehen. - Essen Verl, Die Blaue Eule. 2. Hans Dieter Erlinger (Hrsg.). - 1989 (Siegener Studien; Bd, 45) ISBN 3-89206-299-4 NE: Erlinger, Hans Dieter[Hrsg.]; GT Diese Arbeit ist im Sonderforschungsbereich 240 "Ästhetik, Pragmatik und Geschichte der Bildschirmmedien. Schwerpunkt: Fernsehen in der Bundesrepublik Deutschland" an der Universität-Gesamthochschule Sie- gen entstanden und wurde auf seine Veranlassung unter Verwendung der von ihm von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten Mittel gedruckt ISSN 0174-6529 ISBN 3-89206-299-4 © copyright verlag die blaue eule, essen 1989 alle rechte vorbehalten. nachdruck oder vervielfältigung, auch auszugsweise, in allen formen wie mikrofilm, xerographie, mikrofiche, mikrocard, offset verboten. printed in germany ......1- _1_ .1.L!_L • Ll- 0 _.- Iß ...J:.a. II __ r__.LL 1--. _ Inhaltsverzeichnis Vorwort Elmar M. Lorey: Warum wir so erzählen 7 9 Ben Bachmair: Thematisch und situativ integrierte Fernsehrezeption im Kindergarten 35 Klaus Neumann: Kindlicher Medienkonsum im 20. Jahrhundert 55 Jan-Uwe Rogge: Brauchen Kinder Fernsehen? Heidi, Pumuckl und Biene Maja als Zeichen für Alltagserfahrungen 95 Heinz Hengst: "Secondary Orality" in der Kinderkultur 125 Gerhard Tulodziecki: Mediennutzung von Kindern als bedürfnisbezogene Handlung 143 Hans Dieter Erlinger: Geschichte des Kinderfernsehens in der Bundesrepublik Deutschland. Vorstellung eines DFG-Projekts 157 Die Autoren dieses Bandes 177 Ben Bachmair Thematisch und situativ integrierte Fernsehrezeption im Kinder- garten 1. Systematische Vorbemerkungen zur interpretativen Medien- und Kommunikationsforschung Der folgende Beitrag berichtet, wie Kindergartenkinder. mit Filmen aus der TV-Serie "Neues aus Uhlenbusch" und "Wickie" umgehen. Die Untersu- chung fand 1979 und 1980 in einem Kindergarten mit einer kleinen Gruppe von 4 bis 6jährigen bzw, von 3 bis 5jährigen Mädchen und Jungen statt! Es war die erste von drei empirischen Studien'' zur Fernsehrezeption in Alltagssituationen bzw. zur Funktion von Fernseherlebnissen und von Fern- sehsymbolik in Alltagssituationen. Da Erfahrungen gemacht werden soll- ten, inwieweit das Konzept symbolischer Vermittlung von Alltagshandeln und Massenkommunikation über längere Lebensphasen hinweg tauglich ist, hatte die erste der Untersuchungen Kinder im Vorschulalter als Adressaten. Ziel dieser Untersuchung war, Belege für die kommunikative Integration 1 Die beiden Beispiele gehören zum Forschungsprojekt "Entwicklung medienpädagogi- scher Methoden zur Förderung der Interpretationsfähigkeit". Veröffentlichungen dazu: Bachmair, B.: Teelmologische Veränderungen von Kommunikation als Herausforde- rung für Pädagogik. In: Schaefer, G. Wld W. Loch (Hg): Kommunikative Grundlagen des naturwissenschaftlichen Unterrichts, Weinheim 1980, S. 148-169. Bachmair, B.: ,Mit eigenen Augen sehen' Der Versuch, Fernsehen didaktisch zu zäh- men. In: medien + erziehung 1980, Heft 4, S. 194-204. 2 Es schlossen sich zwei Projekte an, eines mit Grundschulkindern und eines mit Ju- gendlichen. Bachmair, B. u. Mitarb.: Symbolische Verarbeitung von Fernseherlebnissen in assozia- tiven Freiräumen, 2 Bde., Kasse11984. Bachmair, B.jM.v.J. Höve1, B. Hofmann und M.v. Waasen: Dynamik symbolischer Vermittlung von Alltagshandeln und Massenkommunikation, unveröffentl. Forschungs- bericht 1989. 35 von Medienrezeption in Alltagshandeln zu bekommen. Dabei ging es auch um das methodologische Problem, ob und wie empirische Forschung - in Alternative zu Wirkungsforschungskonzepten - in der Lage ist, Fern- sehrezeption als etwas Kommunikatives zu begreifen, zu beobachten und zu interpretieren. Diese Frage ist immer noch aktuell, zur Zeit nicht mehr wegen des Handlungsbezuges von Fernsehrezeption, sondern um die aktu- ellen kulturellen Veränderungen anders als nur mit Hilfe medienorientierter Konzepte einordnen und handhaben zu wollen; also komplexere Fragen zu stellen als nur die nach dem guten oder dem schlechten Fernsehen, nach mehr oder weniger Kanälen, nach dieser oder jener organisatorischen Form des Fernsehens. Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre war es - ein erstes Mal in verschiedenen Disziplinen - gelungen, die medienorientierten Un- tersuchungen sozialer Ereignisse nicht nur tastend, sondern kompetent zu überwinden. Entscheidend dafür war die Frage, welche Funktion Fernsehen im alltäglichen Handeln, Erleben, Fühlen usw. von Kindern hat. Formuliert man diese Frage theoretisch, so geht es um den Vermittlungszusammen- hang von Fernseherlebnissen, Fernsehsymbolik, Handlungssituationen ,und handlungsleitenden Themen. Die ausgewählten Beispiele belegen, daß dieser Vermittlungszusammenhang als integriertes, interdependentes Geflecht zu verstehen ist, dessen Dynamik durch die handlungsleitenden Themen der Kinder bestimmt wird. Wissenschaftshistorische Anmerkungen zum Konzept der Fernseh- rezeption Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre waren zwei entscheidende theore- tische Schritte getan worden. So hatte z. B. Teichert! einen handlungstheo- retischen Entwurf ("Fernsehen als soziales Handel") vorgelegt und Langen- bucher u.a. 2 Kommunikations- und Handlungskonzepte zur theoretischen 1 Teichert, W.: Fernsehen als eoziales Handeln. Zur Situation der Rezipientenforschung. Ansätze und Kritik. In: Rundfunk und Fernsehen, 1972/4, S. 421-439 und Rundfunk und Fernsehen, 1973, S. 356-382. 2 Langenbucher, W.R., G. Räder, H.-J. Weiß: Zur Notwendigkeit einer Neukonzeption der Massenkommunikationsforschung in der Bundesrepublik. In: Berg, K. und M. Kie- fer (Hg.): Massenkommunikation. Eine Langzeitstudie zur Mediennutzung und Me- dienbewerttmg, Main 1978, S. 9-39 36 Grundlegung der "Langzeitstudie zur Fernsehnutzung" diskutiert! Damit war der empirische Weg von medienbezogenen Wirkungsdesigns hin zur kommunikations- und handlungstheoretischen Fragestellungen sowie zur in- terpretativen Empirie beschritten. Die entscheidenden Problempunkte medienbezogener Wirkungsforschung muß man sich heute nochmals in Erinnerung rufen, um die konzeptio- nelle Auseinandersetzung um kommunikations- und handlungsbezogene For- schung zum Phänomen Fernsehrezeption in ihrer Bedeutung einordnen zu können. Dies ist eine Auseinandersetzung, die zur Zeit noch am Rande geführt wird, immer dann, wenn die Methodologie interpretativer Empirie in 'Frage gestellt wird. Die konzeptionelle Interpretation von Medien und ihre Rezeption unter dem GesichtspunKt der Wirkung im Rezipienten entspricht einer bestimm- ten historischen Situation, und zwar der, bei der Einführung eines neuen Mediums. Gerade beim Fernsehen ist dies besonders deutlich sichtbar, Der - von 1953 bis Mitte der 60er Jahre - neue Fernsehapparat bekam in der Familie viel Aufmerksamkeit. Diese Aufmerksamkeit galt jedoch einer Nebensächlichkeit des gewohnten Familienlebens. Fernsehen bereicherte ad- ditiv das Familienleben, ohne weder Tagesablauf (vor oder nach einer Sen- dung zu Hause sein, ins Bett müssen usw.) noch z.B. Pubertätskonfiikte zu strukturieren (noch nicht alt genug für eine Sendung; endlich den eige- nen Fernsehapparat haben usw.). Da Fernsehen noch nicht ins Familiensy- stem und in die Alltagsereignisse selbstverständlich integriert war, also noch nicht alltäglich war, war es möglich, das Phänomen Fersehrezeption mittels verhältnismäßig einfacher Ursache-/Wirkungsmodelle auch adäquat zu be- schreiben: Alter, Geschlecht, Sozialstatus usw. in Bezug auf Sehhäufigkeit, Nutzungsvorlieben usw. Dieser einfachen Zugangsweise sowie den zu untersuchenden Phänome- nen (additiv isoliertes neues Medium) lag das Sender-Empfänger-Modell I Weitere theoretische Konzepte finden sich u.a, bei Bonfadelli, H.: Jugendliche, Medien und Sozialisation. Fragestellungen, Ansätze, Methoden und Befunde der Forschung. In: Radde, M. u.a.: Jugendzeit - Medlenzeit , Weinheim/München 1988, S. 167-189. Charlton, Mund K. Neuma.nn: Medienkonsum und Lebensbewältigung in der Familie, München/Weinheim 1986. Jensen, K.: Medienrezeption als aktuelle Handlung. In: Jensen, K. und J.-U.Rogge: Der Medienmarkt für Kinder in der Bundesrepublik. Tübingen 1980, S. 327-347. Zusammenfassung bei Kübler, H.D.: Kinder und Fernsehen. Ein Literaturbericht. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Beiheft 11, 1980. 37 der Massenkommunikation zugrunde! Es definiert Kommunikation ihrem Wesen nach als Informationstransport. Fernsehrezeption ist dann die mehr oder weniger komplexe Konsumption von Bild-Ton-Informationen. Solch ein Modell von Kommunikation wird dann obsolet, wenn Fernsehen integrier- ter Bestandteil alltäglichen Handeins und alltäglicher Kommunikation ist. Dann ist Fernsehen sowohl Bestandteil der Sender-Empfänger-Organisation der Massenkommunikation als auch substanzielles, integratives Moment ei- ner qualitativ anderen und traditionell vertrauten Form von Kommunika- tion'' Diese Schnittstelle zweier qualitativ verschiedener Kommunikations- formen gilt es theoretisch wie empirisch aufzuklären. Dazu gehören auch die nachfolgenden Kategorien bzw. die beiden empirischen Beispiele aus dem Kindergarten. Sie stellen das Moment der Integration von Handlungs- und Kommunikationssituationen, von Medienerlebnissen und von Mediensym- bolik sowie der handlungsleitenden Themen der Kinder in den Mittelpunkt. Die zentralen Begriffe eines Konzeptes Symbolischer Vermittlung Die Schnittstelle zwischen Fernsehen und kommunikativem Handeln unter den Bedingungen veralltäglichten Fernsehens (traditionell als Fern- sehrezeption bezeichnet) gilt es aufzuklären, und zwar mit Hilfe eines an- thropologischen Konzeptes von Kommunikation. Hierbei werden Medien als symbolische Objektivationen betrachtet, die den Menschen immer zueigen waren und deren Aneignung ein strukturierender Prozeß in der Biographie eines jeden Kindes und Jugendlichen ist. Wichtiges Merkmal der Medien der Industriegesellschaft ist, daß sie unabhängig von Rezeptionssituatio- nen hergestellt werden. Darauf basiert das Sender-Empfänger-Modell vom Kommunikation. Medien als situativ unabhängige symbolische Objektiva- tionen treffen auf Menschen die ihren Alltag so strukturieren, daß ihre Literaturverweis auf Sender-Empfänger-Modelle vgl.: Burkart , R.: Kommunikations- wissenschaft, Wien/Köln 1983, S. 158 ff. und S. 244 rr. Lieber, RoM. u.a.: The Early Window, Effects of Television on Children and Youth, New York 1973 Naschold, F.: Kommunikation und Information Bd. 1, Frankfurt 1973, S. 19ff. 2 Wichtig sind hier u.a. das psychologische Konzept von G.H. Mead (Mind, Self and Society; dt.: Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt 1968) und das soziologische Konzept von T. Berger und P. Luckmann: Gesellschaftliche Kon- struktion der Wirklichkeit, Frankfurt 1970 38 handlungsleitenden Themen realisiert werden. Das Konzept der handlungs- leitenden Themen setzt sich von energetisch-funtionalen Konzepten (z. B. Motiv, Bedürfnis) ab. Handeln und Kommunikation werden als inhaltlich bestimmte Ereignisse betrachtet: Kindern geht es um etwas, das sie errei- chen, vermeiden, zeigen usw. wollen. Ein weiterer wichtiger Gedanke ist, daß immer in Situationen gehan- delt wird. (Die beiden folgenden Beispiele beziehen sich auf Situationen im Kindergarten, denen eine ganz bestimmte Dynamik zueigen ist.) Je nach Dynamik und Struktur einer Situation werden die handlungsleitenden The- men realisiert. Wichtig ist hier. die pädagogischen Möglichkeiten von Si- tuationen zu bedenken. Pädagogen arrangieren und handeln in Situationen, prägen damit den Prozeß symbolischer Vermittlung. Dies wird besonders in den beiden folgenden Beispielen deutlich. Im Beispiel Neues aus Uhlenbusch nutzt ein Junge die Rezeptionssituation für seine R.egression. Im Beispiel Wickie wird die Fernsehrezeption situativ so vorbereitet, daß Fernseherleb- nisse in ein thematisch relevantes und assoziativ entwickeltes Rezeptions- muster integriert werden. Im Sinne von ,symbolischer Vermittlung" ist Fern- sehrezeption eine Situation, deren Strukturmerkmale und deren Dynamik sich mit den handlungsleitenden Themen und der Symbolik des Fernsehens überlagernd verbinden. (Das ist besonders deutlich am Beispiel "Neues aus Uhlenbusch". ) Fernsehsymbolik ist eine Kategorie, die alle Darstellungselemente eines Fernsehfilms umfaßt, von der Hauptfigur einer Serie (z.B. "Wickie ") bis zu deren Handlungsmuster (Ein vorsichtig-nachdenklicher Junge unter Kraft- protzen). Fernsehsysmbolik schließt in ihrer allgemeinsten Bedeutung die Dramaturgie eines Filmes ein, z.B. ,ruhig' bei Neues aus Uhlenbusch, ,hek- tisch' ,unübersichtlich' bei Wickie. (Dazu die Filmanalyse und der Bericht über die Auswirkung der Dramaturgie von Wickie, die als Interpretations- muster für die Fernsehrezeption fungiert; zweites Beispiel). Die Fernsehsymbolik kann Teil der Ausdrucksmittel eines Kindes oder Jugendlichen werden (Ausdrucksfunktion von Fernsehsymbolik). Deshalb muß die Fernsehsymbolik, mit der sich Kinder oder Jugendliche ausdrücken, nicht mit Fernseherlebnissen verbunden sein, insbesondere weil Fernseh- symbolik zum Bestandteil der Alltagssprache geworden ist, sich Kinder unabhängig von Fernseherlebnissen mit diesen Sprachelementen unterhal- ten. Die folgenden beiden Beispiele (Neues aus Uhlenbusch, Wickie) sind vom Design her so aufgebaut, daß Fernseherlebnisse und Fernsehsymbolik zusammengehören, weil mit den Kindern im Kindergarten Sendungen der beiden Serien mittels Videorekorder angeschaut wurden. 39 Die beiden Beispiele zeigen, wie die mit der Fernsehrezeption verbun- denen dynamischen Elemente ,Fernsehsymbolik'. ,Fernseherlebnisse' ,hand- lungsleitende Themen, ,Fernsehsymbolik als Ausdruckmittel' ,situativer Kontext' von den Kindern zu einem Handlungs- und Kommunikations- zusammenhang integriert werden, wobei die handlungsleitenden Themen strukturierend wirken. 2. Neues aus Ublenbusc11: Die Symbolik des bedrohten Ferkels als Regressionsanlaß in einer behütenden Situation In einem Kindergarten wird einmal wöchentlich ein Film einer aktu- ellen Serie per Video vorgeführt. Nach dem Film bieten die Erzieher ein Spiel- oder Gestaltungsangebot an, das eine Brücke zur jeweiligen Sendung herstellen und Ausdrucksfunktion haben soll. Über mehrere Wochen wird die jeweils aktuelle Sendung aus der Serie Neues aus Uhlenbusch an einem Vormittag angeschaut. Dazu sind Erzieher und vier- bis sechsjährige Jungen und Mädchen sowie Beobachter in einem der Räume des Kindergartens. Neues aus Uhlenbusch ist eine pädagogisch aufgebaute Sendung, in der Dorfkinder jeweils ein Alltagsproblem bewältigen, dabei viel Hilfe von Erwachsenen erfahren. Es wird der Film "Ein Tier ist ein Tier" vorgeführt. Der Film bringt folgende Geschichte: Ein Junge bekommt ein kleines Schwein geschenkt, das er mit der Flasche aufzieht. Als das Schwein älter wird, steht er vor der Entscheidung, es entweder zu verkaufen, um sich aus dem Erlös ein Fahrrad zu kaufen, oder es zu behalten, weil er das Schwein gern hat. Er entscheidet sich, das Schwein zu verkaufen. Am Schluß der Sendung erhält der Junge ein neues Ferkel geschenkt. Weil ein Ferkel im Zentrum der Geschichte steht, haben sich die Er- zieher (ein Mann, eine Frau) überlegt, nach dem Fernsehfilm aus Papier Ferkel-Masken mit den Kindern zu basteln. Die Situation, in der der Film vorgeführt wird, war von den Erziehern jedoch nicht bewußt geplant oder gestaltet worden. Das läßt dem sechsjährigen Jungen David die Möglichkeit, die Situation für seine eigene Regression zu nutzen. Als erstes ein zusammenfassender Überblick über die Situation vor, während und nach dem Fernsehen: Fünf Kinder setzen schon seit einer viertel Stunde und warten, daß die Fernsehvorführung beginnt. Dabei droht der sechsjährige David einem 40 Mädchen, das statt Malen und Basteln zu seinem Hund nach Hause will: "Dann fliegst du raus!" Ein Erzieher und zwei Beobachter sind anwesend. Man wartet noch auf eine dritten, der die Videoanlage bringen soll. Die Kinder sind ungeduldig. David kommentiert die Situation mit der Frage: .,So wenig Leute gibt es im Kino?"- Die Kinder sind ungeduldig. Als dann, was üblicherweise ein Anlaß für Konflikte zwischen den Kindern ist, die Vorführung beginnen kann, setzt sich Michel, ein anderer Junge, ganz nah vor das Fernsehen, was üblicherweise ein Anlaß für Konflikte zwischen den Kindern ist. Sobald der Film läuft, geht er jedoch mit dem Stuhl erheblich zurück. Die Handlung der Sendung wird von allen Kindern spontan kommen- tiert. Der Erzieher stellt ebenso spontan Fragen zum möglichen Ablauf. Kinder spielen zeitweise mit dem Mikrofon der Beobachter, wobei es Kon- flikte zwischen den Kindern um das Mikrofon gibt. Ein Kind kommt später, sagt sofort, es kenne die Sendung schon, setzt sich vorne auf den Boden und schaut mit zu. Kurz danach beginnt David zu weinen. Der Erzieher fragt ihn, was los sei und nimmt ihn zu sich auf den Schoß. Kinder, die vorher bei ihm auf dem Schoß gesessen hatten, setzen sich jetzt auf den Boden. Ein Beobachter unterbricht die Sendung, weil David laut weint. Auf die Frage des Erziehers, antwortet David kaum verständlich. Er stammelt weinend vor sich hin und kaut am Daumen. Der Erzieher bekommt mit der Zeit heraus. daß David Probleme mit dem Verkauf des Schweinchens hat. Als David sich wieder beruhigt, wird die Sendung weiter besichtigt. Die ande- ren Kinder zeigen keine auffälligen emotionalen Reaktionen auf den Verkauf des Schweinchens. Nach der Sendung beginnt. David, der die ganze Zeit am Daumen gekaut hat, wieder zu weinen. Der Erzieher geht lang uud intensiv auf David ein und versucht ihn zu trösten. David fordert dann vom Erzieher, daß er eine Schweinemaske bastelt. Die anderen Kinder malen weitgehend selbständig zusammen mit der Erzieherin Figuren zur Sendung und spielen mit den ausgeschnittenen Figuren ganz kurze Szenen. Ausschneiden und Spielen gehen ineinander über. Die Bastel- und Spielphase um die Erzieher dauert fast eine Stunde. Verblüffend für die Beobachter ist der Stimmungswandel Davids von Dominanz ("Dann fliegst du raus") und dem distanzierten Komment.ar zur Fernsehsituation (,,50 wenig Leute gibt es im Kino") zum Weinen angesichts der Filmhandlung. David beginnt zu weinen, als im Film der Monolog des Jungen abläuft, der das Ferkel aufgezogen hat: "Aber ich kann dich doch nicht behalten. Schweine behält man eben nicht für immer. Ist doch klar. Du v,Virst ja nicht geschlachtet. Erst mal kommst du zu deinen Geschwistern 41 David: Erzieher: David: Erzieher: Erzieher: David: Erzieher: David: Erzieher: David: Jetzt holt er sich Stroh. Muß er aber weit fahren. (schnieft: Er steht auf, dreht sich zum Erzieher. der hinter ihm sitzt und beginnt zu weinen. Er schluckt heftig und bringt keinen artikulierten Ton heraus.) Erzieher: Was ist denn los? David, komm mal he,', David, was ist denn los? Sag ma. (weint laut.) (Fernsehen wird abgeschaltet.) Aber. warum bist du denn so traurig'? (weint weiter) Weil der Junge jetzt das Schweinchen weggibt? (lauter weinend) Jaaaa. Oder hat dich der Holger geärgert? Nee (weint, stammelt etwas Unverständliches in einer Art Ba- bysprache) Du willst nicht, daß der Junge das Schwein verkauft. Ja (wiederum weinend, kaum verständlich.) Der Junge hat ja eben auch gesagt, daß er es nicht mehr behalten kann, weil das Schwein größer und größer wird. Ja und dann kann er es nicht mehr füttern. Der Junge hat ja auch gesagt, daß das Schwein jetzt noch nicht geschlachtet wird, erst wenn es älter ist als das Schwein. (Fernsehen wird wieder angeschaltet.) Die Sendung geht zu Ende. David sitzt ganz still und kaut am Dau- men. Als die Sendung aus ist, versucht der Erzieher über Schweine und ihr Schicksal zu reden. Er fragt die Kinder, ob sie ebenfalls das zweite Schwein nehmen würde. David bleibt still, auch als der Erzieher ihn persönlich an- spricht. Erzieher und Erzieherin versuchen, dem Gespräch und damit auch David Realitätsbezug zu geben ("Du hat doch auch nen Kaninchen, Da- vid"). Die anderen Kinder gehen dabei auf das Filmmotiv Tiere schlachten' em: und dann kriegst dun Haufen Tolles zu essen, bis du alt bist. Dann wirst du erst geschlachtet. Ich kann dich einfach nicht behalten. Ehrlich. Aber warum hab ich dich auf einmal so gern. Das verstehe ich nicht." Dazu das Wortprotokoll, das zeigt, wie David die Situation zur Regres- sion nutzt: Michel: David: Kind: Katrin: Erzieher in: Ich krieg auch bald nen Kaninchen. Ich würd das Schweinchen auch haben, Weißt du, warum? Wenns groß ist und alt ist, dann schlachte ich das. Meinst du, du könntest das auch schlachten? 42 David: Kind: David: Erzieher: David: Erzieher: David: Michel: David: Erzieher David: Erzieherin: Katrin: Ja. Der Erzieher geht wieder auf den schweigenden David ein, immer noch mit der gleichen Zielrichtung, von der Filmgeschichte weg zur Realität zu kommen, um dann David von den Regressionen weg an den Realitätsehe- rakter der Filmgeschichte zu führen. Es gelingt auch. David stellt heraus, im Gegensatz zur Hauptfigur des Films, daß er keine Entscheidungspro- bleme zwischen Tier und Spielgerät hat: "Ich hab aber eine Hasen und mein Kett-car. Das hab ich mir nämlich selber gekauft." Dazu das Tonbandprotokoll: Erzieher: David, wenn du jetzt auf dem Dorf wohnst, dann kannst du dir auch mal beim Bauern diese kleinen Ferkel angucken. (weint.) Ich krieg auch bald son Schweinchen, son Hasen wie David, (Die beiden Erzieher reden mit David. Nach einiger Zeit:) David: (weinend, man versteht nur) Warum verkauft? Erzieher: Warum er das verkauft hat? Einmal, weil das ja größer und größer gewachsen ist und weil das jetzt auf n andern Bauern- hof kommt und da von nem Bauern gefüttert wird. Und zwei- tens, weil er doch das Geld brauchte für sein neues Fa,hrrad. Der hatte doch nicht genug Geld für das neue Fahrrad. Und außerdem hat er ja jetzt wieder zum Schluß nen ganz kleines Schweinchen gekriegt, wa er großziehen konnte. (weinend) Ich fand das eine schöner. Du fandest das erste schöner? (weinend) J aaa. Guck mal. Der Junge hatte sich das ja auch ganz schön lange überlegt. Und er war auch ganz traurig, als ers weggegeben hat. Erzieher: Stimmt. Traurig war er auch. Der hatte das Schweinchen auch lieb gehabt. Erzieherin: Guck mal. Zwei Sachen konnte er nicht haben. Das Schwein- chen und das Fahrrad. Da mußte er sich für eine Sache ent- scheiden. Das ist eben auch ganz schön schwer. (wütend) Ich hsb aber nen .Hasen und mein Kett-car. (ungläubig) Hasen und Kett-car? Das hab ich mir nämlich selber gekauft. Das Kett-car? (weinend) Ja. Da hast du aber ganz schön viel Geld gehabt. Der Junge hat nicht soviel Geld gehabt wie du. 43 David: Erzieher: David: Ich hätte das Schweinchen nicht an den Bauern verkauft. Ich hätte mir das Schweinchen behalten. Bis es ganz, ganz groß geworden wäre. Ja. David: Erzieher: David: Erzieher: David: Erzieher: Nachdem David das Filmmotiv ,Schweinchen verkaufen' realistisch be- handelt hat, greift Michel ein anderes, implizites Filmmotiv auf: Schlachten. Er weitet es unrealistisch zu einer aggressiven Größenphantasie aus: "Dann hätt ich die Haut abgerissen und - klatsch - in die Pfanne geschmissen." Das aggressive Motiv in der Situation, in der David den Realitätsbezug des Erziehers akzeptiert hat, führt dazu, daß die Erzieher sich im Gespräch gegen Michel wenden und sich auf Davids Seite stellen: Michel: Und dann hätt ichs verkauft, wenns groß wäre. David: Ich aber nicht. Michel: Dann hätt ichs geschlachtet. David: Ich hätt es nicht geschlachtet. Bis es gestorben wär, hätt ichs dann behalten. Michel: Dann hätt ich die Haut abgerissen und - klatsch - in die Pfanne geschmissen. Erzieherin: Du hättest es gleich aufgegessen? Erzieher: Ach Michel, das glaub ich auch nicht. Wenn du erst mal so lange nen Schwein hast und das selber groß gezogen hast, dann hättest du das auch lieb gehabt. Ich glaub nicht, daß du das einfach geschlachtet hättest. Offensichtlich hat diese Beziehung mit den bei den Erwachsenen David so ermutigt, daß er mit Holger, dem starken Jungen der Kindergruppe, zu konkurrieren beginnt und dabei auftrumpft: "hol ich mir ein so Kleines und dann habt ihr keins." "Kauf ich mir auch noch son Adler und da werdet ihr aufgefressen" Damit ist der Junge bei aggressiven Motiven angelangt, bei denen es um Größe, Kampf und Macht geht: Erzieher: David, wir können ja jetzt zusammen mal nen ganz kleines Schweinchen malen.(unterbricht Holger) Ja und warum machste immer alles nach? Was? (nölend) Warum macht der Holger mir immer alles nach? Warum dir Holger alles nachmacht? Was hat der denn nach- gemacht? Hat nachgemacht. (Es folgt unverständliches Gestammle.) Wie ich gemacht hatt, alles macht der Holger immer nach. Habt ihr denn alle Lust, son kleines Schweinchen zu malen? 44 David: Erzieher: David: Erzieher: David: (ärgerlich weinend) Ich hätte lieber ein echtes Schweinchen. Wenn ich beim Bauern wohne, hole ich mir son kleines und dann habt ihr keins. Das können wir uns dann doch auch mal angucken? Mmh. Das würde größer und wird größer und dann kauf ich mir auch noch son .Adler. Und der hebt euch dann hoch und dann fliegt ihr. Wir können dann mit dem Adler wegfliegen? Ja, der fliegt dann mit euch in die Berge und da werdet ihr aufgefressen. Fazit: Bei der Filmbesichtigung bricht vermutlich Davids ambivalentes Thema ,Bedroht sein, Zerstört werden/Mächtig sein, Angreifen' auf. Die Ambiva- lenz zeigt sich in seiner gruppendynamischen Aktivität zu Beginn: "Dann fliegst du raus": am Ende: "da werdet ihr aufgefressen" und in der heftigen Reaktion auf das Filmmotiv vom Schwein, das zugunsten eines Fahrrades verkauft wird. Der Erzieher bietet David eine Situation, in der er direkt agieren und regressiv Bedrohungsängste bearbeiten kann. Das ist die Vor- aussetzung, von der aus er das Angebot, das Filmmotiv mit seiner Lebenser- fahrung in Verbindung zu setzen, aufgreifen kann (Realitätsbezug). Die Zu- wendung an David aktiviert jedoch das Langzeit-Thema der Kindergruppe: Konkurrenz um die Zuwendung durch die Erwachsenen und Rivalität um den Platz in der Gruppenhierarchie. Dazu knüpfen Michel wie David bei der aggressiven Seite des Filmmotivs .Schwein an Metzger verkaufen' an. Anzumerken ist, daß die Ambivalenz von Regression und Realitätsbezug auch in der Dramaturgie des Fernsehfilms aufzufinden ist. Dieser Verlauf der Filmrezeption zeigt die Dominanz des bzw. der hand- lungsleitenden Themen, die jedoch eine dafür offene Situation (Regressi- onsmöglichkeit, Realitätsbezug durch Erzieher) und entsprechende Film- symbolik braucht. Zu vermuten ist, daß das Filmmotiv Schwein verkaufen gerade im Rahmen der für Neues aus Uhlenbusch typischen sehr ruhigen, einfühlsam-langsamen Dramaturgie seine thematische Funktion aus zwei Gründen entfalten kann. Einmal, weil sie Zeit für subjektive Assoziatio- nen und Phantasien läßt. Zum zweiten, weil sie im Prinzip offen ist für Regression und Empathie. Die geplante ,Nacharbeit' der Erzieher bleibt irrelevant für die Fernsehrezeption, wo hingegen die spontane pädagogische Strategie des Erzieher (Regressionsmöglichkeiten und Realitätsbezug anbie- ten, aggressive Größensymbolik akzeptieren) angemessen und zumindest für David - unter thematischen Gesichtspunkten - hilfreich ist. 45 3. Wickie: Veränderung der Dominanz der Medienstruktur bei der Fernsehrezeption Das folgende Beispiel bezieht sich auf Filme der Serie Wickie, die mit der gleichen Kindergruppe angeschaut wurden! Die Beobachtung lief über einen Zeitraum von knapp drei Wochen. Besonders auffällig war dabei, daß eine für das Kinderfernsehen konzipierte Serie wie Wickie die Priorität der handlungsleitenden Themen für die Rezeption bei solchen Kindem außer Kraft setzt, die keine oder kaum Erfahrungen mit der Serie hatten. Mit der Veränderung der situativen Bedingungen, es gab Wickie-Comics im Kinder- garten, entwickelten die Kinder ein einfaches Interpretationsmuster . das die Fernsehrezeption thematisch anleitete. Als erstes wird dargestellt, daß die Kinder einen Film der Serie Wickie nur bruchstückhaft und nur insofern interpretieren, als einzelne Filmmotive zu ganz allgemeinen thematischen Rezeptionsmustern (anonyme Bedrohung, Angreifer, angegriffen werden) passen. Diese Bedrohung war der Anlaß für situative Veränderungen im Kindergarten, von denen im zweiten Punkt berichtet. wird. Entscheidend dafür waren die Wickie-Cornics'' und spontane Spiele im Kindergarten, die den Kindern die Möglichkeit gaben, sich assoziativ mit den für sie thema- tisch relevanten Figuren und deren Handlungsmustern zu beschäftigen. 3.1 Die Medienstruktur als Barriere für die Rezeption des Hand- lungszusammenhangs der Filmgeschichte Die These von der Medienstruktur , sozusagen der Dramaturgie eines Films, als Rezeptionsbarriere für eine thematisch relevante Interpretation durch die R.ezipienten bezieht sich auf folgende beobachtete Situation. Kinder sehen zusammen mit Erwachsenen die Videoaufzeichnung des Films Der Überfall aus der Fernsehserie Wickie. Der Film erzählt folgende Geschichte: Der Seeräuber Sven und seine Piratenmannschaft greifen das Heimatdorf Wiekies an. Die Dorfbewohner, die Wikinger. sonst prahlerisch, stark, dominant, kämpferisch, reagieren chaotisch. Wickie, der in der Regel 1 Aus der Kindergruppe waren die Sechsjährigen ausgeschieden, dafür waren vierjährige Kinder aktiv beteiligt, 2 Bei den Wickie-Comics handelt es sich u.a, um folgendes: Wickie, das neue COMIC· Taschenbuch. Mit tollen neuen Abenteuern zur beliebten FERNSEH-Serie, CONDO R PRINT + VERLAG GmbH + Co. [Copyright 1974/1979). 46 zögernde, nachdenkliche, ängstliche Sohn des Häuptlings, hat als einziger die rettende Idee, Wölfe, die vorher von den Wikingern gefangen worden waren, freizulassen. Die Wölfe greifen die Piraten an und verjagen sie. Der Film hat folgenden Aufbau: Protokoll zum Film "Der Überfall" der Comic-Serle "Wickie" Sequem; Zeit Hnndlungsnblauf im Bildteil 1. 60 sec 2. 70 sec Vors panu zum Titeli..Ild 33 Einstellungen; ca. alle 2 Sekunden eine neue Einstellung Frie