Tilmann P. GanglofT - Stephan Abarbanell (Herausgeber) Liebe, Tod und Lottozahlen Fernsehen in Deutschland: Wer macht es? Was bringt es? Wie wirkt es? GEP-Buch im IF. SteinkopfVerlag Hamburg-Stuttgart 1994 Redaktion: Tilmann P. Gangloff Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Liebe, Tod und Lottozahlen. Fernsehen in Deutschland: Wer macht es? Was bringt es? Wie wirkt es? I Tilmann P. Ganglotf, Stephan Abarbanell (Hrsg.) - Hamburg; Stuttgart: Steinkopf; Frankfurt am Main: Gemeinschaftswerk der Evang. Pub!., Abt. Ver!., 1994 (GEP-Buch) ISBN 3-7984-1027-5 (Steinkopf) kart. ISBN 3-921766-68-0 (GEP) kart. NE: Ganglotf, Tilmann P. [Hrsg.] © 1994 Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik, Abt. Verlag Vertrieb im Buchhandel: J.F. Steinkopf Verlag Hamburg; Stuttgart Umschlaggestaltung: Bodo Streich, Büro für Gestaltung, Otfenbach Satz: Satzstudio Zeil, Frankfurt am Main Druck und Verarbeitung: Memminger Zeitung, Memmingen Inhalt A. Medien im Alltag von Erwachsenen I. Das verkabelte Leben Die Familie am Bildschirm Wie das Fernsehen das Leben der Menschen verändert hat (Bernd Schorb) ............................................. 21 11. Die Wirkung von Film und Fernsehen 1. Dann eben mit Gewalt Zur Wirkung von Mord und Totschlag in Filmen und Serien ( Michael Kunczik) ....................................... 31 2. Bad News Zur Wirkung von Mord und Totschlag in Nachrichten und Reportagen (Heinz Bonfadelli) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 3. Die Bilder in unseren Köpfen Wie Stereotype entstehen und den Fernsehalltag prägen (Prancesco Tornabene) .................................... 56 111. Im Zweifel gegen den Angeklagten I. Der dunkle Fleck Risiken und Nebenwirkungen von Fernsehnachrichten (Ti/mann P. Gangloff) ..................................... 61 2. Der Stand der Standards Das Informationspotential des öffentlich-rechtlichen Fernsehens (Prüz Wolf) ....... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 3. Zeigen oder Schweigen? Zur Berichterstattung über politischen Extremismus (Ti/mann P. Gangloff) ..................................... 77 4. Abkratzen und Tee trinken Fernsehen und Ökologie: Wie Hase und Igel (Ti/mann P. Gangloff) ..................................... 83 5. Besser als sein Ruf Das ethische Potential des Fernsehens ( Peter Kottlorz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 IV. Über den Massengeschmack Gutes Fernsehen - schlechtes Fernsehen Das TV-Programm als Schnittmenge seiner Zuschauer (Barbara Sichtermann) ....................................... 97 5 V. Auf der Eselsbank 1. Wer macht Fernsehkritik, wo findet sie statt? (Ti/mann P Gangloff) ..................................... 102 2. Macht oder Ohnmacht? Die TV-Kritiker über Sinn und Zweck ihrer Arbeit Knut Hickethier (»Davids Schleuder«) ........................ 106 Dietrich Leder (»Zwischen den Stühlen«) ..................... 108 Ponkie (»Pfadfinder für Qualität«) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 109 Barbara Sichtermann (»Keine spektakuläre Sache«) ............. 110 SybiTle Simon-Zülch (»Süßer Wahn«) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 111 Ffitz Wolf(»Laus im Pelz«) ................................ 112 3. Kritik der Kritik der Kritik Warum Hausfrauen und TV-Kritiker trotzdem arbeiten (sollten) (Uwe Kammann ) ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 114 VI. Fernsehen als Sinnstifter Opium des Volkes? Über Medienreligion und die Entzauberung des Alltags (Wo?f Rüdiger Schmidt) ...................................... 118 VII. Fernsehen als Ärgernis Faszination und Langeweile Der Homo zappens als mündiger Zuschauer (Ti/mann P Gangloff) ........................................ 129 VIII. Fernsehen versus Lesen Entwarnung für Kulturpessimisten? Viele Wege führen zum Buch (Ti/mann P Gangloff) ........................................ l32 B. Medien im Kinderalltag I. Kinder und Fernsehen 1. Kinderfernsehen ist, wenn Kinder fernsehen Trends, Tendenzen, Perspektiven (Imme Horn) . . .. . . . . ..... . . . . ... . .. . . .. . . .. . . . .. . .. . . . .. l39 2. Begrenzte Effekte Wie wirken Medien auf Kinder und Jugendliche? (Dorothee Meister / Uwe Sander) ................ . . . . . . . . . . .. 149 6 3. Zwischen Vergnügen und Angst Was macht das Fernsehen mit den Kindern, was machen Kinder mit dem Fernsehen? (Tilmann P. Gangloff) ..................................... 156 4. Fernsehen als Zerrspiegel Gewalt ist eine Krankheit der ganzen Gesellschaft (Tilmann P. Gangloff) ..................................... 166 5. Können Kinder fernsehen? Eine unendliche Geschichte (Jan-UweRogge) ......................................... 175 6. Kunstwerke aus Fernsehschrott Ben Bachmair über den guten Freund im Wohnzimmer (Tilmann P. GanglofJ) ...................................... 181 7. E. T. und ich Wie fiktive Helden helfen, den Alltag zu verarbeiten ( Ben Bachmair) ....... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 185 8. Magie und Realität Wie Kinderfernsehen (nicht) sein sollte (Bärbel Lutz-Saal) ....................................... 193 H. Kinder haben eine Lobby: Fragen des lugendmedienschutzes 1. Auf der Jagd nach Menschenfressern und Nazi-Schergen Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften indiziert Videos und Computerspiele (Ti/mann P. Gangloff) ..................................... 199 2. Zwischen Gänsehaut und echtem Horror Auf der Suche nach dem schmalen Grat: Die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) (Ti/mann P. Gangloff) ..................................... 203 3. Der Versuch des Marktes, sich selbst zu regulieren Die Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) (Ub'ich Timmermann) ..................................... 207 IH. Kinder und TV-Spielzeug Millionen mit den Ideen Anderer Wie die Spielzeugindustrie die Fernsehhelden vermarktet (Ti/mannP. Gangloff) ........................................ 209 IV. Elektronisches Spielzeug 1. Super Mario erobert die Welt Das Phänomen der Videospiele (Tilmann P. Gangloff) ..................................... 213 2. Hitler auf den Schulhöfen Über die Gefährdung Jugendlicher durch Nazi-Computerspiele (Tilmann P. Gangloff) ..................................... 217 V. Kinder und Hörspielkassetten 1. Ohrenschmaus und Kopfabenteuer Nur wenige Kostbarkeiten auf dem Kinderkassetten-Markt (Ti/mann P. Gangloff) ..................................... 221 2. Mit dem Bauch hören Kinderhörspiele aus der Sicht der Autorin ( Marieluise Ritter) ....................................... 225 VI. Kinder und Lesen 1. Ausfallerscheinungen der Informationsgesellschaft Funktionaler Analphabetismus und Wissenskluft (Ti/mann P. Gangloff) ..................................... 227 2. Kinder können lesen Geschichte und Bedeutung der populären Kinderliteratur (Winfred Kaminski) ...................................... 233 3. Mücken im Flohzirkus Der Markt für Kinderzeitschriften: Qualität nur im Abonnement (Ti/mann P. Gangloff) ..................................... 239 4. Leseschund für Analphabeten? Comics als ausgesetztes Kind der Literatur (Ti/mann P. Gangloff) ..................................... 245 5. »ZiSch« - Das Projekt Zeitung in der Schule Aus der Praxis (1) (Inge König) ............................................ 249 6. Jugendliche in der Schreibwerkstatt Aus der Praxis (2) (Inge König) ............................................ 253 8 C. Die Entwicklung der deutschen Fernsehlandschaft I. Vom öffentlich-rechtlichen Monopol zum dualen System 1. Amtshilfe von Sisyphus Die Debatte um die Medienkonzentration bei den kommerziellen Fernsehsendern (Fritz Wolf) .......... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 259 2. Medienpolitik = Standortpolitik Die Geschichte des dualen Rundfunksystems ist eine Geschichte des Scheiterns (Fritz Wolf) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 269 II. Umbruchzeiten Eine Einrichtung wird abgewickelt Vom Deutschen Fernsehfunk zum Fernsehen in den neuen Bundesländern (Lothar Mikos) ............................................. 275 III. Zwischen Kommerz und Quote - Begleiterscheinungen des dualen Rundfunksystems 1. Maden im Speck Der Markt für Programmzeitschriften (Tilmann P. Gang/off) ..................................... 281 2. Die Wahl der Waffen Die Fernsehunterhaltung als Opfer der Quotenjagd (Gerhard Bliersbach) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . .. . .. . . . .. 293 IV. Zehn Jahre kommerzielles Fernsehen in Deutschland 1. Die Geister, die man rief ... Die Erfolgsgeschichte von RTL und SATl (Tilmann P. Gang/off) ..................................... 299 2. Nachtgedanken Kleine Fluchten aus dem Teufelskreis der Programmverflachung (Peter Glotz) ............................................ 303 3. Ihre Zukunft hat Zukunft Wie ARD und ZDF den Herausforderungen des Marktes trotzen können (HansJanke) ............................................ 307 4. Sport ist Mord TV-Sender im Würgegriff der Preisspirale (Ti/mann P. Ganglaff) ..................................... 313 9 V. Das Maß aller Dinge 1. Die Währung Quotenmessung: Methoden, Trends und Partner ( Bernward Frank) ........................................ 317 2. Gutes nach Art des Hauses Der Umgang mit Quoten grenzt oft an Scharlatanerie (Thomas Koch) .......................................... 321 VI. Die Strukturen der Kontrolle 1. Fernsehen als Volkseigener Betrieb Über die Arbeit der Rundfunk- und Fernsehräte (Stephan Abarbanell) ..................................... 325 2. Zähne erst nach der Hauptmahlzeit? Das späte Selbstbewußtsein der Landesmedienanstalten (Tilmalllz P. Gangloff) ..................................... 329 VII. Fernsehen und Kirche Sperrgut Kirche im Fernsehen: Engagement ohne Eigennutz (Stephan Abarbanell) ........................................ 337 VIII. Fernsehqualität hat ihren Preis Das Gedächtnis Seit dreißig Jahren Auszeichnungen im Namen Adolf Grimmes (Ulrich Spies) .............................................. 345 IX. Einzelne Programmgattungen / Kultfernsehen 1. Heile, mörderische Welt Streifzug durch die deutsche TV-Krimilandschaft (Wolfgang Wissler) ....................................... 353 2. Vom Fernsehspiel zum TV-Movie Kritischer Rückblick auf die Karriere eines Genres (Egon Netenjakob) ....................................... 359 3. Sie küssen und sie schlagen sich Lieblingskind von Sendern und Publikum: Die Seifenopern ( Martin Compm·t) ........ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 369 4. Mann beißt Hund Die spekulative Realitätsfalschung des »Realitätsfernsehens« (Tilmann P. Gangloff) ..................................... 373 5. Brot und Spiele Game-Shows im deutschen Fernsehen (Lothar Mikos) .......................................... 377 10 6. Nichts als Gerede Talk-Shows im deutschen Fernsehen (Lothar Mikos) .......................................... 381 7. Kam, sah und kaufte Werbung als notwendiges Übel (Fritz Wo?f) ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 385 8. Kollision von Systemen Bildende Kunst im Fernsehen: Reserviert für eine Minderheit (Ti/mann P. Ganglaff) ..................................... 391 9. Ein einig Volk von Schunklern Über die Auswüchse der volkstümlichen Fernsehunterhaltung (Ti/mann P. Ganglaff) ..................................... 395 X. Zum Verhältnis von Kino und Fernsehen Nicht ohne meinen Sender Szenen einer Zweckehe: Ohne Fernsehen kein Kino - und umgekehrt (Frauke Döhring) ........................................... 399 XI. Zwischen GATT und Euro 1. Abwärts Die Krise des europäischen Films (Karsten Visarius) ........................................ 409 2. Die dunkle Seite der Macht Europas Rundfunklandschaft gehört den Medienkonzernen (Tilmann P. Ganglaff) ..................................... 417 D. Die Entwicklung der internationalen Medienlandschaft I. Die elektronische Datenautobahn (Ti/mann P. Ganglaff) 1. Auf dem Super-Highway ist die Hölle los Mit der digitalen Kompression in eine strahlende Zukunft 2. Die Aktivität hält sich in Grenzen Interaktives Fernsehen: Vorteile vor allem für die Industrie 3. Die Kunst des Fernsehens 429 433 Warum mit HDTV nicht nur das Fernsehgerät wächst .. . . . . . . . .. 437 4. Das totale Abenteuer Im Cyberspace ist nichts unmöglich ......................... 441 5. Die Zukunft hat schon begonnen ... . . . aber die Industrie sucht noch nach todsicheren Rezepten ...... 445 11 II. Warum die »schöne neue Medienwelt« nicht funktionieren wird 1. Das Potential des toten Winkels Virtuelle Realität: Ein Leben aus zweiter Hand (Tilmann P. Ganglaff) ..................................... 449 2. Boom oder Bumerang? Das wirkliche Leben findet woanders statt (Horst W. Opaschowski) ................................... 457 III.Geld[egi~rt .. die Medienwelt 1. Auf Expansionskurs Die deutschen Mediemnultis testen die Grenzen des Wachstums (Horst Röper) ........................................... 461 2. Think Global, Act Local Die Strategien der großen Medienkonzerne (Ti/mann P. Ganglaff) ..................................... 481 12 7. B.T. und ich Wie fiktive Helden helfen, den Alltag zu verarbeiten Ben Bachmair Ist es nicht so: Wenn Kinder im Unterricht vom Fernsehen reden, dann stö- ren sie oft den Unterricht. Was wäre, wenn Kinder das, was sie aus dem Fernse- hen herausziehen, als neue Form von Mitteilungen und Rede einsetzten, auch wenn das reichlich wirr oder reduziert erschiene? Ich will an einem Beispiel zeigen, wie sich zwei Jungen durch Rückgriff auf eine differenzierte Bilderwelt über kompl~xe Themen verständigen. Um die beiden Jungen zu verstehen, muß man etliche Hürden überwinden, unter anderem die, daß diese Form der Kommunikation kaum mehr die uns vertraute und geschätzte Sprache braucht, um so mehr jedoch mit den Bildern der Massenkommunikation verschmolzen ist. Kinder haben diese Bilder im Kopf und verständigen sich damit. Da es nicht unsere Bilder sind, entsteht hier eine detektivische Rekonstruktionsaufgabe. Unsere Filmanalyse plus Situa- tionsanalyse als Methode soll hier helfen. Das Beispiel "E. T. " Zwei Jungen einer vierten Grundschulklasse, Sven und Markus, reden mitein- ander, weil Sven Schwierigkeiten mit seinen Schwimmsachen hat. l Nimmt man die Spur des Films "E.T." in den Aussagen ernst, werden die zugrundeliegen- den Themen der beiden Jungen verständlich. (Erläuterungen zu den einzelnen Aussagen der Jungen stehen in Klammern.) Situation analysieren, Film-Spuren entschlüsseln Lehrerin: Denkt morgen an eure Schwimmsachen, Seife und Geld, daß ihr alles dabei habt. Schüler: Ja, Ja. Lehrerin: Und auch an die Taucherbrillen. Sven: Nein, ich bringe keine Taucherbrille mit. Ich hab's satt. Ich hab mir oft genug Wunden geholt. Da will ich's jetzt rucht mehr noch einmal versuchen. Einmal und nie wieder. (Sven ist über den unproblematischen Vorschlag entsetzt, Schwimmsachen 185 und Taucherbrille mitzubringen. Er reagiert heftig, ablehnend. Was bedeutet für ihn "Sich-Wunden-holen"? Sven ist ein Junge, der immer wieder und auch schwer krank ist, sodaß er öfter ins Krankenhaus mußte. Wenn er von "Wun- den" redet, sind die "Schwimmsachen" für ihn also mit bedrückenden Erfah- rungen verbunden. Welche könnte er meinen? Zum Beispiel gelingt es ihm meist nicht, Aufträge für den nächsten Schultag zu Hause zu erledigen. Er be- kommt dafür von zu Hause auch keine Hilfe. Zudem hat seine Familie definitiv kein Geld für "Schwimmsachen ". Dies sich wieder einmal klar machen zu müs- sen, reißt sicher "Wunden" auf.) Dieter: Nee? (Für Dieter ist das natürlich nicht nachzuvollziehen.) Sven: Das is' so schlimm wie ... Gegen Taucherbrillen hab' ich 'ne Allergie. (Sven muß seine Behauptung "Ich hab mir oft genug Wunden geholt" argu- mentativ belegen. "Allergie" ist solch ein Argument.) Markus: Das kauft dir die Lehrerin auch grad ab. Sven: Ich, ich krieg' 'ne Allergie. Dann wird alles wund, und das tut schrecklich weh, und dann tun einem auch noch die Augen weh. Dieter: Hm, hat recht. (Die Kinder diskutieren, ob "Allergie" auch die Lehrerin überzeugt. Dabei legt sich Sven auf Krankheit als Begründung seines Problems fest. Dieter kann Svens Argument nachvollziehen.) Sven: Ich - weiß ja -, ich bin kein Mensch. (Sven scheint in seiner Selbstwahrnehmung tief verunsichert zu sein.) Lehrerin: Sondern? (Die Lehrerin, mit der alltäglichen Organisation beschäftigt, kann auf solch eine bedrohliche Aussage nicht eingehen: Ein Kind fühlt, kein Mensch zu sein.) Sven: Ein Autorifon. Im Krankenhaus war ich ja. (Sven versucht, mit "Autorifon" zu erklären, worum es ihm geht.) Markus: Weiß du, wie E-Ti, öh, wie heißt der jetzt noch mal? (Für Markus ist es klar, was Sven meint. "Autorifon" in Verbindung mit "Krankenhaus" versteht er. Was er verstanden hat, erklärt er, indem er Film und Figur des E.T. ins Gespräch einführt. E.T. ist ein kluges, einfühlsames Wesen aus dem Weltall, das die Größe eines Kindes, einen menschenähnlichen Körper und Gesichtszüge hat, aber auch ein Tier sein könnte.) Sven: I-Ti. (Sven bestätigt Markus, daß er richtig liegt.) Markus: Wie der da krank wird. (Markus benennt eine Stelle im Film "E.T.") Sven: Ohja, der ist total weiß - ja. Weil er Heimweh hatte, da deswegen und wie er im Wasser lag. (Sven bestätigt Markus, um welche Stelle es sich handelt und betont dabei die tödliche Gefahr, in der E.T. im Film tatsächlich ist. "Total weiß" bedeutet im 186 Film, daß E.T. im Sterben liegt. Sven erklärt auch, warum er "total weiß" war: weil er "Heimweh hatte". Sven verweist noch auf eine zweite Filmszene, in der E.T. ebenfalls tödlich bedroht ist: "wie er im Wasser lag".) Markus: Uäh! Sven: I-Ti, aber wie er im Gras saß, und da hat er gesagt und ihm da hat er so ge- macht ... uäh ... uäh! (Sven verweist auf eine Filmszene, in der ein kleiner Junge, Elliot, neben E. T. die Hauptfigur im Film, das außerirdische Wesen E.T. entdeckt. Beide fürch- ten sich voreinander.) Markus: Ich find das gut, am Anfang, wo er die Smarties ... hi, hi (lacht und schmatzt). (Der Junge Elliot und E.T. entdecken sich gegenseitig als menschliche Wesen. Sie beginnen vorsichtig eine Beziehung. Dabei zeigt der Film "Smarties", die bekannten bunten Schokoladenbonbons, die die bei den benutzen, um sich ohne Sprache zu verständigen.) Filmanalyse: Was erzählt der Film "E.T."? Ein Strang der Filmhandlung: Sich bedroht fühlen, einen Freund gewinnen Für Sven und Markus geht es beinl.Film "E.T. - Der Außerirdische" (von Ste- ven Spielberg, USA 1981) um die Freundschaft zwischen dem zehnjährigen Jungen Elliot und dem Wesen E.T., das von einem anderen Stem kommt und auf der Erde gestrandet ist. Elliot und E.T. entwickeln ihre Freundschaft so weit, das Elliot E.T.s Gedanken und Gefühle direkt erlebt und versteht, ohne sprechen zu müssen. E.T. leidet unter Heimweh, erkrankt deshalb und stirbt. Weil Elliot seinem toten Freund sagt, daß er ihn liebt, erweckt er ihn wieder zum Leben. Die Erwachsenen dagegen wollen das unbekannte und fremdartige Wesen E. T. nur für ihre Forschungszwecke fangen und unter Kontrolle stellen. Die Kinder verstecken E.T. und fliehen mit ihm. Elliots und E.T.sinnige Freund- schaft siegt über das zerstörende Unverständnis der Erwachsenen, gibt E.T. das Leben zurück und verhilft ihm dazu, auch wieder nach Hause zu kommen. Was erzählen die Filmepisoden, auf die Markus und Sven verweisen? Sven und Markus beziehen sich in sechs Aussagen ihres kurzen Gesprächs auf insgesamt fünf Filmszenen, die sie jedoch nicht in der chronologischen Ab- folge des Films, sondem vom Filmende in Richtung Filmbeginn erzählen. Die Filmszene: " Wie der da krank wird" (Markus) Diese 15 Minuten lange Episode ist zentral für die Filmerzählung. Polizisten, Wissenschaftler, Ärzte haben E.T. im Haus von Elliots Familie aufgespürt und 187 dringen mit einer bedrohlichen militärischen Operation in das Haus ein. Hier liegen der Junge Elliot und E.T. unter Schutzzelten in einer perfekten medizini- schen Notstation, weil E.T. stirbt. Elliot ist ebenfalls in höchster Lebensgefahr, da er über seine Gefühle mit E. T. verbunden ist und deshalb seine Lebensener- gie zusammen mit der E.T.s verlischt. Elliot versucht, eine Notoperation an E.T. zu verhindern: "Sie dürfen das nicht. Sie machen ihm Angst ... Laßt ihn in Ruhe. Ich kann alles für ihn tun, was er braucht ... Ihr tötet ihn." Bevor E. T. stirbt, trennt er sich von Elliot, der jetzt wieder allein leben kann. Elliot nimmt vom toten E.T. Abschied: "Sieh nur, was sie Dir angetan haben . ... Ich werde Dich nie vergessen. Mein Leben lang. Keinen Tag. E.T., ich liebe Dich." Jetzt beginnt E.T.s Herz wieder zu leuchten. Er lebt wieder und wird vollkommen gesund. In dieser anrührenden Episode prallen zwei Welten aufeinander: Die Welt der Kinder mit der Welt der vernünftigen Erwachsenen (Ärzte, Wissenschaft- ler, Polizisten), die absolut nichts von E.T., den Kindern und ihrer Freund- schaft verstehen. Elliots "E.T., ich liebe Dich" bringt Leben und Gesundheit zunick. Elliot und die Kinder besiegen mit Zuneigung die verständnislose Ver- nunft. Die Filmepisode: E. T. "ist total weiß" (Sven) Diese kurze Episode (circa zwei Minuten) geht der Filmstelle "Kranken- haus" unmittelbar voraus. E.T. ist es nicht gelungen, mit seinen Artgenossen im Weltall Kontakt aufzunehmen, und so wird er - wie Sven richtig feststellt- vor Heimweh völlig krank. Er ist kreidebleich und stöhnt kraftlos: "Ma - ma". Elliots Mutter ist vor Schrecken völlig gelähmt und flieht. Elliot ruft ihr nach: "Du kennst ihn nicht! ... Wir dürfen ihn nicht allein lassen!" Das Wesen E.T. ist emotional am Ende - vereinsamt, unverstanden, ohne seinesgleichen - und deshalb auch physisch tödlich bedroht (Symbol: weiße Körperfarbe). Diese Filmstelle erzählt, daß die Mutter, daß Erwachsene, die eigentlich helfen und versorgen sollten, das kranke, emotional ausgezehrte und fremde Wesen allein und damit umkommen lassen. 188 Die Filmszene: E. T "liegt im Wasser" (Sven) Diese Szene (circa dreißig Sekunden) geht der Filmepisode "E.T. ist total weiß" unmittelbar voraus. E.T. mißlingt es, im Wald mit seinen Artgenossen aus dem Weltall Kontakt aufzunehmen. Die Kinder finden ihn hilflos und stöh- nend in einem Bach liegend, während Hubschrauber ihn suchen und verfolgen. Die Kinder verstecken E.T. Thema dieser Szene ist E.T.s Hilflosigkeit. Es wird deutlich, daß E.T. allein auf der Erde nicht überleben kann. Er kann sich auch nicht alleine zurechtfinden. Die Filmszene: E. T "sitzt im Gras" (Svcn) Diese kurze Filmszene (circa eine Minute) gehört zum Filmbeginn. Elliot und E.T. begegnen sich zum ersten Mal. EIliot wird nachts von einem unbe- kannten Geräusch geweckt und geht mit einer Taschenlampe hinaus in den Garten. Plötzlich wird E.T. sichtbar, der vor Schrecken grunzt, wild und abweh- rend mit den Armen gestikuliert. Auch EIliot erschreckt sich. Beide rennen vor- einander davon. In dieser spannenden Szene sieht auch der Zuschauer E.T. das erste Mal in voller Gestalt. Er sieht ungewöhnlich, eigentlich häßlich, doch auch wieder fas- zinierend aus. Die Filmepisode: "Smarties" (Markus) E.T. und Elliot treffen sich zum zweiten Mal (Dauer: circa drei Minuten). EI- liot hat im Wald versucht, E.T. mit Smarties anzulocken. Plötzlich taucht E.T. 189 im Garten auf, Elliot erschrickt wieder, E.T. kommt mit Grunzgeräuschen auf ihn zu. Elliot bleibt, obwohl er Angst hat, sitzen. E.T.s Hand greift nach ihm und legt die im Wald gesammelten Smarties auf Elliots Decke. Danach sieht man Elliot im Rlur Smarties auslegen. E.T.s Hand schiebt sich langsam in Rich- tung Smarties, man hört ein Grunzen und dann zufriedenes Schmatzen. Elliot lächelt. Der Bann ist gebrochen, sie beginnen, Freunde zu werden. Welches Thema haben Sven und Markus? Was erzählen sich die Jungen Sven und Markus mit den Eilmepisoden? Wel- ches Thema haben und besprechen sie? Die Jungen gehen genau und sensibel aufeinander ein. Zugleich beziehen sie Szenen und Episoden eines langen Filmes präzise aufeinander. Dabei entsteht eine neue Geschichte. Hauptmerkmale dieser Geschichte ist, daß sich die Rei- henfolge umdreht. Die neue Geschichte, also Svens und Markus' Geschichte, endet nicht wie im Film mit der aufregenden Flucht der Kinder und dem Thema Freiheit und Un- abhängigkeit. Svens und Markus' Geschichte hat vielmehr folgende Themen: - in einer Erwachsenenwelt unverstanden, alleingelassen und tödlich bedroht sein; - überleben, weil ein Freund um einen trauert; - die Angst vor etwas Fremden überwinden und vorsichtig einen Freund gewin- nen. Sven und Markus kennen "E.T.". Der Film hat in ihnen ein intensives Erleb- nis zurückgelassen. Die Themen des Films sind ihnen vertraut. Markus merkt, daß Sven in einer Stimmung ist, die er auch bei E.T. verspürt hat. Er setzt nun die Filmelemente wie eine differenzierte Sprache ein und unterhält sich mit ihrer Hilfe mit Sven über dessen Stimmung und dessen Thema. Beide Jungen gehen gekonnt mit wichtigen Filmepisoden, mit den Figuren des Films und ihren Themen um. Sven fühlt sich von Markus verstanden. Deswegen kommt er auch aus seiner Stimmung heraus, verlassen und bedroht zu sein. Er verwen- det ebenfalls die vorsichtige Art und Weise, wie im Film Freundschaft geschlos- sen wird, um mit Markus über Freundschaft zu reden. Markus greift das auf, indem er auf die Smarties-Episode des Films verweist, und beginnt zu lachen. Anmerkungen Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors aus: Unterrichtsmedien, Friedrich Jah- resheft 1111993 190 I Dieses Beispiel wurde dokumentiert und bearbeitet von Anja Rehm, Andrea Menzel, Mi- chael Botor, David L. KeIlar, Walter KeIl. Literatur B. Bachmair et al., Medienanalyse im Handlungskontext - Handeln und Sprachbilder eines Mädchens verstehen, in: M. Charlton/B. Bachmair (Hg.), Medienkommunikation im Alltag - Interpretative Studien zum Medienhan- deln von Kindern und Jugendlichen. Schriftenreihe des Internationalen Zen- tralinstituts für das Jugend- und Bildungsfernsehen, Band 24, München 1990, S. 146-171 Ben Badunair ist Dozent für Erziehungswissenschaft und Medienpädagogik an der Universität Kassel und Autor zahlreicher Veröffentlichungen zum Thema Kinder und Fernsehen. 191