Vilmos A´gel Gegenwartsgrammatik und Sprachgeschichte Methodologische Überlegungen am Beispiel der Serialisierung im Verbalkomplex1 1. Einleitung 2. Serialisierung im Verbalkomplex 2 historisch 3. Serialisierung im Verbalkomplex 2 in der Gegenwartssprache (am Beispiel der Engel’schen Grammatik) 4. Fazit: Viabilität 5. Schluss 6. Literatur 1. Einleitung Jeder Sprachzustand enthält „die Tradition älterer Zustände“ (Juha´sz 1975, 3; in diesem Sinne s. auch Givo´n 1979). Daraus lässt sich ein methodologisches Prinzip ableiten, das das Prinzip der Viabi l i tät genannt werden soll und ein Prinzip der sprachhistorischen Adäquatheit darstellt:2 Jede linguistische Beschreibung (bzw. Erklärung) muss mit der Beschreibung (bzw. Erklärung) der Geschichte des zu beschreibenden (bzw. zu erklärenden) Phänomens kon- form sein. Bezogen auf grammatische Strukturen: Die Beschreibung (bzw. Er- klärung) einer aktuellen Struktur ist viabel, wenn sie sich in die Beschreibung (bzw. Erklärung) der Geschichte der Struktur fügt. Ich gehe von der Arbeitshypothese aus, dass Viabilität auf drei Ebenen 2 Empirie, Methode und Theorie 2 untersucht werden kann: 1. Empirische Viabilität meint die Angemessenheit der Daten vor dem Hinter- grund sprachgeschichtlicher Abläufe, d. h. die Viabilität der zu beschreiben- den (und zu erklärenden) Daten. 2. Methodische Viabilität meint die Angemessenheit der Herangehensweise an die zu beschreibenden (und zu erklärenden) Daten vor dem Hintergrund sprachgeschichtlicher Abläufe, d. h. die Viabilität des Instrumentariums, der Begrifflichkeit, der Datenanordnung und der Aufbereitung der Daten für die Theoriebildung. 1 Vorliegender Beitrag stellt die erweiterte Fassung des Vortrags dar, den ich am 12.9.00 auf dem IVG-Kongress in Wien gehalten habe. 2 Viabilität ist eine konstruktivistische Metapher. Der Begriff wird im Konstruktivis- mus auf lebende Systeme bezogen (s. Varela 1990, 107 f.). Als Adäquatheitskriterium wurde das Viabilitätsprinzip ursprünglich unter der Bezeichnung kulturhistorische Adäquatheit eingeführt (A´gel 1995, 19). 320 ZGL 29.2001, 3192331 3. Theoretische Viabilität meint die Angemessenheit der Interpretation der Daten vor dem Hintergrund sprachgeschichtlicher Abläufe, d. h. die Viabi- lität der Norm- und Regelgebung und der Erklärungen. Will man die Aufgaben einer zukünftigen Sprachgeschichtsforschung auch im Hinblick auf deren möglichen Beitrag zur synchronen Grammatikschreibung bestimmen, könnte man die folgenden zwei Ziele ins Auge fassen: 1. Die Erar- beitung einer linguistischen Theorie der Viabilität und 2 damit im Zusammen- hang 2 2. die Aufdeckung von nicht viablen Beschreibungen in deutschen Ge- genwartsgrammatiken. Sollten diese Aspekte als neue und wichtige Aufgaben einer zukünftigen Sprachgeschichtsforschung anerkannt werden, wäre das eine Chance dazu bei- zutragen, die Sprachgeschichtsforschung aus ihrer zum Teil selbstverschulde- ten theoretischen Unmündigkeit herauszuführen und in eine die sprachwissen- schaftliche Theorie mitbestimmende Position zu bringen. Im Folgenden möchte ich erste Überlegungen zur Viabilitätsfrage anstel- len. Das grammatische Problem, an dem sie illustriert werden sollen, ist die Stellung der Verbformen im mehrgliedrigen Verbalkomplex in Verbletztsätzen, kurz: die Serialisierung im Verbalkomplex. Einige 2 zwei- bis sechsgliedrige 2 Beispiele: (… dass er den Ball) getroffen hat. (… dass der Ball) getroffen worden ist. (… dass sie) soll haben kommen können. (… weil der Sack auf die Schultern) muss genommen worden sein können. (… weil der Sack auf die Schultern) hat müssen genommen worden sein können. Um die Viabilität gegenwartsgrammatischer Darstellungen zu beurteilen, müs- sen zuerst die konstanten Tendenzen (Sonderegger 1979, 218) der einschlägi- gen sprachgeschichtlichen Entwicklung skizziert werden. Auf deren Folie könnten dann die bekannten und anerkannten gegenwartsgrammatischen Be- schreibungen der Serialisierung im Verbalkomplex empirisch, methodisch und theoretisch unter die Lupe genommen werden.3 Da dies hier nicht geleistet werden kann, werde ich mich auf nur eine bekannte und anerkannte Darstel- lung beschränken 2 in der Hoffnung, dass die Analyseergebnisse von exem- plarischer Bedeutung sein werden. 2. Serialisierung im Verbalkomplex 2 historisch Zur Serialisierung im Verbalkomplex gibt es eine ausgezeichnete empirische Arbeit von John Evert Härd (1981), auf die ich mich im Folgenden stützen 3 Dieses Verfahren präsupponiert natürlich ein methodologisches Grundprinzip, nach dem die empirisch nachgewiesenen konstanten Tendenzen solange als wirksam ange- sehen werden, solange keine gegenteiligen empirischen Evidenzen vorliegen. 321V. A´gel, Gegenwartsgrammatik und Sprachgeschichte werde (zum 17. Jh. s. noch Takada 1994). Härd untersuchte 16 Typen von drei- und viergliedrigen Verbalkomplexen zwischen 1450 und 1975. In Ta- belle 1 sind die Härd’schen Typen gemäß den heutigen Serialisierungsnormen präsentiert. Tabelle 1 I getroffen worden ist V3V2V1 II gehalten haben wird V3V2V1 III verwirklicht werden kann V3V2V1 IV hat kommen lassen/können V1V3V2 V a wird einnehmen können V1V3V2 V b fortkommen lassen wird (wird fortkommen lassen) V3V2V1 VI a soll unterscheiden können (unterscheiden können sollen) V1V3V2 VI b sehen lassen darf (darf sehen lassen) V3V2V1 VII a getroffen worden sein wird V4V3V2V1 VII b getroffen worden sein soll V4V3V2V1 VIII a hat verwirklicht werden können V1V4V3V2 VIII b wird verwirklicht werden können V1V4V3V2 VIII c soll verwirklicht werden können V1V4V3V2 IX a hat sehen lassen dürfen V1V4V3V2 IX b wird sehen lassen dürfen V1V4V3V2 IX c soll haben kommen lassen/können V1V2V4V3 In der linken Spalte sieht man die Härd’schen Namen der Komplexe. Im Fol- genden werde ich mich immer auf diese römischen Ziffern beziehen. In der rechten Spalte wird die Abfolge der Verben im Verbalkomplex dargestellt. Da- bei bezeichnet die tiefgestellte Ziffer den Grad der Dependenz im Verbalkom- plex. Man betrachte etwa Komplex I: ist worden getroffen worden ist(dass der Ball) Abbildung 1 Dier Serialisierung erfolgt gemäß der Dependenz im Verbalkomplex, woraus sich hier die Abfolge rechts determiniert links ergibt (getroffen worden ist 5 V3V2V1). Im Gegensatz zum Komplex I ist jedoch etwa beim Komplex V a das oberste Regens (5 V1 5 das Finitum) vorangestellt. Folglich gilt hier das Prinzip rechts determiniert links nur für den infiniten Komplex V3V2 (wird einnehmen können 5 V1V3V2): 322 ZGL 29.2001, 3192331 wird können einnehmen können(dass er es) wird Abbildung 2 Folgende konstante Tendenzen lassen sich historisch nachweisen: 1. bezogen aufs Finitum das Vordringen des Nachstel lungsprinzips; 2. bezogen auf den infiniten Komplex das Vordringen des Rechts-determi- niert- l inks-Prinzips; 3. bezogen auf den gesamten Verbalkomplex die konstante Gültigkeit des Äquivalenzprinzips. 1. Das Nachstellungsprinzip Die Nachstellung des Finitums dringt in Abhängigkeit von zwei Faktoren vor: (a) Komplexitätsfaktor, d. i. die Anzahl der Verben im Verbalkomplex; (b) Auxiliarfaktor, d. i. die Art der Auxiliarverben. (a) Komplexitätsfaktor: Der Drang des Finitums zur Nachstellung verhält sich umgekehrt proportio- nal zur Komplexität: Viergliedrige Verbalkomplexe leisten der Nachstellung mehr Widerstand als dreigliedrige, letztere mehr als zweigliedrige. Die Nachstellung wird bei zweigliedrigen Komplexen schon gegen Ende des 16. Jhs. zur Norm. Bei den dreigliedrigen Verbalkomplexen ist das Vordringen der Nachstel- lung erst ab der 1. Hälfte des 17. Jhs. nachweisbar. Es setzt mit den Komple- xen III (verwirklicht werden kann) und VI b (sehen lassen darf) ein, die beide modale Finita aufweisen. Im 18. Jh. erscheinen die ersten Nachstellungsbelege bei den viergliedrigen Komplexen VII a und VII b. Im 19./20. Jh. ist das weitere Fortschreiten der Nachstellung beobachtbar, ohne dass sie alle Typen erfaßt hätte bzw. ohne dass bei allen Nachstellungsty- pen die Nachstellung uneingeschränkt gelten würde. Unserer Tabelle ist zu entnehmen, dass bei 7 Komplexen die Nachstellung, jedoch bei 9 immer noch die Voranstellung die Norm ist. Von den 7 Nachstellungskomplexen sind 5 dreigliedrig und 2 viergliedrig. (b) Auxiliarfaktor: Im Sinne des Zweiten Behaghel’schen Gesetzes ist der Informationsgehalt des deutschen Satzes steigend. Infolgedessen tendieren von den Auxiliarverben die Modalverben stärker zur letzten Stelle als die Hilfsverben. 323V. A´gel, Gegenwartsgrammatik und Sprachgeschichte 2. Das Rechts-determiniert-links-Prinzip Auch das Vordringen dieses Prinzips im infiniten Komplex ist in Abhängigkeit von dem Komplexitätsfaktor zu sehen. Darüber hinaus spielt die Art des je- weiligen Auxiliars V2, d. h. des obersten infiniten Regens, eine Rolle. Bei den dreigliedrigen Verbalkomplexen gilt das Prinzip, d. h. die Abfolge V3V2, ab Mitte des 17. Jhs. fast ausnahmslos. Bei den viergliedrigen Verbalkomplexen konkurrieren im 17. Jh. noch die sich dem Prinzip widersetzende Abfolge (V2V4V3 (s. den heutigen Komplex IX c: (soll) haben kommen können) und die dem Prinzip entsprechende Abfolge V4V3V2. Bei den Komplexen mit drei Infinitiven (den Ersatzinfinitiv einge- schlossen) gibt es einen deutlichen Unterschied in Abhängigkeit davon, ob V2 haben oder ein Modalverb ist. In den 5 Komplexen mit Modalverb als V2 (von VIII a bis IX b, z. B. (wird) sehen lassen dürfen) ist die Rechts-determiniert- links-Abfolge der Konkurrenz (V2V4V3) nur leicht unterlegen. Im Komplex IX c mit haben als V2 ((soll) haben kommen lassen) ist sie dagegen gar nicht belegt. Bis Mitte des 19. Jhs. wird die Rechts-determiniert-links-Abfolge in allen Komplexen mit Ausnahme des Komplexes IX c dominant, ab Mitte des 19. Jhs. gilt sie ausnahmslos. In IX c gilt dagegen ausnahmslos die Abfolge V2V4V3. 3. Das Prinzip der strukturellen Äquivalenz (5 das Äquivalenzprinzip): Die Serialisierung eines Verbalkomplexes wiederholt sich auf höheren Kom- plexitätsstufen als Serialisierung des infiniten Feldes:4 (… dass sie) kommen kann hat kommen können (IV) soll haben kommen können (IX c) (… dass der Ball) getroffen wird getroffen worden ist (I) getroffen worden sein soll (VII b) muss getroffen worden sein sollen (X) hat müssen getroffen worden sein sollen (XI) Dieses Prinzip ist von 1450 bis heute uneingeschränkt gültig. 3. Serialisierung im Verbalkomplex 2 in der Gegenwartssprache (am Beispiel der Engel’schen Grammatik) Auf der Folie der obigen historischen Skizze soll nun die empirische, methodi- sche und theoretische Viabilität der einschlägigen Darstellung in der deutschen Grammatik von Ulrich Engel (1988, 4452448) geprüft werden. Dabei handelt 4 Zu den Typen X und XI s. Tabelle 3 in Abschnitt 4 unten. 324 ZGL 29.2001, 3192331 es sich nicht nur um eine bekannte und anerkannte, sondern auch um die ausführlichste Behandlung des Problems in einer Grammatik der Gegenwarts- sprache. Engels Grundregel (ebd., 445) lautet (sinngemäß, kein Zitat): Die Seriali- sierung bildet die Abhängigkeitsstruktur im Verbalkomplex ab: Kippt man das Stemma des Verbalkomplexes um 90 Grad nach rechts, so erhält man die korrekte Abfolge der Verbformen (vgl. in diesem Sinne die Abbildung 1 oben). Hinsichtlich dieser Grundregel ist Engel sehr zuversichtlich (ebd., 446): „Nur in wenigen Fällen versagt diese Grundregel.“ Er ist überzeugt davon, dass sich die wenigen Ausnahmen mit zwei Zusatzregeln 2 der 1. und der 2. Infinitivre- gel 2 erfassen lassen: Die 1. Infinitivregel lautet (ebd., 447): Sind die (laut Grundregel) drei ersten Elemente des Verbalkomplexes infinitivför- mig, so treten alle darauffolgenden verbalen Elemente in umgekehrter Reihenfolge an die Spitze des Verbalkomplexes. Die 2. Infinitivregel, die die 1. in gewisser Weise einschränke, lautet (ebd., 447): Sind die (laut Grundregel) zwei ersten Elemente des Verbalkomplexes infinitivför- mig, so treten alle darauffolgenden verbalen Elemente in umgekehrter Reihenfolge an die Spitze des Verbalkomplexes, sofern 2 das zweite infinitivförmige Element das Partizip II eines Modalverbs ist oder 2 das zweite infinitivförmige Element das Partizip II eines anderen Verbs ist und an dritter Stelle ein weiterer Infinitiv folgt (dieser wird dann mit umgestellt). Die zwei Zusatzregeln reflektieren Engels Ansicht, dass die wenigen Ausnah- men in erster Linie Komplexe mit drei Infinitiven 2 einschließlich Ersatzinfini- tiven 2 betreffen. In zweiter Linie soll es um Komplexe gehen, deren Zweitin- finitiv (5 der jeweils zweite von links in der Abfolge laut Grundregel) ein Ersatzinfinitiv ist. Dabei soll es jedoch einen Unterschied zwischen Modal- und AcI-Verben geben. Schauen wir uns zuerst Engels dreigliedrige Beispiele an, die alle Kom- plexe mit zwei Infinitiven sind:5 (… dass sie ihn) reden lassen will (VI b) (sehen lassen darf) (… dass er) kommen dürfen will (VI a) (… dass er es) (unterscheiden können soll) Mit diesen Beispielen argumentiert Engel für die Grundregel. Dabei ist die heutige Serialisierungsnorm bei VI a nicht die von Engel angegebene Abfolge, sondern die Voranstellung des Finitums (s. hierzu die Testergebnisse in Härd 1981, 160): (… dass er) will kommen dürfen (VI a) (… dass er es) (soll unterscheiden können) 5 Um die Engel’schen Beispiele schneller einordnen zu können, werden sie in Klam- mern in die jeweiligen Verbformen unserer Tabelle ,übersetzt‘. 325V. A´gel, Gegenwartsgrammatik und Sprachgeschichte Dasselbe gilt für den von Engel nicht herangezogenen Komplex V a: (… dass er es) wird einnehmen können (V a) V a und VI a widersprechen sowohl der Grundregel als auch den zwei Zusatz- regeln. Ein weiteres ,Argument‘ von Engel für die Grundregel ist, dass bei zwei infinitivförmigen Verben nur das Partizip der Modalverben (der Ersatzinfini- tiv) die Umstellung bewirke, das der AcI-Verben nicht:6 (… dass sie) hat kommen wollen (IV a) (hat kommen können) aber (… dass sie ihn) reden lassen / reden hören / kommen sehen hat (IV b) (kommen lassen hat) Beim Komplex IV macht Härd keinen Unterschied, ob der Ersatzinfinitiv (5 V2) ein Modalverb oder ein AcI-Verb ist. Aus gutem Grund nicht. Denn ein solcher lässt sich (a) weder historisch (b) noch im heutigen Deutsch belegen: (a) In seinem letzten Untersuchungszeitraum (184121975) hat Härd (1981, 145) nämlich 986 Belege des Komplexes IV, davon 985 mit Voranstel- lung und eine mit Nichtrealisierung des Finitums.7 Es gibt also keinen einzigen Beleg mit Nachstellung, obwohl Modal- und AcI-Verben als V2-Ersatzinfini- tive gleichermaßen belegt sind. (b) Härd hat auch eine Informantenbefragung (mit 390 Journalisten von 47 Zeitungen/Zeitschriften) durchgeführt. Dabei ließ er die 8 dreigliedrigen Komplexe testen. Beim Typ IV war der getestete Verbalkomplex hatte kommen lassen, also eine Kette mit einem AcI-Verb als V2. Das Ergebnis (ebd., 159): Für 67,4 % der Vpn ist nur die Voranstellung korrekt, die Nachstellung falsch; für 21,3 % der Vpn ist die Voranstellung korrekt und die Nachstellung mög- lich.8 Die normale Abfolge beim Komplex IV b ist also: (… dass sie ihn) hat reden lassen / reden hören / kommen sehen (IV b) (hat kommen lassen) Das bedeutet, dass IV b mit keiner der Engel’schen Regeln erfasst werden kann. 6 Deshalb führen wir hier die differenzierenden Siglen IV a und IV b ein. 7 Härd benutzt den Terminus Weglassung für Nichtrealisierung. 8 Unter den 8 Befragungen ist dies das zweiteindeutigste Ergebnis. Zum Vergleich das eindeutigste (Komplex I: getötet worden wäre 5 getroffen worden ist): für 78,2 % der Vpn ist nur die Nachstellung korrekt und die Voranstellung falsch; für 19,7 % der Vpn ist die Nachstellung korrekt und die Voranstellung möglich. Aus dem Vergleich der beiden Ergebnisse ergibt sich m. E. ein empirisch zwingender Schluss: Wenn jemand bei dem Komplex IV b die Abfolge (… dass sie ihn) kommen lassen hat zur Norm erhebt, müsste er konsequenterweise beim Komplex I die Abfolge (… dass der Ball) ist getroffen worden ebenfalls zur Norm erheben. 326 ZGL 29.2001, 3192331 Dass bei zwei infinitivförmigen Verben nur das Prinzip der Modalverben (der Ersatzinfinitiv) die Umstellung bewirke, diese Aussage „bedarf“ auch nach Engel „der Korrektur“ (1988, 447). Doch hat er dabei nicht den dreiglie- drigen Komplex IV, sondern den viergliedrigen IX c im Sinn: (… dass sie es) *landen sehen haben will > will haben landen sehen (IX c) *kommen lassen haben will > will haben kommen lassen (*kommen lassen haben soll > soll haben kommen lassen) Mit IX c soll der zweite Teil der 2. Infinitivregel illustriert werden. Die Voranstel- lung von V1 und V2 (in dieser Reihenfolge) hat jedoch weder mit Ersatzinfiniti- ven noch damit zu tun, dass ein fälschlicherweise diagnostizierter Unterschied zwischen dem Verhalten von AcI-Verben und Modalverben im dreigliedrigen Komplex IV im viergliedrigen Komplex IX c aufgehoben werden würde. Die ,doppelte‘ Voranstellung ergibt sich aus dem seit Jahrhunderten gültigen Äqui- valenzprinzip, nach dem das strukturelle Äquivalent von IV IX c ist 2 natürlich unabhängig davon, ob V2 im Komplex IV ein Modalverb oder ein AcI-Verb ist: (… dass sie) hat kommen können (IV a) soll haben kommen können (IX c) (… dass sie ihn) hat kommen lassen (IV b) soll haben kommen lassen (IX c) Außer IX c untersucht Engel noch einen viergliedrigen Typus, den Komplex IX a. Laut Grundregel müsste hier die Abfolge sein: (… dass er sie) *kommen sehen wollen hat (*sehen lassen dürfen hat) (IX a) Nach Engel gibt es hier jedoch zwei korrekte Serialisierungen:9 (… dass er sie) hat kommen sehen wollen (hat sehen lassen dürfen) (IX a1) (… dass er sie) hat wollen kommen sehen (hat dürfen sehen lassen) (IX a2) Was IX a1 betrifft, dies ist der Komplex, der die Geltung der 1. Infinitivregel unter Beweis stellen soll. Dazu drei Bemerkungen: (a) Bei den Komplexen VIII b und VIII c gibt es Partizipien und Infinitive gemischt, und es gibt keinen Ersatzinfinitiv. Das Finitum ist trotzdem voran- gestellt: (… dass es) wird verwirklicht werden können (VIII b) (… dass es) soll verwirklicht werden können (VIII c) (b) Die 1. Infinitivregel trifft auf VIII a auch nicht zu: (… dass es) hat verwirklicht werden können (VIII a) (c) Bei IX a1 entspricht die Serialisierung zwar der 1., jedoch nicht der 2. Infi- nitivregel. Da nach Engel die 1. Infinitivregel „eine gewisse Einschränkung 9 Deshalb müssen auch hier differenzierende Siglen 2 IX a1 und IX a2 2 eingeführt werden. 327V. A´gel, Gegenwartsgrammatik und Sprachgeschichte durch die 2. Infinitivregel“ (ebd., 447) erfährt, stellt sich hier die methodische Frage: Bedeutet Einschränkung auch Aufhebung? Was IX a2 betrifft, sehe ich zwei Probleme. Einerseits entspricht die Seriali- sierung weder der 1. noch der 2. Infinitivregel. Der 2. auch nicht, da ja der Zweitin- finitiv laut Grundregel (sehen) kein Ersatzinfinitiv ist. Andererseits stellt die Form hat wollen kommen sehen (hat dürfen sehen lassen) im Sinne des Äquivalenzprin- zips nicht die heutige Norm dar. Denn das dreigliedrige Äquivalent von IX a ist ja VI b mit nachgestelltem Modalverb (kommen sehen will 5 sehen lassen darf). En- gel führt hier also die Nebenform als Beispiel gegen die eigene Grundregel an. 4. Fazit: Viabilität Wie lassen sich resümierend die drei Engel’schen Regeln und deren Viabilität beurteilen? Um die Beantwortung dieser Fragen zu erleichtern, habe ich einerseits in Tabelle 2 versucht, Engels Analyse auf die Härd’schen Typen abzubilden.10 Andererseits soll anhand von Tabelle 3 darauf aufmerksam gemacht werden, dass sich Regelformulierungen mit der Erfassung von 16 Typen nicht begnü- Tabelle 2 Typ Beispiel Abfolge Norm G Inf1 Inf2 I getroffen worden ist V3V2V1 1 1 0 0 II gehalten haben wird V3V2V1 1 1 0 0 III verwirklicht werden kann V3V2V1 1 1 0 0 IV hat kommen lassen/können V1V3V2 1 2 0 1 IV a hat kommen wollen V1V3V2 1 2 0 1 IV b reden lassen hat V3V2V1 2 1 0 0 V a wird einnehmen können V1V3V2 1 2 0 2 V b fortkommen lassen wird V3V2V1 1 1 0 0 (wird fortkommen lassen) VI a soll unterscheiden können V1V3V2 1 2 0 2 (unterscheiden können soll) VI a kommen dürfen will V3V2V1 2 1 0 0 VI b sehen lassen darf (darf sehen lassen) V3V2V1 1 1 0 0 VI b reden lassen will V3V2V1 1 1 0 0 VII a getroffen worden sein wird V4V3V2V1 1 1 0 0 VII b getroffen worden sein soll V4V3V2V1 1 1 0 0 VIII a hat verwirklicht werden können V1V4V3V2 1 2 2 2 VIII b wird verwirklicht werden können V1V4V3V2 1 2 2 2 VIII c soll verwirklicht werden können V1V4V3V2 1 2 2 2 IX a hat sehen lassen dürfen V1V4V3V2 1 2 1 2 IX a1 hat kommen sehen wollen V1V4V3V2 1 2 1 2 IX a2 hat wollen kommen sehen V1V2V4V3 2 2 2 2 IX b wird sehen lassen dürfen V1V4V3V2 1 2 1 2 IX c soll haben kommen lassen/können V1V2V4V3 1 2 2 1 IX c will haben landen sehen V1V2V4V3 1 2 2 1 328 ZGL 29.2001, 3192331 gen können. Auch wenn fünf- und sechsgliedrige Typen äußerst selten vor- kommen, ist es nicht abzuleugnen, dass sie möglich sind (s. X und XI). Dar- über hinaus sind weitere viergliedrige Typen, die bei Härd nicht vorkommen (s. IX d und IX e), ebenfalls denkbar. Tabelle 3 Typ Beispiel Abfolge Norm G Inf1 Inf2 IX d soll werden einnehmen können V1V2V4V3 1 2 2 2 IX e hat sollen unterscheiden können V1V2V4V3 1 2 2 2 X muss getroffen worden sein V1V5V4V3V2 1 2 2 2 sollen XI hat müssen getroffen worden V1V2V6V5V4V3 1 2 2 2 sein sollen Wie lassen sich nun die drei Engel’schen Regeln beurteilen? Grundregel: 1. Angesichts der Tatsache, dass sich Engel insgesamt mit nur 5 (IV, VI a, VI b, IX a, IX c) der 16 Härd’schen Typen beschäftigt, über- rascht nicht, dass es insgesamt mehr Ausnahmen von der Grundregel gibt als regelkonforme Komplexe (7 regelkonforme Komplexe und 9 Ausnahmen). Bezieht man die in Tabelle 3 angeführten zusätzlichen Typen mit ein, kommt man auf 13 ,Ausnahmekomplexe‘. 2. Umso überraschender ist es, dass es unter den von Engel untersuchten 5 Typen lediglich einen einzigen gibt (VI b), auf den die eigene Grundregel zutrifft. 1. Infinitivregel: Mit dieser Regel kann Engel IX a (IX a1) erfassen. Hätte er nicht lediglich 2 der wenigstens 10 möglichen viergliedrigen Typen unter- sucht bzw. auch höhergliedrige Typen berücksichtigt, hätte er feststellen kön- nen, dass 1. die Voranstellung nichts mit Infinitivförmigkeit (s. VIII a-b-c, X und XI), aber 2. sehr viel mit dem Auxiliarfaktor zu tun hat, da ja alle Voran- stellungskomplexe einen modalen oder einen AcI-Infinitiv an letzter Stelle haben. Auch die 2. Infinitivregel stellt eine inkorrekte Generalisierung dar. Denn: Einerseits sind es nicht die Ersatzinfinitive, die die Voranstellung bewirken. Man denke an die Komplexe V a und VI a. Entsprechend muss auch bei den viergliedrigen strukturellen Äquivalenten von V a und VI a 2 ich habe diese als IX d und IX e gekennzeichnet 2 auch die ,doppelte‘ Voranstellung normal sein, obwohl das jeweils zweite infinitivförmige Element natürlich weiterhin kein Ersatzinfinitiv ist (der Komplex IX d enthält überhaupt keinen Ersatzinfi- nitiv): 10 Halbfett gesetzt sind diejenigen Typen aus Tabelle 1, die Engel analysiert hat. Kursi- viert subsumiert sind diesen insgesamt 5 Typen Engels eigene Beispiele. Untersucht wird dabei, ob die Abfolge der heutigen Serialisierungsnorm (5 Norm), Engels Grundregel (5 G) und Infinitivregeln (5 Inf1 und Inf2) entspricht. 329V. A´gel, Gegenwartsgrammatik und Sprachgeschichte (… dass er es) wird einnehmen können (V a) soll werden einnehmen können (IX d) (… dass er es) soll unterscheiden können (VI a) hat sollen unterscheiden können (IX e) Oder man denke an unsere fünf- und sechsgliedrigen Einführungsbeispiele, die die Typen X und XI in Tabelle 3 repräsentieren und in denen das zweite Ele- ment im Engel’schen Sinne (worden) ein Partizip ist (übrigens das erste (genom- men) auch): (… weil der Sack auf die Schultern) muss genommen worden sein können. (… weil der Sack auf die Schultern) hat müssen genommen worden sein können. Andererseits kann nicht von einem Unterschied zwischen dem Verhalten von Modalverben und AcI-Verben ausgegangen werden, der ab Viergliedrigkeit aufgehoben werden würde. Auf Grund des Gesagten lässt sich die Viabilität der Engel’schen Darstel- lung wie folgt beurteilen:11 1. Empirisch nicht oder nicht ganz viabel dargestellt sind die Komplexe IV, VI a und IX a. Dafür kann man in erster Linie die fehlende Bezugnahme auf das Äquivalenzprinzip verantwortlich machen (s. 3(b) unten). 2. Methodisch nicht viabel ist insbesondere die Redeweise von der Umstellung des Finitums bei Komplexen, deren Finita nie im Verlaufe der deutschen Sprachgeschichte nachgestellt waren. Warum sollte man eine Struktur x aus einer Struktur y ableiten, wo doch die Struktur x nie als Struktur y in Erscheinung getreten ist und tritt? Methodisch nicht viabel ist des Weiteren die Unterscheidung zwischen dem Verhalten von Infinitiven und Ersatzinfi- nitiven und die Differenzierung zwischen dem Verhalten von Modalverben und AcI-Verben als Zweitinfinitiven. 3. Theoretisch teilweise bzw. gänzlich nicht viabel sind die Regeln (inklusive der in ihnen enthaltenen ,Erklärungen‘): (a) Das Problem mit der Grundre- gel ist, dass sie das Rechts-determiniert-links-Prinzip in zweifacher Hinsicht übergeneralisiert. Einerseits formuliert Engel die Regel unabhängig von der Komplexität (5 der Anzahl der Glieder im Verbalkomplex), andererseits bezieht er das Prinzip auf den gesamten Verbalkomplex. In Wirklichkeit gilt jedoch das Prinzip nur für den infiniten Teil der Komplexe (für 16 der insgesamt 20 angeführten Typen), wobei es alle dreigliedrigen Komplexe erfasst, während es bei Viergliedrigkeit ,nur noch‘ eine tendenzielle Geltung hat (7 von 10). (b) Während die Grundregel theoretisch wenigstens teilweise viabel ist, da sie ein historisch nachweisbares Steuerungsprinzip ,lediglich‘ 11 Vorsichtshalber möchte ich betonen, dass nicht alles, was an Engels Darstellung kritisiert worden ist, zur Viabilitätsproblematik gehört. Beispielsweise könnte man sehr wohl zwei Zusatzregeln aufstellen, die zwar nicht viabel sind, deren Verhältnis jedoch methodisch geklärt ist. 330 ZGL 29.2001, 3192331 verabsolutiert, sind die zwei Zusatzregeln theoretisch überhaupt nicht via- bel, da sie auf gar keine historisch nachweisbaren Steuerungsprinzipien re- kurrieren, sondern Ad-hoc-,Erklärungen‘ darstellen. Besonders augenfällig ist dabei die Nichtberücksichtigung des Auxiliarfaktors, schließlich sind die Modalverben 2 egal, ob sie als V1, V2 oder gar als V3 (s. XI) in Erschei- nung treten 2 immer nachgestellt.12 Des Weiteren vermisst man die Bezug- nahme auf das Äquivalenzprinzip (s. auch Härd 1998, 160). Dieses Prinzip stellt nicht nur ein historisch konstantes Steuerungsprinzip dar, sondern auch ein leicht handhabbares Instrument, mit dem sich Normpostulate überprüfen lassen. Alle drei empirisch zweifelhaften Normsetzungen von Engel (vgl. die Minuswerte in der Normspalte von Tabelle 2) entpuppen sich dabei als strukturell nichtäquivalente Abfolgen:13 (… dass sie ihn) ??kommen lassen hat (IV b) soll haben kommen lassen (IX c) (… dass er es) ?unterscheiden können soll (VI a) hat sollen unterscheiden können (IX e) (… dass sie ihn) sehen lassen darf (VI b) ?hat dürfen sehen lassen (IX a2) 5. Schluss In der Einleitung war von der zum Teil selbstverschuldeten theoretischen Un- mündigkeit der Sprachgeschichtsforschung die Rede. Was ich gezeigt zu haben hoffe, ist, dass die synchrone Grammatikschreibung theoretisch und metho- disch nicht weniger unmündig ist, nur dass sie sich dessen noch nicht voll bewusst ist. Gegenwartsgrammatiker, die die sprachgeschichtlichen Abläufe nicht kennen oder sich für diese nicht interessieren, stilisieren nicht nur nach- weisbare Grammatikalisierungsprozesse zur Grammatik hoch (s. auch Leiss 1992, 157), sondern sie konstruieren mitunter auch grammatische Systeme, die außerhalb nachweisbarer Grammatikalisierungen liegen. In dieser Hinsicht stellen Engels nicht viable Überlegungen zur Serialisierung im Verbalkomplex eher die Regel als die Ausnahme dar. Die Aufgabe, die Gegenwartsgrammatik auf sichere historische Fundamente zu stellen, betrifft uns alle. Sprachgeschichtsforschung und synchrone Grammatikschreibung haben also einander nichts vorzuwerfen, ja, sie sind sogar aufeinander angewiesen. 12 In Komplexen, in denen es zwei Modalverben gibt, kann natürlich nur das eine nachgestellt werden. Dieses ist immer das dependenziell tiefer gestellte, also V2, wenn das Finitum auch ein Modalverb ist, und V3, wenn auch V2 ein Modalverb ist. 13 Die mit einem einfachen Fragezeichen versehenen Engel’schen Abfolgen existieren wenigstens als Nebennormen. Dagegen ist IV b nicht einmal als Nebennorm nach- weisbar (doppeltes Fragezeichen). 331V. A´gel, Gegenwartsgrammatik und Sprachgeschichte Wir müssen die Ärmel gemeinsam hochkrempeln, um die Defizite auf beiden Seiten abzubauen. Und dazu gehört als Erstes, dass wir uns gegenseitig rezi- pieren. 6. Literatur A´gel, Vilmos: Überlegungen zum Gegenstand einer radikal konstruktivistischen Lingui- stik und Grammatik. In: Ders./Brdar-Szabo´, Rita (Hrsg.): Grammatik und deut- sche Grammatiken. Tübingen 1995 (LA 330), 3222. Engel, Ulrich: Deutsche Grammatik. Heidelberg 1988. Givo´n, Talmy: From Discourse to Syntax: Grammar as a Processing Strategy. In: Ders. (Hrsg.): Syntax and Semantics. Vol. 12: Discourse and Syntax. 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