Wilfried Hansmann Das Kasseler Realgymnasium II in den 1920er Jahren Einleitung In diesem Beitrag geht es um die Untersuchung eines Schulentwicklungsprozesses, der in den 1920er Jahre an einem Kasseler Gymnasium stattfand. Über die Ereig- nisse um Schulleiter August Fricke und seiner ‚roten Anstalt’ liegen bisher nur einzelne Berichte vor, aber keine Darstellung im Zusammenhang mit der Schul- entwicklungsdiskussion. Studierende im erziehungswissenschaftlichen Kernstudi- um der Universität Kassel haben in mehreren Seminarveranstaltungen Dokumen- te über die Ereignisse am Kasseler Realgymnasium II in den Jahren zwischen 1912 – 1936 zusammengetragen, Interviews bzw. Gruppengesprächen mit ehemaligen Schülern der Schule geführt und grundsätzliche Fragen zur Evaluation von Schul- entwicklungsprojekten diskutiert.1 Im folgenden wird zunächst die Geschichte des Kasseler Realgymnasiums (RG II) kurz dargestellt (Kap. 1), um vor diesem Hin- tergrund Handlungsstrategien einzelner Akteure und diesbezügliche Handlungs- Struktureffekte im Hinblick auf die Entwicklung der Schule näher zu beleuchten 1 Die Arbeit in den Seminaren orientierten sich an Prinzipien des ‚Forschenden Lernens’ (vgl. Dirks/Hansmann 2002). Wilfried Hansmann 28 (Kap. 2). Zum Abschluss sollen einige grundsätzliche Überlegungen zur Untersu- chung von (historischen) Schulentwicklungsprojekten erörtert werden (Kap. 3). 1. Zur Geschichte des Kasseler Realgymnasiums II (1912 – 1936) Das Kasseler Realgymnasium II wurde im Jahre 1912 auf Beschluss des Stadtrates im vormaligen Schulgebäude des 1869 gegründeten Realgymnasiums eingerichtet2, um die stark angestiegene Nachfrage nach höherer Schulbildung zu befriedigen. Die in der Nähe des Hauptbahnhofes gelegene Lehranstalt erhielt moderne Fach- räume für den naturwissenschaftlichen Unterricht und für den Unterricht in Kunst und Musik sowie eine Sporthalle und eine Schulbibliothek. Nach dem Ers- ten Weltkrieg beherbergte sie Jahr für Jahr ca. 600 Schüler, die sich hauptsächlich aus den Schichten des kleinen und mittleren Bürgertums rekrutierten (selbständige Gewerbetreibende, einfache bzw. mittlere Beamte und Angestellte). Als Leiter der Schule mit ihren 20 Klassen und rund 25 Oberlehrern bzw. Gymnasialprofesso- ren3 fungierte anfänglich Prof. v. Hanxleden, der 1927 von Oberstudienrat August Fricke abgelöst wurde.4 Fricke hatte das Lehrerseminar in Einbeck und anschlie- ßend ein Aufbaustudium in den Fächern Deutsch, Geschichte, Erdkunde und Pädagogik an der Universität Göttingen absolviert und gehörte dem Realgymnasi- um seit seiner Gründung an.5 Seine reformpädagogischen Orientierungen teilten auch andere Lehrkräfte der Schule, so bspw. Gymnasialprofessor Askevold (1875- 1951), der ebenfalls seit 1912 am Realgymnasium unterrichtete. Daneben gab es Lehrer, die gemäßigte bzw. radikale linke Positionen vertraten oder die sich, wie z.B. Hein Herbers (1895-1968), aufgrund ihrer Erlebnisse im Ersten Weltkrieg dem Pazifismus zugewandt hatten. Auch innerhalb der für das Realgymnasium II zuständigen Schulaufsicht ge- langten ab Mitte der 1920er Jahre reformpädagogisch orientierte Kräfte in Lei- tungspositionen: 1927 übernahm Heinrich Deiters (1887-1966), bis dahin Gymna- sialdirektor in Höchst am Main, das Dezernat für die Höheren Schulen im Pro- vinzialschulkollegium Hessen-Nassau mit Dienstsitz in Kassel. Er war nach dem Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie 1912 in den Berliner Schuldienst eingetreten und nach dem Krieg in engen Kontakt zur Lichterfelder 2 Das Kasseler Realgymnasium hatte 1912 ein neues Schulgebäude in der Wilhelmshöher Allee bezogen, das 1943 komplett zerstört wurde. Auf dem Schulgelände errichtete die Stadt nach dem Krieg einen Neubau für die ‚Jacob-Grimm-Schule’, während das Realgymnasium in das Gebäude der 1945 geschlossenen Oberrealschule I (Adolf-Hitler-Schule) in der Kölnischen Straße umsiedelte. 1956 gab sich diese Schule den Namen Albert Schweitzers. 3 1925 wurde der Titel ‚Studienrat’ eingeführt. 4 v. Hanxleden übernahm 1927 die Leitung des Realgymnasiums I in der Wilhelmshöher Allee. 5 Nach der Staatsprüfung für das Lehramt an Gymnasien war Fricke zunächst ab 1909 Seminarlehrer in Lüdenscheid, von wo aus er am 1. April 1912 an das Realgymnasium II in Kassel wechselte. Sein pädagogischer Leitspruch lautete: „Die Schule ist nicht der einzige Weg zur Tüchtigkeit. Wie vieles wird im Leben gelernt, was die Schule nicht geben kann.“ Fricke war nach 1945 als Stadtschulrat für die Demokratisierung und den Wiederaufbau des Kasselers Schulwesens zuständig. Das Kasseler Realgymnasium II in den 1920er Jahren 29 Kadettenanstalt gekommen – ein Projekt politisch-republikanischer Bildung des preußischen Kultusministers Haenisch, das als ‚Bildungsstätte einer neuen Jugend’ reformpädagogische Vorstellungen realisieren sollte. Seit 1919 Mitglied des ‚Bun- des entschiedener Schulreformer’ von Paul Oestreich und seit 1920 Mitglied der SPD bezog Deiters Position gegen die „Stoff, Buch- und Lernschule“ der Kaiser- zeit und vertrat die Auffassung, dass „die Aufgaben der Schule vom Kinde aus zu sehen und unter jugendpsychologischen Gesichtspunkten zu lösen“ seien (Deiters 1928, 5). Sein Arbeitsgebiet in Kassel umfasste neben der Schulaufsicht und der Leitung der Assessorenprüfungen die Förderung und Lenkung von schulischen Reformversuchen.6 1933 wurde Deiters ebenso aus dem Amt entfernt7 wie der Leiter der Kasseler Regierungsbehörde, Regierungspräsident Dr. Ferdinand Frie- densburg. Dieser hatte während seiner Tätigkeit ein besonderes Interesse für Schulfragen entwickelt, sich um Schulgebäude, die innere Einrichtung der Schulen und die Ausstattung der Klassen gekümmert und bei Schulbesichtigungen sogar an Unterrichtsstunden teilgenommen. Als Mitglied der Deutschen Demokrati- schen Partei versuchte er, die demokratischen Kräfte zu stärken sowie den repub- likanischen Gedanken zu verbreiten. Während Deiters nach seiner Entlassung unbehelligt blieb und wissenschaftlichen Studien nachgehen konnte,8 wurde Frie- densburg in Gestapo-Haft genommen.9 Das Kasseler RG II hatte im Anschluss an die Richtlinien der preußischen Schulreform (vgl. Richert 1925) den Status einer Reformanstalt10 zur besonderen Pflege der modernen Fremdsprachen mit der Sprachenfolge Französisch, Eng- lisch, Latein (Frankfurter System) erhalten. Anders als in der Zeit der Lehrpläne alter Art gaben diese Richtlinien der einzelnen Schule ein größeres Maß an Frei- heit, legten aber auch dem Lehrerkollegium die Pflicht auf, innerhalb des vorgege- benen Rahmens den Lehrstoff selbst auszuwählen. Im Mai 1929 informierten Schulleitung, Lehrerkollegium, Eltern und Schüler erstmals die Öffentlichkeit darüber, wie sie diese neue Freiheit genutzt hatten. Anstelle der üblichen Jahresbe- richte wurden in einem Jahrbuch unter dem Titel „Frische Fahrt“ neben Berichten aus dem Schulleben eine Vielzahl der in diesen Jahren begonnenen schul- und unterrichtsbezogene Schulentwicklungsmaßnahmen vorgestellt. In seiner Vorrede zum Jahrbuch nannte Schulleiter Fricke die Zielsetzungen dieser Vorhaben: 6 Deiters hat ein Kapitel seiner Autobiographie den Kasseler Berufsjahren gewidmet (Deiters 1953/1989, 125-154). 7 Im Februar 1933 führte die ‚Kasseler Post’ einen scharfen Angriff gegen Deiters, der im März zunächst bis auf weiteres beurlaubt und im September desselben Jahres ganz aus dem Schuldienst entlassen wurde. 8 Deiters arbeitete nach 1933 u.a. an seiner romanistischen Habilitationsschrift. Er war Verfechter des Einheitsschulgedankens (vgl. Deiters 1928, 28), den er beim Wiederaufbau des Berliner Schulwe- sens nach 1945 zu verwirklichen suchte. 1947 erhielt er als Nachfolger Eduard Sprangers den Päda- gogik-Lehrstuhl an der Berliner (Humboldt-)Universität. 9 Friedensburg war nach Ende des Zweiten Weltkrieges Bürgermeister von Groß-Berlin (bis 1951), später Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung und Mitglied des Deutschen Bundestages. 10 Reformanstalten, auch als Reformgymnasien oder Reformrealgymnasien bezeichnet, waren höhere Schulen, die auf der Unterstufe statt Latein eine neuere Fremdsprache betrieben. Wilfried Hansmann 30 „Achtung vor dem Menschrecht und der eigenen Art jedes Volksgenossen, Gleichberechtigung aller, Anteil aller an der Arbeit und den Kulturgütern des Volkes, Gemeingeist und Brudersinn.“ (Jahrbuch 1929, 4) Oberschulrat Deiters schloss sich dieser Präambel mit einem Grußwort an, das er unter das Motto stellte: „Ein Mensch, dem die Kraft zu eigenem Denken und Urteilen erhalten geblieben ist, vermag auch das Eigenrecht des anderen und die Gesetze der Sache zu er- kennen, um jenes zu achten und diese zu befolgen.“ (Jahrbuch 1929, 5) Im folgenden seien einige Schulentwicklungsprojekte des Kasseler Realgymnasi- ums II in der gebotenen Kürze vorgestellt: Neben der Einrichtung einer Schüler- selbstverwaltung sowie regelmäßiger Lehrersprechstunden und Elternversammlungen ist als wichtigstes Projekt die Einbindung der Kasseler Waldschule in den alltäglichen Unterrichtsbetrieb zu nennen. In der seit 1907 am westlichen Stadtrand Kassels bestehenden Einrichtung11 erhielten Schüler der Klassen Sexta und Quinta von 1924 an während vier Wochen einen naturnahen Unterricht. Er war ganztätig organisiert und begann morgens um acht Uhr mit Freiübungen, einem Morgen- kreis und dem gemeinsamen Frühstück. Nach dem Vormittagsunterricht bspw. im Zeichnen oder in der Biologie fand das Mittagessen statt, das mit einer gleichzeitig anwesenden Klasse einer Höheren Mädchenschule eingenommen wurde, um Formen der koedukativen Erziehung zu erproben. Im Anschluss an die obligatori- sche Mittagsruhe wurden bis zum Kaffeetrinken Arbeitsaufgaben erledigt und die täglichen Eintragungen in die Waldschul-Tagebücher vervollständigt. Mit kleine- ren Unternehmungen oder Spielen bspw. im nahegelegenen Wald unter Leitung der Klassenlehrer und dem gemeinsamen Abendessen endete der Tag in der Waldschule. Ein ähnlicher Tagesablauf kennzeichnete die Landschulaufenthalte auf der Insel Sylt, die erstmals im Sommer 1924 durchgeführt und als feste Institution in den nachfolgenden Jahren ausgebaut wurden. Die Einrichtung eines monatlichen Wandertags, der von Zeit zu Zeit in Abspra- che mit den Kasseler höheren Mädchenschulen zur Beförderung der Koedukation stattfand,12 der Aufbau eines Bootshauses, das mit der sog. ‚Fuldaschule’ verbunden wurde (Lehrer erteilten an einem Tag der Woche eine Art ‚Arbeitsunterricht’ am Ufer der Fulda) sowie die Umgestaltung des Fremdsprachenunterrichts, der die Aus- bildung kommunikativer Kompetenzen der Schüler (Sprache im Verwendungszu- sammenhang) zum Ziel hatte, waren weitere Reformprojekte des RG II. Über das 11 Waldschulen, auch Freiluftschulen genannt, entstanden im Anschluss an die erste Gründung einer solchen Einrichtung im Jahre 1904 in Berlin-Charlottenburg. Sie sollten den Gesundheitszustand von Kindern in Großstädten verbessern helfen und ähnlich wie in Landerziehungsheimen den Schulerfolg in der Verbindung mit der Natur und ihren heilenden Kräften befördern. In der Kasseler Einrichtung hatte auch der Arbeitsunterricht eine wichtige Funktion. Die Schule besaß bspw. eine Hobelbank, in deren Bedienung ein Tischlermeister einführte. 12 Zum Problem der Geschlechtererziehung finden sich im Jahrbuch 1929 programmatische Aufsät- ze eines Oberprimaners (S. 110-111) und von Studienrat H. Gersch (S. 112-116). Das Kasseler Realgymnasium II in den 1920er Jahren 31 verbindliche Betriebspraktikum, das in Industrieunternehmen Kassels oder der Um- gebung durchgeführt wurde und die Schüler frühzeitig an das „wirkliche Leben“ heranführen sollte, ist im Jahrbuch ein Bericht des Elternbeiratsmitglieds, Dr. G. Hägermann, zu lesen: „Die Schüler hatten eine Chamottesteinfabrik in Großalmerode besucht. Als ich in die Klasse trat, unterhielten sie sich darüber. Zunächst über das, was sie gese- hen hatten. Durch Aufzeigung der Einzelheiten führte der Lehrer die Schüler zu dem Begriff des Produktionskapitals, der Leitung des Unternehmens, zu den Fragen der Arbeiterlöhne und ihres Zustandekommens. […] Hier wird trockene Wissenschaft lebendig, weil sie aus praktischer Anschauung und dem eigenen Denken entwickelt wird.“ (Jahrbuch 1929, 49) Die Schulentwicklungsmaßnahmen des RG II waren in Absprache mit dem neu- gegründeten Schüler- und Elternrat eingeleitet worden, wurden aber in bestimm- ten Kreisen der Kasseler Öffentlichkeit mit einigem Argwohn beobachtet, und bald galt die Schule in Kassel als „Rote Anstalt“. 1931 kam es zu einer ersten Kampagne der örtlichen konservativen Presse gegen einen reformorientierten Englisch- und Französischlehrer der Schule: Der bekennende Pazifist Birger Askevold geriet in die Schlagzeilen, weil er angeblich Schüler in seinem Unterricht aufgefordert hatte, das Porträt des Reichspräsidenten Hindenburg (es zeigte ihn in Uniform des Generalfeldmarschalls) im Klassenraum abzuhängen.13 In eine ähnli- che Kampagne wurde ein Jahr später Studienassessor Hein Herbers verstrickt, der 1929 einen sarkastischen Aufsatz im ‚Anderen Deutschland’ unter der Überschrift „Willst Du lange leben? So werde General!“ veröffentlicht hatte. Unter den An- greifern tat sich insbesondere der Leiter der örtlichen NSDAP, der später berüch- tigte Volksgerichtspräsident Freisler, hervor.14 Während Birger Askevold zunächst glimpflich davon kam15, wurde Herbers vom Dienst suspendiert und gegen ihn ein Strafverfahren wegen Präsidentenbeleidigung angestrengt. Im Verlauf der sog. Machtergreifung kam es dann auch zu tätlichen Angriffen gegen Lehrer des Realgymnasiums: Studienrat Watz wurde in das in der Nähe von Kassel eingerichtete KZ-Lager Breitenau verbracht, Birger Askevold konnte sich der Verhaftung durch Flucht entziehen und wurde ebenso wie seine Kollegen Watz, Gersch und Herbers16 sowie Schulleiter Fricke noch im März 1933 aus dem Schuldienst entlassen. Ein Nationalsozialist17 übernahm die Leitung der Schule, 13 Vgl. Kasseler Post, Nr. 55, 49. Jg., (24.02.1931), S. 2 u. Nr. 56, 49. Jh. (26.02.1931). Der Sohn Askevolds, Ingolf, berichtet, sein Vater habe das Porträt abhängen lassen, weil in der Schulverwal- tung bereits ein Bild Hindenburgs in Zivil eingetroffen war, welches das ‚Uniformbild’ ersetzen sollte (Askevold, Ingolf 1976, Blatt 084). 14 Lütgemeier-Davin (1988) hat die Vorgänge ausführlich dargestellt. 15 In der Erinnerung seines Sohnes ist der Vorfall wochenlang „Stadt- und Staatsgespräch“ gewesen; Birger Askevold habe „stapelweise Aufforderungen zu Duellen verschiedenster Art“ erhalten, „die er verständlicherweise ignorierte“ (vgl. Askevold, Ingolf 1976, Blatt 084). 16 Herbers ging 1934 nach Holland und arbeitete dort an einer Quäkerschule (vgl. Kammler/Krause- Vilmar, 38ff. und die Biographie Herbers von Lütgemeier-Davin 1988). 17 OStD Hoeffken hatte zeitweise auch parallel die Leitung der Oberrealschule I (Adolf-Hitler- Schule) inne, die 1945 geschlossen wurde. Ihr Schulgebäude in der Kölnischen Straße 89, das von Wilfried Hansmann 32 die drei Jahre später im Zuge von „eingreifenden Änderungen im Schulwesen Kassels“ (Kasseler Post, 29.08.1936) geschlossen wurde, nachdem zuvor die ver- bliebenen Lehrkräfte und Schüler auf andere Kasseler Gymnasien verteilt worden waren. Das Schulgebäude versank bei der Zerstörung der Kasseler Innenstadt im Oktober 1943 in Schutt und Asche18 und wurde nach Kriegsende nicht wieder aufgebaut. 2. Handlungsstrategien am Realgymnasium II in Kassel und ihre Struktureffekte Schulentwicklungsforschung fragt nun nicht nur nach dem ‚Was’ von Schulent- wicklungsprojekten (Was geschah oder geschieht an einzelnen Schulen, was waren oder sind die äußeren und inneren Bedingungen der Projekte?), sondern versucht auch das ‚Wie’ auf der Ebene des Handelns der Akteure − die overte Situation nach Schütz (1972) − und die Handlungs-Struktureffekte zu rekonstruieren: Wie wurden oder werden Reformvorhaben in einzelnen Klassen und Unterrichtsstun- den durchgeführt? Wie findet die Verständigung im Kollegium bzw. im Schüler- und Elternrat vor dem Hintergrund höchst unterschiedlicher bildungspolitischer Diskurse statt? Wie kommunizieren die Lehrkräfte ihre schulpraktischen Erfah- rungen? Wie erreichen sie, dass die Wiedersprüche ihres Tätigkeitsbereiches in kooperativen Aushandlungsprozessen mit Eltern und Schülern bearbeitet werden? Bezogen auf das Reformprojekt am Realgymnasium in Kassel wäre in der Logik der historischen Handlungsperspektive mit Heinrich Deiters außerdem zu fragen: Wie gelang es den damaligen Lehrkräften, dass das, „was gerade im Gegensatz zur überlieferten Erziehung ein Tun sein sollte“, nicht „auf der Ebene der Theorie und Ästhetik“ stecken blieb (Deiters 1935, 105)? Und schließlich: Was ist bei den Reformprojekten letztendlich herausgekommen? Lassen sich Struktureffekte der pädagogischen Arbeit am Realgymnasium bspw. auf der Ebene von Schulleistun- gen etc. feststellen? Wendet sich Schulentwicklungsforschung diesen Fragen zu, trifft sie auf Schwierigkeiten, die Gerhard Petrat (Petrat 1979, 9) mit der Metapher der „ge- schlossenen Schultüre“ gekennzeichnet hat. Damit ist gemeint, dass die Vorgänge des schulischen Alltags und insbesondere das eigentliche Unterrichtsgeschehen zumeist nicht durch unmittelbare Beobachtung erfasst werden können. Bei der Rekonstruktion historischer Schulentwicklungsprojekte treten Hindernisse der je unterschiedlichen Quellenlage hinzu, die im Falle des Kasseler RG II aufgrund der weitgehenden Vernichtung der Schulakten im Kriege als desolat zu bezeichnen ist. Protokolle über Lehrerkonferenzen, Abiturprüfungen, Elternversammlungen, Zeugnislisten etc. oder sonstige Beobachtungen zum alltäglichen Unterricht am Kriegsschäden weitgehend verschont geblieben war, erhielt das Realgymnasium I (heute: Albert- Schweitzer-Schule), das sich als Traditionswalterin des RG II versteht (vgl. Friderici, Ro- bert/Herzog, Heinrich, 1956: 14f.). 18 Bis dahin war das Gebäude von der Horst-Wessel-Mittelschule genutzt worden. Das Kasseler Realgymnasium II in den 1920er Jahren 33 RG II wurden bisher nicht aufgefunden. Um trotzdem etwas über die Handlungs- ebene, dem ‚Wie’ der Schulentwicklungsprozesse und über die ‚Wirkungen’ schuli- scher Erziehung in Erfahrung zu bringen, wurden ehemalige Schüler angespro- chen und als Zeitzeugen zu ihren Erlebnissen während ihrer Schulzeit am Real- gymnasium befragt. 2.1 Ehemalige Schüler erinnern sich an ihre Schulzeit am Realgymnasium II Nach einem entsprechenden Aufruf in der örtlichen Presse meldeten sich 16 e- hemalige Schüler des RG II, die bereit waren, als Zeitzeugen über ihre Schulzeit zu berichten. Studierende19 nahmen Kontakt zu den Informanten auf, führten biographisch-narrative Interviews und dokumentierten den Brief- bzw. Email- Verkehr. An der Präsentation der zusammengetragenen Dokumente im Rahmen einer Seminarveranstaltung nahmen acht ehemalige Schüler teil. Das anschließen- de Rundgespräch wurde ebenso audiographisch aufgezeichnet, wie die Diskussio- nen mit zwei zu diesem Termin verhinderten ehemaligen Schülern, die in späteren Seminarveranstaltungen über ihre Erlebnisse am RG II Auskunft gaben. Da in fast allen Erzählungen der ehemaligen Schüler der Unterricht des Eng- lisch- und Französischlehrers Birger Askevold Erwähnung fand, liegt es nahe, ein Bild des alltäglichen Sprachunterrichts, der ja eine Säule der Reformanstalt war, zu rekonstruieren und dabei neben dem ‚Was’ (Was waren die äußeren und inneren Bedingungen seines Unterrichts?) anhand der transkribierten Tonbandmitschnitte auch das ‚Wie’ (Wie unterrichtete er?) sowie mögliche Handlungs-Struktureffekte (Welche ‚Wirkungen’ lassen sich beobachten?) zu untersuchen. 2.2 Der Englisch- und Französischunterricht bei Prof. Askevold Ingolf Birger Askevold, im März 1875 als Sohn eines norwegischen Malers in Bergen (Norwegen) geboren, war 1878 mit seiner Familie nach Düsseldorf über- gesiedelt, die sich davon eine Verbesserung ihres Lebensstandards erhofft hatte. Birger absolvierte bereits mit 16 Jahren das Abitur und nahm anschließend ein Studium der Alt- und Neuphilologie an der Universität Bonn auf, das er noch vor seinem 20. Geburtstag mit dem Staatsexamen für das Höhere Lehramt abschloss. Im Jahre 1900 trat er in das Kollegium der Oberrealschule in Kassel ein und un- terrichtete neben Englisch und Französisch auch Latein und Sport. Er war Mit- glied der SPD und galt als leidenschaftlicher Pazifist. Sein Sohn Ingolf berichtete, dass an der elterlichen Wohnungstür ein Schild mit der Aufschrift „Das Betreten der Wohnung in Uniform ist verboten“ angebracht war. Nach seinen Erinnerun- 19 Hier möchte ich besonders die Mitarbeit der Studierenden Jennifer Asare, Antje Röttger, Thorsten Rühl, Alexandra Stöcker, Christian Unverzagt, Anne Herchen und Marco Trapp erwähnen. Wilfried Hansmann 34 gen unterhielt sein Vater schon vor dem ersten Weltkrieg Kontakt zu reformpäda- gogisch orientierten Kreisen.20 Der schulische Fremdsprachenunterricht sah sich seit dem Ende des 19. Jahr- hunderts mit dem Vorwurf konfrontiert, nur trockenes Buchwissen und Gramma- tik zu betreiben, aber nicht die lebendige Sprache zu lehren.21 Im Jahrbuch von 1929 bezieht Birger Askevold in einem programmatischen Aufsatz zu den Prob- lemstellungen seines Faches Stellung, der es erlaubt, seine inneren Frames und Skripte22 zu rekonstruieren. Offensichtlich beeinflusst durch die Kunsterzie- hungsbewegung der Jahrhundertwende, sah Askevold Parallelen zwischen dem „Unterrichtsbetrieb“ in den Fremdsprachen und im Zeichnen. Ebenso wie dort die „seelenlose Wiedergabe von Form und Farbe [und] die Kopie von Vorlagen auszureichen schien“ habe „im fremdsprachlichen Unterricht vor der Umwälzung die Übermittlung gewisser Mittel, die gedächtnis- bzw. verstandesmäßig anzueig- nenden ‚Vokabeln’ und grammatischen Regeln eine beherrschende Stellung“ ein- genommen (Askevold 1929, 41): „Für die Unterweisung im praktischen Gebrauch dieser Mittel schien, wie im Zeichenunterricht das Kopieren von Vorlagen, so hier das Übersetzen, die bloße Wiedergabe fremdsprachlicher Wörter und Sätze durch deutsche und umgekehrt, zu genügen.“ (Askevold 1929, 41) Demgegenüber favorisiert Askevold einen kommunikativen Unterricht, der in Abgrenzung zu einem ausschließlich reproduktiven Lernen der Fremdsprache die Grammatikübersetzungsmethoden des Latein- und Griechischunterrichts vermei- den sollte. Das Sprachenlernen erfordere wie der Zeichenunterricht „die radikale Umstellung auf das innere Schauen und Erleben“. Durch das gesprochene Wort würden nicht nur „die Besonderheiten der fremdsprachlichen Lautbildung, der Klangfarbe und des Tonfalls“ vermittelt, sondern „als Sinneseindruck die Seele gefangen“ genommen, was „den Schüler die fremde Sprache mit Lust aufnehmen lässt und zur Nachahmung und damit zum Sprechen reizt“ (Askevold 1929, 41). Zugleich weist Askevold seinem Sprachunterricht auch eine kulturelle Orientie- rung zu, die er in Anknüpfung an die Richertschen Richtlinien von 1925 freilich nicht nur dem Fremdsprachenunterricht, sondern jedem Unterricht zuschreibt.23 20 Ingolf Askevold, Schüler des RG II ab 1928, war nach Ende des 2. Weltkrieges nach Kanada ausgewandert. Über ehemalige Mitschüler hatte er von unserem Forschungsprojekt Kenntnis erhal- ten und sich brieflich mit dem Verfasser in Verbindung gesetzt. 21 In Kassel zählte der Gymnasiallehrer Quiehl vom Realgymnasium I zu den Verfechtern eines auf praktisches Sprachkönnen abzielenden Unterrichts, der von dem Marburger Lehrer und späteren Hallenser Professor Vietor propagiert wurde. Die Anfänge dieser Reformbewegung gehen bis in das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts zurück (vgl. Rülcker 1969, 13ff.). 22 Unter Frames sind bestimmte kulturelle Sinnmuster oder mentale Modelle wie „Lehrerfortbil- dung“, „Meine Klasse“, „Unterricht“ o.ä. zu verstehen, während die den Frames eingelagerten Skrip- ten, die für eine Situation typischen Handlungssequenzen beinhalten (vgl. Goffman 1974, Minsky 1975, Schank/Abelson 1977), z.B. die einzelnen Handlungsschritte des Schreibens einer Klassenar- beit oder die vom Lehrer habitualisierten Routinen der Wissensvermittlung. 23 Die Richertschen Richtlinien von 1925 thematisieren ebenfalls eine zweifache Bedeutung des Kulturkundebegriffs. Das Kasseler Realgymnasium II in den 1920er Jahren 35 Im Unterschied zur Kulturkundebewegung der 1920er Jahre soll der neusprachli- che Unterricht sowohl einen Beitrag zu einer einheitlichen deutschen Bildung als Erziehung zur Nationalität leisten als auch eine „Menschen und Staatsbürger bil- dende und Völker verbindende Mission“ erfüllen, die gerade „die fremde Kultur zum Gegenstand sprachlicher Betätigung“ machen müsse (Askevold 1929, 42). In letzter Konsequenz habe daher der Fremdsprachenunterricht den Auftrag, den Schülern die „Berufung zu aufbauender Mitarbeit an der Sicherung von Men- schenglück und Menschenwürde für Volk und Menschheit bewusst“ zu machen (Askevold 1929, 43). Allen Schülern im alltäglichen Schulbetrieb dieses intendierte „begeisterte und sehnsuchtsvolle Kulturerlebnis“ zugänglich zu machen, scheint dem erfahrenen Fremdsprachenlehrer Askevold jedoch nicht ohne weiteres reali- sierbar gewesen zu sein, vor allem dann nicht, wenn Schüler „überhaupt nicht begeisterungsfähig“ waren. Als Ausweg sah er hier die Einrichtung von „Arbeits- gemeinschaften“, in denen interessierte Schüler „die ihren Bedürfnissen gemäße geistige Kost“ erhalten sollten (Askevold 1929, 43).24 Überblickt man nun die Erzählungen von ehemaligen Schülern Askevolds am RG II, so stehen allenthalben seine Bemühungen um das aktive Sprechen im Mit- telpunkt, auf das er im alltäglichen Unterricht offensichtlich größten Wert legte, und das er durch die Einführung der phonetischen Umschrift zu befördern such- te. Sein Sohn Ingolf, Schüler des Realgymnasiums von 1928 bis 1936, erinnert sich: „Ich kann mich noch sehr gut an seinen Anfangsunterricht entsinnen. Wir lern- ten nicht, Englisch zu schreiben, nein, wir schrieben phonetisch. Dazu hatte er ja auch ein Büchlein herausgegeben. Wir mussten Buntstifte mitbringen, einen rot, einen blau und einen grün. Wir lernten die phonetische Umschrift, wie sie in al- len Wörterbüchern heute zu finden ist. [...] Alle Nasale mussten grün geschrie- ben werden, die harten Konsonanten blau, die weichen, wie auch alle Vokale rot. Nach einigen Monaten wurde dann mit der richtigen Schreibweise begonnen. So blieben seine Klassen, die diese Methode anwandten, zunächst hinter anderen zu- rück. Aber danach waren sie dann und blieben anderen weit voraus. Wer unter seiner Leitung Abitur machte, der sprach fließend Englisch. Ich selber habe die- selbe Methode, die sich die direkte Methode nannte, auch in meinem Sprachun- terricht mit Erfolg angewandt.“ In der sog. ‚direkten Methode’ wird das Erlernen der Fremdsprache analog zum Erlernen der Muttersprache modelliert. Der Schüler soll lebendige Sprechakte aufnehmen; demzufolge bildet nicht die Schriftform, sondern die gesprochene Sprache den Ausgangspunkt, die allenfalls durch die Lautschrift unterstützt wird. Zur Bedeutungsvermittlung der Wörter und Sätze in der fremden Sprache unter Ausschaltung der Muttersprache bedarf es zudem Unterrichtstechniken, die durch Handlungen mimischer und gestischer Art ergänzt werden. Hans Theo Wagner 24 In einer dieser Arbeitsgemeinschaften kam es im übrigen zu dem o.g. Vorfall um das Porträt von Reichspräsident Hindenburg. Wilfried Hansmann 36 (Jg. 1920) hebt besonders den Einsatz von Gesang und Spiel im Sprachunterricht Askevolds hervor: „Er hat auch seinen Unterricht eh vollkommen anders gestaltet als andere Leh- rer, mit Mandoline und Musik un un viel mit dabei. Ich singe Ihnen heute noch die Lieder vor, die wir bei dem im Englischunterricht gesungen haben, nech. Der kam in die Klasse rein und sprach nur Englisch, nech. Der hatte die Klasse auf- geteilt in sechs Gruppen, so wie ’mer in den drei Reihen in der Schule saßen, mussten mer uns unner Umständen umsetzen eh (.) zum Englischunterricht, weil mer sonst an ’nem annern Platz saßen. […] Und dann eh eh hatte er einen Sohn, der war eine Klasse vor uns, mit denen, mit der Klasse hatte er das auch schon so durchexerziert, wie er das mit uns dann anfing, und eh, die mussten dann zu uns in die Klasse kommen mit noch ‘en paar Klassenkameraden und mussten vorne vor der Tafel stehen eh dann uns das erzählen, was sie schon wuss- ten und konnten. Und er mit der Mandoline dabei [Herr W. singt:] ”Old King Gold, was a very old soul and a very old soul was he, twiddely twiddely”. Und dann zog er den dreien, die da vorne (eh), his fiddlers three, hatte er dreie, die nun fidelten und einer der King Gold, der hatte dann das Goldpapier, so ‘ne Krone uff’m Koppe, nich wahr, ”Oh, look here, that’s King Gold!” (lacht) nich, un so hat der seinen Unnericht, da war Betrieb, nich wahr, und dann teilte der die Stunde nochema ein in in zwei Hälften oder drei Drittel oder je nachdem was er vorhatte für’n Pensum, hatte er ‘ne Eieruhr, wie so’n Wecker. Un dann stellt er ein: ”Now we will, for ten minutes, we will sing!”, nich wahr, und dann ham’mer zehn Minuten gesungen, und dann rappelte die Uhr: ”Silence!”, nich wahr und dann kam das nächste Pensum dran, nich wahr. Dann wuchde zehn Minuten was anneres gemacht, das war dem seine Unnerichtsmethode, und da ham’mer was gelernt. Sie sehen: Ich kann’s heute noch (lacht).“ (eigene Transkription des Interviews mit Wagner) Fasst man den Dokumentsinn25 der Erzählungen ehemaliger Schüler Askevolds zusammen, dann bestätigt sich, dass er seinen Unterricht an den kulturellen Fra- mes der ‚direkten Methode’ und der ‚Kulturkundebewegung’ orientierte. Sein un- terrichtliches Handeln folgte offensichtlich einem Drehbuch mit klaren institutio- nellen Regeln: Das unterrichtliche Pensum war zeitlich genau gegliedert, die Klas- se wurde in Gruppen eingeteilt (möglicherweise die Vorform einer Binnendiffe- renzierung), das aktive Sprechen stand im Zentrum, zudem wurde auf Phonetik im Anfangsunterricht großen Wert gelegt; schließlich erhielten die Schüler durch den Einsatz von Musik und Spiel vielfältige Interaktionsangebote. 25 Karl Mannheim unterscheidet den ‚immanenten Sinngehalt’ kultureller Phänomene von ihrem Ausdrucks- und Dokumentsinn (Mannheim 1964; vgl. auch Hansmann 2002, 85f.). Das Kasseler Realgymnasium II in den 1920er Jahren 37 2.3 Handlungs-Struktureffekte (Wirkungen) von Unterricht Mit der Frage, wie ‚erfolgreich’ dieser Unterricht war, wenden wir uns der Ebene der Handlungs-Struktureffekte zu. Vermeintliche Wirkungen der unterrichtlichen Maßnahmen Askevolds werden von ehemaligen Schüler folgendermaßen themati- siert: Herr Wagner ist im Rückblick der Ansicht, der Unterricht bei Askevold sei effektiv gewesen, weil er etwas gelernt habe, was er auch heute noch beherrsche, bspw. englische Lieder (s.o.). Herbert Chiout (Jg. 1911) erinnert sich, dass ihn Askevold in den 1920er Jahren mehrfach zu internationalen kulturpolitischen Veranstaltungen mit zumeist pazifistischer Ausrichtung eingeladen hat, bei denen er seinem Lehrer als Übersetzer assistierte. Chiout führt seine guten Sprachkennt- nisse, die ihm in seinem Berufsleben sehr nützlich gewesen seien,26 auf diese Er- lebnisse zurück. Und sein Sohn Ingolf betont, dass er die Unterrichtsmethoden seines Vaters derart verinnerlicht habe, dass er sie noch in seinem eigenen Unter- richt als Fremdsprachenlehrer einsetzen konnte. Die Schul- und Unterrichtsforschung sieht sich an dieser Stelle mit dem Di- lemma konfrontiert, das seit Adam Smith als das Phänomen der ‚invisible hand‘ bezeichnet wird: Welche Effekte sind das Resultat des schulischem Fremdspra- chenunterrichts, welche Effekte hängen mit Anregungsmilieus zusammen, die bspw. Chiout in außerschulischen Situationen nutzen konnte? Bildung ist schließ- lich ein lebenslanger Prozess, der nicht auf bestimmte Einflüsse während der Schulzeit beschränkt bleibt; und gerade Sprachkenntnisse können sich Schüler in vielfältigen anderen Zusammenhängen auch außerhalb des schulischen Unter- richts aneignen. Die hier auftretenden Fragestellungen der Selbstorganisation des Lernens, die Prozess-Produkt-Paradigmen, gelten im Hinblick auf die „Beziehun- gen zwischen Merkmalen des Unterrichtsprozesses und Effektvariablen“ bislang als weitgehend unbearbeitet (vgl. Ditton 2002, 201). Dies erstaunt nicht weiter, unterliegen entsprechende Korrelationen doch überwiegend nicht-linearen und vergleichsweise schwer fassbaren Wechselwirkungsprozessen.27 Damit komme ich zu einigen grundlegenden forschungsmethodischen Überle- gungen einer empirischen Schul- und Unterrichtsforschung besonders im Hin- blick auf die Evaluation von schulischen Entwicklungsprozessen. 3. Zur Evaluation schulischer Entwicklungsprozesse Bei der Untersuchung der Wirkungen von schulischen (Reform-)Maßnahmen sehen sich Schul- und Unterrichtsforscher mit einer Vielzahl von Problemstellun- 26 Herbert Chiout, seit den 1950er Jahren als Schulleiter und Lehrerausbilder in Kassel tätig, knüpfe nach dem Krieg vielfältige internationale Kontakte und veröffentlichte eine Reihe von Schriften zur ‚Vergleichenden Erziehungswissenschaft’. 27 Die Annahme einfacher kausaler Wirkungsbeziehungen linearer Art unter Verwendung von All- tagsheuristik unterschätzt die Komplexität von Schul- und Unterrichtsforschung und die Schwierig- keiten der Modellierung nicht-linearer Interaktionen; vgl. hierzu auch Müller-Benedict (2000). Wilfried Hansmann 38 gen konfrontiert, die sich aus der Komplexität und den Interdependenzen des Zusammenwirkens von Akteuren vor dem Hintergrund gesellschaftlicher und individueller Strukturen ergeben. Die Vorgänge am Kasseler Realgymnasium II in den 1920er Jahren sind zunächst singuläre Ereignisse mit fixierten Raum-Zeit- Koordinationen, die allerdings von vielen allgemeinen Zusammenhängen, wie z.B. den äußeren Bedingungen sozialer und wirtschaftlicher Gegebenheiten, durchsetzt sind. Hinzu treten innere Bedingungen, die die Kognitionen, Frames und Skripte der Akteure betreffen. So können bspw. Problemstellungen bei der Neuausrich- tung des gymnasialen Unterrichts in Hinblick auf die Integration bestimmter Prin- zipien des Arbeitsunterrichts wie im o.g. Waldschulprojekt auftreten, die auf der Handlungsebene als Interferenzen zwischen den Akteursgruppen Lehrern, Eltern, Schüler oder auch der Schulaufsicht zu rekonstruieren sind. Hier stellt sich dann die Frage nach den systematischen Zusammenhängen dieser ggf. auftretender Interferenzen, ausgehend vom Handeln einer einzelnen Person oder einer Perso- nengruppe (z.B. dem Reformpädagogen Askevold oder der Gruppe ‚linker’ Schul- reformer am Realgymnasium) vor dem Hintergrund bestimmter struktureller Ge- gebenheiten, die einer detaillierten Untersuchung zuzuführen wären.28 Dabei ist auch auf nichtintendierte Handlungsfolgen zu achten, deren Untersuchung eine bisher nicht gelöste Forschungsaufgabe darstellt. Der Kasseler Oberschulrat Heinrich Deiters hat zwei Jahre nach seinem er- zwungenen Ausscheiden aus der Kasseler Schulaufsicht versucht, einen histori- schen Abschnitt der Schulreform zu evaluieren, der das knappe anderthalbe Jahr- zehnt von 1919 bis 1933 umfasste. Ich werde zunächst diese Untersuchung Dei- ters vorstellen und daran eigene Überlegungen zur Evaluation von Schulentwick- lungsprozessen anschließen. 3.1 Schulentwicklung aus der Sicht eines Kasseler Schulaufsichtsbeamten Seinen Rückblick auf die schulischen Reformprozesse der 1920er Jahre leitet Heinrich Deiters mit der Frage ein, inwieweit es denn überhaupt gelingen könne, verbindliche Aussagen über diesbezügliche Entwicklungen zu treffen: „Über den Wert pädagogischer Veranstaltungen zu urteilen ist schon unter nor- malen Verhältnissen so schwierig, da unter den Kritikern der großen Erzie- hungssysteme noch niemals eine Übereinstimmung über deren Wert erzielt worden ist. Vollends hier [in der Schulreform nach dem Weltkriege], wo die Möglichkeit eines Vergleichs zwischen den Absichten und dem Erfolg über eine längere Stre- cke hin fehlt, erscheint der Versuch einer zusammenfassenden Beurteilung fast aussichtslos zu sein.“ (Deiters 1935, 109) Damit deutet Deiters die Komplexität eines Untersuchungsgegenstandes an, bei dem Absichten (Intentionen) und Erfolg (Wirkungen) – oder in der Sprache mo- 28 Historiker haben es dabei immer mit dem mehr oder weniger akzidentellen Zusammentreffen verschiedener zufälliger Entwicklungen an einem bestimmten ‚historischen’ Punkt zu tun, der dann von ihnen als sog. Cournot-Effekt gekennzeichnet wird. Das Kasseler Realgymnasium II in den 1920er Jahren 39 derner empirischer Schul- und Unterrichtsforschung ausgedrückt: Input und Out- put – in Beziehung gesetzt werden müssen. Sein Instrumentarium für die Durch- führung der Analysen sind zum einen die ‚Erfolgs-Kontrollen’ bei Abiturprüfun- gen, die er qua Amt als Vorsitzender der Prüfungskommission abzunehmen hatte; zum anderen rekurriert Deiters auf Unterrichtsbeobachtungen in einzelnen Schul- klassen, insbesondere in denjenigen, die für das ‚Dezernenten-Abitur’ ausgewählt worden waren, und deren Unterricht er ein- oder zweimal vor dem Abitur besuch- te. Die Kriterien für seine Unterrichtsbeobachtungen legt Deiters ebenfalls offen: „Ich achtete vor allem darauf, wie weit die Schüler zu selbständiger Tätigkeit im Unterricht, eigenen Fragestellungen, kritischem Denken erzogen waren, und be- urteilte danach die Leistungen des Lehrers und den geistigen Zustand der Klas- se.“ (Deiters 1935, 133) Grundlage für seine Beurteilungen seien dabei seine Erfahrungen in der neuen demokratischen pädagogischen Bewegung gewesen, so wie er sie in seiner Berliner Zeit kennengelernt habe.29 Leider finden sich bei Deiters nur einige verstreute Urteile über die Situation in einzelnen Unterrichtsfächern. Den neusprachlichen Unterricht seiner Zeit scheint er sehr kritisch gesehen zu haben. Die Unterrichts- methoden hätten sich zuweilen als „höchst problematisch“ erwiesen (a.a.O.: 132).30 Bei der Benennung von Ursachen verweist er auf strukturelle Defizite in der Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte: „Ein guter Unterricht in einer lebenden Fremdsprache (ist) nur von solchen Leh- rern zu erwarten (...), die sich ganz auf die Erlernung dieser einen fremden Spra- che konzentrieren können und denen regelmäßig die Gelegenheit geboten wird, das Land zu besuchen, in dem sie gesprochen wird.“ (Deiters 1935, 133)31 Neben einigen anderen vereinzelten Hinweisen auf die Ausbildung angehender Lehrkräfte im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Oberschulrat in Kassel, zu der ja auch der Aufgabenbereich der Betreuung des Lehrernachwuchses im gym- nasialen Bereich gehörte (vgl. Deiters 1989, 136)32, scheinen die ‚inneren Bedin- gungen’ von Schulreform, die Professionalisierung der Lehrkräfte und damit eine akteursbezogene Sicht auf Schule für Deiters jedoch nicht weiter relevant gewesen zu sein. Seine Modellierung der Ursachen für das Scheitern der Schulreform in der Weimarer Republik konzentriert sich im wesentlichen auf ein kulturelles Szenari- 29 Deiters spielt hier vermutlich auf seine Mitgliedschaft im ‚Bund entschiedener Schulreformer’ von Paul Oestreich an. 30 Visitationsprotokolle, die auch in die Personalakten der Lehrer aufgenommen wurden, sind bisher nicht aufgefunden worden. Deiters zweifelt, ob diese überhaupt erhalten sind (Deiters 1989, 132). Eine Triangulation dieser Dokumente mit den Schüleräußerungen zum Fremdsprachenunterricht Birger Askevolds wäre sicherlich reizvoll. 31 Dass sich Deiters nach seiner erzwungenen Pensionierung u.a. auch mit dem Fremdsprachenun- terricht beschäftigte, geht aus dem 1938 in den Niederlanden publizierten Aufsatz „Zur Didaktik der lebenden Fremdsprachen“ hervor (In: „Levende Talen“). 32 Durch die Einrichtung eines Bezirksseminars in Kassel ist Deiters als Gründer der heutigen Stu- dienseminare in Hessen anzusehen. Wilfried Hansmann 40 um: Das klassische Bildungsideal des Neuhumanismus, die klassische Dichtung und die Wendung ins Ästhetische, die für Deiters als Ankerpunkte der alten Schu- le des 19. Jahrhunderts fungierten, hätten aus seiner Sicht durch Intentionen der Erneuerungsbewegungen im Umfeld der Reformpädagogik, bspw. der Selbstän- digkeitserziehung der Schüler, ergänzt werden müssen (Deiters 1935: 110f.). Zu- dem sei es nicht gelungen, die Gegebenheiten des beruflichen Alltags ausreichend in den schulischen Unterricht einzubeziehen, womit er auf die mangelnde Berück- sichtigung des Arbeitsschulgedankens in den damaligen Reformprozessen abhebt. Insgesamt sei die Notwendigkeit der „gegenseitigen Durchdringung des humanis- tischen und des beruflichen Bildungsgedankens“ zu kurz gekommen (Deiters 1935, 111). Hierzu hätte es jedoch institutioneller Regelungen zur Ersetzung des Berechtigungssystems der Reifeprüfung als allgemeine Hochschulreife durch Son- derberechtigungen mit Geltung für entsprechende Hochschulstudien bedurft, was einer „Umwälzung im ganzen Aufbau des Schulwesens mitsamt ihren sozialen Konsequenzen“ gleichgekommen wäre (Deiters 1935, 102f.). Heinrich Deiters verbleibt in seiner Evaluation der Reform von Schule und Unterricht in den Jahren zwischen 1919 und 1933 und ihres Scheiterns somit ganz auf der Ebene der kulturellen Gegebenheiten, die durch einige Hinweise zu den mangelhaften institutionellen Regelungen der Reform ergänzt werden.33 Die Tra- dition des klassischen Humanismus und ein republikanischer Bildungsbegriff ste- hen im Zentrum seiner Überlegungen. Die Problemstellungen der inneren Bedin- gungen der Situation, die Rekonstruktion der Frames und Skripte der Akteure sowie ihrer Identität im Hinblick auf die Verankerung in den autoritären Struktu- ren der Wilhelminischen Kaiserzeit (vgl. Wehler 1994) bleiben dagegen weitge- hend ausgespart. Dementsprechend ist auch die Zusammenschau von äußeren und inneren Bedingungen, die Gegenstand einer ‚Definition der Situation’ (s.u.) wäre, für ihn kein Thema. Noch ganz in der geistesgeschichtlichen Tradition ver- haftet, konnte es Deiters nicht gelingen, sich einen Zugang zu den Problemstel- lungen von Schulreform auf der Ebene einer Einzelschule zu verschaffen. Zu den Reformprozessen am Kasseler RG II, das zu ja seinem Dienstaufsichtsbereich zählte und in unmittelbarer Nähe seines Dienstsitzes gelegen war (vgl. Deiters 1989, 128), scheint er sich auch lediglich in o.g. Grußadresse geäußert zu haben, obwohl ihm die dortigen Reformbemühungen und die kritische Resonanz in der Kasseler Öffentlichkeit bekannt gewesen sein dürften. Ohne Zugriff auf ein me- thodologisch abgesichertes Instrumentarium zur Analyse von sozialen Prozessen, das in dieser Zeit ja gerade erst entwickelt wurde,34 musste somit seine Evaluation der Schulentwicklung in den Jahren zwischen 1919 und 1933 misslingen. 33 Wenn Deiters die Funktion der Schuladministration darin sieht, „der Lehrerschaft neue Gesichts- punkte für ihre Tätigkeit nahe zu bringen und die von den obersten Staatsbehörden beschlossene Schulreform mit Hilfe der Lehrer selbst Wirklichkeit werden zu lassen“ (Deiters 1989, 129), dann nimmt er damit auch die Tätigkeit seiner eigenen Behörde kritisch ins Visier. 34 Vgl. z.B. Lazarsfelds große Studie über die Arbeitslosen von Marienthal aus den 1920er Jahren oder die Untersuchung über The Polish Peasant von Thomas/Znaniecki (1918-20). Das Kasseler Realgymnasium II in den 1920er Jahren 41 3.2 Überlegungen zur Evaluation eines historischen Schulentwicklungspro- zesses Eine Analyse des historischen Schulentwicklungsprozesses am Realgymnasium II in Kassel erfordert demgegenüber die Verknüpfung von strukturellen Gegeben- heiten auf den äußeren und inneren Bedingungsebenen von Schule und Unterricht mit dem Handeln einzelner bzw. kollektiver Akteure, Lehrer, Schüler, Schulauf- sicht etc. Den theoretischen Hintergrund bilden dafür Vorstellungen über das Zusammenwirken von Institutionen und Akteuren, d.h. der Beziehung zwischen der Makro- und Mikro-Ebene, die A. Giddens in seiner „Konstitution der Gesell- schaft“ (Giddens 1992, 335f.) als Dualität von structure & agency konzeptualisiert hat. Der Forscherblick wendet sich vom ‚Was geschieht in Schulentwicklungspro- zessen’ zu ‚Wie handeln Akteure, um Schule und Unterricht weiterzuentwickeln’. Handeln und Strukturen werden dabei als ein dynamisches Konzept aus genetisch reflexiv-kritischer Perspektive (vgl. Bohnsack 1999) wahrgenommen, das auch als ‚cultural turn’ konzeptualisiert werden kann (vgl. Reckwitz 2000). Dieser praxeo- logische Kulturbegriff schließt an phänomenologische (u.a. Schütz), semiotisch- strukturalistische (u.a. Searle, später Eco), sprachspieltheoretische (Wittgenstein) und interpretativ-hermeneutische Überlegungen (u.a. Schütz, Goffman, Foucault, Giddens, Bohnsack) an.35 Der Fokus der Untersuchungen liegt auf kollektiv geteil- ten Wissensordnungen, den Frames und Skripts (s.u.), die erst die Genese von Wissen, Wahrnehmen, Handeln und Verstehen ermöglichen (vgl. Reckwitz 2000, 163). Ziel derartiger Untersuchungen ist es, zu (re-)konstruieren, aufgrund welcher Sinnbezüge Menschen handeln, wie sie handeln, wie sich die Akteure „in einer historisch vorgegebenen sozialen Welt immer wieder neu ‚finden’, d.h. auch: zu- rechtfinden und wie sie dadurch zugleich diese Welt stets aufs Neue erschaffen und verändern“ (Reichertz/Schröer 1994, 59). Die empirische Operationalisierung dieses praxeologischen Kulturkonzeptes bietet sich im dreischrittigen Verfahren des ‚Verstehenden Erklärens’ nach Max Weber (1904/1982) und Alfred Schütz (1972) an. Dabei steht am Beginn des For- schungsprojektes eine genaue Analyse der äußeren und inneren Bedingungen der Situation, in unserem Fall der Situation des Realgymnasiums II in Kassel.36 Allge- mein ist im Anschluss an die Theorie des Alltagshandelns und der Lebenswelt von Alfred Schütz (1972) unter einer Situation eine temporär stabilisierte „gegenseitige Konstitution der äußeren und der inneren Bedingungen ..., von ‚Akteur und Struk- tur’, von ‚personalen’ und ‚sozialen Systemen’, des subjektiven und des sozialen Sinns“ zu verstehen (vgl. Esser 1999, 169). Ein derart ausbalanciertes Gleichge- wicht nimmt für die Akteure i.d.R. den Stellenwert einer präskriptiven, faktisch unabwendbaren Regel an, an deren nachhaltigen Wirksamkeit sie sich eher unbe- wusst durch Reproduktion beteiligen, die allerdings stets auch durch transintenti- 35 Zur kulturwissenschaftlichen Wende in der Geschichtswissenschaft vgl. auch Maset (2002, 151ff.). 36 Hier ist auch an die grundlegende Bestimmung einer ‚Situation’ durch Thomas und Znaniecki (1927, 67f.) zu erinnern: „The definition of the situation that is, the more or less clear conception of the conditions und consciousness of the attitudes“. Wilfried Hansmann 42 onale, strukturverändernde Effekte ersetzt werden kann. Auf das vorliegende Datenmaterial bezogen, ist also die Situation gemeint, von der aus die Verände- rungen im schulischen Entwicklungsprozess des RG II ihren Ausgang nehmen. In den einzelnen methodologischen Schritten geht es zunächst um die äußeren Bedingungen der Schulentwicklung: Sie umfassen die materiellen Opportunitäten (Infrastruktur), die institutionellen Regeln (Sozialstruktur) und die situationsspezi- fisch relevanten kulturellen Orientierungsrahmen (Superstruktur), wie sie sich für die 1920er Jahre bis zum Ende der Weimarer Republik darstellen. Die kulturellen Orientierungen können als konjunktives – als einander verbindend wahrgenom- menes und für relevant erachtetes – Erleben und Erkennen (z.B. auf der Ebene der Schulgemeinschaft) auch verinnerlicht bzw. in der jeweiligen Situation für die beteiligten Akteure handlungsleitend werden. Letztendlich geht es um den Um- gang mit gesellschaftlich normierten, mehr oder weniger stereotypen Anforde- rungs- und Erwartungsstrukturen, wie sie in dem genannten Zeitraum auftreten. Mit den inneren Bedingungen der Situation werden die Absichten der Akteure, die am Prozess der Schulentwicklung beteiligt sind (Lehrkräfte, Schulleitungen, Dienstaufsicht, Elternvertreter etc.), ihre kulturellen Vorstellungen, ihre Frames und Skripte, ihre Erwartungen und Bewertungen untersucht, die wichtige Voraus- setzungen für ihr Handeln darstellen. In einem zweiten Schritt sind dann die Handlungsvollzüge der Akteure in be- zug auf ihre jeweiligen pädagogischen Absichten zu analysieren. Wie gehen diese mit den Dilemmata ihres Arbeitsbereiches um? Streben sie Kooperationen an, und wenn ja, mit wem? Welche strategischen Kalküle lassen sich rekonstruieren? Wel- che (Herrschafts-)Strukturen werden aufgebaut und bspw. von Schulleitern oder einzelnen Lehrergruppen zur Durchsetzung bestimmter Zielsetzungen genutzt? Welche Rollen spielen dabei Schulaufsicht, Eltern- und SchülervertreterInnen? Im dritten Schritt geht es schließlich um die Struktureffekte der Schulentwick- lungsprozesse, zweifellos der schwierigste Teil von Untersuchungen zur Schul- entwicklung. Was lässt sich auf Grundlage der vorhandenen Dokumente als Her- ausbildung einer bestimmten schulischen Ordnung identifizieren und damit auch als das erfassen, was wir gemeinhin als ‚sozialen Wandel’ oder in unserem Fall als Schulentwicklungsprozess am RG II bezeichnen? Ein Strukturmodell, das die genannten methodologischen Zugangsweise zu diesen Fragestellungen aufnimmt, hat folgendes Aussehen: Das Kasseler Realgymnasium II in den 1920er Jahren 43 10 Das Struktur-/ Handlungs-Modell und seine drei Ebenen: äußere/ innere Bedingungen Lehren und Lernen Bildung und Ausbildung Diagnose Strukturen/ Situation Handeln Effekte Intervention Evaluation Mithilfe dieser dreischrittigen Aufteilung, die auch die Bereiche der Diagnose, der Intervention und der Evaluation in Schulentwicklungsprozessen unterscheidet, soll der von Weber formulierte Anspruch des verstehenden Erklärens empirisch sub- stantiiert werden: Die Rekonstruktion des subjektiven Sinns der Akteure, ihre Definition der jeweiligen Situation bedarf eines deutenden Verstehens, während die Handlungsvollzüge und Struktureffekte mithilfe einer Handlungstheorie ursächlich zu erklären sind. Somit lassen sich zwei zentrale Prämissen für eine kulturtheoretischen Schul- entwicklungsforschung formulieren: 1. Akteure (hier: Lehrer und Lehrerinnen) beteiligen sich auf der Grundlage der bereits erwähnten symbolischen Wissensordnungen – trotz vielfältiger Re- striktionen – an der symbolischen Organisation der für das Lehren und Ler- nen relevanten Abläufe und Strukturen. Kollektive Effekte der Transformati- on individueller Handlungsselektionen können wiederum auf das eigene Han- deln zurückwirken und damit weitere schulische und professionsspezifische Veränderungen hervorrufen (vgl. duality of structure & agency nach Giddens 1992: 335f.). 2. Ein dynamisch-rekursives, akteurstheoretisches Kultur- und Strukturkonzept steht im Widerspruch zur Annahme gruppenspezifisch homogener Frames und Praktiken. Prinzipiell ist – zumindest in bezug auf die im Globalisie- rungsprozess vielfältiger werdenden und meist zeitgleich auftretenden milieu-, geschlechts- und generationsspezifischen Interferenzen (Geertz 1993, 167), d.h. Überlagerungen miteinander inkompatibler Wissensordnungen – davon auszugehen, dass der einzelne Lehrer bereits über multikulturelle Frames ver- fügt. Aufgrund dieses Hybriditätspotentials (vgl. Papastergiadis 1997) er- scheint es notwendig, das weit verbreitete Junktim zwischen ‚Kultur‘ und ei- ner – wie auch immer kleinen – vermeintlich homogenen Gruppe (vgl. Ku- Wilfried Hansmann 44 gelmetapher n. Herder37) zugunsten eines akteursspezifischen multikulturalis- tischen Konzeptes aufzuheben. Die Reichweite der hier skizzierten kulturtheoretische Heuristik ist für die Analyse der – für die schulischen Strukturdynamiken charakteristischen – Antinomien bzw. Dilemmata, Emergenzen und unintendierten Handlungsfolgen sowie ihrer entwicklungshistorischen Soziogenese geeignet. Statt Schule und ihre Entwicklung „vom Zweck her“ (Kühl/Strodtholz 2002: 12), d.h. produktorientiert und von ihrer Effizienz und Effektivität her zu untersuchen, ermöglicht das vorgestellte Modell die Erfassung projekt- bzw. handlungspraxisimmanenter Prozesse der Reflexion und Planung (Handlungsentwürfe) von Akteuren in Schulentwicklungs- prozessen. Zugleich wird auf der Basis der Rekonstruktion individueller und insti- tutioneller Entwicklungsprozesse versucht, Professionalisierung und Schulent- wicklung i.S. eines relationstheoretischen Ansatzes in einen systematischen Zu- sammenhang zu bringen. Für die Vorgängen am Kasseler Realgymnasium II in den Jahren zwischen 1919 und 1933 lässt sich vor diesem Hintergrund feststellen, dass Schulentwick- lung hier nicht mehr eine Angelegenheit war, die von der Administration ange- ordnet wurde (‚top down’); vielmehr versuchten Lehrkräfte ihren Unterricht vor Ort zu verändern (‚bottom up’), wobei sich neue Dimensionen in der Interaktion zwischen Schülern und Lehrkräften eröffneten (Wanderungen, Landschulaufent- halte, die ‚Fuldaschule’, gemeinsames Spiel, Sport und Musizieren etc.). Von Seiten der Lehrkräfte scheint dabei darauf geachtet worden zu sein, institutionelle und soziale Regeln nicht außer Kraft zu setzen. Trotzdem wurden diese Entwick- lungsprozesse von einem Teil der außerschulischen (Kasseler) Öffentlichkeit mit Argwohn beobachtet. Das Anfang der 1920er Jahre am Realgymnasium II in Kas- sel begonnene Kapitel republikanischer Schulentwicklung endete 1933 mit massi- ven Angriffen auf reformorientierte Lehrkräfte und ihrer Entlassung aus dem Schuldienst. Quellen: Askevold, Ingolf (1976): Biographische Skizze zum 100. Geburtstag von Professor Ingolf-Birger Askevold. Stadtarchiv Kassel, Blätter 083-090 Jahrbuch des Realgymnasiums 2 in Kassel (1929): Frische Fahrt. Kassel: Gebr. Müller Jahrbuch Realgymnasium in der Kölnischen Straße (1956), Kassel Kasseler Post Transkripte von Interviews mit: Chiout, Melchior, Paul, Wagner und von div. Seminargesprächen. 37 Vgl. die für ein totalitaristisches Kulturverständnis prototypische Aussage von Herder (1967, 44f.): “Jede Nation hat ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich wie jede Kugel ihren Schwerpunkt.“ Das Kasseler Realgymnasium II in den 1920er Jahren 45 Literatur: Askevold, Ingolf Birger (1929): Die Wandlung des neusprachlichen Unterrichts. In: Frische Fahrt. Jahrbuch des Realgymnasiums 2 in Kassel: Gebr. Müller, 40- 43 Bohnsack, Ralf (1999): Rekonstruktive Sozialforschung, Opladen: Deiters, Heinrich (1928): Die Lebensform der Schule. In: Hermann Nohl/ L. Pallat (Hg.): Handbuch der Pädagogik, Bd. IV, Langensalza 1928, 3-47 Deiters, Heinrich (1935): Die deutsche Schulreform nach dem Weltkriege, Berlin Deiters, Heinrich (1953/1989): Bildung und Leben. Erinnerungen eines deutschen Pädagogen (= Studien und Dokumentationen zur deutschen Bildungsgeschichte, hrgg. von Christoph Führ und Wolfgang Mitter, DIPF, Bd. 40), Köln Dirks, Una/Hansmann, Wilfried (2002): Forschendes Lernen – Auf dem Weg zu einer professionellen Lehrerbildung und Schulentwicklung (Hilbert Meyer zum 60. Geburtstag), Bad Heilbrunn Ditton, Hartmut (2002): Unterrichtsqualität – Konzeptionen, methodische Über- legungen und Perspektiven. In: Unterrichtswissenschaft, H. 3, 197-212 Eco, Umberto (1985): Semiotik und die Philosophie der Sprache. (übers. aus dem Italienischen v. Christiane Trabant-Rommel u. Jürgen Trabant), München Esser, Hartmut (1999): Soziologie. Spezielle Grundlagen Bd.1. Situationslogik und Handeln, Frankfurt/M. Friderici, Robert/Herzog, Heinrich (1956): In: Jahrbuch Realgymnasium in der Kölnischen Straße: Aus der Geschichte des Realgymnasiums II. Kassel, 14-15 Geertz, Clifford (1993): Ritual and social change: a Javanese example. In: Geertz, Clifford: The Interpretation of Cultures. Selected essays, London, 142-169 Giddens, Anthony (1992): Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. Frankfurt/M. (engl. Orig.-titel: The Constitution of Society. Cambridge: Polity Press) Goffman, Erving (1974): Frame Analysis. An Essay on the Organization of Ex- perience, New York Hansmann, Wilfried (2002): Kernprobleme von Unterricht zwischen strukturellen Zwängen und biographischen Dispositionen. In: Dirks, Una/Hansmann, Wil- fried (Hrsg.): Forschendes Lernen – Auf dem Weg zu einer professionellen Leh- rerbildung und Schulentwicklung. Bad Heilbrunn, 85-95 Herder, Johann Gottfried (1967): Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bil- dung der Menschheit, Frankfurt/ M. Kammler, Jörg/Krause-Vilmar, Dietfrid (1984): Volksgemeinschaft und Volks- feinde nach 1933-1945, Fuldabrück Kühl, Stefan/Strodtholz, Petra (2002): Methoden der Organisationsforschung. Ein Handbuch, Reinbek bei Hamburg Wilfried Hansmann 46 Lütgemeier-Davin, Reinhold (1988): Hakenkreuz und Friedenstaube. Der Fall Hein Herbers (1895-1968), Frankfurt/ M. Mannheim, Karl (1964): Beiträge zur Theorie der Weltanschauungsinterpretation. In: ders., Wissenssoziologie, Neuwied, 91-154 (ursprünglich 1921-1922. In: Jahrbuch für Kunstgeschichte XV, 4) Minsky, Marvin (1980): A framework for representing knowledge. In: Metzing, Dieter (Hrsg.): Frame conceptions and text understanding, Berlin, 1-25 Müller-Benedict, Volker (2000): Selbstorganisation in sozialen Systemen. Erken- nung, Modelle und Beispiele nichtlinearer Dynamik, Opladen Papastergiadis, Nikos (1997): Tracing hybridity in theory. In: Werbner, Pnina/ Modood, Tariq (ed.): Debating Cultural Hybridity. Multi-cultural identities and the politics of anti-racism, London, 257-281 Petrat, Gerhard (1979): Schulunterricht. Seine Sozialgeschichte in Deutschland 1750-1850, München: Reichertz, Jo/Schröer, Norbert (1994), Erheben, Auswerten, Darstellen. In: Schröer, N. (Hrsg.): Interpretative Sozialforschung. Opladen, 56-84 Reckwitz, Andreas (2000): Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwick- lung eines Theorieprogramms, Weilerswist Richert, Hans (1925): Richtlinien für die Lehrpläne der höheren Schulen Preu- ßens. Berlin Rülker, Tobias (1969): Der Neusprachenunterricht an höheren Schulen. Frank- furt/ M. Schank, Roger C./Abelson, Robert P. (1977): Scripts, plans, goals and understan- ding, Hillsdale, N.J. Schütz, Alfred (1972): Die soziale Welt und die Theorie der sozialen Handlung. In: Alfred Schütz: Gesammelte Aufsätze, Bd. 2: Studien zur soziologischen Theorie, Den Haag Thomas, William I./Znaniecki, Florian (1918-20): The Polish Peasant in Europe and America (1927), New York Weber, Max (1904/1982): Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie. In: Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (5. Aufl.), hrsg. von Johannes Winckelmann, Tübingen Wehler, Hans-Ulrich (1994): Das deutsche Kaiserreich 1871-1918. Göttingen, 7. Auflage