EUROPA IM MITTELALTER Herausgegeben von Michael Borgalte spprr73 »Integration und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter« BAND 15 Abhandlungen und Beiträge zur historischen Komparatistik Dieser Band ist aus dem Schwerpunktprogramm 1173 der Deutschen Forschungsgemeinschaft hervorgegangen. Lateinisch-griechisch-arabische Begegnungen Kulturelle Diversität im Mittelmeerraum des Spätmittelalters Herausgegeben von Margit Mersch und Ulrike Ritzerfeld ~ ~ Akademie Verlag Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar ISBN 978-3-05-004664-8 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2009 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form- durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren- reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmascbinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Einbandgestaltung: Jochen Baltzer, Berlin Druck und Bindung: Druckhaus "Thomas Müntzer", Bad Langensalza Printed in tbe Federal Republic of Germany Inhalt Vorwort ............................................................................................................................ 7 Kulturelle Diversität im Mittelmeerraum des Spätmittelalters Von Margit Mersch (Erlangen) ....................................................................................... 9 Zu Problematik und Erkenntnispotential der Untersuchung materieller bzw. visueller Kulturen im Mittelmeerraum Von Ulrike Ritzerfeld (Berlin) ....................................................................................... 19 Alexandria aus Athen zurückerobern? Perspektiven einer mediterranen Kunstgeschich- te mit einem Seitenblick auf das mittelalterliche Sizilien Von Gerhard Wolf (Florenz) .......................... ... ... ... ............................................. .. ........ 39 Fine Commodities in the Thirteenth-century Mediterranean. The Genesis of a Common Aesthetic Von Maria Georgopoulou (Athen) ................................................................................ 63 Symbole der Macht. Mittelalterliche Heraldik zwischen Ost und West Von Robert Ousterhout (Philadelphia) ...................................................... .................... 91 Feuerprobe, Portraits in Stein. Mittelalterliche Propaganda für Venedigs Reliquien aus Konstantinopel und die Frage nach ihrem Erfolg Von Karin Krause (Basel) .. .......................................... .. ............................. ................ 111 6 Inhalt Leibesfülle zwischen Ost und West. Beobachtungen zur Byzanz- und Antikenrezeption in der Bibel von Gerona Von Annette Hoffmann (Heidelberg) ........................................................................... 163 I musulmani nel sud ltalia. Scontri, incontri, reciprocita Von Vzto Bianchi (Bari) ............................................................................................... 181 Indizien kultureller Differenz in den mittelalterlichen Bau-, Bild- und Schriftdenkma- len aus Bari und Matera. Ein Schichtenmodell Von Dietrich Heißenbüttel (Stuttgart) ......................................................................... 199 ,Lateinisch-griechische' Begegnungen in Apulien. Zur Kunstpraxis der Mendikanten im Kontaktbereich zum orthodoxem Christentum Von Margit Mersch (Erlangen) und Ulrike Ritzerfeld (Berlin) ................................... 219 Bettelmönche und Islam. Beobachtungen zur symbolischen Darstellung von Missions- prinzipien der Mendikanten in Text, Handlung und Bildkunst des 13. Jahrhunderts Von Anne Müller (Eichstätt) .......................... ...... .... .. .................................................. 285 Die Autorinnen und Autoren ....................................................................................... 309 Personen- und Ortsregister ............................ .. ............................................................ 311 Tafeln ................................ .................................................................................. ........ 321 Kulturelle Diversität im Mittelmeerraum des Spätmittelalters Margit Mersch In jüngerer Zeit verstärkt sich in der Mittelalterforschung die Auffassung von Europa als einem Begegnungsraum der drei monotheistischen Weltreligionen mit einem multi- kulturellen Erscheinungsbild) Dies trifft insbesondere auf den Mittelmeerraum zu. In Teilen Spaniens, Süditaliens, Griechenlands, des Balkans, der Levante und auf den großen Mittelmeerinseln teilten über Jahrhunderte hinweg Gruppen mit verschiedener Sprache und Religion dasselbe Territorium und darüber hinaus oft auch gemeinsame Erfahrungen im sozialen, kommerziellen oder religiösen Alltag. Juden bildeten in allen Regionen maßgebliche Minderheiten. In Süditalien bewahrten zahlreiche griechisch- sprachige orthodoxe Christen über Jahrhunderte ihre kulturelle Identität unter lateini- scher Vorherrschaft. Auch kleine Gruppen von Muslimen konnten sich in Süditalien und Sizilien sowie auf Mallorca und Malta halten. Im östlichen Mittelmeer stellten weitgehend koloniale Machtsituationen die Rahmenbedingungen. Die französischen Fürsten und Herzoge von Morea und Athen, die Venezianer als Herren von Kreta, Kor- fu und Euböa (Negroponte), die Lusignans auf Zypern und die Genuesen in Galata!Pe- ra sowie Chios implementierten lateinische Kulturenklaven in die byzantinische Welt. Zugleich führten sowohl die zeitweiligen Eroberungen der Kreuzfahrer im Hl. Land als auch langfristige intensive Handelsbeziehungen zu kulturellen Anleihen und Importen aus den arabisch-islamischen Kulturen, die insbesondere das Erscheinungsbild der Ha- fenstädte des Mittelmeeres veränderten. Im byzantinischen (Rest-)Reich bestanden weitreichende und intensive Kontakte zu Mongolen, Seldschuken, Ayyubiden und Mamluken ebenso wie zu italienischen Fürsten und Händlern, weshalb Byzanz auch nach dem lateinischen Kaiserreich ( 1204-1261) wichtiger Knotenpunkt eines politisch und kulturell bedeutenden Netzwerkes blieb. Die kurze und unvollständige Zusammenstellung zeigt, dass es sich bei der Multi- kulturalität des Mittelmeerraums um ein komplexes Phänomen handelt. Zum einen kann die kulturelle Diversität der Gruppen an der Religion festgemacht werden, zum anderen an der Sprache; beide Differenzfaktoren können, müssen aber nicht gemein- Vgl. etwa Michael Borgolte, Wie Europa seine Vielfalt fand. Über die mittelalterlichen Wurzeln für die Pluralität der Werte, in: Hans Joas/Klaus Wiegandt (Hrsg.), Die kulturellen Werte Europas. Frankfurt a. M. 2005, 117-163; ders., Christen, Juden, Muselmanen. Die Erben der Antike und der Aufstieg des Abendlandes 300 bis 1400 n. Chr. MOnehen 2006; Ernst Pitz, Die griechisch-römi- sche Ökumene und die drei Kulturen des Mittelalters. Geschichte des mediterranen Weltteils zwi- schen Atlantik und Indischem Ozean 270-812. (Europa im Mittelalter, Bd. 3.) Berlin 2001. 10 Margit Mersch sam auftreten. Sie können des Weiteren einhergehen mit ethnischen und/oder politi- schen ldentitätsdefinitionen. Bei all dem sind soziale Gruppierungsmechanismen, die nicht selten quer zu den kulturellen und politischen Differenzen verlaufen, nicht be- rücksichtigt. Wenn wir von lateinischen, griechischen und arabischen Begegnungen im Mittelmeerraum sprechen, dann werden damit vermutlich Assoziationen zur lateini- schen, griechischen und arabischen Sprache hervorgerufen, aber auch zur römisch-la- teinischen Kirche, zur griechisch-orthodoxen Kirche und zum Islam, zu Rom, Byzanz und Granada und ebenso zu diffusen kulturellen Zuschreibungen, die hauptsächlich die jeweilige visuelle Kultur betreffen: etwa Gotik, Ikonen und Arabesken. Diese gemein- hin analog oder gar als zusammengehörig assoziierten Grenzziehungen sind aber kaum jemals alle in Übereinstimmung miteinander vorzufinden. Weder im Mittelalter noch heute haben wir es mit Begegnungen von ,Kulturblöcken' zu tun, sondern mit komple- xen Verflechtungen (von Akteuren wie Strukturen) auf unterschiedlichen Ebenen. Vor allem aber kann es große s ·chwierigkeiten bereiten, in einer inter- oder transkulturellen Kontaktsituation die jeweiligen bedeutsamen Differenzfaktoren ausfindig zu machen. Spielten etwa für die römisch-lateinischen Christen als Angehörige der ,fränkischen' Okkupationsmacht und die indigenen griechisch-orthodoxen Christen in Zypern im alltäglichen Zusammenleben die Sprachunterschiede, Religionsfragen, der soziale bzw. der rechtliche Status oder politische Differenzen eine größere Rolle? Vermutlich wech- selte die Relevanz der jeweiligen Aspekte in den unterschiedlichen Gesellschaftsberei- chen: auf dem Markt, bei Hofe, in der Kirche etc.; offensichtlich gab es Unterschiede zwischen Stadt- und Landbevölkerung und ganz sicher änderte sich nicht nur die Ge- wichtung der einzelnen Differenzkategorien im Laufe der Zeit, sondern es verloren auch einzelne von ihnen, ~ie etwa soziale und rechtliche Unterschiede zwischen indi- genen und ,fränkischen' Oberschichten, gänzlich an Bedeutung.2 In all den oben genannten mediterranen Regionen bestimmten dynamische Prozesse von Integration und Desintegration das kulturelle, soziale und politische Leben. Es sind sowohl Beispiele des sozialen Miteinanders, Nebeneinanders als auch Gegeneinanders zu konstatieren. Die Grenzen verliefen dabei fließend und veränderten sich regional, chronologisch oder je nach Gruppenzugehörigkeit Auch innerhalb eines multikultu- rellen Herrschaftsgebietes konnte es zugleich Orte der Konvivenz, limitierte Treffpunk- te und Brennpunkte der Auseinandersetzung geben. Die Relevanz dieser Komplexität für die kulturhistorische Forschung wird in dem folgenden Beitrag von Ulrike Ritzer- feld eingehender diskutiert. Verstärkt wird inzwischen die Frage gestellt, wann und warum welche Gesellschaftsgruppen eine bi- oder multikulturelle Kommunikation suchten oder .mieden, förderten oder behinderten. Die Beispiele Zypern und Morea/ Achaia etwa zeigen nach einer segregativen oder z. T. gar konfrontativen Phase sehr 2 V gl. zur spätmittelalterlichen Geschichte Zyperns insb. die zahlreichen Veröffentlichungen Peter Edburys, eine aktuelle Zusammenfassung in: Peter Edbury, The state of research: Cyprus under the Lusignans and Venetians, 1991-1998, in: Andrew Jotischky (Hrsg.), The Crusades. Critical Concepts in Historical Stud.ies. Bd. 4: Crusading Cultures. London!New York 2008, S. 17-27. Kulturelle Diversität im Mittelmeerraum 11 weitgehende Annäherungen zwischen Indigenen und Okkupanten ab dem 14. Jahrhun- dert. In Kreta hingegen blieben die lateinisch-griechischen Beziehungen zum großen Teil durch Exklusion und Konfrontation gekennzeichnet. David Jacoby hat jüngst ver- sucht, diese eklatanten Unterschiede zwischen den Akkulturationsprozessen in den la- teinischen Herrschaften des östlichen Mittelmeerraums zu deuten und hat dabei die feudalen Herrschaften auf Zypern und der Peloponnes den nichtfeudalen Regimes auf Kreta und Chios gegenübergestellt.3 Er konstatiert einerseits ein erstaunliches Integra- tionsvermögen der feudaladeligen Herrschaften trotz bzw. aufgrund ihres starken Sta- tusbewusstseins, andererseits eine vielleicht unerwartete Segregation der nichtfeudalen venezianischen und genuesischen Eroberer gegenüber ihren einheimischen Untertanen, die er der Angst vor Assimilation aufgrund alltäglicher Kontakte zuschreibt. Man könn- te Jacobys Ergebnisse aber auch anders interpretieren und annehmen, dass die feudalen Gesellschaften mit der Adelsstratigrafie soziale bzw. symbolische Strukturen anboten, in die sich fremde, aber ähnlich zu kodierende Gruppen oder Personen (die Archonten) einordnen konnten, während die prolokolonialen Händlergesellschaften keine solche tradierten ,Stellenangebote' für die einheimischen Oberschichten besaßen. Die These, die Jacoby mit dem Beispiel der Morea ausführlich illustriert, bleibt aber vor allem hinsichtlich der venezianischen Kolonien weiterhin zu überprüfen. Generalisierende Studien und Thesen zu den Bedingungen des Gelingens oder Miss- lingens von multikultureller Konvivenz sind einerseits aufgrund der Fragestellung at- traktiv, andererseits aufgrundihrer Tendenz zur Reduktion von Komplexität problema- tisch. Vergleichende Untersuchungen mit dem Fokus auf Detailstudien zu ,shared spaces' haben sich aber durchaus als weiterführend erwiesen. Mehrere Tagungs- und Sammelbände zur mittelalterlichen Geschichte des Mittelmeerraums haben in den letz- ten Jahren dergleichen Studien zusammengeführt.4 So vermittelt etwa der Band ,Mi- grations et diasporas mediterraneennes (Xe-xye siecles)' Informationen über die unter- schiedlichen Formen von Migration im Mediterraneuro des Mittelalters und zeigt, dass 3 David Jacoby, The Encounter of Two Societies: Western Conquerors and Byzantines in the Pelo- ponnesus after the Fourth Crusade, in: Andrew Jotischky (Hrsg.), The Crusades. Critical Concepts in Historical Studies. Bd. 3: Crusading and the Crusader States , 1198-1336. London/New York 2008,70-104. 4 Z. B. James P. Helfers (Hrsg.), Multicultural Europe and Cultural Exchange in the Middle Ages and Renaissance. (Arizona Studies in the Middle Ages and the Renaissance, Bd. 12.) Turnhaut 2005; Sabine Fourrier/Gilles Grivaud (Hrsg.), Identites croisees en un milieu mediterraneen, Je cas de Chypre. (Publications des Universites de Rauen et du Havre, Bd. 391.) Mont-Saint-Aignan 2006; Michel Balard!Eiisabeth Malamut/Jean-Michel Spieser (Hrsg.), Byzance et Je monde exte- rieur: contacts, relations, echanges. Actes de trois seances du xxc Congres International des Etu- des Byzantines, Paris, 19-25 aout 2001. (Byzantina Sorbonensia, Bd. 21.) Paris 2005; Alexander D. Beihammer/Maria G. Parani/Christopher D. Schabe/ (Hrsg .), Diplomatics in the Eastern Medi- terranean 1000-1500. Aspects of Cross-cultural Communication. (The Medieval Mediterranean, Bd. 74.) Leiden 2008. 12 Margit Mersch multiple Identitäten nicht der Modeme vorbehalten sind.5 Ob es sich um Zuckerplanta- gen-Unternehmer in den ländlichen Regionen Zyperns handelt,6 um venezianische Einwanderer der zweiten und dritten Generation in Kreta 7 oder um das Flüchtlings- schicksal eines vor 1291 in Akkon geborenen Sohns eines Venezianers, der aufgrund fehlender Sprachkenntnisse in Venedig nicht als Bürger akzeptiert wurdes- die mittel- alterlichen mediterranen Beispiele kultureller Diversität wirken vor dem Hintergrund der Migrationserfahrungen unserer heutigen globalisierten Welt wenig fremd. Gerhard Wolf weist in seinem Beitrag des vorliegenden Bandes darauf hin, dass kulturelle Heterogenität quasi den "Normalfall" in der Geschichte komplexer Gesellschaften bil- det. Es deutet sich zudem an, dass hinsichtlich der Bedingtheit transkultureller Kommu- nikation die Fragen nach den bewussten Prozessen ergänzt werden müssen durch Fra- gen nach strukturellen und spontanen Vorgängen. Neben der gesuchten oder gemiede- nen und geförderten oder gehinderten Kommunikation spielen kollektive Prägungen, überindividuelle psychosoziale Prozesse, spontane oder langfristige Reaktions- und Entstehungsprozesse und damit ein für die einzelnen Akteure unüberschaubares Ge- flecht von sozial wirksamen Hintergründen eine wichtige Rolle. Ein Beispiel ist das historische Wachstum hybrider regionaler ldentitäten durch Aufeinanderfolge und je- weilige teilweise Einlagerung von unterschiedlichen kulturellen Traditionen (,Palimp- sest'), das Dietrich Heißenbüttel in diesem Band theoretisch darlegt. Anscheinend hat sich in den meisten Fällen das alltägliche Zusammenleben sprach- lich, ethnisch und religiös verschiedener Bevölkerungsgruppen-vorall den genannten historischen und sozialpsychologischen Hintergründen - auf eine jeweils pragmatische Weise geregelt. Christopher MacEvitt spricht z. B. von einer "rough tolerance" zwi- schen lateinischen und ostkirchlichen Christen im Hl. Land, eine Koexistenz, die zwar Probleme und Konflikte kannte, aber in der Praxis besser funktionierte, als sie es der 5 Michel Balard!Alain Ducellier (Hrsg.), Migrations et diasporas mediterraneennes (Xe-xye siec- les). Actes du colloque de Conques (octobre 1999). (Byzantina Sorbonensia, Bd. 19.) Paris 2002. 6 Mohamed Ouerfelli, Les migrations liees aux plantations et a Ia production du sucre dans Ia Medi- terranee a Ia fin du Moyen Äge, in: Michel Balard/Alain Ducellier (Hrsg.) , Migrationset diasporas mediterraneennes (Xe-xye siecles): Actes du colloque de Conques (octobre 1999). (Byzantina Sorbonensia, Bd. 19.) Paris 2002,485-500. 7 Doris Stöckly, Tentatives de migration individuelle dans les territoires SOUS domination venitienne - une approche, in: Michel Balard/Alain Ducellier (Hrsg.), Migrationset diasporas mediterraneen- nes (Xe-xye siecles): Actes du colloque de Conques (octobre 1999). (Byzantina Sorbonensia, Bd. 19.) Paris 2002,513-521. 8 David Jacoby, Migrations farniliales et strategies commerciales venitiennes aux Xße et XIIIe siecles, in: Michel Balard/Alain Ducellier (Hrsg.), Migrationset diasporas mediterraneennes (Xe- xve siecles): Actes du colloque de Conques (octobre 1999). (Byzantina Sorbonensia, Bd. 19.) Paris 2002,355-373, hier 372. Kulturelle Diversität im Mittelmeerraum 13 Theorie nach hätte tun sol1en.9 Zwar gab es im gesamten Mediterraneuro immer wieder administrative oder gewaltsame Versuche , durch (Zwangs-)Missionierung, Vertreibung oder Assimilierungsdruck die kulturelle Diversität zu reduzieren. Doch konnten die über Generationen hinweg bi- oder multikulturell geprägten lokalen Gesellschaften letztendlich nur mit einem Mindestmaß an Toleranz beherrscht werden. Stephen Ep- stein hat in einer auch methodisch interessanten Studie gezeigt, wie sich allenthalben persönliche Beziehungen den Restriktionen zu widersetzen wussten.10 Es sei aber auch an die nicht geringe Zahl von Potentaten erinnert, die die kulturelle Diversität in ihren Herrschaftsgebieten tolerierten und auch förderten. Die politischen Autoritäten standen - obwohl sie fremde Okkupanten waren - nicht außerhalb der gesellschaftlichen Dynamik ihrer multikulturellen Herrschaftsgebiete. In einigen Fällen, etwa in Unteritalien und im Hl. Land, wurde die zweite oder dritte Ge- neration der fremden Erobererdynastie in gewisser Weise zu einem genuinen Teil der kulturellen, religiösen und sprachlichen Heterogenität ihrer Herrschaftsgebiete. Bei- spiele für derlei hybride ldentitäten finden sich in mehreren Beiträgen dieses Bandes. Zugleich wird in ihnen auf den propagandistischen Charakter des monarchischen ,Mul- tikulturalismus' hingwiesen. Gerhard Wolf etwa betont die legitimatorische Notwen- digkeit, aufgrund derer sich der Normannenherrscher Roger li. in Sizilien die Reprä- sentationsangebote der arabischen, byzantinischen und lateinischen Höfe aneignete und umformte. Margit Mersch und Ulrike Ritzerfeld beschreiben den Versuch der jungen, ortsfremden Dynastie der Dei Balzo Orsini, sich im multikulturellen Salento durch die bewusste Kreation einer eigenen hybriden (lateinisch-normannisch-griechischen) Iden- tität zu etablieren. Vito Bianchi hingegen argumentiert, dass sich Friedrich II. mit seiner Nutzung arabischer Traditionen schlichtweg als Beteiligter an einem allgemeinen euro- mediterranen Kulturphänomen jener Epoche erwies. Die Frage, ob politische Autoritä- ten multikultureller Herrschafts- bzw. Einflussgebiete hybride kulturelle Identitäten ausbildeten oder ob sie aus politischem Kalkül ein hybrides ,self-fashioning' betrieben, muss gleichwohl nicht mit einem ,entweder- oder' beantwortet werden. Oft genug dürfte beides Hand in Hand gegangen sein . Ein Hinweis darauf ist die Prestigeträchtig- keit hybrider Luxusgüter, die in den Beiträgen von Maria Georgopoulou und Bob Ousterhout behandelt wird und die hohe Valenz hybrider Repräsentationsformen in den mediterranen Hofkulturen des Spätmittelalters anzeigt. Bei den hier behandelten historischen ,Schauplätzen' handelte es sich nicht um Grenzregionen zwischen Kulturen, sondern um Zentren interkultureller Kommunika- tion , in denen stetig Trennendes und Verbindendes entstand und erodierte. Entspre- chend stellt der Mittelmeerraum in diesem Zusammenhang weniger einen Grenzraum 9 Christopher Hatch MacEvirr , The Crusades and the Christian World of the East. Rough Toleran- ce . Philadelphia (PA) 2008 . 10 Steven A. Epsrein. Purity Lost. Transgressing Boundaries in the Eastem Mediterranean , 1000- 1400. (Johns Hopkin Universiry Studies in Historical and Political Science , Bd . 124,3.) Baiti- more (MD) 2007 . 14 Margit Mersch Europas zu außereuropäischen Kulturen in Afrika und Vorderasien dar als vielmehr ei- ne europäische Zentralregion mit zahlreichen kulturellen Überlappungszonen und so- wohl eigenständigen als auch interdependenten Beziehungsgeflechten. Die Tatsache, dass eben diese Komplexität konstitutiv ist für Europa, macht die besondere Relevanz der Mittelmeerregion für die historische (Europa-)Forschung aus .I• Es muss freilich kritisch angemerkt werden, dass ,Europa' ebenso wie der ,Mittelmeerraum' zumeist als implizite Geschichtsregionen gedacht werden. Für die historische Forschung sind sie als explizite geschichtsregionale Konzeptionen nutzbar zu machen, indem eine Ge- schichtsregion nicht als naturräumlich oder sozia-politisch determinierter Befund ver- standen, sondern auf methodologischer Ebene zur Arbeitshypothese vergleichender Forschung genommen wird.l2 Der Mittelmeerraum wäre insofern zunächst ein katego- rialer Analyserahmen, dessen Berechtigung durch die vergleichenden Studien zu seinen potentiellen spezifischen Strukturmerkmalen (bzw. clustern von Struktunnerkmalen) geprüft wird. Der vorliegende Band kann aber nicht für sich in Anspruch nehmen, eine solche Überprüfung in konzentrierter Form vorzunehmen, wenngleich einzelne Ergeb- nisse seiner Artikel - wie etwa die Hinweise von Robert Ousterhout und Maria Geor- gopoulou auf das mediterrane Strukturmerkmal einer kulturübergreifenden Eliten-Äs- thetik- besonders dazu beitragen mögen. Als Folgeprodukt einer Tagung zum Thema ,Interkulturelles Zusammenleben im Mittelmeerraum des Spätmittelalters ... " präsen- tiert der Band hauptsächlich die Beiträge zu einem Themenkomplex, der nicht speziell auf die Problematik des Mittelmeerraums als Geschichtsregion fokussiert ist,B sondern vordringlich Fragen zu kultureller Heterogenität und Kulturkontakt betrifft. Die Erforschung der spätmittelalterlichen mediterranen hotspotskultureller Diversi- tät verspricht wichtige Erkenntnisse über die Konstruktion von kulturellen und sozialen Identitäten und über die integrativen und desintegrativen Prozesse in komplexen plura- len Gesellschaften. Bedeutsam für ihre Analyse ist zunächst die Konzentration auf kul- 11 So hält es Christian Giordano aus historisch-sozialanthropologischer Perspektive für "sinnvoll, Europa als ein System stark (inter)dependenter, jedoch zugleich strukturell sehr verschiedener historischer Regionen zu verstehen, in dem Gleichzeitigkeiten und Ungleichzeitigkeilen sowie Differenzen und Konstanten nebeneinander existieren." Christian Giordano, Interdependente Vielfalt: Die historischen Regionen Europas, in: Karl Kaser/Dagmar Gramshammer-HohlfRobert Piehier (Hrsg.), Europa und die Grenzen im Kopf. Klagenfurt/Celovec 2003, 113-135, hier 118. 12 Vgl. dazu Stefan Troebst, Vom Spatial Turn zum Regional Turn? Geschichtsregionale Konzepti- onen in den Kulturwissenschaften, in: Matthias Middell (Hg.), Dimensionen der Kultur- und Gesellschaftsgeschichte. Festschrift für Hannes Siegrist zum 60. Geburtstag. Leipzig 2007, 143- 161. 13 Zur rezenten Debatte um den Mittelmeerraum (noch immer in der Folge von Fernand Braudel, La Mediterranee et le monde mediterraneen a l'epoche de Philippe li. 2 Bde. Paris 1949) vgl. z. B. Peregrine Horden!Nicholas Purcell, The Corrupting Sea. A Study of Mediterranean History. Oxford!Malden 2000; Stefan Troebst, Le Monde mediterraneen - Südosteuropa - Black Sea World. Geschichtsregionen im Süden Europas, in: Frithjof B. Schenk/Martina Winkler (Hrsg.), Der Süden: Neue Perspektiven auf eine europäische Geschichtsregion. Frankfurt a. M. 2007,49- 73. Kulturelle Diversität im Mittelmeerraum 15 turelle Diversität bzw. Differenz und potentielle hybride (Neu-)Entwicklungen, die sich in Anlehnung an die Kulturtheorie Homi Bhabhas hauptsächlich in Zwischenräumen, in Rand- und Überlappungszonen vollziehen - , third spaces' mit einer exemplarischen kulturellen Dynamik, wie sie sich gehäuft im mittelalterlichen Mediterraneuro finden.1 4 Deshalb hebt der Untertitel dieses Bandes die ,Diversität' hervor, während im Titel die ,Begegnung' als weitgefasster und ergebnisoffener Begriff für interkulturelle und po- tentiell transkulturelle Situationen gewählt wurde. Diese begriffliche Offenheit ist einer transdisziplinär vergleichenden Perspektive geschuldet, die in diesem Fall Historiker- Innen, Kunsthistorikerinnen, B yzantinistenlnnen und Archäologlnnen zusammenge- führt hat, deren Untersuchungen an ihrem fachspezifischen Materialkorpus ganz unter- schiedliche soziale Kontaktsituationen abdecken. Zur Sprache kommen Spuren und Indizien interkultureller Kommunikation in Architektur, Bildkunst, Handwerksproduk- ten und Schrifttum, die Genese transkultureller, hybrider Kunstformen oder Kultur- praktiken sowie der Beitrag, die Rolle und die Selbstvergewisserung/Selbstdarstellung spezifischer Personen und Personengruppen in interkulturellen Kontaktsituationen. Da- rüber hinaus reflektieren einige Aufsätze des Bandes die virulente Diskussion, die in den mit dem Mittelmeerraum befassten historischen Wissenschaften über die Komple- xität transkultureller Beziehungen einerseits und die methodischen Möglichkeiten und Fallen der ,cross-cultural studies' andererseits geführt wird. Den Auftakt bilden zwei einführende Texte der Herausgeberinnen: Bei dem ersten (Margit Mersch) handelt es sich um die vorliegende kurze geschichtswissenschaftliehe Erörterung des Titelthemas. Der zweite Einführungsartikel ( Ulrike Ritzerfeld) themati- siert aus kunsthistorischer Perspektive methodische und inhaltliche Schwierigkeiten bei der Untersuchung transkultureller Kontakte im Mediterraneum und konstatiert die be- sondere Bedeutung, die der visuellen Kultur, und somit den Bildkünsten, der Architek- tur und den diversen Kunsthandwerken sowie ihren Produkten in multilingualen und multikulturellen Gesellschaften zukam. Gerhard Wolf erkundet die Bedeutung der me- diterranen Kunstgeschichte innerhalb einer geforderten globalen Kunstgeschichte. Er wendet sich gegen bipolare Modelle in Begriffen und vergleichenden Untersuchungen eines vermeintlichen Nebeneinanders von ,Ost' und , West' und hebt stattdessen plun- zentrisehe Dynarniken, Interaktivität und kulturelle Heterogenität als Kennzeichen der spätmittelalterlichen/frühneuzeitlichen Beziehungen und als den , Normalfall' in der Geschichte komplexer Gesellschaften hervor. Wenn er am Beispiel Siziliens die Aus- bildung und den Transport von Bild- und Formensprachen durch die Kommunikation mediterraner Höfe, Städte und Händler anspricht, dann bietet sich ein direkter Bezugs- punkt zu dem Thema von Maria Georgopoulou. Sie postuliert das Entstehen einer kul- tu.rübergreifenden einheitlichen Ästhetik im spätmittelalterlichen Mediterraneum, die durch die Expansion der Märkte und die Angleichung der Lebensweisen der ,Kunden' in Ost und West ermöglicht wurde. Eine initiierende Rolle spielten Objekte (aus Glas 14 Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur. TUbingen 2000, hjer insb. 5, 51 . 16 Margit Mersch und Metall), die in den multiethnischen Werkstätten und flexiblen Marktstrukturen des muslimischen Ostens entstanden und aufgrund ihrer hybriden Formensprache und/oder Ikonografie das Interesse von Kreuzfahrern, Pilgern und Händlern fanden. Auch Robert Ousterhout beschreibt die Genese einer hybriden Bildsprache, die sprachliche, ethni- sche und kulturelle Grenzen überschritt. Am Beispiel der byzantinischen Symbole zur Assoziation von Prestige und Status, die in Auseinandersetzung mit der westlichen He- raldik unter Verwendung lateinischer, byzantinischer, seldschukischer, mongolischer und ayyubidischer Formen entstanden, demonstriert Ousterhout seine These von der Entwicklung einer gemeinsamen Machtsprache innerhalb der stark vernetzten Elite des Mittelmeerraums. Mit den Beiträgen von Karin Krause und Annette Hoffmann zeigen kunsthistorische Detailstudien die schwierige Nachverfolgung künstlerischer wie poli- tischer Positionen in byzantinisch-italienischen Zusammenhängen. Karin Krause zeigt, dass (das künstlerisch so stark Byzanz-orientierte) Venedig im 13. und 14. Jahrhundert für die neu aus Konstantinopel erworbenen Reliquien vergleichsweise wenig öffentli- che Werbung betrieb. Ein aufwändiges Marmorrelief, das zwischen 1283 und 1325 entstand und vermutlich an der südlichen Fassade von S. Marco aufgehängt war, gehört zu den wenigen Hinweisen auf eine offizielle Propaganda für das Heiltum. Obgleich sich in Venedig Kulte um einzelne Reliquien des Heiltums entwickelten und während zur gleichen Zeit in Paris und andernorts eigene aufwändige Kultorte für Reliquien aus Konstantinopel geschaffen wurden, haben es doch die Dogen nicht für opportun gehal- ten, ihrem Heilturn aus Konstantinopel eine Kapelle zu errichten. Annette Hoffmann stellt die Frage nach Kulturkontakt und der Stellung des Künstlers zwischen den Kultu- ren am Beispiel einer wohl in den 1280er Jahren entstandenen Prunkbibel, deren Mini- aturen diverse ,byzantinische' wie , westliche' Formen der Motivadaption aufzeigen. Dabei kann sie interregionale wie diachrone, direkte wie indirekte Beziehungen zwi- schen Italien und Frankreich bzw. Italien und Byzanz und in einer Begegnung mit anti- ken Objekten herausfiltern, die Thessaloniki als Ort der Begegnung des lateinischen Malers mit dem Anderen in Betracht ziehen lassen. Die nachfolgenden drei Beiträge haben mit Süditalien den ,Schauplatz' eines besonders langfristigen transkulturellen Conviviums ausgewählt. Vito Bianchi beschreibt anband architektonischer und archäo- logischer Monumente den starken Einfluss der arabisch-islamischen Kultur in dieser Region, die durch Friedrich II. mittels Anwendung arabischer Wissenschaft in der Ar- chitektur und Skulptur sowie durch die Deportation sizilianischer Muslime nach Apulien wesentlich gefördert wurde. Auch nach den ,Säuberungsaktionen' Karls II. von Angiou 1300 behielt der arabisch-islamische Anteil im kulturellen Schmelztigel Süditaliens künstlerische Ausdruckskraft und -möglichkeit. Dietrich Heißenbüttel geht die Frage nach dem Wesen der Multikulturalität im mittelalterlichen Süditalien sowohl auf kunsthistorische als auch auf philosophische Weise an und zeigt am Beispiel der hybriden Bildkunst in Matera, die eine strikte Trennung in lateinische, byzantinische und arabisch-islamische Kunst nicht zulässt, dass Kulturkontakt nicht als ein Nebenei- nander unveränderlicher Entitäten gedacht werden kann. Der Komplexität der kulturel- Kulturelle Diversität im Mittelmeerraum 17 len Verhältnisse kommt er stattdessen mit einem an Foucault orientierten historischen Schichtenmodell bei. Der Beitrag von Ulrike Ritzerfeld und Margit Mersch befasst sich mit der Kunstpraxis der Mendikanten in einem multikulturellen Umfeld zwischen or- denseigener, insbesondere missionarischer Aufgabenstellung und politischer Anhin- dung an die regionalen Herrschaftsgruppen. Das Beispiel der Franziskanerkirche S. Caterina in dem von griechischen Christen noch stark geprägten apulischen Galatina zeigt das gemeinsame Interesse von Feudalfamilie und Franziskanern an der Stärkung der römischen Kirche- ein Interesse, das sich gleichwohl in einer politischen, kulturel- len sowie architektonischen und bildkünstlerischen Integration der lokalen griechi- schen wie lateinischen Traditionen äußerte. Anne Müller beschäftigt sich abschließend ebenfalls mit der Mendikantengeschichte in Beziehung auf interkulturelle Kontakte im Mittelmeerraum. Allerdings betreibt sie keine objektivistische Geschichtsschreibung der franziskanischen Islammission in Nordafrika , sondern untersucht, wie die Bettelor- den ihre Missionsvorstellungen in textuellen und bildliehen Narrativen symbolisch vergegenwärtigten , um dadurch einen Handlungsraum zu schaffen, der konstitutiv für das Selbstverständnis dieser von Beginn an auf interkulturelle Kontaktfähigkeit hin an- gelegten Gemeinschaften gewesen ist. Die hier versammelten Beiträge werfen Schlaglichter auf die Bedeutung kultureller Diversität im Mediterraneuro des Spätmittelalters, auf ihre Erscheinungs- und Aus- drucksformen ebenso wie auf die ihr innewohnenden sozialen und politischen Poten- zen, denen die einzelnen Akteure oder Gruppen ausgesetzt waren und/oder die sie auf unterschiedliche Weise zu nutzen wussten. Es wäre erfreulich, wenn sie in der Synthese dazu führten, den komplexen Wirkungszusammenhängen von kultureller Heterogenität und transkultureller Kommunikation etwas näherzukommen.