ISBN 978-3-89958-592-6 5 KPS NF W ol fd ie tri ch S ch m ie d- Ko w ar zi k, H el m ut S ch ne id er (H g. ) Zw is ch en d en K ul tu re n 5 Ka ss ele r P hil os op his ch e S ch rift en – Ne ue F olg e Wolfdietrich Schmied-Kowarzik Helmut Schneider (Hg.) Zwischen den Kulturen Im Gedenken an Heinz Paetzold kassel university press Wolfdietrich Schmied-Kowarzik Helmut Schneider (Hg.) Zwischen den Kulturen Kasseler Philosophische Schriften – Neue Folge 5 Herausgegeben von Heinz Eidam und Wolfdietrich Schmied-Kowarzik Die Kasseler Philosophischen Schriften waren ursprünglich eine Reihe der Interdisziplinären Arbeitsgruppe für philosophische Grundlagenpro- bleme der Universität Kassel, in der von 1981 bis 2004 insgesamt 38 Bände und Hefte erschienen. 2006 wurde die Interdisziplinäre Arbeitsgruppe für philosophische Grundlagenprobleme nach generellen universitären Um- strukturierungen aufgelöst, obwohl sie ohne Zweifel durch 25 Jahre hin- durch das Profil der Universität Kassel mit großen Kongressen, interna- tionalen Symposien, Ringvorlesungen und eben durch ihre Schriftenreihe erfolgreich geprägt hat. Die dadurch verwaisten Kasseler Philosophischen Schriften werden nun in einer Neuen Folge unter veränderter Heraus- geberschaft fortgeführt. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik Helmut Schneider (Hg.) Zwischen den Kulturen Im Gedenken an Heinz Paetzold kassel university press Gedruckt mit Unterstützung der Universität Kassel, des Fachbereichs Geistes- und Kulturwissenschaften und des Instituts für Philosophie der Universität Kassel. Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar ISBN 978-3-89958-592-6 2012, kassel university press GmbH, Kassel www.upress.uni-kassel.de Satz: Frank Hermenau, Kassel Umschlaggestaltung: Heike Arend, Unidruckerei der Universität Kassel Druck und Verarbeitung: Unidruckerei der Universität Kassel Printed in Germany 1941 – 2012 Inhalt Vorwort der Herausgeber ............................................................................. 9 I. Interkulturelle Philosophie Heinz Kimmerle Das Verhältnis von Philosophie, Geschichte und Philosophiegeschichte von Nietzsche bis zur Interkulturellen Philosophie ................................... 15 Tanehisa Otabe Drei Stufen der Globalisierung im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Europa und Japan. Ein Beitrag zur interkulturellen Ästhetik .... 30 Dirk Stederoth Wege des Negativen. Zum Verhältnis der Negationsformen bei Nāgārjuna und Hegel ........................................................................... 44 Sarhan Dhouib Die Kritik an der kulturrelativistischen Auffassung der Menschenrechte. Stimmen arabischer Philosophen ............................................................... 56 II. Politik als philosophische Aufgabe Heinz Eidam Rationalität und Toleranz in kulturellen Konflikten .................................. 73 Joseph Bien Rousseau and the Concept of Legitimacy .................................................. 95 Gérard Raulet Contemporary political philosophy „after Marx“ .................................... 103 Hauke Brunkhorst Rechte haben keinen Tauschwert. Menschenrechtsverletzungen als Problem der Demokratie im Kampf gegen den Terror ....................... 119 Inhalt8 III. Ästhetik als kritische Theorie Roger Behrens Materialistische Ästhetik und transzendentalkritische Kulturphilosophie .................................................................................... 133 Helmut Schneider Die Ironie in Hegels Ästhetik. Gedanken zu einem nicht abgeschlossenen Gespräch mit Heinz Paetzold ....................................... 144 Gerhard Schweppenhäuser Wertgefühle, Wertunterscheidungen und moralische Wertbezeichnungen. Moralphilosophie im Kommunikationsdesign ......................................... 154 Jörg Gleiter Claude-Glas. Architekturkritik und Feuilleton ........................................ 174 IV. Philosophie symbolischer Formen Marlene Montes de Sommer Der Weg zum Kulturverstehen über Cassirers Lehre von der „symbolischen Form“ .............................................................................. 183 Hassan Givsan Cassirers Philosophie der Kultur als Philosophie der symbolischen Formen und die Frage, ob der Krieg, der Mord ... symbolische Formen sind .......................................................................................................... 202 Wolfdietrich Schmied-Kowarzik Religion als symbolische Form und/oder als Offenbarung ...................... 231 Anhang Philosophie des operativen Eingriffs – Ein Gespräch mit Heinz Paetzold von Roger Behrens und Harald Lemke .................................................... 251 Schriftenverzeichnis von Prof. Dr. Heinz Paetzold .................................. 259 Autorenverzeichnis .................................................................................. 272 Vorwort Den vorliegenden Band Zwischen den Kulturen haben wir ursprünglich Heinz Paetzold als Festschrift zu seinem 70. Geburtstag zugedacht. Die Idee dieses Konzepts wurde ihm bereits am 20. September 2011 präsentiert und er wusste vom Fortgang des Projekts, an dem sich Freunde, Kollegen und Schüler beteiligten, die ihm den fertigen Band zu seinem 71. Geburtstag überreichen wollten. Doch kurz vor Beendigung der editorischen Vorarbeiten erreichte uns die erschütternde Nachricht vom plötzlichen Tod von Heinz Paetzold während einer Reise zu einer philosophischen Tagung in Xuzhou/China am 9. Juni 2012. Wir Herausgeber entschlossen uns daher, den Band nun zu einer Gedenkschrift umzugestalten, informierten die Mitautoren und baten noch einige Freunde, die eng mit Heinz Paetzold zusammengearbeitet hatten, um Mitwirkung. Nicht alle konnten so kurzfristig in das schon laufende Projekt einsteigen, denn der Band sollte zu dem an der Universität Kassel geplanten akademischen Gedenksymposion für Heinz Paetzold vom 7. bis 8. Dezem- ber 2012 vorliegen. Heinz Paetzold wurde am 20. September 1941 in Schweinitz, Kreis Neu- markt in Niederschlesien geboren. Ende Mai 1946 wurden die Mutter mit ihren beiden Söhnen Horst und Heinz aus Polen vertrieben. Sie kamen zu- nächst in Obernkirchen (Kreis Schaumburg/Niedersachen) unter und zogen 1953 nach Vlotho (Kreis Herford / NRW) um. Dort besuchte Heinz Paetzold das Progymnasium, das Abitur legte er am Besselgymnasium in Minden (NRW) ab. Ab 1962 studierte er Philosophie, Germanistik, Pädagogik und Nordistik an den Universitäten Köln, Heidelberg, Hamburg und Kiel. Nach Abschluss des Studiums unterrichtete er Deutsch und Philosophie an verschiedenen Gymnasien in Hamburg. 1972 wurde er im Hauptfach Philosophie mit der Dissertation Neomarxistische Ästhetik. Bd. I: Bloch, Benjamin. Bd. II: Adorno, Marcuse (Düsseldorf 1974) bei Karl-Otto Apel an der Universität Kiel pro- moviert. 1978 habilitierte er sich in Philosophie mit der grundlegenden Arbeit Ästhetik des deutschen Idealismus. Zur Idee ästhetischer Rationalität bei Baumgarten, Kant, Schelling, Hegel und Schopenhauer (Stuttgart 1983) an der Universität Hamburg. 1977 wurde Heinz Paetzold zum Professor für Kommunikationstheorie und Kulturphilosophie im Fachbereich Gestaltung an der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Hamburg berufen, wo er bis zu seiner Pensionierung 2006 lehrte. Vorwort10 Seit 1982 war die Künstlerin Viola Klawan die Lebensgefährtin von Heinz Paetzold. Sie hat für einige seiner Buchpublikationen die visuellen Entwürfe in Form von Illustrationen, Fotoarrangements und Umschlaggestaltungen übernommen. 1986/1987 hielt Heinz Paetzold Vorlesungen an der Gerrit Rietveld Aca- demie in Amsterdam. Von 1988 bis 1992 war er Professor für Philosophie an der Rijksakademie van Beeldende Kunsten in Amsterdam und von 1992 bis 1997 Head of the Department of Theory an der Jan Van Eyck Akademie, einem postgraduierten Zentrum für Kunst, Design und Theorie zu Maast- richt. Hier organisierte er Konferenzen mit international bekannten Künst- lern und Theoretikern. Von 1995 bis 2000 war er Herausgeber der zweimal im Jahr erschienenen Zeitschrift Issues in Contemporary Culture and Aesthetics (Jan van Eyck Akademie). 1998 ließ er sich von der Universität Hamburg an die Universität Kassel umhabilitieren, um dadurch enger mit der Interdisziplinären Arbeitsgruppe für Philosophische Grundlagenprobleme der Universität Kassel zusammen- arbeiten zu können, deren korrespondierendes Mitglied er schon seit den 80er Jahren war. An der Universität Kassel betreute er nicht nur eine Reihe von Promotionen und Habilitationen, sondern knüpfte von hier aus auch ein Netzwerk internationaler Kontakte, die sich in vielfältigen gegenseitigen Gasteinladungen und Konferenzen niederschlugen. Seit den 90er Jahren war Heinz Paetzold einer der Direktoren der inter- nationalen Kurse für Sozialphilosophie am Inter-University Centre in Dub- rovnik. Von 2004-2007 war er Präsident der International Association for Aesthetics, weiterhin nahm er mehrfach Gastprofessuren in Japan, Norwe- gen und Polen wahr. So war er häufig nicht nur Vortragender, sondern auch Mitorganisator internationaler Konferenzen. Als einer der Mitorganisatoren bereitete er für den XXIII. Weltkongress der Philosophie in Athen im kom- menden Jahr 2013 die Sektion „Philosophie der Stadt“ vor. Auf seiner letzten Reise zu einer internationalen philosophischen Konferenz in China verstarb Heinz Paetzold unerwartet und mitten aus seiner wissenschaftlichen Arbeit gerissen am 9. Juni 2012 in Xuzhou. Im vorliegenden Band Zwischen den Kulturen greifen Freunde, Kollegen und Schüler Gespräche auf, die sie mit Heinz Paetzold geführt hatten, versuchen gemeinsame Gedankengänge weiterzuverfolgen oder führen Streitgespräche fort in Erinnerung an vorausgehende Debatten. Die vier Kapitel des Bandes markieren die vier großen, untereinander verschränkten Arbeitsfelder, in denen Heinz Paetzold maßgeblich gewirkt hat (hier in umgekehrter Reihen- folge genannt): (1) Von Karl-Otto Apels Transzendentalpragmatismus herkommend, war doch Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen viel stärker das große Leitmotiv seines Philosophierens. Obwohl in seinen Arbeiten zu Cas- sirer immer um hermeneutische Treue bemüht, war Heinz Paetzold doch Vorwort 11 niemals nur Mitläufer einer Schulrichtung, sondern er versuchte, die erkann- ten Schwächen in Cassirers Ansatz, die für ihn vor allem im Mangel einer anthropologischen Verankerung sowie einer politischen Perspektive lagen, durch Rückgriffe auf Helmuth Plessner und Maurice Merleau-Ponty einer- seits und auf die kritische Theorie andererseits auszugleichen. Diese Bezüge zur Philosophie der symbolischen Formen Cassirers werden in den Beiträ- gen des vierten Kapitels des vorliegenden Bandes besonders heftig und kon- trovers debattiert. (2) Das inhaltliche Zentrum seiner philosophischen Arbeit kreiste von Anfang an um das Thema des Ästhetischen in einem sehr weiten und ein- greifenden Sinne. Seine Einstiege beginnen mit grundlegenden Auseinander- setzungen mit den Klassikern der Ästhetik – Baumgarten, Kant, Schelling und Hegel – schreiten fort über die Ansätze materialistischer Ästhetik – Ernst Bloch, Walter Benjamin, Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse – und reichen bis hin zur Diskussion um die Post-Moderne der Gegenwart. Der entscheidende Einstieg seiner eigenen Position liegt aber darin, aus den reinen Theoriespiralen herauszukommen und das Ästhetische in der gesell- schaftlichen Realität aufzuspüren – hier war vor allem die Urbanität ein Brennpunkt seiner philosophischen Forschungen. Die Beiträge zur Ästhetik im dritten Kapitel nehmen Anregungen von Heinz Paetzold auf und führen sie in historischer und aktueller Richtung fruchtbar weiter. (3) Obwohl weniger in seinen Hauptwerken dargelegt, aber doch im En- gagement seines Wirkens immer präsent, galt sein Philosophieren der glo- balen Durchsetzung der Menschenrechte und der sozialen Gerechtigkeit. So untersucht und diskutiert Heinz Paetzold in einer seiner letzten, noch nicht veröffentlichten Abhandlungen „The Concept of Politics in Kant’s Toward Perpetual Peace“ die bleibende Herausforderung, die von Kants Grundge- danken bis in unsere Zeit fortbesteht. Da diese Studie und weitere Beiträge aus jüngerer Zeit, die sich kritisch mit neueren Ansätzen der politischen Philosophie von Jean-François Lyotard bis Jürgen Habermas auseinander- setzen, aus dem Umfeld der Kurse des Inter-University Centre in Dubrovnik stammen, ist es nicht verwunderlich, dass gerade diese Themen der politi- schen Philosophie von seinen Mitdirektoren dieser internationalen Kurse aufgegriffen und weiterdiskutiert werden. (4) Die Interkulturelle Philosophie war Heinz Paetzold in den letzten Jahrzehnten ein besonderes Anliegen geworden. Hierzu hat er durch seine internationalen Kontakte, seine Gastaufenthalte in Japan, Norwegen, Polen, Slowenien, Kroatien und China viele Erfahrungen sammeln können, und hierüber hat er in vielen seiner Lehrveranstaltungen an der Universität Kassel vorgetragen und arbeiten lassen. In diesem Anliegen, mit anderen Kulturen in ein verstehendes Gespräch zu kommen und zu einer friedlichen Verstän- digung unter den Völkern beizutragen, schließt sich der Kreis des Philoso- phierens von Heinz Paetzold zurück zur Grundlegungsdiskussion mit Ernst Cassirers Kulturphilosophie. Es ist daher verständlich, dass nicht nur die im Vorwort12 ersten Kapitel gesammelten Beiträge diesem Thema gewidmet sind, sondern auch weitere Beiträge der drei anderen Kapitel dieses Thema aufgreifen und weiterzuführen, wie es auch sonst ganz im Sinne von Heinz Paetzold eine Vielzahl von Überlappungen der vier Themenkreise mit mannigfaltigen Vor- griffen und Rückverweisen gibt. Dem Andenken an Heinz Paetzold widmen wir den vorliegenden Band, dessen Titel Zwischen den Kulturen in mehrfacher Hinsicht das vermittelnde Anliegen und Wirken seines Philosophierens kennzeichnet. Wir danken allen Autoren für die kooperative und zügige Zusammenarbeit. Für viele Hinweise zu Lebensdaten und Publikationen von Heinz Paetzold danken wir seiner Lebensgefährtin Viola Klawan und seinem Bruder Horst Paetzold. Schließlich danken wir Dr. Frank Hermenau für die Übernahme der Satzarbeiten. Wien und Kassel 20. September 2012 Wolfdietrich Schmied-Kowarzik Helmut Schneider I. Interkulturelle Philosophie „Meine These in diesem Essay ist, daß gedeihlicher Multikulturalismus und interkulturelle Philosophie einander fordern. Eine Konsequenz davon ist, daß die von Taylor beanspruchte Gadamersche Horizontverschmelzung die Dinge zu simpel sieht. Richtig ist, daß das ernsthafte Verstehenwollen fremder Kulturen das Selbstverständnis des Verstehenden affiziert und ver- ändert. Richtig ist aber auch, wie Kimmerle mit Blick auf die interkulturelle Philosophie unterstrichen hat, daß ‚erratische‘ Blöcke beim Verstehen einer fremden Kultur bleiben. Es ist eine eigne Disziplin des Zuhörens nötig. Das Sich-Öffnen für das Andere erfordert Verstehensleistungen, die nicht von der traditionellen Hermeneutik Gadamerscher Provenienz erfaßt werden. […] Das Durchdenken des Multikulturalismus führt uns unweigerlich zur in- terkulturellen Philosophie. […] Kulturen, so läßt sich mit dem späten Cas- sirer und der Kritischen Theorie sagen, können glücken, aber auch scheitern. Kultur ist nicht einfach da, sondern wird gelebt und bewertet. Glückende Kulturen sind solche, das menschliche Leben nicht nur erleichtern, sondern es auch reicher machen. Wie immer man hier die Grenze ziehen mag, unsere Kritik von Fundamentalismus, Rassismus und Ethnozentrismus beansprucht diese Scheidung. […] Ein gedeihlicher Multikulturalismus hilft, daß die interkulturelle Phi- losophie nicht nur ein Schattendasein führt. Umgekehrt ist die interkulturelle Philosophie, sofern sie von ihrem Schulbegriff zu einem Weltbegriff über- geht, ein Organon, um in den Streit über den Multikulturalismus klärend einzugreifen.“ Heinz Paetzold, „Von der Multikulturalität zur Interkulturalität“1 1 Heinz Paetzold, „Von der Multikulturalität zur Interkulturalität“, in: Wolfdietrich Schmied- Kowarzik (Hg.), Verstehen und Verständigung. Ethnologie – Xenologie – Interkul- turelle Philosophie, Würzburg 2002, S. 356ff. Heinz Kimmerle Das Verhältnis von Philosophie, Geschichte und Philosophiegeschichte von Nietzsche bis zur Interkulturellen Philosophie Einleitung Im hier folgenden Beitrag soll untersucht werden, was Nietzsche und Hei- degger, Derrida und Vertreter der interkulturellen Philosophie zum Verhält- nis von Philosophie, Geschichte und Philosophiegeschichte gesagt haben. Diese Auswahl ist zufällig oder intuitiv getroffen. Erst wenn die Unter- suchungen erfolgt sind, läßt sich sagen, in welchem Sinn damit ein Stück Philosophiegeschichte geschrieben ist und wie dieses zur Philosophie und zur Geschichte ins Verhältnis zu setzen ist. Damit präsentiere ich in verkürz- ter Form einen aktuell relevanten Ausschnitt aus meinem Buch Philosophie – Geschichte – Philosophiegeschichte. Ein Weg von Hegel zur interkulturellen Philosophie.1 1. Inhaltliche Bestimmung, geographische Begrenzung und Zeitperspektive der Philosophie und der Geschichte bei Nietzsche Hegel denkt die Weltgeschichte als Geschichte der Staatsverfassungen, die vom Weltgeist und letzten Endes vom Vollzug des reinen Denkens gesteuert wird. Für Marx geht es letztlich um die ökonomische und gesellschaftliche Entwicklung, die sich mit den Eigentums- und Arbeitsverhältnissen ändert. Bei Nietzsche ist das, was den Inhalt des geschichtlichen Geschehens aus- macht, ein Konglomerat von Beziehungen zwischen Menschen, das man Kultur nennen kann. Die Werte sind maßgebend, an denen sich die Men- schen orientieren. Dabei spielen bestimmte geistige oder seelische Kräfte eine entscheidende Rolle, die aber im Körper verankert sind. Nietzsche spricht von der ‚großen Vernunft des Leibes‘ und wendet sich gegen die ‚Verachtung des Leibes‘ im Christentum. Die antike griechische Kultur ist ein tragender Anfang für die gesamte weitere europäische Geschichte. Sie hat ihren Mittelpunkt in der Kunst, die immer auch eine sinnlich-körperliche Seite hat, und besonders in der Tragödie. 1 Heinz Kimmerle, Philosophie – Geschichte – Philosophiegeschichte. Ein Weg von Hegel zur interkulturellen Philosophie, Nordhausen 2009. Heinz Kimmerle16 In der Tragödie wird ein Gleichgewicht der Kräfte des Dionysischen, Rauschhaften, Dynamischen und des Apollinischen, gedanklich Klaren, Ge- ordneten angestrebt. Dieses Gleichgewicht wird durch die Tragödie immer wieder in Frage gestellt und auch immer wieder erkämpft. Nietzsche sieht zunächst in der tragischen Kultur der Griechen im Sinn Schopenhauers eine pessimistische Grundstimmung im Blick auf das Leben und die Kultur ausgedrückt. In seinem 15 Jahre späteren Vorwort zu dem Frühwerk von 1872: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik münzt er diesen Gedanken um und fragt, ob der Pessimismus nicht auch ein Zeichen der Stärke sein kann. Denn inzwischen hat Zarathustra im Namen Nietzsches das große ‚Ja‘ zum Leben mit seinen Licht- und Schattenseiten verkündet und die Menschen das Lachen gelehrt.2 Von Anfang an ist Nietzsche überzeugt, daß die griechische Kultur nicht ein originär europäisches Produkt ist. Die Griechen sind „vielmehr unauf- hörlich darauf bedacht, durch regen Austausch mit dem Fremden zu lernen“. Sie entwickeln sowohl gegenüber der eigenen Vergangenheit, als auch ägyptischen, orientalischen und fernöstlichen Einflüssen eine überlegene Lebensform. Aber ihre Überlegenheit liegt darin, daß sie „Vollender, nicht Erfinder“ sind, ein „Volk von Lernenden schlechthin“. Selbst der Gott Dionysos ist nicht-griechischen Ursprungs. Die „dionysischen Barbaren“ der umgebenden Kulturen kennen jedoch die zivilisierende Wirkung nicht, die aus der Duplizität von Dionysischem und Apollinischem hervorgeht.3 In seiner Bewertung nicht-europäischer Kulturen bleibt Nietzsche bei ihrer Charakterisierung durch die alten Griechen, daß diese Kulturen bar- barisch sind und auf einem niedrigen Niveau der Entwicklung stehen. Er macht indessen einige Ausnahmen wie bei den Phöniziern und Babyloniern. Was die Philosophie und ihre Geschichte betrifft, ist Indien eine solche Ausnahme. Er schreibt an seinen langjährigen Freund, den Indienforscher Paul Deussen, die „indische Entwicklung“ sei die „einzige große Parallele […] die es zu unserer europäischen Philosophie giebt“.4 Diese Einschätzung wird nicht ohne den Einfluß Schopenhauers entstanden sein. Wörtlich sagt er in dem zitierten Brief, daß er sein „übereuropäisches Auge“ vor allem Deussen verdankt. In der Tat überschreitet Nietzsche damit den auf Europa begrenzten Denkhorizont von Hegel und Marx. Nietzsche bemüht sich darum, „Gerech- 2 Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München/Berlin 1980, Bd. 1, S. 12 und 22, Bd. 4, S. 368. 3 Nietzsche, Bd. 1, S. 31-34; vgl. Elke Angelika Wachendorff, Friedrich Nietzsche – Denker der Interkulturalität, Nordhausen 2006, S. 34, und Andrea Orsucci, Orient- Okzident. Nietzsches Versuch einer Loslösung vom europäischen Weltbild, Berlin/New York 1996, S. 5 und 9-10. 4 Nietzsche, Bd. 8, S. 222. Das Verhältnis von Philosophie, Geschichte und Philosophiegeschichte 17 tigkeit gegen verschiedene Culturen“ walten zu lassen und fordert dazu auf, eine umfassende „Historien- und Völker-Vergleichung“ durchzuführen.5 Die Betrachtung und Bewertung der europäischen Geschichte steht indessen deutlich im Vordergrund. Die „Historie“ oder Geschichtsbetrachtung wird nach ihrem „Nutzen und Nachtheil“ bewertet, den sie „für das Leben“ hat, wie Nietzsche in der Zweiten seiner Unzeitgemäßen Betrachtungen von 1874 ausführlich darstellt. Es kommt darauf an, das rechte Maß bei den verschiedenen Formen der Historie zu finden und einzuhalten.6 Für die Bewertung der europäischen Geschichte ist neben der Lebens- bejahung der Griechen die Rolle des Christentums von entscheidender Bedeutung. Nietzsche sieht in der Forderung nach einem allgemeinen Sün- denbewußtsein, in der Hinwendung zu den Schwachen, in der Leibfeind- lichkeit und im Mitleid eine Verleugnung des Urtriebs der Menschen, den er ‚Wille zur Macht‘ nennt. Auf diese Weise wird einer ‚Sklavenmoral‘ statt der ursprünglicheren Werte des Herrschenwollens allgemeine Geltung ver- schafft. Es geht indessen nicht primär um einer Verleugnung des Willens zur Macht, sondern um dessen Pervertierung. Die Priester führen die Skla- venmoral ein und benutzen sie, um so auf indirektem Weg ihre eigene Herrschaft zu begründen und zu festigen. Der Buddhismus hat mit seiner Tendenz, das Leiden zu vermindern und zu überwinden und den ‚Selbst- betrug‘ der Moralbegriffe des Guten und des Bösen hinter sich zu lassen, einen Vorteil gegenüber dem Christentum. Aber letztlich gehört er wie dieses der „nihilistischen Bewegung“ der Geschichte an.7 Er gibt dem Ni- hilismus indessen eine gewisse ‚übereuropäische‘ Bedeutung. Durch den Einfluß des Christentums auf die europäische Geschichte wird diese nihilistisch, weil die Werte der Lebensbejahung und des Willens zur Macht in dieser Geschichte von der Masse der Menschen verleugnet und damit weitgehend zunichte gemacht werden. Sofern der Buddhismus, der diesen Werten relativ betrachtet näher steht, sie ebenfalls nicht wirklich anerkennt, gilt die Kennzeichnung der Geschichte als nihilistisch auch über Europa hinaus. In der eigenen Gegenwart Nietzsches im ausgehenden 19. Jahrhundert kommt es zu einem allgemeinen Werteverfall, der in der um sich greifenden décadence zutage tritt. Richard Wagner ist für Nietzsche, nachdem er sich von ihm abgewendet hat, der „Künstler der décadence“, der sogar „die Musik krank gemacht“ hat.8 Daß die christlichen Werte ihre bindende Kraft verlieren, diagnostiziert Nietzsche mit der berühmten These, daß ‚Gott tot ist‘. Damit ist eine Zuspitzung des Nihilismus gegeben, der sich noch weiter steigern und auf diese Weise für jedermann offenkundig werden wird. 5 Nietzsche, Bd. 8, S. 373 und 455. 6 Nietzsche, Bd. 1, S. 258 und 271f. 7 Nietzsche, Bd. 13, S. 267 8 Nietzsche, Bd. 6, S. 21. Heinz Kimmerle18 Die Geschichte ist also eher eine Verfallsgeschichte, als daß sich in ihr im Sinn Hegels ein immer weitergehender Fortschritt ereignet. Nach einer Zuspitzung des Negativen kommt es indessen zu einem Umschlag ins Positive. Der japanische Nietzscheforscher Keiji Nishitani formuliert zutref- fend, daß dieser Umschlag als eine „Selbstüberwindung des Nihilismus“ vor sich gehen wird.9 Inhaltlich gesehen geht es um eine Wiedergeburt Griechenlands aus der Erneuerung, dem „Umschaffen der Überzeugungen“ der deutschen und europäischen Kultur, eine Umkehrung der darin herr- schenden nihilistischen Bewegung. Wie die antike griechische Kultur für Nietzsche den sonst nirgendwo erreichten Höhepunkt der Kulturentwicklung auf europäischem Boden bildet, so wird auch der „Universalmensch der Zukunft“, der durch eine Wiedergeburt Griechenlands erwartet werden kann, „europäisch“ sein.10 Im Blick auf die Zukunft „im neuen Jahrhundert“, dem 20., trifft Nietzsche dann durchaus hellsichtige Voraussagen, auch wenn sie aus einer heute nicht mehr nachvollziehbaren Sicht des damaligen Bildungsbür- gertums formuliert werden. In diesem Jahrhundert wird „die Menschheit“, insbesondere in Europa, „schon viel mehr Kraft durch die Beherrschung der Natur erworben haben als sie verbrauchen kann und dann wird etwas vom Luxushaften unter die Menschen kommen […] Allein die Luftschifffahrt wirft alle unsere Culturbegriffe über den Haufen“ Durch sie, aber nicht nur durch sie wird so etwas wie Tourismus in eine verschönerte Natur entstehen. Und „man wird die zurückgebliebenen Völkerschaften Asiens Afrikas usw. als Arbeiter verwenden, die Bevölkerungen des Erdbodens werden anfangen sich zu vermischen.“11 Zarathustra verkündet im Namen Nietzsches noch eine ganz andere Be- trachtungsweise aller Geschichte. Wie Nietzsche kommt Zarathustra nach langer Einsamkeit wieder unter die Menschen und sagt der Masse der „klei- nen Leute“, vor allem aber den „Schaffenden“, den „höheren Menschen“, nachdem „Gott gestorben ist“, das Kommen eines neuen Menschentyps voraus, den er als „Übermenschen“ bezeichnet. „Gott starb: nun wollen wir, – dass der Übermensch lebe“. Aber „das sind feine ferne Dinge“, die jetzt noch nicht begriffen werden.12 Mit der Wiedergeburt des Griechentums in Deutschland und Europa wird sich nicht nur das Ende und die Selbst- überwindung des Nihilismus vollziehen. Das ist ein Zeichen dafür, was Zarathustra die „ewige Wiederkehr des Gleichen“ nennt. Mit diesem Ge- danken wird eine äußerste weitreichende geschichtliche Perspektive eröff- net. Am Mittag, dieser „heimlichen feierlichen Stunde“, wird für Zarathustra 9 Keiji Nishitani, The Self-Overcoming of Nihilism, New York 1949 10 Nietzsche, Bd. 8, S. 44 und 305. 11 Nietzsche , Bd. 9, S. 135. 12 Nietzsche , Bd. 4, S. 356-362. Das Verhältnis von Philosophie, Geschichte und Philosophiegeschichte 19 die Welt „vollkommen“, „rund und reif“. Die Zeit steht still, sie fliegt da- von, der „Mittags-Abgrund“ wird „Brunnen der Ewigkeit“.13 Zu diesem schwer zu fassenden Gedanken über den Geschichtsverlauf, mit dem Nietzsche seine sonstige teils positive, teils kritische Sicht auf die Geschichte der europäischen Philosophie weit hinter sich läßt, gehört eine Geschichtsbetrachtung, die sich auf den prähistorischen Ursprung der Mo- ralbegriffe richtet, die in historischer Zeit die Lebensbejahung und den Willen zur Macht so sehr verfälscht und geschwächt haben. In seiner 1878 erschienenen Schrift Menschliches, Allzumenschliches wendet er sich gegen den „Erbfehler der Philosophen“, ihren „Mangel an historischem Sinn“. Damit meint er, daß sie historisch viel zu kurz greifen, wenn sie auf die Griechen oder die um Einiges ältere indische Tradition zurückgehen. Sie beschäftigen sich dabei nur mit der „allerjüngsten Gestaltung“. Nach Nietz- sche ist „alles Wesentliche in der menschlichen Entwicklung in Urzeiten vor sich gegangen, lange vor jenen viertausend Jahren, die wir ungefähr ken- nen.“14 In der Streitschrift von 1887 Zur Genealogie der Moral richtet er sich dann auf diese Urzeiten, um die Entstehungsgeschichte der moralischen Begriffe des Guten und des Bösen aufzudecken. Gilles Deleuze und Michel Foucault weisen darauf hin, daß es sich dabei nicht um einen Ursprung die- ser Begriffe handelt, sondern wie Nietzsche sagt, um ihren „Entstehungs- heerd“. Damit ist nach ihrer Darstellung eine gegebene „Konstellation“ gemeint. Nietzsche sucht nach einem „differentiellen Element“ zur bekann- ten Geschichte, das heißt nach etwas, das irgendwann einmal anders war. Außerdem kann eine genealogische Betrachtungsweise im Unterschied zur üblichen Methodik der Geschichtswissenschaften und der Geschichtsphi- losophie ungeprüfte metaphysische Annahmen vermeiden wie die der Kon- tinuität und Linearität des Geschichtsverlaufs.15 Auch wenn er keine nähere zeitliche Bestimmung angibt, spricht sich Nietzsche inhaltlich sehr deutlich über die Herkunftsfrage aus. Es sind „die ‚Guten selber‘ gewesen, das heißt die Vornehmen, Mächtigen, Höherge- stellten und Hochgesinnten, welche sich selbst und ihr Thun als gut, nämlich als ersten Ranges empfanden und ansetzten, im Gegensatz zu allem Nied- rigen, Niedrig-Gesinnten, Gemeinen und Pöbelhaften“. Sie besaßen ein „Pa- thos der Distanz“, ein „Gesammt- und Grundgefühl einer höheren herr- schenden Art im Verhältnis zu einer niederen Art, einem ‚Unten‘ – das ist der Ursprung des Gegensatzes von ‚gut‘ und ‚schlecht‘“. Historisch gese- 13 Nietzsche, Bd. 4, S. 342-345. 14 Nietzsche, Bd. 2, S. 24-25. 15 Gilles Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, München 1976, S. 5-7; Michel Fou- cault, „Nietzsche, die Genealogie, die Geschichte“, in: Michel Foucault, Von der Sub- version des Wissens, München 1974, S. 83-110; vgl. Martin Saar, Genealogie als Kritik. Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault, Frank- furt/M. 2007. Heinz Kimmerle20 hen, greift Nietzsche damit auf den „Ursprung der Sprache“ selbst zurück, die er als eine „Machtäußerung der Herrschenden“ interpretiert, als ihr Recht, „Namen zu geben“. Diese These wird von Nietzsche unterstützt durch den Hinweis auf eine etymologische Besonderheit in der deutschen Sprache, nach der das Wort „schlecht“ mit „schlicht“ identisch ist, „und ursprünglich den schlichten, den gemeinen Mann […] einfach im Gegensatz zum Vor- nehmen bezeichnete“.16 Die Oben-Unten-Topologie, die hier zum Ausdruck kommt, ist freilich unangemessen. Deleuze und Foucault verweisen in diesem Zusammenhang auf die Begriffe „Kraft“ und „Intensität des Lebens“, die ebenfalls für Nietzsches Denken charakteristisch sind, und den gemeinten Sachverhalt in adäquaterer Weise ausdrücken. Dafür finden sie in Nietzsches Text, und zwar in der ein Jahr vorher veröffentlichten Schrift Jenseits von Gut und Böse, deutliche Anhaltspunkte. Von den Vornehmen und Herrschenden heißt es: „Im Vordergrunde steht das Gefühl der Fülle, der Macht, die überströ- men will, das Glück der hohen Spannung, das Bewusstsein eines Reich- thums, der schenken und abgeben möchte“. Umgekehrt wird der Niedrige und Niedrig-Gesinnte beschrieben als „der Feige, der Ängstliche, der Kleinliche, der an die enge Nützlichkeit Denkende […] der Misstrauische mit seinem unfreien Blicke, der Sich-Erniedrigende, die Hunde-Art von Mensch, welche sich misshandeln lässt, der bettelnde Schmeichler, vor Allem der Lügner“.17 2. Seinsgeschichtliche Konzeption der Philosophiegeschichte als Voraussetzung für die ‚Destruktion‘ der europäischen Philosophiegeschichte Anders als bei Hegel und vergleichbar mit Nietzsches Position ist die Ge- schichte für Heidegger nicht vom Fortschritt, sondern vom Verfall bestimmt. Der griechische Anfang ist ähnlich wie bei Hegel, aber in der Zuspitzung auf die Philosophie, der absolute Anfang. Davor gibt es kein Philosophie, auch keine ‚Vorformen‘ oder Quellen der Philosophie. Heidegger greift zwar zurück auf die Zeit vor der Begründung der europäisch-westlichen Phi- losophie, die für ihn die einzige ist, die es gibt, bei Platon und Aristoteles. Er bezieht sich aber nicht auf irgendwelche Urzeiten wie Nietzsche in der Genealogie der Moral, sondern auf die Vorsokratiker, bei denen bestimmte Festlegungen der philosophischen Arbeit, insbesondere die Annahme eines höchsten Prinzips, von dem alles andere abgeleitet wird, noch nicht erfolgt sind und insofern eine größere Offenheit herrscht. 16 Nietzsche, Bd. 5, S. 258-260. 17 Nietzsche, Bd. 5, S. 2-9. Das Verhältnis von Philosophie, Geschichte und Philosophiegeschichte 21 Worum es in der Philosophie seit den Griechen geht, ist die Frage nach dem Sein. Für diese Frage ist indessen „allererst wieder ein Verständnis […] zu wecken“. Dieses Verständnis ist seit Platon und Aristoteles verloren gegangen. Das Sein wird seitdem als ein Seiendes aufgefaßt, als ein Fest- stehendes, Bestimmbares. Demgegenüber strebt Heidegger eine „Interpre- tation der Zeit als des möglichen Horizonts eines jeden Seinsverständnisses“ an.18 Das Sein ist also nicht zeitlos, immer gleich, sondern zeigt sich in der Zeit auf je verschiedene Weise. Die Geschichte der Philosophie seit Platon und Aristoteles wird demgemäß als ‚Seinsvergessenheit‘ charakterisiert, im Sinn des angestrebten Seinsverständnisses, das wesentlich auf die Zeit be- zogen ist. Heidegger nennt diese Geschichte auch die Geschichte der Meta- physik. Die Geschichte der Seinsvergessenheit oder der Metaphysik ist aber nicht einfach ein Irrtum. Sie ist ein ‚Geschick‘ des Seins. Indem das Sein sich unter bestimmten Aspekten zeigt, verbirgt es andere. Das ist dem Per- spektivismus Nietzsches verwandt. Es bedingt auch Heideggers Wahrheits- auffassung, die er im Anschluß an die ursprüngliche Bedeutung der grie- chischen α-ληθεια darstellt. Wahrheit ist Un-verborgenheit, das Hervortreten aus der Verborgenheit, bei der immer ein Entbergen und zugleich ein Ver- bergen vor sich gehen.19 In der Geschichte der Metaphysik zeigt sich eine Gestalt der Wahrheit des Seins, daß es als ein höchstes Seiendes gedacht werden kann, von dem aus das Seiende im ganzen zu erfassen ist. Die Me- taphysik begreift sich aber nicht selbst als eine mögliche Gestalt der Wahr- heit des Seins, sondern als die endgültige, feststehende, abschließend formu- lierbare Wahrheit dessen, was ist. Damit verkehren sich ihre partiell richtigen Bestimmungen in ihren schicksalhaften Irrtum. Mit dem Programm einer ‚Destruktion‘ der Metaphysik, wie Heidegger es im Anschluß an Sein und Zeit im Blick auf den als solchen nie erschienen Zweiten Teil dieses Werkes formuliert, will er die Metaphysik nicht zerstö- ren, sondern auf ein Seinsverständnis im Horizont der Zeit zurückbe- ziehen.20 In der Einleitung zu der Schrift Was ist Metaphysik? macht er klar, daß es bei der Frage nach dem Grund der Seinsvergessenheit des metaphy- sischen Denkens nicht um dessen Widerlegung geht, sondern darum, durch das Freilegen des Grundes, auf den es gebaut ist, sein Recht und seine Grenze aufzuzeigen.21 Deshalb sagt er auch, daß er nicht nach dem Grund, sondern in den Grund der Metaphysik fragt. Das führt ihn zurück zu Platon und Aristoteles, deren Wahrheitsauffassung und Zeitverständnis kritisch analysiert werden. Und es eröffnet eine Sicht auf das vorplatonische oder 18 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1953, 7. Auflage, S. 1. 19 Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, Frankfurt/M. 1954, 3. Aufl., S. 14-23. 20 Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt/M. 1951, 2. Aufl., ist ein Text, der als ein Beispiel für die Destruktion der Metaphysik gelesen werden kann, die allererst deren ‚Grundlegung‘ zu bedenken hat. 21 Heidegger, Was ist Metaphysik?, Frankfurt/M. 1955, 7. Aufl., S. 7-23. Heinz Kimmerle22 vorsokratische Denken, in dem die Festlegungen des metaphysischen Den- kens noch nicht erfolgt waren, in dem insofern eine größere Offenheit an- zutreffen ist. Mit der Hinwendung zu den Vorsokratikern ist auch eine Veränderung in der Terminologie Heideggers verbunden. Er hatte in einem Vortrag von 1936 Europa und die deutsche Philosophie eine regelrechte Gleichsetzung beider Begriffe: Europa und Philosophie vorgeschlagen. Der griechische Anfang der Philosophie hatte die Philosophie in Europa auf den Weg gebracht, der neben ihrer Größe auch zu der enormen Einseitigkeit ihrer Seinsvergessen- heit geführt hat. In bestimmten Strömungen der deutschen Philosophie, bei der er besonders an Jakob Böhme, Leibniz und Kant, Schelling und Höl- derlin und zuletzt an Nietzsche denkt, sieht Heidegger in diesem Vortrag Be- dingungen der Möglichkeit für einen neuen Anfang, der dem griechischen vergleichbar sein soll und dessen problematische Grundeinstellung vermeiden soll.22 Hegels Eurozentrismus wird durch diesen Gedanken zu einem Ger- manozentrismus übersteigert. Der spätere Heidegger kann die Terminologie beibehalten, die Europa und die Philosophie als Synonyme auffaßt, ohne den Eurozentrismus oder gar den Germanozentrismus von 1936 aufrecht zu erhalten, indem er sich selbst kritisch von der gesamten Geschichte der Philosophie absetzt. Die Geschichte der Metaphysik von Platon und Aristoteles bis zu Hegel und Nietzsche heißt nun die Geschichte der Philosophie. Heideggers eigenes Den- ken nach Nietzsche gehört nicht mehr der Geschichte der Philosophie an. Er nennt sich selbst nicht mehr einen Philosophen, sondern einen Denker – oder im Gespräch mit einem japanischen Kollegen, der sich seinerseits durchaus als Philosoph versteht, einen „Fragenden“.23 Im vorsokratischen Denken, wie es bei Parmenides und Heraklit und vor allem auch im ‚Spruch des Anaximander‘ zum Ausdruck kommt, findet sich noch „die frühe Spur des Unterschiedes“ von Sein und Seienden, den Heidegger auch die ‚ontologische Differenz‘ nennt, und der seit Platon und Aristoteles vergessen wird. Dieser Spruch verweist noch darauf, daß die Seienden schicksalhaft auf einander bezogen sind „nach der Ordnung der Zeit“. Das frühe Denken Anaximanders hat aber im Blick auf Europa und die Welt Zukunftsbedeutung. Heidegger deutet an, daß „das Einst der Frühe“ der abendländischen Geschichte als das Einst des Letzten (εσχατον) wieder kommen könne. Darin klingt auf andere Weise Nietzsches Gedanke der ewigen Wiederkehr des Gleichen an. Heidegger greift nicht wie Nietz- sche in der Genealogie der Moral auf uralte vorgeschichtliche Epochen zurück. Die Wiederkehr des frühen vorsokratischen Denkens hat indessen 22 Heidegger, „Europa und die deutsche Philosophie“, in: Hans-Helmuth Gander (Hg.), Europa und die Philosophie, Frankfurt/M. 1993, S. 31-41, s. bes. S. 40. 23 Heidegger, „Aus einem Gespräch von der Sprache“, in: Unterwegs zur Sprache, Pful- lingen 1959, S. 85-155. Das Verhältnis von Philosophie, Geschichte und Philosophiegeschichte 23 durchaus endgeschichtliche Perspektiven, die zwar nicht apokalyptisch, aber doch „eschatologisch“ sind.24 Der Gedanke eines tragenden Anfangs, der nicht wie bei Hegel in einer linearen, immer mehr Fortschritt mit sich bringenden Entwicklung ausge- baut wird, sondern einen Möglichkeitsspielraum eröffnet, der auf verschie- dene Weisen durchgespielt wird, scheint mir sehr fruchtbar. Der griechische Anfang war in diesem Sinn für die europäisch-westliche Philosophie von Platon und Aristoteles bis zu Hegel und Nietzsche ein tragender Anfang. Daß dieser Anfang wiederholt werden kann oder soll, finde ich weniger überzeugend. Für den späteren Heidegger ist dann auch nicht mehr die deutsche Philosophie besonders dazu berufen, diese Wiederholung zu er- möglichen, sondern diese soll im planetarischen Maßstab erfolgen. Was sich im Sinn der Formel Nietzsches von der ewigen Wiederkehr des Gleichen wiederholen kann und soll, ist, daß in der Tat ein neuer tragender Anfang gefunden wird, der aber unter neuen eigenen Bedingungen steht. Das realgeschichtliche Pendant der Geschichte der Metaphysik und der Seinsvergessenheit ist bei Heidegger die zunehmende Technisierung des Lebens und der Welt. Er beschreibt diese aber nicht in soziologischer Hinsicht. Er begreift das Wesen der Technik als eine Macht, die den Menschen und seine Geschichte beherrscht. Daß alles machbar und herstellbar ist, macht die Welt zu einem „Ge-Stell“25 Die Technik ist Ausdruck dessen, was Nietzsche den Willen zur Macht genannt hat. Die einzige Gegeninstanz ist die Kunst, in der die Wahrheit sich ins Werk setzt, eine Offenheit für das Wesen der Dinge bewahrt und die Haltung des Sichverdankens dem Sein gegenüber einge- nommen wird.26 Indessen ist die Technik übermächtig, und es scheint, daß ihre Herrschaft einen absoluten Höhepunkt erreichen muß, bevor Anderes möglich wird. Das wird man im Kontext von Heideggers Denken aber nicht als einen dialektischen Umschlag im Hegelschen Sinn auffassen dürfen. Seine Konzeption der Geschichte Europas, die von der Geschichte der Metaphysik als Seinsvergessenheit und der ‚Eschatologie des Seins‘ als der Wiederkehr eines ursprünglicheren Denkens bestimmt ist, präzisiert Heideg- ger in einer Antwort auf den Essay Über die Linie von Ernst Jünger, der zuerst 1950 in der Festschrift zu Heideggers 60. Geburtstag, wenig später auch als selbständige kleine Schrift erschienen ist (Frankfurt/M. 1951). Im Anschluß an Nietzsches Äußerungen zum vollendeten Nihilismus, den die- ser bereits „hinter sich, unter sich, außer sich“ habe, konstatiert Jünger, daß die Linie, durch welche die Vollendung und Überwindung des Nihilismus bezeichnet wird, bereits überschritten sei. Diesseits dieses „Nullmeridians“ 24 Heidegger, „Der Spruch des Anaximander“, in: Holzwege, Frankfurt/M. 1950, S. 336 und 301f. 25 Heidegger, „Die Frage nach der Technik“, in: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, S. 9-40. 26 Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerks“, in: Holzwege, S. 25-27. Heinz Kimmerle24 zeige sich „eine neue Zuwendung des Seins“.27 Heideggers Antwort Über „Die Linie“, die er seinerseits zuerst in der Festschrift für Ernst Jünger (Frankfurt/M. 1955) und ein Jahr später mit verändertem Titel und „um einige Zeilen erweitert“ als selbständige kleine Schrift veröffentlicht hat, läuft darauf hinaus, dass die Vollendung und Überwindung des Nihilismus, die ‚Umwertung aller Werte‘ im Sinn Nietzsches nicht als das Überschreiten einer Linie, sondern als das Durchschreiten einer Zone vor sich geht. Der Nihilismus gehört nach Heidegger der Metaphysik und der Geschichte der Seinsvergessenheit an. Deren Überwindung hat die Gestalt einer „Verwin- dung“. Und in dieser „Verwindung kehrt die bleibende Wahrheit der an- scheinend verstoßenen Metaphysik als deren nunmehr angeeignetes Wesen erst eigens zurück“. Damit sei ein weltweites Problem angesprochen, das ein „planetarisches Denken“ verlange. Nietzsche habe schon gesehen, dass es dabei um die „Übernahme einer Erdherrschaft“ gehe, die sich in einem Kampf vollziehe, der nach Heidegger ein πολεµος, „eine Aus-einander- setzung des [kreuzweise durchstrichenen] Seins“ sein wird. „Mit ihr ver- glichen bleiben Weltkriege vordergründig. Sie vermögen immer weniger zu entscheiden, je technischer sie sich rüsten.“28 3. Dekonstruktionen der europäischen Philosophiegeschichte und der Aufruf an die ‚Kosmopoliten aller Länder‘ bei Derrida Bei Heidegger liest Derrida, daß die Destruktion der Geschichte der Meta- physik nicht deren Zerstörung ist, sondern die Freilegung ihres Grundes. In und mit der Destruktion geschieht also zugleich etwas Konstruktives. Dies Konstruktive ist aber nicht als solches faßbar. Heidegger mag sagen können, warum die europäische Philosophiegeschichte zu destruieren ist, indessen nicht von wo aus dies geschieht, welche neue, konkret zu umschreibende Position oder Konzeption der Maßstab für die Destruktion ist. Indem Der- rida viele Dekonstruktionen westlicher philosophischer Texte vornimmt, wird das Vonwoher dieser Unternehmungen angenähert. Es läßt sich gewis- sermaßen als ein dritter geometrischer Ort erschließen aus den Richtungen, die sich bei den Dekonstruktionen ergeben. In einem allgemeinen Sinn erweist sich als der Ort, von dem Derridas Dekonstruktionen ausgehen, sein Begriff der Anwesenheit. Die Schrift ist eine Spur, die sich jeweils anders lesen läßt. Deshalb ist im Unterschied zur europäischen philosophischen Tradition Anwesenheit nicht als feststehende Gegebenheit zu denken. Im Anwesenden ist immer auch Abwesendes wirk- 27 Ernst Jünger, Über die Linie, Frankfurt/M. 1951, S. 29, 32 u.ö. 28 Martin Heidegger, Zur Seinsfrage, Frankfurt/M. 1956, S. 5, 33, 35 und 43. Das Verhältnis von Philosophie, Geschichte und Philosophiegeschichte 25 sam. Die Bedeutung des Anwesend-Abwesenden bleibt letztlich unscharf und verschiebt sich ständig. Diesen fortgesetzten Aufschub nennt Derrida „différance“, eine Bewegung, die immer wieder Verschiedenes hervorbringt, und zwar sowohl im zeitlichen als auch im räumlichen Sinn. Für die diffé- rance beansprucht Derrida eine noch weitergehende oder tiefergreifende Bedeutung als für Heideggers ‚ontologische Differenz‘, mit der bereits eine Dimension des Denkens angezeigt worden ist, die über die Geschichte der europäisch-westlichen Philosophie hinaus, nach rückwärts und nach vor- wärts gewandt, Neues und Anderes thematisiert.29 Die Erwartungen, die dabei im Spiel sind, verbindet Derrida mit Marx und dem Marxismus (was nicht dasselbe ist). Die Abwesenheit in der Anwesenheit wird fühlbar und greifbar, als 1989 nach dem Fall der Mauer in Berlin und dem Zusammenbruch der Sowjetunion Texte und Diskussionen von und über Marx und den Marxismus quasi von heute auf morgen aus der Welt- öffentlichkeit verschwinden. In Marx’ Gespenster beschreibt Derrida diese abwesende Anwesenheit als gespenstische, geisterhafte Dimension der Wirk- lichkeit. Und er leitet aus dem uneingelösten Versprechen des Marxismus, das Emanzipation der Unterdrückten, mehr Freiheit für alle in Aussicht stellt, seine Konzeption des „Messianischen“ ab. Dabei geht es um eine „ganz un- dogmatische“ und von aller „metaphysisch-religiösen Bestimmung“ frei zu haltende Konzeption, einen „Messianismus ohne Messias“. Die Verwirkli- chung dieser Zukunftsperspektive überträgt er einer „neuen Internationale“, die an die Stelle der traditionellen sozialistischen Internationale treten soll.30 In einem Vortrag vor der UNESCO von 1991, der aber erst 1997 veröf- fentlicht wird, knüpft Derrida an bei seinem großen Werk Du droit à la philosophie (Paris 1990), in dem das ‚Recht auf Philosophie‘ bereits als eine Art Grundrecht des Menschen thematisiert wird. In dem genannten Vortrag gibt er diesem Gedanken eine kosmopolitische Wendung. Die UNESCO erscheint ihm als der „privilegierte Ort“ das Recht auf Philosophie für alle und jeden weltweit zu vertreten. Sie würde auf diese Weise selbst zu einem philosophischen Projekt.31 Daß die Kosmopoliten, Intellektuelle, die im Hei- deggerschen Sinn planetarisch denken, nach Derrida die neue Internationale bilden, die weltweit für das Recht auf Philosophie eintreten, zeigt sich in der kleinen Schrift: Cosmopolites de tous les pays, encore un effort (Paris 1997). An die Stelle der ‚Proletarier aller Länder‘ in der alten sozialistischen For- mel sind die ‚Kosmopoliten aller Länder‘ getreten. Statt des ‚Vereinigt euch‘ heißt es nun: ‚noch ein Versuch‘. 29 Jacques Derrida, „Die différance“, in: Randgänge der Philosophie, hg. von Peter En- gelmann, Wien 1999, S. 31-56. 30 Derrida, Spectres de Marx. L’État de la dette, le travail du deuil et la nouvelle Internationale, Paris 1993, S. 145-148. 31 Derrida, Le droit à la philosophie du point de vue cosmopolitique, Paris 1997, S. 11, 13-15. Heinz Kimmerle26 Zum Kosmopolitismus gehört „unbedingte Gastfreundschaft“. Sie ist der Kern jeder Ethik. In konkreten Verhältnissen wie im zwischenstaatlichen Verkehr sind gewisse Bedingungen jedoch unumgänglich, die aber ein ange- messener Ausdruck der unbedingten Gastfreundschaft sein müssen.32 Kant hat bereits ein „Besuchsrecht“, das für jeden gilt, der in friedlicher Absicht kommt, unterschieden von dem „Gastrecht“ oder „Bleiberecht“, das von der Zustimmung des empfangenden Staates abhängig ist.33 Diese Verhältnisse gelten nach Kant zwischen republikanisch verfaßten Staaten, wie sie sich im Europa seiner Zeit entwickelt haben. Dies referiert Derrida mit Zustim- mung. Daß diese Staatsform im Kantischen Sinn für alle Teile der Erde als Vorbild dienen soll und sich „dereinst“ über die gesamte Welt ausbreiten werde, kritisiert Derrida indessen als „eurozentrisch“. Demgegenüber plä- diert Derrida für demokratische Verhältnisse, aber nicht so, wie sie in den westlichen Demokratien derzeit bestehen, sondern im Sinn einer ‚Idee der Demokratie‘, die ‚im Kommen‘ ist und bleibt. Sie erfordert „ein neues euro- päisches Denken, eine ganz neue Zielsetzung und Verantwortlichkeit Euro- pas“. Diese Verantwortlichkeit konkretisiert sich „in jeweils singulären Zu- sammenhängen“ als „respektvolle Aufmerksamkeit, die man der Singularität schuldet“, die freilich nicht leicht zu verwirklichen ist, da sie erfordert, „sich ohne determinierende Regelkenntnis gleichwohl zu orientieren“.34 4. Philosophien in allen Kulturen und ihre Geschichten als das Ausfüllen anfänglich eröffneter Möglichkeits- spielräume in der interkulturellen Philosophie Für Nietzsche ist die Realgeschichte nicht in erster Linie politische oder ökonomische Geschichte, sondern Kulturgeschichte, das heißt Aufweis der Gesamtheit der Bedingungen menschlichen Lebens in ihrem zeitlichen Verlauf. Er betrachtet die griechische Antike als eine Mischkultur, die aber gerade darin ihre Größe als tragender Anfang der europäischen Geschichte hat. Diese Geschichte ist jedoch durch den Einfluß des Christentums äußerst ambivalent; sie ist insgesamt eine ‚nihilistische Bewegung‘, das heißt eine Verfallsgeschichte und nicht ein Fortschritt zum Besseren. Heidegger be- schränkt sich im Grunde auf die Philosophiegeschichte. Die europäische Geschichte der Philosophie seit Platon und Aristoteles ist für ihn die einzige, die es gibt. Sie steht indessen insgesamt unter dem Verdikt der ‚Seinsver- 32 Derrida, Von der Gastfreundschaft, übers. von Markus Sedlaczek, Wien 2001, S. 62-65. 33 Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden (1796), in: Kants Werke. Akademie Textaus- gabe, Berlin 1968, Band VIII, Abhandlungen nach 1781, S. 357-359. 34 Derrida, Schurken. Zwei Essays über die Vernunft, übers. von Horst Brühmann, Frank- furt/M. 2003, S. 214. Das Verhältnis von Philosophie, Geschichte und Philosophiegeschichte 27 gessenheit‘. Deshalb ist sie zu ‚destruieren‘, nicht um sie zu zerstören, son- dern um ihren Grund freizulegen. Die Eigendynamik der Technik als ein realgeschichtliches Pendant der Seinsvergessenheit bringt große Gefahren für die Menschheit mit sich. Die ‚frühe Spur‘ eines anderen Denkens, das des Seins eingedenk ist, wie bei den Vorsokratikern, gilt es sichtbar zu machen, wodurch sie zu der Möglichkeit einer ‚Eschatologie des Seins‘ beitragen kann. Da die antike griechische Philosophie der tragende Anfang für die positiven Möglichkeiten und die prinzipielle Begrenzung der europäischen Philosophie war, bereitet Heidegger ein neues Denken vor, das einen solchen Anfang wiederholen, zugleich aber in einem planetarischen Horizont einbezogen sein soll. Derrida geht auf dem von Heidegger eingeschlagenen Weg weiter, in- dem er das Konstruktive, positiv neu Einzubringende in den Destruktionen der europäischen Philosophie sichtbar zu machen sucht. Am Beispiel der Verdrängung von Marx und dem Marxismus aus dem öffentlichen Bewußt- sein nach 1989 zeigt Derrida die gespenstische und geisterhafte Dimension der Wirklichkeit als das Abwesende im Anwesenden auf. Er sieht darin auch ein uneingelöstes Versprechen, die Unterdrückten zu emanzipieren und für alle mehr Freiheit zu ermöglichen. Darauf beruht seine Annahme des ‚Mes- sianischen‘ in der Geschichte. Die Aufgabe, an dessen Verwirklichung wei- ter zu arbeiten, erteilt Derrida der ‚neuen Internationale‘ der Kosmopoliten, das heißt der Intellektuellen aus allen Ländern, die im Heideggerschen Sinn planetarisch denken. So gelangt er auch zu einer positiven Zukunftsperspek- tive, die ‚ein neues europäisches Denken, eine ganz neue Zielsetzung und Verantwortlichkeit Europas‘ notwendig macht, ohne daß damit der Gedanke eines Umschlags oder einer Wiederholung – wie auf je verschiedene Weise bei Nietzsche oder Heidegger – verbunden wird. Man könnte denken, daß es ein kleiner Schritt wäre von Nietzsches Um- kehrung der Geschichte des Nihilismus, Heideggers ‚planetarischem Denken‘, Derridas Aufruf an die ‚Kosmopoliten aller Länder‘ zur konkreten Einbe- ziehung der nicht-westlichen Kulturen mit ihren Philosophien, Geschich- ten und Philosophiegeschichten. In der Praxis erweist sich dieser Schritt jedoch im Kontext der europäischen akademischen Philosophie als äußerst mühsam. Man könnte auch vermuten, daß die Globalisierung auf den Gebie- ten der Wirtschaft, Politik, Technologie, Wissenschaft und Kunst, gerade wenn sie mit einer recht verstandenen Regionalisierung zusammengeht, in der Philosophie und von der Philosophie mitvollzogen würde. Aber auch in dieser Hinsicht finden sich nur einige Pioniere, die sich den damit gegebe- nen Aufgaben stellen. Zu ihnen zählt ohne Zweifel auch Heinz Paetzold.35 35 Heinz Paetzold, „Tetsuro Watsujis Fudo und die interkulturelle Philosophie“, in: Heinz Paetzold und Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Interkulturelle Philosophie (Phi- losophische Diskurse 9), Weimar 2007. Heinz Kimmerle28 Seit den ersten Übersetzungen von Texten aus der indischen und chine- sischen Philosophie im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert gibt es bemer- kenswerte Arbeiten der Vergleichenden Philosophie, die von Europa und dem Westen aus, seit dem 20. Jahrhundert zunehmend auch vom Fernen Osten aus europäische und fernöstliche Philosophie aufeinander beziehen. Auf diesen Arbeiten insgesamt, die gewiß nicht abgeschlossen sind, kann aufgebaut und der weitere Schritt gewagt werden, allen Kulturen, auch denen, die primär mündliche Formen der Kommunikation und Überlieferung be- nutzen, Philosophie zuzuerkennen. Da sich die philosophischen Stile welt- weit jedoch erheblich unterscheiden, ist die enorm schwierige Aufgabe zu lösen, den Philosophiebegriff zu erweitern und neu zu präzisieren, so daß er die europäisch-westlichen, fernöstlichen, islamischen, südamerikanischen und auch die indigenen Kulturen, ihre Philosophien, Geschichten und Philoso- phiegeschichten umfaßt. Ich habe dazu einen ersten Vorschlag vorgelegt. Nicht nur logisch-begriffliche systematische Diskurse, auch andere den allgemeinen Sprachgebrauch auf bestimmte Formeln bringende, komprimie- rende Sprechweisen, mehr narrative Darlegungen, mit Kunst und Religion verschwisterte Ausdrucksformen können wichtige philosophische Gedanken enthalten. Das übereinstimmende Kriterium dafür soll sein, daß sie aus sich selbst überzeugend sind und sich auf keine andere Autorität außerhalb ihrer selbst berufen, sei diese nun religiös, politisch oder wie auch immer be- gründet.36 Einem solchen neu gefaßten Philosophiebegriff entspricht eine neue Konzeption der Philosophiegeschichten der verschiedenen Kulturen, die mit deren Geschichten eng zusammenhängt. Erstaunlicherweise kann ich mich hierfür auf Hegel berufen, und zwar auf die Auffassung Hegels aus den Jahren 1801/02. Hegel sagt in der sogenannten Differenzschrift von 1801, daß „die Aufgabe der Philosophie […] zu allen Zeiten dieselbe ist. Weil die Philosophie die Vernunft, die sich selbst erkennt, es nur mit sich selbst zu thun hat, so liegt in ihr selbst ihr ganzes Werk wie ihre Thätigkeit und in Rücksicht aufs innere Wesen der Philosophie gibt es weder Vorgänger noch Nachgänger“.37 Diese These habe ich in geographischer Hinsicht erweitert, indem ich sage, daß die so umschriebene Aufgabe der Philosophie nicht nur ‚zu allen Zeiten‘, sondern auch ‚an allen Orten und in allen Kulturen‘ die- selbe ist.38 Eine durchgehende lineare Entwicklung der Philosophien der ver- 36 Heinz Kimmerle, Der Philosophiebegriff der interkulturellen Philosophie, Nordhausen 2009, S. 63-66; s. zum Folgenden S. 67-86. 37 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Sy- stems der Philosophie, in: Gesammelte Werke, Band 4: Jenaer Kritische Schriften, hg. von Hartmut Buchner und Otto Pöggeler, Hamburg 1968, S. 10. 38 Heinz Kimmerle, „Das Verhältnis von Philosophie und Geschichte am Anfang der Jenaer Periode des Hegelschen Denkens und dessen aktuelle Bedeutung“, in: Heinz Kim- merle (Hg.), Die Eigenbedeutung der Jenaer Systemkonzeptionen Hegels, Berlin 2004, S. 11-24; s. bes. 22. Das Verhältnis von Philosophie, Geschichte und Philosophiegeschichte 29 schiedenen Kulturen im Sinn des späteren Hegel kann es von dieser Vor- aussetzung aus nicht geben. Für die Geschichten der Philosophien in den jeweiligen Kulturen und ihre wechselseitigen Beeinflussungen erscheint mir das Modell des tragenden Anfangs am ehesten geeignet, dessen Möglichkei- ten im Lauf der Zeit in verschiedenen Richtungen durchgespielt werden. Der Gedanke der Wiederholung beinhaltet, daß es neue tragende Anfänge geben kann, die aber von den neuen Bedingungen der jeweiligen Zeit aus zu be- gründen sind. Dieses Denkmodell ist meines Erachtens auch auf die Ge- schichten der verschiedenen Kulturen anwendbar. Dabei ist es gegenwärtig gewiß nicht so, daß die Philosophie in dem Doppelprozeß von Globali- sierung und Regionalisierung tonangebend wäre. Aber wie bei Nietzsche in der zukünftigen Entwicklung ein Umschlag zum Besseren angenommen wird, auch wenn er kaum wie bei Heidegger eschatologische Dimensionen haben wird, ist auch die Annahme nicht unbegründet, daß die Relevanz der inter- kulturellen Philosophie einmal schlagartig durchbrechen wird. Tanehisa Otabe Drei Stufen der Globalisierung im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Europa und Japan Ein Beitrag zur interkulturellen Ästhetik Einhergehend mit der fortschreitenden Globalisierung wurde auch in der Philosophie in den letzten zwei Jahrzehnten die interkulturelle Philosophie zum Thema.1 Diese Geistesströmung unterscheidet sich sowohl von der frü- heren eurozentrischen Sicht, die die Philosophie als rein griechischen Ur- sprungs betrachtet, als auch von der komparativen Philosophie, die zwar die verschiedenen Ursprünge der Philosophie anerkennt, aber oft darauf hinaus- läuft, die einzelnen Philosophien zu hypostasieren und deren spezifische Charakteristika klischeehaft zu überzeichnen. Insofern spiegelt die interkul- turelle Philosophie den heutigen Zustand der Globalisierung wider.2 In diesem Essay möchte ich der kulturellen Globalisierung in Hinblick auf das Verhältnis zwischen Europa (insbesondere Deutschland) und Japan vor allem aus ästhetischer Sicht nachgehen. Zuerst muss geklärt werden, was ich mit kultureller Globalisierung meine. Es ist bekannt, dass bereits in der Antike reger Austausch zwischen den Völkern der Welt stattfand, und zwar in einem größeren Maße, wie wir es normalerweise annehmen. Insofern kann bereits die damalige Welt als eine betrachtet werden. Allerdings ist es auch unbestritten, dass das Weltbild der Menschen von dem jeweiligen Kultur- bzw. Zivilisationskreis abhängig war. In Ostasien war – wie weiter unten erläutert wird – bis in die Moderne eine buddhistisch geprägte Weltanschauung vorherrschend, während in Europa seit der Spätantike ein christliches Weltbild dominierte. Erst in der Neuzeit, im sogenannten Zeitalter der Entdeckungen, begannen die Völker des Ostens und des Westens, sich an einem mehr oder weniger identischen Weltbild zu orientieren, was meiner Meinung nach den Anfang der kulturellen Globa- lisierung ausmacht. Seitdem erfolgt der Kulturaustausch zwischen zwei Län- dern auf der Grundlage dieses gemeinsamen Weltbilds, wenn auch begleitet von vielfältigen Konflikten bzw. Konfrontationen und oft von Beherrschung und Unterordnung. 1 Zur Geschichte des Begriffs „Interkulturalität“ siehe Rolf Elberfeld, „Forschungsper- spektive ‚Interkulturalität‘. Transformationen der Wissensordnungen in Europa“, in: Zeit- schrift für Kulturphilosophie, Bd. 2, 2008/1, S. 7-36, hier S. 11-17. 2 Hierzu siehe vor allem Heinz Paetzold und Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Interkul- turelle Philosophie, Weimar 2007. Drei Stufen der Globalisierung 31 Im Folgenden möchte ich die kulturelle Globalisierung in drei Stufen gliedern. Diese drei Stufen sind zwar historisch geordnet, stellen aber zu- gleich drei mögliche Modelle der Begegnung der einander zuvor fremden Kulturen dar.3 1. Von der Entstehung der Begriffe Europa/Asien bis zur ersten Stufe der Globalisierung Um die erste Stufe der kulturellen Globalisierung zu charakterisieren, möchte ich zunächst auf ihre Vorgeschichte eingehen, die einen Rahmen für die Ost- West-Begegnung bildet. Mir geht es darum, wie die Begriffe „Europa“ und „Asien“ entstanden und in Europa und Asien aufgenommen wurden. Beide Wörter stammen aus der akkadischen Sprache des antiken Orients. Europa, ein Derivat von ereb, was „(Sonnen-)Untergang“ bedeutet, und Asien, abgeleitet von açu, was „(Sonnen-)Aufgang“ bedeutet, entsprechen etymologisch Okzident und Orient. Während das Wort Okzident heutzutage fast veraltet und nur das Wort Orient noch gebräuchlich ist, werden die Wörter Europa und Asien als Namen der beiden Teile der eurasischen Land- masse verwendet. Dies hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass sowohl Europa als auch Asien in der griechischen Mythologie vorkommen. Nach Ostasien gelangten die Begriffe erst im 17. Jh., also nach dem Be- ginn des intensiven Kulturaustausches zwischen Asien und Europa. Außer- dem besaßen sie in Europa verschiedene Konnotationen, bevor sie in Asien verwandt wurden. Die frühesten Beispiele einer Gegenüberstellung von Europa und Asien finden sich bei Platon. In Gorgias verwendet er sie quasi wertfrei,4 in Alki- biades I hingegen wird die Unterlegenheit Europas, womit das griechische Festland gemeint ist, gegenüber Asien, d. h. Persien, hervorgehoben.5 Bei Platon ist noch eine gewisse Ehrfurcht vor Persien erkennbar. Diese Meinung über Asien ändert sich aber gründlich in Aristoteles’ Politik, wo er schreibt: „Da die Barbaren von Natur sklavischeren Sinnes sind als die Griechen und [...] die in Asien wohnenden mehr als die in Europa wohnenden, so ertragen sie auch die despotische Herrschaft (despotikê archê) ohne Murren.“6 Hier ist die Idee von Asien nicht mehr wertfrei, sondern mit negativen Konnota- 3 Zum Versuch der Typologie der Kulturrezeption siehe z. B. Franz M. Wimmer, In- terkulturelle Philosophie, Geschichte und Theorie, Bd. 1, Wien 1989, S. 41-44 und Eduard Spranger, Probleme der Kulturmorphologie, Berlin 1936, jetzt in: Gesammelte Schriften, Tübingen 1969, Bd. 4, S. 134 f. 4 Platon, Gorgias, 523E-524A. 5 Platon, Alkibiades I, 105B-C, 121A. 6 Aristoteles, Politik, 1285a 20. Tanehisa Otabe32 tionen wie Sklaverei und Despotismus verbunden, was auf das seitherige Asienbild der Europäer einen nachhaltigen Einfluss ausübte. Die Römer verwenden den Begriff „asiatisch“ in der Rhetorik. Er taucht zuerst in einem der letzten Werke Ciceros auf. In der zweiten Hälfte des 1. Jh. v. Chr. traten als Redner die sogenannten Attizisten in Erscheinung, die nach dem Vorbild der attischen Klassiker den einfachen Stil bevorzugten. Ihnen standen die als „asiatisch“ bezeichneten Redner gegenüber, die be- wusst den Schwulst praktizierten.7 Der Begriff „asiatisch“ bezog sich dabei einerseits auf den eigentümlichen Stil der aus Kleinasien stammenden Red- ner, assoziierte aber andererseits die in Rom herrschenden Ressentiments gegen die kleinasiatische Lebensweise, die mit Luxus, Maßlosigkeit und Aus- schweifung gleichgesetzt wurde.8 – Dieser historische Hintergrund geriet später in Vergessenheit, so dass man unter „asiatischer“ Rhetorik nunmehr den der klassischen Antike vorausgegangenen Stil des Ostens (insbesondere der Hebräer) verstand.9 Im Judentum und später im Christentum knüpfen sich an die beiden Ideen von Europa und Asien neue Nebenbedeutungen. In der Genesis werden Noahs Kinder Sem, Japheth und Ham erwähnt.10 Diese genealogische Kon- stellation wurde bereits im 5. Jh. n. Chr. mit drei Himmelsrichtungen bzw. Kontinenten verbunden: Sem stand für den Osten/Asien, Japheth für den Westen/Europa und Ham für den Süden/Afrika. Diese Weltanschauung kommt am deutlichsten in der sogenannten TO-Karte zum Ausdruck, die in den von Isidor von Sevilla (560?-636) verfassten Etymologiarum sive Originum libri enthalten ist. Im Christentum galt Asien also im Kontrast zum christlichen Europa als das Land, das für das Judentum bestimmt war. In der Vorstellung des mittelalterlichen Europa war Asien keineswegs auf Kleinasien oder das Gebiet des ehemaligen Perserreichs beschränkt. Bereits auf der Weltkarte von Ptolemäus aus dem 2. Jh., deren älteste erhaltene Kopie allerdings aus dem 15. Jh. stammt, reicht Asien von Kleinasien über Indien bis China. Und schließlich „entdeckten“ die Portugiesen im Jahr 1543 die japanische Insel Tanegashima, woraufhin der gesamte Bereich von Klein- asien bis Japan geographisch als Asien festgelegt wurde. Dies war zugleich der Beginn eines Zeitalters, in dem die Christen ihre Missionare nach Asien entsandten, um die Asiaten ins Christentum zu „enkulturieren“. Asien wurde von den Europäern geographisch abgegrenzt. Wie aber hat- ten die Japaner Asien betrachtet, bevor sie die geographische Definition über- nahmen? Ursprünglich herrschte in Japan das sogenannte Dreiländerweltbild, 7 Cicero, De oratore, 3, 43; 2, 95. 8 Artikel „Asianismus“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Tübingen 1992, Bd. I, Sp. 1114. 9 Etienne Bonnot de Condillac, Versuch über den Ursprung der menschlichen Erkennt- nis. Ein Werk, das alles, was den menschlichen Verstand betrifft, auf ein einziges Prinzip zurückführt, übersetzt von Angelika Oppenheimer, Würzburg 2006, S. 209. 10 1. Mose 9, 20-27. Drei Stufen der Globalisierung 33 das auf der indischen Theorie von Meru basiert. Der indischen Kosmologie zufolge liegt im Zentrum unserer Welt Jambudvipa der Berg Meru. Im Süden erstreckt sich der indische Kontinent in Form eines auf der Spitze stehenden Dreiecks; am nordöstlichen Rand befindet sich Cina-sthana (China), am nordwestlichen Ende liegt Persien. Diese indozentrische Weltanschauung ge- langte mit dem Buddhismus über China und Korea nach Japan. Die Japaner fügten nun am östlichen Rand der Weltkarte Japan hinzu, so dass in Japan ein eigenes Weltbild entstand, in dem die Welt aus drei Ländern besteht – Indien, China und Japan. Dieses Dreiländerweltbild beeinflusste die Japaner maß- geblich bis zur Begegnung mit den Europäern, wie die Karten von Jambud- vipa aus dem 17. Jh. deutlich zeigen. Die Bezeichnung „Asien“ brachte der italienische Missionar Matteo Ricci (1552–1610, Li Madou im Pinyin) nach Asien. In seinem Werk Magna Mappa Cosmographica (Große Weltkarte der zehntausend Länder) von 1602 hat Ricci selbst die Ortsbezeichnungen in den phonetischen chinesischen Schriftzeichen transkribiert. Riccis Weltkarte hatte auch auf das sich ab- schließende Japan weitreichende Auswirkungen. Weltkarten nach Riccis Vor- bild wurden seit Beginn des 18. Jh. wiederholt veröffentlicht mit der Folge, dass die Japaner der Edo-Zeit das geographische Weltbild ihrer europäischen Zeitgenossen adaptierten und begannen, sich mit ihrer hergebrachten bud- dhistischen Weltanschauung auseinanderzusetzen. Um auf meine Definition zurückzukommen, war somit die Voraussetzung für die kulturelle Globalisie- rung erfüllt. Das heißt aber nicht, dass dieses neue Weltbild von den Edo- Japanern sofort in vollem Umfang akzeptiert wurde. Vielmehr hielt man trotz der Übernahme des neuen Weltbilds zugleich weiterhin am traditionellen Drei- länderweltbild fest. D. h., im Ganzen genommen orientiert man sich noch nach dem herkömmlichen Dreiländerweltbild, doch man platziert im Nord- westen das kürzlich bekannt gewordene Europa. Asien wurde somit von den Europäern geographisch definiert und das Wort „Asien“ wurde von den Asiaten selbst übernommen, allerdings heißt dies nicht, dass die Bedeutung des Begriffs „Asien“ bzw. des Begriffspaars „Asien/Europa“ endgültig festgelegt wurde. Aus Asien gelangten vor allem durch die dorthin entsandten Missionare viele neue Kenntnisse nach Europa, die unter anderem Leibniz und Wolff veranlassten, insbesondere die prakti- sche Philosophie in China sehr hoch einzuschätzen. Allerdings führte diese Wertschätzung noch nicht zu einer einheitlichen Vorstellung von „Asien“.11 Andererseits identifizierten sich die asiatischen Zeitgenossen von Leibniz und Wolff selbst auch noch nicht als Asiaten. Am Anfang des 19. Jh. gab es 11 Siehe Gottfried Wilhelm Leibniz, Das Neueste von China. Novissima Sinica (1697), hg. von Heinz-Günther Nesselrath und Hermann Reinbothe, Köln 1979; Christian Wolff, Oratio de Sinarum philosophia practica: Rede über die praktische Philosophie der Chinesen, übersetzt, eingeleitet und hg. von Michael Albrecht, Hamburg 1985. Tanehisa Otabe34 in Japan sogar Wissenschaftler, die dafür plädierten, das aus Europa stam- mende Wort „Asien“ nicht zu gebrauchen.12 Diese Konstellation kennzeichnet die erste Phase der kulturellen Globa- lisierung. In dieser Phase war das geographische Weltbild zwar grundsätzlich identisch, aber weder das einheitliche Weltbild noch der Gegensatz Europa/ Asien hatten sich etabliert, so dass die wechselseitigen kulturellen Einflüsse nur vereinzelt erfolgten bzw. partiell blieben. Daraus ergab sich oft, dass widersprüchliche Vorstellungen nebeneinander existierten. Außerdem neigte man in dieser Phase dazu, seine eigenen Wünsche und Ideale auf die fremde Kultur zu projizieren, was oft zu realitätsfremdem Exotismus führte.13 Im bekannten Japanbericht von Engelbert Kaempfer, Geschichte und Beschrei- bung von Japan (zuerst auf Englisch, 1727), den er auf der Grundlage eigener Beobachtungen während eines Japanaufenthaltes schrieb, sind auch einige Idealisierungen Japans zu erkennen, die auf die gleichzeitige Kritik an der damaligen politischen Verfassung in Deutschland zurückzuführen sind.14 Zwar ist mit Begegnungen der Kulturen fast immer ein solcher Hang zur Pro- jektion des eigenen Traumbildes verbunden, wie es beim Japanismus in der zweiten Hälfte des 19. Jh. in Europa der Fall war. Im Vergleich zur zweiten Phase der Globalisierung, in der die hegemonistischen Bestrebungen Europas deutlich werden, kann die Idealisierung der anderen Kultur in diesem Fall je- doch als Kennzeichen der ersten Stufe der Globalisierung betrachtet werden. 2. Eingrenzung Asiens durch Europa – die zweite Stufe der Globalisierung Wie erhielt nun aber das Begriffspaar Europa/Asien seine moderne Bedeu- tung? Und inwieweit wurde es von den Asiaten selbst akzeptiert? Die Überzeugung von der Überlegenheit Europas gegenüber Asien, die sich im 18. Jh. allmählich verbreitete und im 19. Jh. zur vermeintlichen Gewissheit wurde, charakterisiert die zweite Stufe der Globalisierung. In diesem Zeitraum entstanden die Diskurse, die Asien sowohl theoretisch als auch praktisch ein- bzw. ausgrenzen. Als ein typisches Beispiel ist die „Nach- erinnerung“ zu Kaempfers Geschichte und Beschreibung von Japan zu erwähnen, die 1779 bei der erstmaligen Veröffentlichung der deutschen Fas- sung vom Herausgeber Christian Wilhelm Dohm (1751–1820) hinzugefügt wurde. Hier übte Dohm an Kaempfers Lob Japans harte Kritik, die zwar den 12 Seishisai Aizawa, Neue Abhandlungen (Shin-ron), 1825. Hierzu siehe Kunihiko Uemura, Ist Asien „asiatisch“? (auf Japanisch), Kioto 2006. 13 Zum Exotismus in interkultureller Hinsicht siehe Franz M. Wimmer, Interkulturelle Philosophie (Fn. 3), S. 87-89. 14 Siehe hierzu Ken-ichi Mishima, „Nietzsche. Skepsis gegen Europa und seine Fuß- angel“ (auf Japanisch), in: Kan, Bd. 5 (2002). Drei Stufen der Globalisierung 35 Ideen der Aufklärung gemäß war, aber nicht auf seinen eigenen Beobach- tungen beruhte.15 Dohm zufolge ist die Unterlegenheit Asiens gegenüber Europa dem „Klima“ und dem „Despotismus“ geschuldet; ein Vorurteil über Asien, das sich während des 19. Jh. mit dem Anschein wissenschaftlicher Fundierung festigte.16 Im Folgenden möchte ich drei ästhetischen Diskursen nachgehen, die die zweite Stufe der Globalisierung repräsentieren. Zuerst ist Friedrich Schlegels Vorlesung Geschichte der europäischen Literatur (1803/04) zu nennen. In den Allgemeinen Bemerkungen über Europa kontrastiert Schlegel Asien, das in „für sich abgeschlossene[] Völ- ker- und Ländermassen“, wie Indien, China oder Persien, geteilt sei und in seiner „Ruhe und Selbstgenügsamkeit“ keine Geschichte habe, mit Europa, dessen „Perfektibilität“ sich als „Neuerungssucht“ zeige und zum „ewigen Krieg“ getrieben sei. Daraus folgert Schlegel, dass aufgrund seiner „Mannig- faltigkeit und Veränderlichkeit, der Bildsamkeit und Künstlichkeit“ Europa allein eine dynamische Geschichte als „ein zusammenhängendes Ganzes“ habe, was notwendig die Kolonialisierung von Asien zur Folge habe. Mit anderen Worten, laut Schlegel ist Europa ein einziges Subjekt, das sich unter anderem durch die Integration Asiens konstituiert.17 Eine solche Auffassung von Europa, die Schlegels Konzeption der Geschichte der europäischen Literatur zugrunde liegt, bedingte einen Eurozentrismus auf dem Gebiet der Ästhetik.18 Zweitens ist Hegels Vorlesung der Ästhetik (2. Aufl., 1842) zu betrachten. Hegel gliedert die Kunst bekanntlich sowohl historisch als auch geogra- phisch in drei Formen, nämlich die symbolische, klassische und romantische: Die symbolische gehört zu Asien vor dem klassischen Griechentum, die klassische zur gräkolateinischen Welt und die romantische zum christlichen Europa. 15 Über Kaempfers These: „Japan übertrifft in Künsten und Wissenschaften alle andre Nationen“, bemerkt Dohm 1779, dass „die Künste in Asien gar keine Fortschritte ge- macht haben, sondern noch in eben dem Zustande zu sein scheinen, in dem sie bald nach ihrer ersten Erfindung waren, und dass in den schönen Künsten die Asiater die Europäer in keinem Zeitalter erreicht haben.“ Siehe Peter Kapitza, Japan in Europa. Texte und Bilddokumente zur europäischen Japankenntnis von Marco Polo bis Wilhelm von Humboldt, 2 Bde., München 1990, Bd. 2, S. 653. 16 Hierzu siehe Ken-ichi Mishima, art. cit. (Fn. 14). Daraus zieht Mishima den Schluss, dass am Ende des 18. Jh. „eine falsche Identifikation von Europa und Vernunft“ ent- stand, so dass „Europa die Sichtweise, die Kultur als einen Komplex von verschiede- nen, oft gegensätzlichen, Einstiegen, Probleme zu lösen, zu betrachten, sowohl seiner eigenen Kultur als auch dem Griechentum gegenüber entschwindet“. 17 Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Paderborn u. a. 1958 ff., Bd. 11, S. 16-18. 18 Siehe hierzu Tanehisa Otabe, „‚Alles Denken ist ein Divinieren‘. Zur Geschichte der geschichtlichen Auffassung der Kunst in der deutschen Romantik“, in: Lothar Knatz und Tanehisa Otabe (Hg.), Ästhetische Subjektivität. Romantik und Moderne, Würz- burg 2006, hier S. 97-105. Tanehisa Otabe36 Mit Friedrich Schlegel stimmt Hegel in der Meinung überein, dass Asien unter einem despotischen Druck stehe und kein zusammenhängendes Ganzes ausmache: „Sie [sc. die Griechen] beharrten [nicht] in der unfreien morgen- ländischen Einheit, die einen religiösen und politischen Despotismus zur Folge hat [...].“19 „Asien [...] ist in der vielfachen Willkür seiner einzelnen Völkerschaften nur ein zufälliges Ganzes [...].“20 Zwar finden sich bei Hegel auch Ausführungen, die von dieser Ein- bzw. Ausgrenzung Asiens abzuweichen scheinen. So zollt er im Abschnitt „Das Ende der romantischen Kunstform“, der der Hegelschen Systematik zufolge die ganze Kunstgeschichte abschließt, „Goethe in seinem West-östlichen Divan und Rückert“ höchste Anerkennung und kennzeichnet das „Ende der romantischen Kunstform“ wie folgt: „Es handelt sich deshalb auf dieser Stufe hauptsächlich darum, dass sich das Gemüt mit seiner Innigkeit, dass sich ein tiefer Geist und reiches Bewusstsein in die Zustände, Situation usf. ganz hineinlebe, darin verweile und aus dem Gegenstande dadurch etwas Neues, Schönes, in sich selbst Wertvolles mache. Hierfür geben besonders die Perser und Araber in der morgenländischen Pracht ihrer Bilder, in der freien Seligkeit der Phantasie, welche sich ganz theoretisch mit ihren Gegen- ständen zu tun macht, ein glänzendes Vorbild selbst für die Gegenwart und die subjektive heutige Innigkeit ab.“21 So schreibt Hegel der morgenländi- schen Kunst in einem gewissen Umfang durchaus Aktualität zu, was aber seine Systematik nicht in Frage stellt, denn die „subjektive Innigkeit“ sei den Morgenländern fremd und nur dem modernen Europa eigen.22 Hegels entwicklungsgeschichtliches Schema „symbolisch/klassisch/roman- tisch“, das Asien vor dem klassischen Griechentum einordnet, beherrschte maßgeblich die Historiographie der Kunst im 19. Jh. Als ein typisches Bei- spiel möchte ich auf Wilhelm Lübkes Grundriss der Kunstgeschichte (1860) hinweisen. Dieses Buch ist in vier Teile gegliedert: „Die alte Kunst des Orients“, „Die klassische Kunst“, „Die Kunst des Mittelalters“ und „Die Kunst der neueren Zeit“. Wie verhält sich nun der 1. Teil zu den drei fol- genden? Am Ende des 1. Teils, der die gesamte orientalische Kunst von Ägypten über Indien bis zu China und Japan behandelt, charakterisiert Lübke diese als durch einen „stark hierarchisch gefärbten Despotismus“ geprägt und be- hauptet: „So vermochte sie [sc. die alte Kunst des Orients] zu einer eigent- lichen innern Entwicklung, zu einer wahrhaften Geschichte nicht zu gelan- 19 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke in zwanzig Bänden, Frankfurt a.M., 1970, Bd. 14, S. 25. 20 Hegel, Bd. 15, S. 261. Hervorhebung von T. O. 21 Hegel, Bd. 14, S. 241. 22 Zur Rehabilitierung der Hegelschen Systematik siehe vor allem Jeong-Im Kwon, He- gels Bestimmung der Kunst. Die Bedeutung der „symbolischen Kunstform“ in Hegels Ästhetik, München 2001. Drei Stufen der Globalisierung 37 gen.“23 Der ganze Orient gehöre zur Vorstufe der eigentlichen Geschichte. Der 2. Teil über „Die klassische Kunst“ beginnt wie folgt: „In den breiten Ländergebieten des Orients traten uns, meistens vom Laufe großer Ströme bedingt, Kulturformen entgegen, die schon durch ihre andauernde Stabilität und Unveränderlichkeit uns fremdartig anmuten. Der erste Schritt, mit dem wir den europäischen Kontinent nunmehr betreten, bringt uns in eine neue Welt voll Beweglichkeit und frischen geschichtlichen Lebens, wo wir uns alsbald heimisch berührt fühlen.“24 Die Kunstgeschichte im eigentlichen bzw. engeren Sinne sei also nur im Haus des europäischen Kontinents zu erkennen und daraus lasse sich die Kunst des Ostens prinzipiell ausschließen. Lübkes in der 2. Hälfte des 19. Jh. formulierte Behauptung erinnert uns an eine Äuße- rung von Heidegger aus dem 20. Jh.: „Die oft gehörte Redeweise von der ‚abendländisch-europäischen Philosophie‘ ist in Wahrheit eine Tautologie. […] das Abendland und Europa, und nur sie, sind in ihrem innersten Geschichts- gang ursprünglich ‚philosophisch‘.“25 Gewiss handelt es sich bei Friedrich Schlegel, Hegel und Lübke nur um drei Beispiele. Aber sie mögen als Beleg dafür genügen, dass während des 19. Jh. in Europa der Diskurs zur Ein- bzw. Ausgrenzung Asiens etabliert wurde. Der sogenannte Orientalismus wird erst unter dieser Voraussetzung möglich. Der in der ersten Stufe der Globalisierung schon erkennbare Exotis- mus verbindet sich nun in der zweiten Stufe mit den Diskursen, die Asien sowohl theoretisch als auch praktisch ein- bzw. ausgrenzen, so dass Asien als fremder, exotischer Kontinent festgelegt wird. Diese Diskurse, die sich ursprünglich von Europäern an Europäer rich- teten, erreichten in der zweiten Hälfte des 19. Jh. auch Asien. Die Asiaten fingen an, sich den aus Europa stammenden Orientalismus bzw. Exotismus selbst anzueignen und sich dementsprechend zu verhalten. Denn nur ein Verhalten gemäß den Erwartungen des Orientalismus bzw. Exotismus wurde von den Europäern akzeptiert. Wahrscheinlich haben weder Schlegel noch Hegel noch Lübke eine derartige Entwicklung in Asien vorausgeahnt. In Japan wurde das Thema Asien erst in der zweiten Hälfte des 19. Jh. virulent, als die Japaner sich mit der Modernisierung bzw. Europäisierung konfrontiert sahen. Der wichtigste Auslöser war die Öffnung Japans im Jahr 1854. Angesichts des modernen Europas wurden sich die meisten Japaner Asiens als einer Einheit, aber belastet mit einem zivilisatorischen Rückstand, bewusst. Der prominenteste Denker in dieser Hinsicht war Yukichi Fuku- zawa (1835-1901). In seiner Theorie der Zivilisation im Umriss (auf Ja- panisch, 1875) beruft er sich auf die Histoire de la civilisation en Europe 23 Wilhelm Lübke, Grundriss der Kunstgeschichte, Stuttgart 1860, Bd. 1, S. 71. 24 Lübke, S. 75. Hervorhebung von T. O. 25 Martin Heidegger, „Was ist das – die Philosophie?“, in: Gesamtausgabe, Bd. 11, Frank- furt a.M. 2006, S. 9-10. Hierzu siehe Ram Adhar Mall, Philosophie im Vergleich der Kulturen, Darmstadt 1995, S. 12. Tanehisa Otabe38 (1828) von François Guizot (1787–1874) und schreibt: „Die Völker der asia- tischen Länder waren durch Theokratie gefesselt und verloren den letzten Lebenswillen und ergaben sich in sklavische Abhängigkeit.“26 Fukuzawa machte sich die Sichtweise des modernen Europäers, d. h. den Eurozentris- mus, zu eigen und betrachtete Asien mit den Augen eines Europäers. Damit rief er dazu auf, Japan bzw. die ostasiatischen Länder (China und Korea) aus dem Rückstand zu befreien und zu europäisieren bzw. zu zivilisieren. Aber Fukuzawa sah sich bald einem in China und Korea verbreiteten starken Wi- derstand gegenüber. Vor allem der Misserfolg des Staatsstreichs 1884 in Korea, mit dessen Anführer Ok-kyun Kim Fukuzawa befreundet war, führte ihn schließlich zur Ansicht, dass allein Japan den asiatischen Rückstand zu überwinden vermöchte. So veröffentlichte er 1885 die Abhandlung „Japans Abkehr von Asien“. Dieser Diskurs fand ein Echo in Europa. Lorenz von Stein (1815–90), der durch Hirobumi Itô (1841–1909) bei der Festlegung der japanischen Verfassung Einfluss ausübte, schreibt: „Es [Japan] hat sich da- mit von dem ganzen Asiatentum losgerissen und sich in die Reihe der zivili- sierten Staaten der Welt gestellt.“27 Die hier angedeutete Entwicklung in Japan kann allgemein als Akkultu- ration bezeichnet werden. Akkulturation bedeutet im weiteren Sinne einen Austausch der kulturellen Eigenschaften beim Aufeinandertreffen zweier Kul- turen. Aber im engeren Sinne bezeichnet sie wegen der Ungleichheit bzw. der Asymmetrie zwischen den beiden Kulturen einen Prozess, in dem sich die Kultur des Schwächeren bzw. der Minderheit – halb freiwillig, halb ge- zwungen – an die des Stärkeren assimiliert. Durch eine solche Assimilation festigt sich die Hegemonie der Kultur des Stärkeren. 3. Die Interaktion zwischen Europa und Asien – die dritte Stufe der Globalisierung Der Diskurs der Ein- bzw. Ausgrenzung Asiens durch Europa lebt bis heute weiter. Mehr noch: Er entfaltet größere Macht als je zuvor und ist inzwischen so selbstverständlich geworden, dass er kaum mehr wahrgenommen wird. Jedoch führt die Eingrenzung zwangsläufig zu diversen Konflikten. Im Fol- genden wird ein Teil dieser Konflikte im Rahmen der ästhetischen Theorie des beginnenden 20. Jahrhunderts behandelt, um zu zeigen, dass die Beson- derheit der dritten Stufe der Globalisierung nicht in unilateraler Akkultu- ration, sondern vielmehr in bilateraler Interkulturalität besteht. 26 Yukichi Fukuzawa, Theorie der Zivilisation im Umriss (auf Japanisch), Tokio 1875, S. 59-60. 27 Lorenz Stein, „Studien zur Reichs- und Rechtsgeschichte Japans“, in: Österreichische Monatsschrift für den Orient (Wien), 13 (1887), S. 8. Drei Stufen der Globalisierung 39 Als Erstem gebührt Kakuzô Okakura, gen. Tenshin (1862–1913), der oft als „Panasianist“ etikettiert wird, unsere Aufmerksamkeit. Das von Okakura auf Englisch verfasste Werk Die Ideale des Ostens (1903) gilt als einer der ersten Versuche, die japanische Kunstgeschichte für die westlichen Intellektuellen systematisch darzulegen. Okakura behandelt die japanische Kunst nicht isoliert, sondern stets im Zusammenhang mit der chinesischen und indischen Kunst. So belebt Okakura das traditionelle Drei- länderweltbild neu und würdigt die Kunst dieser drei Länder in ihrer Vielfalt und Integrität, d. h. in ihrer Interaktion, und konterkariert so das europäische Vorurteil, Asien mangele es sowohl an Einheit als auch an Geschichte.28 Um seinen Plan in die Tat umzusetzen, brauchte Okakura eine überzeu- gende Geschichtstheorie. Als er seine Vorlesungen über Kunstgeschichte von 1890 vorbereitete, zog er vor allem Hegels Philosophy of Fine Art (übersetzt von Bernard Bosanquet, London 1886) und Lübkes Outlines of History of Art (übersetzt von Clarence Cook, New York 1888) zu Rate. Von den beiden Autoren lernte Okakura die Methode, die Geschichte in drei Stufen zu glie- dern, so dass er analog zur europäischen die japanische Kunstgeschichte in Antike, Mittelalter und Moderne einteilte. In Die Ideale des Ostens bezeich- net er diese drei Stufen in Anlehnung an Hegel als „symbolisch[]“, „klas- sisch[]“ und „romantisch[]“, um die „Entwicklung[]“ der japanischen Kunst zu beschreiben.29 Okakura bemüht sich also, Asien von der Vorstellung der Stagnation zu befreien, indem er in der asiatischen Kunst eine mit der west- lichen vergleichbare historische Entwicklung aufweist. Er stützt sich dabei zwar auf Hegels Geschichtsschema, distanziert sich aber von dessen Euro- zentrismus. Von seinen auf Englisch verfassten Werken wurden Die Ideale des Ostens 1922 und Das Buch vom Tee 1919 ins Deutsche übersetzt. Dabei wurde Okakuras Formulierung „the ‚art of being in the world‘“30 in The Book of Tea (1906) von den Übersetzern Marguerite und Ulrich Steindorff mit „Kunst des In-der-Welt-Seins“ übertragen,31 und diese deutsche Übersetzung soll auf Heideggers Sein und Zeit (1927) Einfluss genommen haben,32 wobei 28 Siehe hierzu Tanehisa Otabe, „Wie wurden ‚Europa‘ und ‚Asien‘ in der modernen Ästhe- tik aufgefasst? Fr. Schlegel und Kakuzo (Tenshin) Okakura“, in: The Journal of Aesthetics and Science of Art, (The Korean Society of Aesthetics and Science of Art), 26 (Dezember 2007), S. 179-207. 29 Kakuzo Okakura, Die Ideale des Ostens. Aus dem englischen Original übertragen von Marguerite Steindorff, Leipzig 1922, S. 148-150. 30 Kakuzo Okakura, Collected English Writings, Heibonsha Limited, Publishers, Tokio 1984, Bd. 1, S. 289. 31 Kakuzo Okakura, Das Buch vom Tee. Aus dem Englischen von Marguerite und Ulrich Steindorff, Leipzig 1919, S. 31. 32 Tomonubu Imamichi, Betrachtungen über das Eine, Tokio 1968, S. 154. Hierzu siehe Reinhard May, Ex oriente lux. Heideggers Werk unter ostasiatischem Einfluss, Stuttgart 1989. Tanehisa Otabe40 es allerdings weiterer Forschungen hinsichtlich Okakuras Einflüssen in Deutschland bedarf.33 Zweitens sei Curt Glaser (1879–1943) genannt, der 1911 rund ein Jahr in Japan verbrachte und Werke über die ostasiatische Kunst wie z. B. Die Kunst Ostasiens verfasste.34 Glaser studierte in Berlin bei Heinrich Wölfflin, der auf der Basis seiner stilgeschichtlichen Methode „kunstgeschichtliche Grundbegriffe“ formulierte. Dabei geht es Wölfflin zwar vorrangig um die stilgeschichtliche Entwicklung in Europa von der Hochrenaissance zum Barock, aber in der 6. Auflage seiner Kunstgeschichtlichen Grundbegriffe von 1923 erklärt Wölfflin, dass sein „Schema sich bis in die Gebiete der japanischen und der altnordischen Kunst hinein als brauchbar erwiesen“ habe.35 Somit vertritt er eine universa- listische Sicht auf die Kunstgeschichte. Glaser, Wölfflins Student, geht hingegen davon aus, dass „die Ästhetik […] nicht mehr von ‚Grundgesetzen bildender Kunst‘ reden [darf], ohne auf das östliche Schaffen ebenso sich zu beziehen wie auf das westliche“.36 Mit anderen Worten, die von der westlichen Kunst abgeleiteten Grundgesetze dürfen nicht ohne weiteres auf die östliche Kunst übertragen werden. In Die Kunst Ostasiens (1913, 2. Auflage 1922) stellt Glaser fest, dass die Grund- prinzipien der europäischen Kunstgeschichte, wonach ein neuer Stil den alten negiert, für die ostasiatische (insbesondere japanische) Kunst nicht gelte, und weist darauf hin, dass die Besonderheit der japanischen Kunst vielmehr in der „Gleichberechtigung verschiedener Stile“ liege. „Das Neue entsteht [in Japan] nicht im Kampf gegen das Alte, und es wird nicht naturgemäß der Feind des Gewesenen. Der neue Stil dünkt sich nicht als der bessere und in seiner Zeit einzig berechtigte, er fügt nur den möglichen Darstellungsformen eine noch nicht gekannte hinzu.“37 33 Zu Okakuras Rezeption in Amerika siehe Michael Siemer, Japonistisches Denken bei Lafcadio Hearn und Okakura Tenshin. Zwei stilisierende Ästhetiker im Kulturkontakt, Hamburg 1999, S. 287-306. Zu seinem Einfluss auf Rilke siehe Andreas Wittbrodt, Hototogisu ist keine Nachtigall. Traditionelle japanische Gedichtformen in der deutsch- sprachigen Lyrik (1849-1999), Göttingen 2005, S. 184. 34 Zu Curt Glaser siehe vor allem Andreas Strobl, Curt Glaser. Kunsthistoriker – Kunst- kritiker – Sammler. Eine deutsch-jüdische Biographie, Köln et al. 2006. 35 Heinrich Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwick- lung in der neueren Kunst, 9. Aufl., München 1948, S. VI. 36 Curt Glaser, „Ostasiatische Kunst“, in: Der Tag, Nr. 235, 6.10.1912. 37 Curt Glaser, Die Kunst Ostasiens, Leipzig 1913, S. 35. Glaser fügt hinzu: „Das Fest- land [d. h. China] entsandte die ersten Kulturträger als Ansiedler auf das Inselreich [d. h. Japan], und Einflussströme kommen von dort periodenweis herüber, werden auf- genommen und verarbeitet“ (ebd., S. 35). Diese Stelle ist wahrscheinlich von Okakura beeinflusst, dessen Ideale des Ostens Glaser gelesen hatte (ebd., S. 12). Okakura be- hauptete: „So ist Japan recht eigentlich ein Museum der asiatischen Kultur. […] So wird die Geschichte der japanischen Kunst zur Geschichte der religiösen und philosophi- schen Ideale Asiens. Sie ist der Strand, auf dem jede Welle östlichen Denkens ihre Spur Drei Stufen der Globalisierung 41 In einer Zeit, als Wölfflins Stilgeschichte als Kriterium für die Wissen- schaftlichkeit der Kunstgeschichte diente, regt Glaser an: „Man sollte viel- mehr die Lehre des Ostens sich zu eigen machen und die Möglichkeit des Nebeneinanders der Schulen begreifen.“38 Damit relativiert Glaser durch seine Begegnung mit der japanischen Kunst Wölfflins Stilgeschichte und vertritt die These, dass die Kunst in einer Epoche nicht pauschal und ein- dimensional, sondern sozusagen pluralistisch verstanden werden muss: „Es gibt auch in Ostasien eine wissenschaftliche Kunstgeschichte. Aber die Me- thode, die dort herangebildet wurde, zerlegt nicht in Querschnitte, die etwa der zeitlichen Aufeinanderfolge der Generationen entsprechen, sondern in Längsschnitte, die sie unter dem Begriff von Schulen fasst. Es müsste lehr- reich sein, den Versuch zu machen, einmal nach diesem Prinzip das Material der europäischen Kunst zu ordnen, wie es andrerseits sich als fruchtbar erweist, nach dem uns geläufigen Grundsatz der Stilentwicklung die Kunst Ostasiens zu untersuchen. […] die verschiedenen -ismen, zu denen sich die neueste Kunst bekennt, um sich unter deren Zeichen zu befehden, sind im Grunde das Gleiche wie die „Schulen“ im heutigen Japan. Nur dass im Osten von vornherein jeder neben der anderen ihr Daseinsrecht zuerkannt wird, während bei uns jede den Anspruch erhebt, nach dem allgewaltigen Gesetz der Entwicklung die allein Daseinsberechtigte zu heißen.“39 Das heißt, Glaser ist der Ansicht, dass, während die europäische Kunst- geschichte mit ihrem Prinzip der „Stilentwicklung“ die Kunst als eine Auf- einanderfolge von „Querschnitten“ (d. h. durch einen spezifischen Stil ge- kennzeichneten Epochen) versteht, die Kunstgeschichte in Ostasien mit ihrem Prinzip der „Schulen“ die Kunst als die Koexistenz von mehreren Längs- schnitten (d. h. Schulen) sieht und dass ein Austausch zwischen den beiden Methoden der Kunstgeschichte zu einem fruchtbaren Ergebnis führen würde. Ein solcher Versuch würde einerseits die „Stilentwicklung“ in Ostasien sicht- bar machen und andererseits in Europa dazu motivieren, die Geschichte der Ismen neu zu überdenken und so den Stil pluralistisch zu betrachten. Glasers Theorie stieß in Japan auf fruchtbaren Boden. Für die Zeitschrift Shisô (Juni 1924) übersetzte Tetsurô Watsuji (1889–1960) Glasers Essay „Aufgaben und Methoden europäischer Forschungen im Bereich östlicher Kultur“ ins Japanische. Dieser Essay muss Watsuji zu seiner eigenen Arbeit im Bereich der Kulturphilosophie angeregt haben.40 Glaser schreibt: „[…] selbst die unbedenkliche Anwendung der uns geläufigen ästhetischen Grund- begriffe auf das neue, fremde Material muss bedenklich erscheinen. Diese hinterlassen hat, sobald sie überhaupt die Rasse [d. h. die Japaner] bewusst traf“ (Ka- kuzo Okakura, Die Ideale des Ostens, S. 24-25). 38 Curt Glaser, „Zu Thomas Landschaftszeichnungen“, in: Kunst und Künstler XVIII/1 (1919), S. 24. 39 Ebd., S. 23. 40 Watsuji besaß auch Glasers Buch Die Kunst des Ostens (2. Aufl., 1920). Tanehisa Otabe42 Begriffe sind auf empirischem Wege gewonnen, aus der Analyse westlichen Kunstschaffens. Sie selbst sollten, anstatt auf ein anderes Material ange- wendet, an ihm vielmehr zunächst nachgeprüft werden. Es kann nicht die Aufgabe sein, östliche Formen in das an westlicher Kunst erprobte Begriffs- system zu zwingen, sondern dieses System selbst zu erweitern, aus dem Material östlicher Kunst die Begriffe abzuleiten, die seiner Deutung dienen und auf der so gewonnenen breiteren Grundlage den gemeinsamen Nenner zu finden, der einer Weltgeschichte der Kunst die denknotwendige Voraus- setzung zu geben vermöchte.“41 Watsuji selbst fühlte sich offenbar von dieser Aussage Glasers heraus- gefordert und setzte sich mit Wölfflins Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen auseinander.42 Aus seinem Essay „Über den Stil der östlichen Kunst“ (ver- fasst 1925, veröffentlicht 1927) lässt sich das Ergebnis seiner Forschungen ersehen. Darin versucht Watsuji, die kunstgeschichtlichen Grundbegriffe Wölfflins zu relativieren und dabei eine neue, umfassendere Stilgeschichte aufzustellen, welche die westliche und die östliche Kunst sowohl in ihrer Gemeinsamkeit als auch in ihrer Differenz charakterisieren kann. In der Abhandlung von 1934 „Der japanische Geist“ vertritt Watsuji die These, dass „eine Eigenschaft der japanischen Kultur darin besteht, dass verschiedene Momente auf mehreren Ebenen übereinander liegen“43. Ausgehend von der Tatsache, dass verschiedene Kunstformen immer noch existieren, „ohne ihren Stil zu verändern“, weist Watsuji darauf hin, dass die japanische Kunst nicht allein aus der Perspektive der Stilgeschichte erfasst werden kann. Aus den „Schulen“, die Glaser in der japanischen Kunst erkannte, schuf Watsuji den Begriff der „Mehrschichtigkeit der Kultur“.44 Dieser von Watsuji geprägte Be- griff kann als ein Ergebnis der Zusammenarbeit zwischen Osten und Westen angesehen werden. Die Begegnung mit der japanischen Kunst veranlasste Glaser und Wa- tsuji dazu, am Anfang des 20. Jh., in dem die Stilgeschichte einen globalen Standard verkörperte, dessen Allgemeingültigkeit in Frage zu stellen. Diese Rückwirkung von der Minderheit auf die Mehrheit bzw. von der untergeord- neten auf die übergeordnete Kultur markiert die dritte Stufe der Globali- sierung. 41 Curt Glaser, „Aufgabe und Methode europäischer Forschung im Bereich östlicher Kunst“, in: Der Cicerone, XV. Jg., Heft 6, S. 246-247. 42 Watsuji besaß die 6. Auflage der Kunstgeschichtlichen Grundbegriffe von 1923, wo Wölfflin behauptet, dass seine Grundbegriffe sogar auf die japanische Kunst anwend- bar seien. 43 Tetsurô Watsuji, Gesamtausgabe (auf Japanisch), 3. ergänzte Aufl., Tokio 1991, Bd. 4, S. 314. 44 Siehe hierzu Tanehisa Otabe, „Die Entdeckung des ‚Japanischen‘ beim frühen Tetsurô Watsuji. Zur Hermeneutik der Kultur“, in: Zusammenhänge. Jahrbuch für asiatische Philosophie, Bd. 1 (2006), S. 101-132. Drei Stufen der Globalisierung 43 Okakuras und Watsujis Leistungen kamen im Zuge der Modernisierung der Wissenschaften in Japan zustande oder – von Europa aus gesehen – im Zuge der zunehmend den Fernen Osten umfassenden Globalisierung der westlichen Wissenschaften. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts wurden an der allgemeinen Gültigkeit der durch die westliche Moderne entwickelten ästhe- tischen Theorie zunächst von den Europäern Zweifel geäußert, die dann von den Asiaten selbst übernommen und schließlich weiterentwickelt wurden. Wie im vorigen Abschnitt erwähnt, setzte die moderne Beschreibung der Kunstgeschichte die allgemeine Gültigkeit des durch die westliche Moderne entwickelten Kunstbegriffs voraus, indem sie die östliche Kunst als Vorge- schichte der westlichen Kunst betrachtete. Und weil die westliche Ästhetik am Ende des 19. Jahrhunderts den globalen Standard verkörperte, mussten die Japaner erst einmal den von außen vorgegebenen globalen Standard ak- zeptieren, wobei dieser in Japan, wo es keinen Begriff „Kunst“ im modernen Sinne gab, diverse Konflikte hervorrief. So brachte er einerseits mit sich, dass die traditionellen Künste in Japan nunmehr als Kunst im westlich mo- dernen Sinne aufgefasst wurden; andererseits, wie Okakuras Konzept der japanischen Kunstgeschichte und Glasers Fragestellung, die Watsuji wissen- schaftlich inspirierte, zeigen, führte er notwendigerweise zu einer Neuin- terpretation der traditionellen asiatischen Künste, was wiederum Anlass bot, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, inwiefern der moderne Kunstbegriff und die moderne Kunstgeschichtsschreibung für Asien gültig sein können. Auf diese Weise löste der aus dem Westen stammende globale Standard der modernen Ästhetik einerseits im nichtwestlichen Kulturkreis verschiedene Neuordnungen bzw. -auslegungen der Tradition aus, die aber dann auf den globalen Standard der modernen Ästhetik zurückwirkten und ihn relati- vierten. So konnte sich im Zuge der Globalisierung auch der nichtwestliche Kulturkreis an der Gestaltung des globalen Standards beteiligen. Läuft der Kulturaustausch in der zweiten Stufe letztlich auf Akkulturation in nur einer Richtung hinaus, so ist er in der dritten Stufe durch eine Wechselseitigkeit gekennzeichnet, die man Interkulturalität nennen kann. Bei der interkultu- rellen Philosophie geht es darum, in den Erzeugnissen einzelner Kulturen die Spuren des Zusammenspiels mehrerer Kulturen zu erkennen. Ein globaler Standard gehört nicht nur zu einer bestimmten privilegierten Kultur als ihr eigenes eindeutiges System. Vielmehr handelt es sich dabei um ein dynamisches System, das aus dem Zusammenwirken verschiedener, oft konfligierender und divergenter Subsysteme fortwährend entsteht. Wichtig ist, dass wir diese Bewegung weder nur von außen beobachten noch ihr nur passiv folgen, sondern an dieser Bewegung – jeder auf seine Art und Weise, wie gering auch sein Beitrag sein mag – aktiv beteiligt sind. Dirk Stederoth Wege des Negativen Zum Verhältnis der Negationsformen bei Nāgārjuna und Hegel1 Jeder, der sich einmal die Mühe macht, Nāgārjunas „Lehre von der Mitte“ (Mūlamadhyamaka-Kārikās) aus dem 3. Jahrhundert unserer Zeitrechnung aufzuschlagen, wird mindestens zweierlei Vorurteile beraubt, wobei das erste darin besteht, dass es sich bei buddhistischen und anderen asiatischen Texten weniger um philosophische als vielmehr solche Texte handelt, die als Weisheitslehren bar jeder anspruchsvollen Argumentation auftreten. Zwei- tens löst sich das Vorurteil auf, dass solche Texte in ihrer Denkstruktur so grundlegend andersartig seien, dass ein Vergleich mit Texten der europäi- schen Tradition von Anfang an zum Scheitern verurteilt sei. Was einem in Nāgārjunas Text entgegentritt, ist ein logisch anspruchsvoller Text, der ein methodisch kohärentes Programm verfolgt, insofern er die verschiedensten theoretischen Ansätze, die in der damaligen buddhistischen Diskussion ver- handelt wurden, argumentativ destruiert. Das Verfahren, das er dabei verfolgt, wird in der Kommentarliteratur wiederholt als „viergliedrige Negation“ (catuscoti) bzw. als Tetralemma bezeichnet,2 wonach eine Sache weder (1) A, noch (2) –A, noch (3) A und –A, noch (4) weder A noch –A ist. Mit diesem skeptischen Verfahren sollen dann alle positiven theoretischen Konzepte als in sich widersprüchlich aufgewiesen werden, wobei dieser Aufweis dann der Beleg für die durchgängige Inkohärenz der Erscheinungswelt darstellt. Bei Hegel hingegen, zu dem dieses Verfahren im Folgenden ins Verhält- nis gesetzt werden soll, ist ebenfalls von einer durchgängigen Widersprüch- lichkeit der Dinge die Rede, wobei er allerdings zu einem diametralen Ergebnis kommt. Geht Hegel in seiner berühmten Formel von der „Identität 1 Dieser Text ist das Manuskript eines Vortrags, der im Rahmen eines Workshops zum Thema „Kulturen der Vernunft“ am Institut für Philosophie der Universität Kassel (7. und 8.12.2012) gehalten wird. Der Workshop wurde im Winter 2011 von Heinz Paetzold gemeinsam mit Philippe Brunozzi, Sarhan Dhouib, Helmut Schneider und dem Verfasser geplant, was nun durch den plötzlichen und schmerzlichen Tod von Heinz Paetzold durchkreuzt wurde. Sein Fehlen reißt eine tiefe Lücke in die gemeinsame Arbeit, auch bei bleibend anwesender Inspiration. – Für viele anregende Diskussionen sei den Teilnehmern eines Nāgārjuna-Seminars im Sommersemester 2012 herzlichst gedankt. Besonderer Dank gilt aufgrund intensiven und konstruktiven Austauschs über Nāgārjunas Ansatz Philippe Brunozzi und Alexander Hildebrandt. 2 Vgl. Kuno Lorenz, Indische Denker, München 1998, S. 93; Lutz Geldsetzer, „Kom- mentar“, in: Nāgārjuna, Die Lehre von der Mitte, Hamburg 2010, S. 138 f. Wege des Negativen 45 der Identität und Nicht-Identität“ von einer die Widersprüche aufhebenden Stufe aus, also einer höheren Ebene, auf der der Widerspruch zugleich auf- gelöst als auch aufbewahrt ist, so dass „weder A noch –A und sowohl A als auch –A“ gleichermaßen gilt, findet sich bei Nāgārjuna hingegen eine durch- gängige Nicht-Identität, in der keinerlei Aufhebung und positive Dimension mehr übrig bleibt. Dass Nāgārjunas Skepsis noch weiter geht als etwa die pyrrhonische, die lediglich den Aufweis der durchgängigen Wahrscheinlich- keit aller theoretischen Aussagen zum Ziel hat, oder auch die negative Dialektik eines Adorno, die aller Kritik an identifizierenden Aufhebungen in ihrer totalisierenden Form zum Trotz an einem aufklärerischen Programm festhält, ist ein Indiz dafür, dass es in Nāgārjunas Ansatz in der Tat etwas für die europäische Tradition Neues zu entdecken gilt,3 zumal er mit der buddhistischen Lehre der Substanz- und Subjektlosigkeit der Dinge in sel- tener Klarheit Ernst macht, was an den Grundfesten der europäischen Tra- dition rüttelt. Im Folgenden sei nun auf dieser Entdeckungsreise ein erster Schritt voll- zogen, bei dem eine direkte Konfrontation des Ansatzes Nāgārjunas mit dem Hegels unternommen werden soll, wobei zunächst Nāgārjunas Verfahren an dem Verhältnis von Ursache und Wirkung dargelegt sei und mit Hegels Fassung desselben ins Gespräch gebracht werden soll, woraufhin eine wei- tergehende Verhältnisbestimmung beider Ansätze folgt. 1. Zum Problem der Kausalität bei Nāgārjuna Das Problem der Kausalität nimmt in Nāgārjunas Schrift nichts weniger als eine prominente Stellung ein, insofern es als erstes Kapitel zusammen mit dem zweiten Kapitel über das Gehen die logische Grundfigur demonstriert, mit der alle weiteren Begriffe und Theoreme einer Analyse unterzogen wer- den. Mit diesen beiden Grundkapiteln will Nāgārjuna zeigen, dass alle Lehren von einem Entstehen und Vergehen der Dinge sich in unlösliche Pa- radoxien verfangen, wobei das erste Kapitel das prozessuale Übergehen von einem Zustand zu einem anderen (also Veränderung) überhaupt thematisiert, während das zweite Kapitel die von einem Subjekt hervorgerufene Verän- derung am Beispiel eines gehenden Gängers fokussiert. Hier sei lediglich das erste Kapitel in den Blick genommen, das gleich im ersten Vers die skeptische Perspektive Nāgārjunas auf den Punkt bringt, wobei ebenfalls die schon angesprochene „viergliedrige Negation“ zum Ausdruck kommt: „Nirgends und niemals findet man Dinge, entstanden aus sich, aus anderem, aus sich und anderem zusammen, ohne Grund (d. i. weder 3 Vgl. Jay L. Garfield, Graham Priest, „Nāgārjuna and the Limits of Thought“, in: Phi- losophy East & West, 53/1, 2003, S. 2. Dirk Stederoth46 aus sich noch aus anderem).“ (MMK 1.1)4 Worin das Grundproblem des Be- dingungs- bzw. Kausalitätsverhältnisses5 besteht, zeigt Nāgārjuna in den Versen 1.3 bis 1.6, was nun etwas eingehender untersucht sei. Der Vers 1.36 beschäftigt sich zunächst damit, ob dasjenige, was als Be- dingung (oder Ursache) auftritt, ein Eigensein (Substantialität) besitzen kann: „In so etwas wie Bedingungen (pratyaya) ist Eigensein (svabhāva) von Dingen bekanntlich nicht zu finden. Findet sich aber kein Eigensein, dann [auch] kein Anderssein (parahāva).“ (MMK 1.3) Der Gedanke, der hinter dieser Passage liegt, ist folgender: Eine Bedingung (oder Ursache) zeichnet sich dadurch aus, Bedingung (oder Ursache) für etwas anderes zu sein, wes- halb ihr gerade nicht zukommt, etwas für sich selbst zu sein. Das Wesen des Ursache-Seins liegt also darin, etwas anderes, die Wirkung zu sein. Um- gekehrt müsste jedoch dieses etwas ein Eigensein haben, damit es für etwas anderes sein kann, denn sonst ginge es vollständig im anderen auf. Genau hierin liegt nun das Problem, dass die Ursache vollständig in ihrer Wirkung aufgehen muss, mithin reines Anderssein zu sein hat, jedoch dadurch kei- nerlei Eigensein aufweist, was es aber benötigte, wenn es gegen die Wir- kung als etwas anderes bestimmt werden soll. Im ersten Teil von Vers 1.4 wird dann das Verhältnis zunächst von der Seite der Wirkung aus reflektiert: „Wirkkraft (kriyā) hat [wenn sie tatsäch- lich existiert] keine Bedingungen; Wirkkraft ist [aber auch] nicht ohne Be- dingungen.“ (MMK 1.4) Der Gedanke ist denkbar einfach, insofern er nicht mehr und nicht weniger klarlegt, dass eine Wirkung, sofern sie bereits exis- tiert, keine Bedingungen mehr hat oder für ihr Dasein benötigt. Zugleich je- doch ist eine Wirkung nur dann eine Wirkung, wenn sie aus Bedingungen 4 Nāgārjunas Mūlamadhyamaka-Kārikās wird durchgängig nach der Übersetzung von Weber-Brosamer und Back mit der Sigle „MMK“ und der jeweiligen Kapitel- und Versangabe zitiert: Bernhard Weber-Brosamer, Dieter M. Back, Die Philosophie der Leere. Nāgārjunas Mūlamadhyamaka-Kārikās. Übersetzung des buddhistischen Ba- sistextes mit kommentierenden Einführungen, 2. durchgesehene Auflage, Wiesbaden 2005. Als weitere Ausgaben seien hier genannt: die Neuübersetzung der chinesischen Version von Lutz Geldsetzer (Nāgārjuna, Die Lehre von der Mitte, Hamburg 2010), die klassische Übersetzung der chinesischen Version von Max Walleser (Die Mittlere Lehre des Nāgārjuna, nach der chinesischen Version übertragen von Max Walleser, Heidelberg 1912) sowie dessen Übersetzung der tibetischen Version (Die Mittlere Lehre des Nāgārjuna, nach der tibetischen Version übertragen von Max Walleser, Heidelberg 1911) 5 Es sei hier nicht auf die Diskussion eingegangen, ob es sich bei den Bedingungsver- hältnissen lediglich um Bewusstseinszustände handelt, wie es etwa Rosenberg postu- liert (Otto Rosenberg, Die Probleme der buddhistischen Philosophie, zweite Hälfte, Heidelberg 1924, S. 192 ff.), oder gar um eine Auseinandersetzung mit der aristoteli- schen Vier-Ursachen-Lehre, wie es jüngst von Lutz Geldsetzer in seinem Kommentar zur Neuübersetzung des Textes behauptet wurde (Lutz Geldsetzer, „Kommentar“, ebd., S. 111 ff.). 6 Dieser Vers wird in den Übersetzungen von Walleser und Geldsetzer unter 1.2 auf- geführt. Wege des Negativen 47 hervorgeht und also an diese gebunden ist. Gleiches gilt nun auch für die Bedingungen oder Ursachen: „Und andererseits existieren Bedingungen weder ohne Wirkkraft noch mit Wirkkraft.“ (Ebd.) Denn, so knüpft Vers 1.5 hieran an: „Sie heißen – so sagt man – Bedingungen, weil, abhängig von ihnen, [etwas] entsteht. – Aber sind sie nicht vielmehr Nicht-Bedingungen, solange nichts durch sie entsteht?“ (MMK 1.5) Die Bedingungen (oder Ursachen) sind also nur dann Bedingungen (oder Ursachen), sofern sie in Verbindung mit einer Wirkung stehen. Daraus folgt aber, dass eine Bedin- gung, solange die Wirkung noch nicht existiert, selbst nicht als Bedingung existiert, allerdings bei Existenz der Wirkung, wie eben ausgeführt, ebenfalls nicht existiert. Somit lässt sich das Problem solchermaßen zusammenfassen, dass die Bedingung weder bei existierender noch bei nicht-existierender Wirkung existiert, wie auch umgekehrt die Wirkung weder bei existierender noch bei nicht-existierender Bedingung als Wirkung existiert, was dann in Vers 1.6 nochmals zusammenfasst wird: „Weder für eine nicht-existierende noch existierende Sache trifft eine Bedingung zu: Wenn etwas nicht exis- tiert, wessen ist dann die Bedingung? Wenn es existiert, wozu noch eine Be- dingung?“ (MMK 1.6) Dieses Ergebnis bestätigt nun aber dasjenige, was im ersten Vers als viergliedrige Negation vorgestellt wurde, denn ein Ding ist (1) nicht aus sich selbst entstanden, da ein Entstehen immer auf Bedingungen des Entstehens verweist, die nicht in dem erst entstehen sollenden Ding selbst schon ent- halten sind. Es ist (2) nicht aus anderem entstanden, da wenn es noch nicht (als Wirkung) ist, es auch nicht in anderem (den Bedingungen) ist und wenn es ist, es keines anderen bedarf. Aus dem gleichen Grunde ist es auch (3) nicht aus sich und anderem zusammen entstanden oder auch (4) weder aus sich noch aus anderem. Die verschiedenen Möglichkeiten des Entstehens eines Dinges führen somit alle ins Leere, wodurch ein kausales Verhältnis der Dinge und mithin ein Entstehen und Vergehen bzw. letztlich jede Ver- änderung derselben sinnlos wird. 2. Hegels dialektische Analyse von Ursache und Wirkung Hegels Analyse des Kausalitätsverhältnisses nun, das sich am Ende des zwei- ten Teiles seiner Wissenschaft der Logik findet, basiert auf der Bestimmung des Substantialitätsverhältnisses. Die Substanz, die er als „Totalität der Accidenzen“7 fasst, steht dadurch als Totalität in einem Verhältnis zu seinem inneren Möglichkeitsraum akzidentieller Bestimmung. Das Setzen einer be- stimmten Möglichkeit zur Wirklichkeit ihrer Akzidenzen ist für Hegel dann 7 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, hrsg. v. Georg Lasson, Hamburg 1930, S. 150 (§151). Dirk Stederoth48 die Grundform des Kausalitätsverhältnisses, in dem die Substanz als Ur- sache und ihre akzidentielle Bestimmtheit dann als Wirkung auftritt. Die Feinanalyse vollzieht sich hieran anknüpfend in drei Schritten, die zugleich drei verschiedene Kausalitätsformen differenzieren: a.) Die for- melle Kausalität; b.) Das bestimmte Kausalitätsverhältnis; c.) Wirkung und Gegenwirkung. Der erste Schritt (a), der die formelle Kausalität entfaltet, ist eine modallogische Analyse des Verhältnisses, die zunächst den formellen Unterschied zwischen der Substanz als Macht über die möglichen Akzi- denzen (Ursache) und deren Verwirklichung in einer akzidentiellen Be- stimmtheit (Wirkung) festhält. Dann allerdings zeigt sich, dass diese Un- terscheidung letztlich abstrakt ist und der Möglichkeitsspielraum durch die verwirklichte Bestimmtheit festgelegt ist, so dass die Substanz auf ihre Bestimmtheit hin wirken muss, um wirklich zu sein. Darin jedoch fallen die möglichen Akzidenzen auf der Seite der Ursache und die wirklichen auf der Seite der Wirkung in eins, wodurch Ursache und Wirkung hinsichtlich ihrer inhaltlichen Bestimmtheit identisch sich zeigen, weshalb Hegel auf dieser Stufe der Entfaltung sagen kann: „Die Wirkung enthält daher überhaupt nichts, was nicht die Ursache enthält. Umgekehrt enthält die Ursache nichts, was nicht in ihrer Wirkung ist. […] In dieser Identität der Ursache und Wir- kung ist nun die Form, wodurch sie als das an sich Seiende und als das Ge- setztsein sich unterscheiden, aufgehoben. Die Ursache erlischt in ihrer Wirkung; damit ist ebenso die Wirkung erloschen, denn sie ist nur die Bestimmtheit der Ursache.“8 Diese Identität von Ursache und Wirkung, „die gegen die Formunter- schiede gleichgültige Einheit, der Inhalt“9, ist nun der Ausgangspunkt für den zweiten Schritt (b) der Entfaltung des Kausalitätsverhältnisses. Was diese Identität letztlich bedeutet, erläutert Hegel nochmals am Beispiel des Re- gens: „Der Regen z. B. ist Ursache der Feuchtigkeit, welche seine Wirkung ist; – der Regen macht naß, dies ist ein analytischer Satz; dasselbe Wasser, was der Regen ist, ist die Feuchtigkeit; als Regen ist dies Wasser nur in der Form einer Sache für sich, als Wässrigkeit oder Feuchtigkeit dagegen ist es ein Adjektives, ein Gesetztes, das nicht mehr sein Bestehen an ihm selbst haben soll; und die eine Bestimmung, wie die andere, ist ihm äußerlich.“10 Diese äußerliche Bestimmtheit der Ursache gegenüber der ebenfalls äußer- lichen Bestimmtheit der Wirkung ist aber zugleich die Grundlage ihrer Un- terscheidung, weshalb dieselben aufgrund ihrer jeweiligen dem Inhalt äußer- lichen Bestimmungen als different sich erweisen. So ist der Regen – um Hegels Beispiel erneut zu bemühen – eine bestimmte Form des Wassers, die auf dem Wasser selbst äußerlichen Bestimmungen wie die Erhebung in den 8 G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, zweiter Teil, hrsg. v. G. Lasson, Leipzig 1934, S. 190 f. 9 Hegel, Logik, S. 191. 10 Hegel, Logik, S. 192. Wege des Negativen 49 und der Zusammenballung am Himmel etc. beruht, wohingegen das Wasser in der Form eines nassen Bodens wiederum andere äußerliche Bestimmun- gen hat. Dass das Wasser im Regen jedoch diese Form hat, basiert auf an- deren Ursachen, weshalb der Regen als Ursache zugleich auch die Wirkung einer anderen Ursache ist.11 Hieraus folgt schließlich, dass das Kausalitäts- verhältnis in einen unendlichen Regress von Ursachen zu Ursachen bzw. in einen unendlichen Progress von Wirkungen zu Wirkungen übergeht, insofern auch die Wirkung wiederum als Ursache einer anderen Wirkung sich erweist: „Durch die Bewegung des bestimmten Kausalitätsverhältnisses ist aber nun dies geworden, daß die Ursache nicht nur in der Wirkung erlischt und damit auch die Wirkung, – wie in der formellen Kausalität, – sondern daß die Ur- sache in ihrem Erlöschen, in ihrer Wirkung wieder wird, daß die Wirkung in Ursache verschwindet, aber in ihr ebenso wieder wird. Jede dieser Bestim- mungen hebt sich in ihrem Setzen auf und setzt sich in ihrem Aufheben; es ist nicht ein äußerliches Übergehen der Kausalität von einem Substrat an ein anderes vorhanden, sondern dies Anderswerden derselben ist zugleich ihr eigenes Setzen.“ 12 Im dritten Schritt (c) nun, werden die Identität und Differenz von Ur- sache und Wirkung selbst ins Verhältnis gesetzt, insofern eine „passive Substanz“ als Moment der Identität einer „wirkenden Substanz“ als Moment der Differenz gegenübergestellt wird. In dieser Verhältnisbestimmung kommt der Wirkung einerseits zu, die Aufhebung im Sinne von Auflösung der Differenz von passiver und wirkender Substanz zu sein, was eine höhere Form von Identität kennzeichnet, die Hegel als „Gegenwirkung“ bezeichnet; zugleich ist die Differenz auch aufbewahrt in der Wirkung, insofern sie sich selbst als Ursache ihrer selbst voraussetzt und durch dieses Voraussetzen gleichermaßen die Ursache der anfänglichen Ursache ist, was dann den Übergang zur nächsten Stufe kennzeichnet, in der dann die „Wechselwir- kung“ entfaltet wird.13 11 Hegel, Logik, S. 192: „[…] der Regen ist Ursache der Nässe, welche dasselbe Wasser ist als jener. Dieses Wasser hat die Bestimmung, Regen und Ursache zu sein, dadurch daß sie von einem Andern in ihm gesetzt ist; – eine andere Kraft oder was es sei, hat es in die Luft erhoben und in eine Masse zusammengebracht, deren Schwere es fallen macht. Seine Entfernung von der Erde ist eine seiner ursprünglichen Identität mit sich, der Schwere, fremde Bestimmung; seine Ursachlichkeit besteht darin, dieselbe zu ent- fernen und jene Identität wieder herzustellen, damit aber auch seine Kausalität aufzu- heben.“ 12 Hegel, Logik, S. 198. 13 Hegel, Logik, S. 202: „In der bedingten Kausalität hingegen bezieht die Ursache in der Wirkung sich auf sich selbst, weil sie ihr Anderes als Bedingung, als Vorausgesetztes ist, und ihr Wirken dadurch ebensosehr Werden als Setzen und Aufheben des Andern ist. […] Jene erste Ursache, welche zuerst wirkt und ihre Wirkung als Gegenwirkung in sich zurückerhält, tritt damit wieder als Ursache auf, wodurch das in der endlichen Kausalität in den schlecht-unendlichen Progreß auslaufende Wirken umgebogen und zu einem in sich zurückkehrenden, einem unendlichen Wechselwirken wird.“ Dirk Stederoth50 3. Zum Verhältnis von skeptischer und dialektischer Negation Vergleicht man nun die beiden dargelegten Analysen des Kausalitätsverhält- nisses zunächst hinsichtlich ihrer logischen Struktur, so fällt einmal auf, dass das Ergebnis von Nāgārjunas Untersuchung mit demjenigen der ersten bei- den Schritte in Hegels Begriffsentfaltung zumindest äußerlich überein- stimmt. Es zeigt sich bei beiden, dass im Kausalverhältnis einerseits eine Identität von Ursache und Wirkung und mithin eine Auslöschung kausaler Prozessualität vorliegt, denn wenn sich Ursache und Wirkung als identisch zeigen, macht es keinen Sinn mehr, von Ursachen und Wirkungen zu spre- chen. Bei Nāgārjuna zeigt sich diese Identität darin, dass ihm zufolge eine Bedingung erst zu einer solchen wird, wenn die Wirkung bereits vorliegt (vgl. MMK 1.3), während Hegel von der durchgängigen inhaltlichen Iden- tität von Ursache und Wirkung spricht. Also auch wenn sie hinsichtlich des Ergebnisses hier übereinstimmen, liegt bereits in der Herleitung ein kleiner, aber in der Konsequenz doch gewichtiger Unterschied zwischen beiden. Dies wird gleich deutlich, wenn man sich die unterschiedliche Positio- nierung beider Autoren zur Notwendigkeit einer Differenzbestimmung von Ursache und Wirkung vergegenwärtigt. Nāgārjuna (vgl. MMK 1.5) verweist hierbei darauf, dass eine Ursache ihr Wesen darin hat, etwas entstehen zu lassen, dass dieses Wesen jedoch vor dem Entstehen, also vor der Wirkung noch nicht vorliegt. Damit also sinnvollerweise von Ursachen im Unterschied zu Wirkungen gesprochen werden könnte, bedürfte es einer eigenen Bestim- mung der ersteren gegenüber den letzteren, die für Nāgārjuna jedoch nicht sinnvoll angenommen werden kann. Hegel hingegen hat sich mit seinem Ansatz einer inhaltlichen Identität von Ursache und Wirkung die Hintertür einer formalen Differenz offen gehalten, auf die er dann auch im zweiten Schritt seines Ansatzes verweist. Trotz der inhaltlichen Identität kann er an dieser Stelle eine positiv bestimmte formale Differenz herausstellen, die zwar von äußerlichen Bestimmungsgründen abhängt und deshalb in einen unend- lichen Regress der Ursachen (bzw. Progress der Wirkungen) verfällt, jedoch nicht gleichermaßen ins Leere verläuft, wie der skeptische Ansatz Nāgār- junas. Zwar sieht Hegel seinen Ansatz ebenfalls als einen „sich vollbringen- de[n] Skeptizismus“ an, der „die bewußte Einsicht in die Unwahrheit des erscheinenden Wissens“ sei,14 jedoch unterscheidet er denselben explizit von einem abstrakten Skeptizismus, der in ein leeres Nichts ausläuft; ein solcher sei „nämlich der Skeptizismus, der in dem Resultate nur immer das reine Nichts sieht, und davon abstrahiert, daß dies Nichts, bestimmt, das Nichts dessen ist, woraus es resultiert. Das Nichts ist aber nur, genommen als das 14 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Hamburg 1988, S. 61. Wege des Negativen 51 Nichts dessen, woraus es herkömmt, in der Tat das wahrhafte Resultat; es ist hiemit selbst ein bestimmtes und hat einen Inhalt. Der Skeptizismus, der mit der Abstraktion des Nichts oder der Leerheit endigt, kann von dieser nicht weiter fortgehen, sondern muß es erwarten, ob, und was ihm etwa Neues sich darbietet, um es in denselben leeren Abgrund zu werfen.“15 Was Hegel hier entfaltet, ist der Unterschied seines Verfahrens einer „bestimmten Nega- tion“16 von einer abstrakten, formalen Form der Negation. Auf den Ansatz von Nāgārjuna angewandt, bedeutet diese Kritik, dass der Aufweis von Wi- dersprüchen in der Bestimmung des Verhältnisses von Ursache und Wirkung nicht ein Verweis auf die reine Leere ist, sondern von einer Gegebenheit kausaler Prozessualität ausgeht, die auch in ihrer Widersprüchlichkeit nicht völlig getilgt werden kann. Die Herkunft des Aufweises dieser Widersprüch- lichkeit auszublenden, hinterlässt demgemäß einen blinden Fleck im Ansatz Nāgārjunas, den er aufgrund seines formalen Vorgehens nicht fassen, jedoch zugleich nicht ausräumen kann. Hierauf wird noch zurückzukommen sein. Zunächst sei jedoch noch auf einen weiteren wichtigen Unterschied bei- der Ansätze hingewiesen, der ebenfalls eine Folge der Differenz von for- maler und bestimmter Negation ist: Während Nāgārjuna beim Aufweis der Widersprüchlichkeit von Kausalität stehen bleibt, geht Hegel noch einen Schritt (bzw. zwei Schritte) weiter zu den begrifflichen Strukturen der Gegen- und Wechselwirkung, die mit formalen Mitteln vermutlich gar nicht fassbar sind. Letztere Vermutung speist sich daraus, dass die genannten Begriffe von vornherein auf der (dialektischen) Widersprüchlichkeit von Ursache und Wirkung bzw. auf dem Widerspruch ihrer Identität und Differenz beruhen. Schon Kant hat in seiner Kritik der Urteilskraft auf zwei unterschiedliche Formen der Kausalität hingewiesen, wobei er eine Verstandeskausalität, die lediglich von einer linearen Reihe von Ursachen und Wirkungen in einer Richtung ausgeht, von einer „Kausalverbindung nach einem Vernunftbe- griffe (von Zwecken)“ unterscheidet, „in der das Ding, welches einmal als Wirkung bezeichnet ist, dennoch aufwärts [in umgekehrter Richtung – D.S.] den Namen einer Ursache desjenigen Dinges verdient, wovon es die Wir- kung ist.“17 Insbesondere ist es für Kant das Phänomen des Organischen, das durch eine solche Form der Vernunftkausalität allein begreifbar ist und ent- sprechend für eine Verstandeskausalität nicht fassbar sich erweist.18 Hegel knüpft an diese Einschränkung des Fassungsvermögens einer Verstandes- 15 Hegel, Phänomenologie, S. 62. 16 Er schreibt in unmittelbarer Anknüpfung an die zitierte Passage: „Indem dagegen das Resultat, wie es in Wahrheit ist, aufgefaßt wird, als bestimmte Negation, so ist damit unmittelbar eine neue Form entsprungen, und in der Negation der Übergang gemacht, wodurch sich der Fortgang durch die vollständige Reihe der Gestalten von selbst er- gibt.“ (Hegel, Phänomenologie, S. 62) 17 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, hrsg. v. Wilhelm Weischedel (Werke in sechs Bänden, Bd. V.), Darmstadt 1983, S. 484 (B 289). 18 Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 485 ff. (B 290 ff.) Dirk Stederoth52 kausalität hinsichtlich des Lebendigen an und erweitert diese noch durch den Hinweis auf die Unzulänglichkeit des Begriffs der Kausalität im Felde der Geschichte.19 Auf diese Erweiterung des Kausalitätsbegriffs, der hier mit Kant und Hegel eingebracht wurde, sei jedoch nicht weiter eingegangen. Vielmehr sei nun gesondert die Bedeutung untersucht, die jene Kritik für den skeptischen Ansatz Nāgārjunas hat, wofür zunächst die Reichweite desselben in den Fokus treten muss. 4. Zur Reichweite der skeptischen Negativität bei Nāgārjuna Wie eingangs bereits angemerkt, dient Nāgārjuna die formale Dekonstruk- tion der Kausalität als methodisches Grundmodell, mit dem er in analoger Weise weitgehend alle seinerzeit verhandelten buddhistischen Haupttheo- reme auseinandernimmt, von – um nur einige zu nennen – der Lehre der fünf Konstitutionselemente der Persönlichkeit (Kap. 4), über die Leidens- theorie (Kap. 12) und Wiedergeburtslehre (Kap. 13), bis hin zu den berühm- ten vier edlen Wahrheiten (Kap. 24) und dem Nirvāna-Begriff (Kap. 25). Gleichsam restlos zieht er alle theoretischen Anker ins Bodenlose, wobei das Ziel des buddhistischen Weges, das Nirvāna, dann nicht mehr eine Leere neben der Erscheinungswelt darstellt, sondern von dieser nicht mehr unter- scheidbar ist, weil sich dieselbe bereits als eine absolute Fata Morgana er- wiesen hat, in der Nichts haltbar ist und nichts Bestand hat – noch nicht einmal die Grundlehren des Buddhismus, die als Lehren gerade das verfeh- len, was es anzustreben gilt. Nun könnte der kundige Leser den Einwand formulieren, dass es einem der Hauptbegründer des Mahāyāna-Buddhismus mehr um die für diesen zentrale Idee des Bodhisattvas20, also eine ethisch-aufklärerische Praxis in der Welt geht, und nicht um einen rein theoretischen Diskurs. Dieser im Ansatz durchaus richtige Einwand gilt jedoch für Nāgārjuna nur bedingt, insofern der Weg einer ethischen Praxis (ebenso wie die besagten Grundlehren des Buddhismus) förderlich ist für die Erreichung des Ziels, jedoch das Ziel letztlich noch verfehlt, wie aus einer Passage der mehr ethisch orientierten Schrift Juwelenkette Nāgārjunas hervorgeht: „Wer an das relative Sein der Existenz glaubt, glaubt an die Auswirkung von Handlungen. Diese Ansicht, die Verdienste sammeln lässt und zu einer guten Wiedergeburt führt, gilt als ‚rechte Anschauung‘. Da Weisheit Existenz und Nicht-Existenz gleicher- 19 G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, ebd., S 193 f. 20 Vgl. zur Idee des Boddhisattvas: Heinrich Zimmer, Philosophie und Religion Indiens, Frankfurt a. M. 1988, S. 475 ff.; Edward Conze, Buddhistisches Denken. Drei Phasen buddhistischer Philosophie in Indien, Frankfurt a. M. 1990, insb. S. 337 ff.; Volker Zotz, Geschichte der buddhistischen Philosophie, Reinbek bei Hamburg 1996, S. 119 ff. Wege des Negativen 53 maßen auslöscht, gibt es einen Weg zwischen verdienstvollen und nicht-ver- dienstvollen Handlungen. Dort, so sagen die Weisen, liegt die Befreiung von schlechter Wiedergeburt oder guter Wiedergeburt.“21 Zwar können also ver- dienstvolle Tätigkeiten, eine ethische Praxis in der Welt als Voraussetzungen für das Erreichen der Weisheit gelten (denn der Weg des nicht-verdienst- vollen Handelns befördert nur umso stärker die Grundillusion des eigenen Selbstes)22, jedoch hängt auch das verdienstvolle Handeln noch dem Glau- ben an eine bestehende Welt und entsprechenden Auswirkungen des Han- delns in dieser an. Da aber die Welt nichts weiter als eine absolute Fata Morgana ist, muss die wahre Weisheit über die Differenz von verdienst- vollem und nicht-verdienstvollem Handeln wie auch über die Differenz von Existenz und Nicht-Existenz derselben hinaus: „Wer denkt, die Welt, die einer Luftspiegelung gleicht, sei entweder existent oder nicht-existent, ist unwissend. Und wo Unwissenheit herrscht, gibt es keine Befreiung.“23 – Erst hier zeigt sich die Radikalität und intendierte Reichweite des Skeptizis- mus Nāgārjunas, der insofern als absolut anzusehen ist, als er nicht nur eine Skepsis hinsichtlich des Wissens, sondern darüber hinaus des Handelns, ja der Existenz überhaupt darlegt, was deutlich über die Reichweite europäi- scher Skeptizismen hinausgeht. 5. Die Bedeutung der Kritik am formalen Denken für den Ansatz Nāgārjunas Eine Bemerkung sei hier gleich vorangestellt, dass wir es bei Nāgārjuna mit einem der konsequentesten buddhistischen Denker überhaupt zu tun haben, insofern er wie kaum ein anderer mit dem Auslöschen der Flamme (nirvā) Ernst gemacht hat und den Versuch vorantrieb, die Auslöschung wirklich restlos vorzunehmen, ohne irgend eine weltliche oder außerweltliche Remi- niszenz unberücksichtigt zu lassen. Trotz dieser bewunderungswürdigen Konsequenz fragt es sich, ob die oben von Hegels Begriff der bestimmten Negation aus geführte Kritik ein solches Bestreben nicht von Grund auf verunmöglicht. Der blinde Fleck in Nāgārjunas Ansatz – und man könnte hypothetisch erweitern: in jeder konsequent gedachten buddhistischen Phi- losophie – ist nach jener Kritik der, dass sie ihren Ausgangspunkt nicht ein- 21 Jeffrey Hopkins (Hg.), Nāgārjunas Juwelenkette. Buddhistische Lebensführung und der Weg zur Befreiung, Kreuzlingen, München 2006, S. 168 f. (Vers 44 f.). 22 Es ist dies auch der Grund dafür, warum es sich bei der Position Nāgārjunas nicht um einen Nihilismus handelt, auf welches mögliche Missverständnis Nāgārjuna bereits selbst hinweist: „Wird diese Lehre falsch verstanden, führt sie den Narren schnell ins Verderben, denn er versinkt in den unreinen Gefilden der nihilistischen Weltsicht.“ (Ebd., S. 177 [Vers 119]) 23 Ebd., S. 170 (Vers 56). Dirk Stederoth54 holen kann, dass sie mithin die Gegebenheit der Erscheinungswelt (und sei sie auch noch so widersprüchlich) nicht als Problem erkennt, oder – um Leibniz’ Frage24 einmal zu paraphrasieren – dass sie sich nicht fragt, warum die widersprüchliche Erscheinungswelt, diese Fata Morgana überhaupt ist und nicht vielmehr immer schon nur reines Nichts. Diesen Rest, so könnte man sagen, wird auch der konsequenteste Skeptizismus nicht ausräumen können, insofern er immer schon von ihm ausgehen muss. Bezöge man hingegen diesen blinden Fleck in den Ansatz Nāgārjunas mit ein, so bliebe er letztlich unvollständig, insofern er ein Etwas beinhaltete, das er aus der Leere weder ableiten noch mit der Leere tilgen könnte. Dies scheint sich als ein Argument zu generieren, mit den zeitgenössi- schen Kritikern Nāgārjunas (insbesondere der an Vasubandhu anknüpfenden sogenannten Yogācāra-Schule25) für eine geistige Überwindung der weltli- chen Dualität zu plädieren (was dann in der chinesischen chan-Schule und deren Fortsetzung im japanischen Zen weitertradiert wurde), jedoch geht auch diese Schule konsequent den Weg weiter bis zur Überwindung des Geistes (citta) in der Leerheit, womit sich hinterrücks das gleiche Problem einstellt, wie es bereits an Nāgārjunas Ansatz demonstriert wurde. Auch hier scheint es sich zu erhärten, dass ein vollendeter Skeptizismus, als welchen man die buddhistische Idee konsequenterweise bezeichnen muss, sich letzt- lich nicht vollständig durchführen lässt. – Ob sich hingegen ein Ansatz (wie beispielsweise der Hegelsche), der die Einbeziehung des Vorausgesetzten in den Prozess der Negation selbst mit einbezieht und damit dem Negativen ein konstruktives Moment mit einschreibt, letztlich kohärent durchführen lässt, steht auf einem anderen Blatt und soll hier nicht weiter thematisiert werden. 6. Schluss-Einwand Zum Abschluss sei nochmals der bereits angedeutete Einwand aufgegriffen, der sicherlich vielen überzeugten Buddhisten angesichts des Vorausstehenden unter dem Gaumen brennt, sei doch die Kritik, die oben formuliert wurde, lediglich theoretischer Natur, währenddessen der Buddhismus sich doch we- sentlich als eine bestimmte Form der Lebenspraxis auszeichnet. In einer Hinsicht könnte man diesem Einwand – wie oben bereits geschehen – mit dem angeführten Zitat aus Nāgārjunas Juwelenkette begegnen, in dem ganz klar darauf hingewiesen wird, dass der Glaube an eine Auswirkung der 24 „… so wird die erste Frage, die man mit Recht stellen darf, die sein, warum es eher Etwas als Nichts gibt.“ (Gottfried Wilhelm Leibniz, „Vernunftprinzipien der Natur“, 7, in: Gottfried Wilhelm Leibniz, Vernunftprinzipien der Natur/Monadologie, Hamburg 1982, S. 13) 25 Vgl. hierzu: Kuno Lorenz, Indische Denker (Fn. 2), insb. S. 126 ff. Wege des Negativen 55 eigenen Lebenspraxis selbst noch dem Grundglauben an eine kohärente Er- scheinungswelt unterliegt. In einer anderen Hinsicht verweist dieser Ein- wand jedoch auch darauf, dass die Einbindung der buddhistischen Lehre in die Lebenspraxis eine Grundvoraussetzung für die letztliche Befreiung aus ihr darstellt, was sich ebenfalls in besagtem Zitat andeutet. Und in der Tat ist dies einer der zentralen Punkte, wo die europäische Tradition aus dem Bud- dhismus (aber beispielsweise auch aus dem Taoismus) eine Lehre ziehen kann und müsste, insofern ein rein theoretisch-wissenschaftlicher Zugang zur Welt ohne eine direkte Einbeziehung und Rückbindung desselben in le- benspraktische Bezüge, wie er in der europäischen Philosophie-Tradition vorherrscht, sich ebenfalls einen blinden Fleck einhandelt, da er die Lebens- praxis, von der er ausgeht und auf die er rückwirkt, nicht ausreichend bedenkt. Eine Engführung von theoretischer Reflexion und praktischem Lebensvoll- zug, wie ihn ja auch Marx einklagte26, ist sicherlich auch einer derjenigen Punkte, die die an den Mahāyāna-Buddhismus anknüpfenden Traditionen (hierzu gehört im Verbund mit der tantrischen Tradition auch der tibetische Buddhismus27) im Europa der Gegenwart so attraktiv machen. Hier hat die europäische Tradition eine deutliche Lücke, die es am besten im interkul- turellen Dialog positiv zu schließen gilt. 26 Paradigmatisch ist dies ausgedrückt in der berühmten 11. These über Feuerbach: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern.“ (Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Bd. 3, Berlin 1981, S. 7) 27 Vgl. hierzu u. a. Volker Zotz, Geschichte der buddhistischen Philosophie (Fn. 20), S. 230 ff. Sarhan Dhouib Die Kritik an der kulturrelativistischen Auffassung der Menschenrechte Stimmen arabischer Philosophen „The Arab Spring of 2011 has made people in the Western world aware that information they receive about current Arab philosophy and social or cul- tural theory is very poor.“ Heinz Paetzold1 „Wenn sich die Menschen über gemeinsame Ideen einigen, wie z. B. im Bereich der Menschenrechte, kann diese Einigung nur über einen transkulturel- len Konsens geschehen, und nicht auf eine tran- szendente und abstrakte Weise. Das Gegenteil wäre eine Form der Tyrannei.“ Yadh Ben Achour 2 Einleitung Heutige Gesellschaften sind im zunehmenden Maße mit Problemen konfron- tiert, die sich aus dem Zusammentreffen von Kulturen, Migrationsbewe- gungen, ökonomischen Verflechtungen usw. im Zeitalter der Globalisierung ergeben. Unter Bedingungen des Mit- und Nebeneinanders verschiedener Kulturen ist die Debatte um die Menschenrechte kritisch zu reflektieren. Dabei spielt die Diskussion um Strategien der Implementierung und Begrün- dung der Menschenrechte eine wichtige Rolle zur Neugestaltung und Re- Konstitution kultureller und politischer Identität. Es gibt weder die eine Kultur noch die Kultur als hermetisch abge- schottete Einheit. Kultur ist hier in einem weiten Sinne verstanden: Als Loslösung des Menschen von den einschränkenden Bedingungen des Natur- zustandes durch Ausbildung seiner geistigen und sittlichen Kräfte; sie ist daher auch der Inbegriff der menschlichen Einrichtungen und Werke in einer Region oder in einer Zeit.3 Der Definition der UNESCO zufolge kann die 1 Heinz Paetzold, National Identities, Vol. 14, Nr. 2, 2012, S. 200. 2 Yadh Ben Achour, La Deuxième Fâtiha. L’islam et la pensée des droits de l’homme, Paris/Tunis 2011, S. 109. Alle Zitate aus diesem Buch werden von mir im Folgenden übersetzt. 3 Vgl. z. B. Arnim Regenbogen/Uwe Meyer (Hg.), Wörterbuch der philosophischen Be- griffe, Hamburg 1998, S. 367 (Art. Kultur). Kritik an der kulturrelativistischen Auffassung der Menschenrechte 57 Kultur „in ihrem weitesten Sinne als die Gesamtheit der einzigartigen geisti- gen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Aspekte angesehen werden, die eine Gesellschaft oder eine soziale Gruppe kennzeichnen. Dies schließt nicht nur Kunst und Literatur ein, sondern auch Lebensformen, die Grund- rechte des Menschen, Wertsysteme, Traditionen und Glaubensrichtungen“.4 Innerhalb von Kulturen gibt es unterschiedliche Werte- und Normenvor- stellungen. Dies ist ein einfacher, aber kein selbstverständlicher Satz. In den politischen Debatten werden Kulturen häufig als voneinander getrennte En- titäten dargestellt, so, als könnten sie einander nicht beeinflussen, so, als folgten sie keiner inneren Dynamik. Im Gegensatz dazu zeigt die intra- und interkulturelle Debatte um Menschenrechte, wie Grenzen innerhalb einer Kultur sowie zwischen den Kulturen aufgelöst, verschoben und neue Gren- zen gezogen werden können. So sind die Grenzen zwischen scheinbar stabi- len Kulturen nicht mehr gegeben, weder durch soziale Konstrukte wie Nation, Ethnie, Religion oder Tradition noch durch homogene und starre indivi- duelle sowie kollektive Identität. Kulturelle Identitäten entstehen und verän- dern sich ständig aufgrund der Dynamik von Bedürfnissen und Interessen, Überzeugungen, Werteinstellungen und Normen. Am Beispiel der Debatte um die Menschenrechte zwischen Universalis- mus und Kulturpluralismus in der arabisch-islamischen Philosophie der Ge- genwart kann man die vielschichtigen Prozesse von Selbstkritik genauer beobachten.5 Menschenrechte sind Rechte, die einem jeden Menschen ungeachtet aller seiner sonstigen Eigenschaften und allein Kraft seines Menschenseins zu- kommen sollen: Es handelt sich dabei nicht um eine Sachverhalts-Defini- tion, sondern um eine normative Forderung, wobei die verschiedenen ge- 4 Weltkonferenz über Kulturpolitik. Schlussbericht der von der UNESCO vom 26. Juli bis 6. August 1982 in Mexiko-Stadt veranstalteten internationalen Konferenz, hg. von der Deutschen UNESCO-Kommission, München 1983 (UNESCO-Konferenzberichte, Nr. 5), S. 121. 5 Mit arabischer bzw. arabisch-islamischer Philosophie sind vor allem Schriften arabisch- sprachiger Philosophen gemeint, wobei diese teils auf Arabisch, teils in europäischen Sprachen verfasst sind. Zudem bewegt sich die Mehrheit dieser Philosophen innerhalb der Kultur des Islam. Dies impliziert jedoch nicht unbedingt, dass sie eine religiöse Philosophie oder eine Philosophie der Religion entfaltet haben. Vielmehr entwickelt sich ihre Philosophie in der kritischen Auseinandersetzung mit der Kultur des Islam und dessen unterschiedlichen Denkströmungen. Ferner ist die kulturelle und philoso- phische Leistung anderer arabischer Philosophen unterschiedlicher religiöser und kul- tureller Prägung nicht außer Acht zu lassen. Sie bildet einen herausragenden Beitrag zur Philosophie im arabischen Kulturraum. Bemerkenswert ist zudem, dass zahlreiche philosophische Ansätze in arabischer Sprache aus der Auseinandersetzung mit der euro- päischen und nordamerikanischen Philosophie hervorgehen. Dabei spielen die Über- setzung und der interkulturelle Austausch eine wichtige Rolle: Die Philosophie im arabisch-islamischen Kulturraum wäre ohne die Leistungen dieser Vermittlung nicht vor- stellbar. Sarhan Dhouib58 schichtlichen Entwicklungen der Umsetzung der Menschenrechte innerhalb der einzelnen Kulturen nicht außer Acht gelassen werden dürfen.6 Im Folgenden wird die Kritik an regionalen arabischen und islamischen Erklärungen der Menschenrechte aus der Sicht ausgewählter Positionen der arabischen Gegenwartsphilosophie thematisiert. Dabei werden drei wichtige Begriffe herangezogen, die im Zentrum der Kritik stehen: (1) Kulturrelati- vismus, (2) Historizismus und (3) Naturalismus. Das Anliegen dieser Kritik liegt darin, die Universalität der Menschenrechte von einem religiösen und hegemonialen Machtanspruch zu befreien. Für regionale Erklärungen der Menschenrechte werden drei Beispiele aus dem islamischen und arabischen Kulturkontext gewählt, die von arabisch- muslimischen Staaten ratifiziert worden sind und auf nationaler wie inter- nationaler Ebene kontrovers diskutiert werden: Es sind Die Allgemeine Er- klärung der Menschenrechte im Islam7 vom 19. September 1981, Die Kairoer Erklärung über Menschenrechte im Islam8 vom 5. August 1990 und die Ara- bische Charta der Menschenrechte9 vom 15. September 1994. Eine bearbei- tete Version dieser Charta wurde im Jahre 2004 in Tunis beim Gipfeltreffen der Arabischen Liga angenommen.10 6 Vgl. Hans Jörg Sandkühler, „Menschenrechte“, in: Hans Jörg Sandkühler (Hg.), Enzy- klopädie Philosophie, Hamburg 2010, 2. Aufl. in 3 Bdn., S. 1530 ff. 7 Vgl. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte im Islam, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.), Menschenrechte. Dokumente und Deklarationen, Bonn/Ber- lin 2004, S. 546-562. Diese Erklärung stammt aus dem Islamrat von Europa, einer nicht-staatlichen Organisation mit Sitz in London. Die Erklärung kam auf Initiative des saudischen Königshauses zu Stande; ihr Inhalt ist von Gelehrten aus dem Sudan, Pakistan und Ägypten beeinflusst. Vgl. Anne Duncker, Menschenrechte im Islam. Eine Analyse islamischer Erklärungen über die Menschenrechte, Berlin 2006, S. 27; Chris- tine Schirrmacher, „Heterogen und Kontrovers. Die innerislamische Debatte zum Thema Menschenrechte“, in: Hamid Reza Yousefi/Klaus Fischer/Ina Braun/Peter Gerdson (Hg.), Wege zu Menschenrechten. Geschichte und Gehalte eines umstrittenen Begriffs, Nordhausen 2008, S. 274 f. 8 Vgl. Die Kairoer Erklärung über Menschenrechte im Islam, in: Bundeszentrale für politische Bildung Hg.), Menschenrechte. Dokumente und Deklarationen, S. 562-567. Diese Erklärung wurde am 5. August 1990 von 45 Außenministern der insgesamt 57 Mitgliedsstaaten der Organisation der islamischen Konferenz (OIC) verabschiedet. Diese Organisation wurde 1969 in Rabat gegründet und steht in enger Verbindung zur Isla- mischen Weltliga in Mekka. Vgl. Christine Schirrmacher (Fn. 7), S. 276 f. Der Text dieser Erklärung war seit dem Gipfeltreffen von Ta’if im Jahre 1981 Gegenstand mehr- facher Überarbeitungen. Vgl. Maurice Borrmans, „La Déclaration universelle des droits de l’homme de 1948 et les Déclarations des droits de l’homme dans l’Islam“, in: Islamochristiana, 24, 1998. 9 Vgl. Arabische Charta der Menschenrechte, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.), a.a.O., S. 568-574. 10 Die Arabische Charta der Menschenrechte wurde beim Gipfeltreffen der Arabischen Liga im Mai 2004 in Tunis verabschiedet; sie ist im Januar 2008 in Kraft getreten. Zur Entstehungsgeschichte dieser Charta vgl. Mohammed Amin Al-Midani, „Intoduction in Arab Charter on Human Rights 2004“ (Translation by Dr. Mohammed Amin Al- Kritik an der kulturrelativistischen Auffassung der Menschenrechte 59 Parallel zu diesen Erklärungen gab es im arabisch-islamischen Kultur- raum unterschiedliche kultur- und rechtsphilosophische Versuche, die sich damit kritisch auseinandersetzten. Die konstruktive Bedeutung der kritischen Auseinandersetzung soll den Prozess der Implementierung der Menschen- rechte reflektieren, um eine gesellschaftliche und kulturelle Orientierungs- möglichkeit anzubieten. Kritik ist dabei nicht als eine rein geistige Tätigkeit zu bestimmen, sondern als eine auf die historische Realität bezogene Macht des Denkens und des Handelns. Es sei in diesem Zusammenhang hervor- gehoben, dass die kritische Auseinandersetzung mit den regionalen Erklä- rungen für Menschenrechte im Rahmen des Paradigmas der Kritik und Selbst- kritik in der arabisch-islamischen Philosophie der Gegenwart zu verorten ist.11 Es wird in diesem Beitrag in erste Linie darum gehen, zu zeigen, in- wiefern solche Erklärungen Ausdruck fehlender demokratischer Legitimität und Rechtsstaatlichkeit sein können und im Widerspruch zur Universalität der Menschenrechte stehen. Es ist dabei nicht beabsichtigt, den Islam als Religion und Kultur in Frage zu stellen, sondern zu reflektieren, wie solche Erklärungen seitens autoritärer Staaten zur Instrumentalisierung der Men- schenrechte führen und die innovative Leistung einiger islamischer Intellek- tuellen und Theologen zu ignorieren versuchen.12 1. Kulturrelativismus Das erste Problem, mit dem diese Erklärungen konfrontiert werden, ist der Kulturrelativismus. Obwohl sie einen Universalitätsanspruch erheben, sind diese Erklärungen meistens nur im Kontext der Schari’a, d. h. des islami- schen religiösen Gesetzes, verständlich. Somit wird die Universalität der Menschenrechte eingeschränkt und durch ein religiöses Verständnis ersetzt. In der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte im Islam wird z. B. verkündet: „Wir Muslime der verschiedensten Völker und Länder […] verkünden […] diese Deklaration im Namen des Islam über die Men- schenrechte hergeleitet aus dem edlen Koran und der reinen Sunna der Pro- pheten.“13 Des Weiteren wird in der Präambel der Kairoer Erklärung über Menschenrechte im Islam betont, „daß grundlegende Rechte und universelle Freiheiten im Islam ein integraler Bestandteil der islamischen Religion sind, Midani and Mathilde Cabanettes. Revised by Professor Susan M. Akram), in: Boston University International Law Journal, Vol. 24, 2, 2006, S. 147 ff. 11 Zum Paradigma der Kritik und Selbstkritik vgl. Sarhan Dhouib, „Philosophische Wege zu Recht und Ethik. Beispiele aus der arabisch-islamischen Philosophie der Gegenwart“, in: Hans Jörg Sandkühler (Hg.), Recht und Moral, Hamburg 2010, S. 175 f. 12 Vgl. Schirrmacher (Fn. 7), S. 273-294. 13 Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte im Islam (Fn. 7), S. 546 f. Sarhan Dhouib60 und daß grundsätzlich niemand das Recht hat, diese ganz oder in Teilen auszusetzen oder zu verletzen oder zu missachten, in soweit als sie bindende göttliche Befehle sind, enthalten in den enthüllten Büchern Gottes und durch den letzten seiner Propheten gesandt, um die vorangegangenen göttlichen Botschaften zu vervollständigen“.14 Obwohl die Arabische Charta der Men- schenrechte mit dem Buchstaben und dem Geist der Allgemeinen Erklärung 1948 besser zusammenzustimmen scheint, findet sich doch der restriktive Vorbehalt der Übereinstimmung mit dem islamischen Gesetz.15 Um mehr begriffliche Klarheit zu schaffen, ist es angebracht, den viel- deutigen Begriff der Schari’a genauer zu erläutern. Man kann grundsätzlich zwischen zwei koranischen Ausdrücken zur Bestimmung des religiösen Ge- setzes unterscheiden: Schir’a und Minhaj: (1) „schara’a bedeutet wörtlich, irgendeine Handlung zu beginnen. Technisch gesehen bedeutet der Terminus im religiösen Recht die anfängliche Begründung einer rechtmäßigen religiö- sen Praxis. Folglich bezeichnet Shari’a im religiösen Recht das religiöse Gesetz. Allerdings hat shar’i zwei Bedeutungen: Allgemein bezeichnet der Begriff das Legitime, und die für die Religion spezifische Bedeutung ist das, was zum religiösen Gesetz gehört. Die Verbindung der beiden Bedeutungen impliziert, dass das religiöse Gesetz das ist, dessen Legitimität selbstevident ist und deshalb von der ‚fitra‘ bzw. von der Natur abhängt, die Gott dem Menschen verliehen hat.“16 (2) „Nahaja bedeutet wörtlich die Bahnung eines Weges, und als Terminus des religiösen Rechts hebt der Begriff auf die Fortdauer und Beharrlichkeit der Anwendung der Schari’a ab. Minhaj be- deutet, einen Weg zu durchlaufen bzw. eine Wegebegleitung.“17 Man kann zunächst den Kulturrelativismus als eine Form des ethischen Relativismus auffassen, der die Formulierung, Implementierung und Be- gründung von Werten, Normen – und somit auch von Rechten wie Men- schenrechten – einschließt. Außerdem sind damit Strategien der Rechtfer- tigung unterschiedlicher Lebenspraxen sozialer, politischer, kultureller und religiöser Art gemeint.18 14 Die Kairoer Erklärung über Menschenrechte im Islam (Fn. 8), S. 562. 15 In der Präambel und in Art. 3 wird auf die „Islamic Shari’a and other divine laws, legislation and international instruments“ verwiesen. 16 Abou Yaareb Marzouki, „Konflikte der Rechtfertigung des Gesetzes im Islam“, in: Jacques Poulain/Hans Jörg Sandkühler/Fathi Triki (Hg.), Gerechtigkeit, Recht und Rechtfertigung in transkultureller Perspektive, Frankfurt/M. 2010, S. 122. 17 Ebd. Zur Bedeutung der Schari’a vgl. Mathias Rohe, Das islamische Recht, Ge- schichte und Gegenwart, München 2009, S. 9-18. 18 Vgl. Thomas Sukopp, „Wider den radikalen Kulturrelativismus – Universalismus, Kon- textualismus und Kompatibilismus“, in: Aufklärung und Kritik, 2, 2005, S. 137-155; Thomas Sukopp, „Kann ein Kulturrelativist universelle Normen fordern? Wege inter- kultureller Menschenrechtsbegründungen“, in: Hans Jörg Sandkühler (Hg.), Recht und Kultur. Menschenrechte und Rechtskulturen in transkultureller Perspektive, Frank- Kritik an der kulturrelativistischen Auffassung der Menschenrechte 61 So wird z. B. der Kairoer Erklärung über Menschenrechte im Islam ein Wertrelativismus vorgeworfen, der aufgrund ihres religiösen Hintergrunds die Universalität der Menschenrechte in Frage stellt. Denn sie bezieht sich nur auf eine bestimmte Auslegung der Schari’a, ohne deren Kontextuali- sierung und Historisierung zu berücksichtigen und zu thematisieren. Die Kritik des Wertrelativismus der Kairoer Erklärung kommt z. B. bei dem tunesischen Philosophen F. Triki deutlich zum Ausdruck: „Doch die Lektüre der Präambel und verschiedener Artikel dieser Erklärung zeigt, dass sie in einer Form von Wertrelativismus gründet, denn es wird oft behauptet, dass alle Werte – wie die individuelle Freiheit, das Recht auf Eigentum, das Recht auf Bewegungsfreiheit, die Freiheit des Kultus, die Freiheit des Ausdrucks, der Status der Familie und andere mehr – mit dem islamischen Gesetz, der Shari’a konform sein müssen.“19 Welches Verständnis der Shari’a liegt der Kairoer Erklärung zugrunde? Hängt die Interpretation der Schari’a von theologischen und politischen Machtverhältnissen ab? Wer bestimmt, was ‚konform‘ oder ‚nicht konform‘ mit der Schari’a ist? Wie sind die Machtverhältnisse zwischen Religion und Politik zu erfassen? Auch wenn auf diese Fragen hier nicht ausführlich ein- gegangen werden kann, so ist es dennoch wichtig hervorzuheben, dass es keine klare Definition von Schari’a in den oben erwähnten arabischen und islamischen Erklärungen für Menschenrechte gibt. Trotz der Absolutsetzung der Schari’a in der Kairoer Erklärung und ihrer Überordnung über alle an- deren Lebensentwürfe bleibt der Begriff undefiniert.20 Dies macht gerade den Weg für willkürliche Entscheidung autoritärer Staaten frei, die Freiheiten zu kontrollieren und Menschenrechte zu instrumentalisieren versuchen. In die- sem Zusammenhang schreibt F. Triki: „Der größte Mangel dieser [Kairoer] Erklärung ist also, dass sie konservativ ist. Weit davon entfernt, eine Per- spektive der Modernisierung und Anpassung der Schari’a an die Erforder- nisse des gegenwärtigen Lebens zu eröffnen, beschränkt sie sich darauf, für die meisten Rechte, die sie einräumt, den unverletzlichen islamischen Rah- men in Erinnerung zu rufen.“21 Triki fährt fort: „Anstatt ein Text eindeutiger Beförderung der Menschenrechte zu sein, ist die Kairoer Erklärung in einer relativistischen Perspektive der Selbstversicherung einer bedrohten und übel zugerichteten Identität verfasst, die um so mehr für andauernden Rassismus furt/M., 2011, S. 23 ff.; Hans Jörg Sandkühler, „Kulturrelativismus“, in: Hans Jörg Sand- kühler (Hg.), Enzyklopädie Philosophie, Hamburg 2010, 2. Aufl. in 3 Bdn., S. 1350-1353. 19 Fathi Triki, Demokratische Ethik und Politik im Islam. Arabische Studien zur trans- kulturellen Philosophie des Zusammenlebens, Weilerswist 2011, S. 218. (Hervorh. v. mir). 20 Vgl. z. B. die Art. 24 und 25 der Kairoer Erklärung. Art. 24: „Alle in dieser Erklärung aufgestellten Rechte und Freiheiten unterliegen der islamischen Scharia.“ Art. 25: „Die islamische Scharia ist der einzige Bezugspunkt für die Erklärung oder Erläuterung eines jeden Artikels in dieser Erklärung.“ 21 Fathi Triki, Demokratische Ethik und Politik im Islam, S. 219. Sarhan Dhouib62 und die immer stärker anbrandende Welle von Islamophobie verantwortlich ist, je angreifbarer die politischen Regime der muslimischen Länder aufgrund von zwei fehlenden Voraussetzungen sind: Rechtsstaat und demokratische Legitimität.“22 Die oben erwähnten arabischen und islamischen Erklärungen für Men- schenrechte gründen in ethischem Kulturrelativismus bzw. in Wertrelativis- mus und sind Ausdruck politischer Interessen autoritärer Staaten, die sogar die innovativen und modernen Interpretationen der islamischen Jurisprudenz außer Acht lassen. Somit erscheinen sie eher als „Instrument der Verteidigung religiöser und kultureller Identität“,23 die begrenzt und geschlossen ist.24 2. Historizismus Der Vorwurf des Historizismus wird in Anlehnung an die Überlegungen des Rechtsphilosophen Yadh Ben Achour in seinem Buch La Deuxième Fâtiha. L’islam et la pensée des droits de l’homme thematisiert.25 Mit dem Ausdruck ‚Historizismus‘ wird „eine Philosophie bezeichnet, die die Normen des Ver- haltens ausgehend von der einzelnen historischen Erfahrung bestimmt oder rechtfertigt. Dieser Historizismus kann unterschiedliche Ausdrucksweisen haben. Die erste und gebräuchlichste besagt, dass die Geschichte die einzige Quelle der Werte und Normen sei bzw. sein muss. […] Die zweite drückt aus, dass das Recht durch die Geschichte der Zukunft sanktioniert und legitimiert wird, das heißt durch die erfolgreiche Umsetzung.“26 Die folgenden Überlegungen sind auf die erste Variante des Historizis- mus bezogen. Die Geltung der Menschenrechte ist in dieser historistischen Sichtweise kulturell bedingt und lässt daher eine Relativierung im Namen der Eigenrechte von Kulturen zu. Einige konservative muslimische Autoren wie z. B. Mawdudi werfen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 vor, dass sie ihre Wurzel in der jüdisch-christlichen Tradition und der europäischen Moderne habe.27 Demgegenüber werden dementsprechend eigene Menschenrechtserklärungen in Bezug auf den muslimischen histo- 22 Ebd., S. 219 f. 23 Ebd., S. 219. 24 Zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem islamischen bzw. islamistischen Ver- ständnis der Universalität der Menschenrechte vgl. Fuad Zakariya, „Die Prinzipien der Menschenrechte in der zeitgenössischen islamischen Welt“, in: Concordia. Interna- tionale Zeitschrift für Philosophie (Themenheft: Arabisch-islamische Philosophie der Gegenwart), Heft 59, 2011, S. 71-82. 25 Vgl. Yadh Ben Achour (Fn. 2), S. 96 ff. 26 Yadh Ben Achour (Fn. 2), S. 96 f. 27 Vgl. Heiner Bielefeldt, Philosophie der Menschenrechte. Grundlagen eines weltwei- ten Freiheitsethos, Darmstadt 1998, S. 115-149. Kritik an der kulturrelativistischen Auffassung der Menschenrechte 63 risch-kulturellen Kontext begründet. Ein erstes Beispiel hierfür ist der erste Absatz in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte im Islam aus dem Jahre 1981. Dort heißt es: „Vor 14 Jahrhunderten legte der Islam die ‚Men- schenrechte‘ umfassend und tiefgründend als Gesetz fest. Zu ihrem Schutze umgab er sie mit ausreichenden Sicherheiten. Er gestaltete seine Gesellschaft nach Grundregeln und Prinzipien, die diese Rechte stärken und stützen.“28 Ein zweites Beispiel bezieht sich auf die Kairoer Erklärung. Dort wird „die zivilisatorische und historische Rolle der islamischen Umma“29 in den Vor- dergrund gestellt. Diese Umma ist die, „die Gott zur besten (Form der) Nation machte, die der Menschheit eine universelle und ausgewogene Zivilisation gegeben hat, in der Harmonie zwischen diesem Leben und dem Leben da- nach herrscht und Wissen mit Glauben einhergeht.“30 Diese Herangehensweise an die Interpretation der Menschenrechte ist re- duktionistisch und illusionär. Sie führt die Genese der Menschenrechte auf eine idealisierte Epoche zurück und begrenzt ihre Gültigkeit auf nur eine bestimmte Kultur. Daraus ergeben sich zwei Fragen: (1) Welche Folgen resul- tiert daraus, wenn Menschenrechte auf eine Religion zurückgeführt werden? (2) Wie lässt sich eine derart reduktionistische und kulturalistische Lesart der Menschenrechte im Zusammenhang der Kolonialismusdebatte erklären? (1) Man sollte streng zwischen zwei unterschiedlichen Wert- und Rechts- systemen unterscheiden, wenn man über Rechte im Islam spricht. Im ersten Rechtssystem bzw. in der Pflichtenlehre ist die Rede von Gottesrecht; im zweiten hingegen von Menschenrechten. Der Rechtsbegriff entspricht im klassischen Arabisch dem Begriff al-haqq (pl. hūqūq), der eines der zahl- reichen Attribute und einer der Namen ist, die die Muslime Gott zusprechen. In der Aussage ‘Allah al-haqq, meint der Begriff ‘al-haqq, sowohl das Wahre als auch das Richtige im Gegensatz zum Falschen. In einem theologischen Sinne, der für die islamische Jurisprudenz relevant ist, bedeutet dies, dass Gott die Quelle und zugleich der Empfänger der Rechte sei. Hierauf basiert auch die Formel ‚Gottesrecht‘ (haqq Allah) und damit vice versa die Lehre der Pflichten (fara’id) der Menschen gegenüber Gott. Es ist diese Auffassung bezüglich des Rechts bzw. der Pflichten, die den unterschiedlichen isla- mischen Menschenrechtserklärungen zugrunde liegt. Man kann der islami- schen bzw. der islamisierten Auffassung der Menschenrechte vorwerfen, dass sie die Rechte mit dem Inhalt der modernen Menschenrechte füllt, obwohl der Begriff eigentlich eine Pflichtenlehre und nicht einen Begriff von mensch- lichen Rechten ausdrückt. Hieraus erklärt sich, dass die verschiedenen isla- mischen Menschenrechtserklärungen Pflichten vor Augen haben, wenn sie 28 Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.), Menschenrechte. Dokumente und Deklarationen, Bonn/Berlin 2004, S. 546. 29 Ebd., S. 562. 30 Ebd., S. 562. Sarhan Dhouib64 von Rechten als Menschenrechten sprechen.31 In der Präambel der Allgemei- nen Erklärung der Menschenrechte im Islam liest man: Menschenrechte „sind in dieser Niederlegung ewige Rechte, von denen nichts abgestrichen, ge- ändert, aufgehoben oder ausgesetzt werden darf. Sie sind Rechte, die der Schöpfer – gepriesen sei er! – festgelegt hat. Der Mensch, wer immer er auch sei, hat kein Recht, sie auszusetzen oder zu verletzen. Die ihnen eigene Un- verletzlichkeit entfällt weder durch den Willen des einzelnen, auf sie zu ver- zichten, noch durch den Willen der Gesellschaft, die vertreten wird durch den Willen der Gesellschaft, die vertreten wird durch Institution gleich wel- cher Natur und gleich welcher Macht, die diese ihnen bewilligt.“32 (2) In diesem Zusammenhang ist klar, dass den Menschenrechten in kul- turalistischer Perspektive keine universelle normative Dimension zugeschrie- ben werden kann, da die Norm aus einer bestimmten historischen Erfahrung hervorgeht. Eine von außen vorangetriebene Implementierung der Norm wird als ‚Kolonialismus‘ oder ‚Imperialismus‘ betrachtet. Der Universalität der All- gemeinen Erklärung werden regionale Menschenrechtserklärungen gegen- übergestellt, um die ‚Authentizität‘ der eigenen Kultur zu betonen. In die- sem Zusammenhang bemerkt der algerische Philosoph Mohammed Arkoun: „Hier kommt nun die islamische Erklärung der Menschenrechte in ihrer gan- zen ideologischen und psychologischen Tragweite zum Ausdruck: Sie gibt den gläubigen Bürgern die nötigen Garantien in Bezug auf die Prokla- mierung der von Gott verbürgten Rechte; sie erklärt die laizistischen Forde- rungen westlichen Ursprungs für untauglich; sie stellt das Vertrauen in die Modernität, des islamischen Gesetzes und in seinen universellen und unver- letzlichen Charakter wieder her.“33 In der Kritik der bereits zitierten arabischen Philosophen an den regio- nalen arabischen und islamischen Menschenrechtserklärungen wird erneut die Universalität der Menschenrechte eingeklagt. Diese Universalität ist keine Erfindung einer Kultur oder einer Zivilisation. Dennoch muss sie innerhalb einzelner Kulturen erkämpft werden. Die Aufgabe der Philosophie, insbe- sondere der Philosophie der Menschenrechte, ist, die irreführenden Recht- fertigungsstrategien solcher regionalen und religiösen Menschenrechtserklä- rungen zu hinterfragen.34 31 Vgl. Sarhan Dhouib (Fn. 11), S. 172 ff. 32 Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.), Menschenrechte. Dokumente und Dekla- rationen (Fn. 28), S. 547. 33 Mohammed Arkoun, „Der Ursprung der Menschenrechte aus der Sicht des Islam“, in: Hans Küng/Karl-Josef Kuschel (Hg.), Weltfrieden durch Religionsfrieden. Antwort aus den Weltreligionen, München 1993, S. 60 f. 34 Vgl. ebd., S. 53 ff.; Mohammed Arkoun, Der Islam. Annäherung an eine Religion, Hei- delberg 1999, S. 206-211; Yadh Ben Achour, Le rôle des civilisations dans le système international. Droit et relations internationales, Paris 2003, S. 257. Kritik an der kulturrelativistischen Auffassung der Menschenrechte 65 3. Naturalismus Wenn im Folgenden von Naturalismus die Rede ist, soll dieser nicht mit dem Naturrechtsbegriff verwechselt werden. Die Grundidee des Naturrechts besteht darin, dass jeder Mensch von Natur aus mit unveräußerlichen Rech- ten ausgestattet ist. Die Naturrechte haben eine überzeitliche Gültigkeit, sie werden als vor- und überstaatliche Rechte verstanden.35 Die Naturrechts- philosophie hat eine lange Tradition, die für Erklärungen wie z. B. Petition of Right (1628), Habeas Corpus Act (1679), Bill of Rights (1689) und Dé- claration des droits de l´homme et du citoyen (1789) von großer Bedeutung gewesen ist. Eine naturrechtliche Begründung der Menschenrechte innerhalb der islamischen Kultur gewinnt heute mehr an philosophischer Akzeptanz; sie wurde von dem marokkanischen Philosophen Mohamed Abid al-Jabri in seinem Buch Democracy, Human Rights and Law in Islamic Thought darge- legt, um eine Implementierung der Menschenrechte im Kontext der arabisch- islamischen Kultur zu legitimieren.36 In seiner Rekonstruktion der univer- sellen Begründung der Menschenrechte greift al-Jabri auf die naturrechtliche Auffassung des 18. Jahrhunderts zurück, vor allem auf die Theorien von Locke und Rousseau. Somit schließt er seine Begründung an die naturrecht- liche Idee vor- oder außer-gesellschaftlicher Rechte an. Denn die ‚natürlichen‘ Rechte des Menschen gehen allen gesellschaftlichen Einrichtungen voraus oder liegen ihnen zugrunde. Sie sind demnach gesellschaftsunabhängige Maß- stäbe und Beurteilungsgesichtspunkte für gesellschaftliche Verhältnisse.37 Der Naturalismusbegriff wird hingegen in einem anderen Sinne ver- wendet. Darunter werden insbesondere „Werte- und Rechtssysteme oder Lehren verstanden, die das natürliche Leben als das wichtigste Fundament (Grundprinzip) der Moral und des Rechts betrachten“.38 Dies bedeutet, dass sich die etablierten Differenzen und Hierarchien zwischen den Seienden in der Natur in einem Rechtssystem widerspiegeln und ständig durch diese Naturvorstellung legitimiert werden müssen. Das Gleichheitsprinzip wird nur vor dem Hintergrund dieses Naturverständnisses erfasst. Dies kann zur Le- gitimierung bestimmter sozialer und politischer Ungleichheiten führen, wie 35 Vgl. Christoph Menke/Arnd Pollmann, Philosophie der Menschenrechte zur Einfüh- rung, Hamburg 2009, S. 23 ff. 36 Vgl. Mohammed Abed al-Jabri, Democracy, Human Rights and Law in Islamic Thought, London/New York 2009, S. 103-116. 37 Vgl. Sarhan Dhouib, „Von der interkulturellen Vermittlung zur Transkulturalität der Menschenrechte“, in: Hans Jörg Sandkühler (Hg.), Recht und Kultur. Menschenrechte und Rechtskulturen in transkutureller Perspektive, Frankfurt/M. 2011, S. 155-162. 38 Yadh Ben Achour, La Deuxième Fâtiha. L’islam et la pensée des droits de l’homme, Paris/Tunis 2011, S. 102. Sarhan Dhouib66 z. B. zwischen Herrn und Sklaven, Mann und Frau bzw. Herrschern und Be- herrschten.39 Die Frage, ob eine naturalistische Auffassung des Rechts in den arabi- schen und islamischen Erklärungen vertreten wird, kann meines Erachtens nur indirekt bejaht werden. In Art. 6 der Kairoer Erklärung steht: „Der Ehemann ist verantwortlich für den Unterhalt und das Wohlergehen der Familie.“40 Dieser Artikel wird häufig auf der Basis der vorherrschenden konservativen Interpretation von Vers 34 der 4. Sure (An-Nisa’) verstanden, wie man Art. 20 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte im Islam entnehmen kann: „Die Männer stehen über den Frauen, weil Gott die einen von ihnen (die Männer) vor den anderen bevorzugt hat und wegen der Ausgaben, die sie von ihrem Vermögen gemacht haben.“41 Der Rechtsphilosoph Yadh Ben Achour weist zurecht darauf hin, dass dieser Vers nicht nur in der traditionellen, sondern auch in der modernen islamischen Jurisprudenz in einer naturalistischen Perspektive interpretiert wird, die die Diskriminierung der Frauen in sozialen und politischen Be- reichen begünstigt hat.42 Und da diese Meinung der vorherrschenden Meinung unter den muslimischen Juristen entspricht, wird klar, in welchem Para- digma sich die arabischen und islamischen Erklärungen für Menschenrechte derzeit bewegen.43 4. Bilanz und Perspektive Bisher wurde anhand einiger arabisch-islamischer Menschenrechtserklärungen gezeigt, wie die Debatte um die Universalität der Menschenrechte unter- schiedliche Prozesse durchlaufen hat. Die ideologisch motivierten Versuche – wie man sie z. B. in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte im Islam (1981)44 oder in der Kairoer Erklärung über Menschenrechte im Islam (1990)45 finden kann – sind irreführend, da sie zum einen einem gravierenden Anachronismus verhaftet bleiben und zum anderen sich zu einer unüber- windbaren Kluft zwischen den Kulturen bekennen.46 39 Vgl. Yadh Ben Achour, La Deuxième Fâtiha, 102 ff. 40 Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.), Menschenrechte. Dokumente und Deklarationen, Bonn/Berlin 2004, S. 564. 41 Koran 4:34 Übers. v. Rudi Paret, Stuttgart 2007. Vgl. (Fn. 28), S. 559 f. 42 Vgl. Yadh Ben Achour (Fn. 2), S. 103. 43 Eine differenzierte Diskussion dieses Themas bietet der Aufsatz von Mahmoud Bas- siouni, „Menschenrechte als Identitätsfrage“ in: Sarhan Dhouib (Hg.), Kultur, Identi- tät und Menschenrechte. Transkulturelle Perspektive, Weilerwist, 2012, S. 179-200. 44 Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2004, 546-549 (Präambel). 45 Vgl. ebd., 562. 46 Vgl. Sarhan Dhouib (Fn. 37), S. 157. Kritik an der kulturrelativistischen Auffassung der Menschenrechte 67 Die Kritik der arabischen Philosophen an einer begrenzten Vorstellung der Menschenrechte, wie sie in Form von Deklarationen arabischer und muslimischer Staaten oder in Form von Schriften einiger Autoren vertreten ist, weist auf die dynamischen Prozesse der Entgrenzungen kultureller Iden- tität hin und plädiert für eine neue Universalität der Menschenrechte. Dabei wird deutlich, wie Grenzen in einer Kultur neu gedacht werden können. Allerdings bildet diese Kritik nur die eine Seite der Diskussion ab, denn die Universalität der Menschenrechte bedarf einer Begründung, die sie be- fähigt, einerseits einen neuen Universalismus zu legitimieren und andererseits dem Kulturpluralismus im Zeitalter der Globalisierung gerecht zu werden. Dieser Ansatz bedarf natürlich einer kritischen Auseinandersetzung und einer Befreiung der philosophischen Idee der Menschenrechte vom hegemonialen Machtmonopol der internationalen Politik. Wichtige Aspekte dieser Kritik werden im Kontext der interkulturellen Philosophie reflektiert und finden z. B. Ausdruck in der Allgemeinen Erklärung zu kulturellen Vielfalt, die von der UNESCO 2001 verabschiedet wurde.47 Obwohl seit dem 19. Jahrhundert in einigen arabischen und muslimischen Ländern Säkularisierungsprozesse ausgelöst wurden, die später zur Imple- mentierung der Menschenrechte geführt haben, leidet die Menschenrechts- kultur immer noch an vielen gesellschaftspolitischen Problemen (Ungleich- heit, Ungerechtigkeit, Unterdrückung der Frauen).48 Die Frage ist, was die realen Hemmnisse sind, die den Weg hin zu einer demokratischen und somit menschenrechtlichen Entwicklung blockieren. In Anlehnung an die Überlegungen des Sozialphilosophen Hischam Sharabi49 bin ich der Ansicht, dass die autoritären gesellschaftspolitischen Strukturen in den arabischen Staaten die praktische Verwirklichung der Menschenrechte verhindern. Diese sind nicht nur politischer, sondern auch sozialer und kultureller Art. Die Implementierung der Menschenrechte darf nicht nur Gegenstand theoretischer Reflexion sein; vielmehr ist sie auch eine praktische Aufgabe der zivilgesellschaftlichen Akteure und der demokrati- schen Institutionen.50 47 Vgl. Fathi Triki (Fn. 19), S. 179-196. 48 Vgl. Mohammed Arkoun, „Religion und Demokratie: Das Beispiel Islam“, in: Erd- mute Heller/Hassouna Mosbahi (Hg.), Islam, Demokratie, Moderne. Aktuelle Antwor- ten arabischer Denker, München 1998, S. 138-153. 49 Vgl. Hisham Sharabi, Neopatriarchy. A Theory of Distorted Change in Arab Society, New York 1988; Hisham Sharabi, „Der Weg zur Moderne: Betrachtungen über die Macht, die Frau und die Armut“ in: Erdmute Heller/Hassouna Mosbahi (Hg.), Islam, Demokratie, Moderne. Aktuelle Antworten arabischer Denker, München 1998, S. 211- 217. 50 Zu einer ausführlichen Analyse von Sharabis Kritik der autoritären gesellschaftlichen Strukturen vgl. Mohamed Turki, „Herrschaft und Demokratie in der arabischen Welt. Überlegungen zur Phänomenologie der Macht“, in: Polylog. Zeitschrift für interkultu- relles Philosophieren, 17, 2007, S. 9-24. Zur Kritik des patriarchalischen Systems aus Sarhan Dhouib68 In diesem Kontext fokussiert Sharabi seine Aufmerksamkeit verstärkt auf die konsequente Anwendung des Gleichheitsprinzips zwischen den Ge- schlechtern in einigen arabischen Staaten im Bereich des Rechts und im Alltagsleben, d.h. in der Familie, in der Schule und im Beruf. Besonders die Frauenrechte ermöglichen der Frau mehr Schutz gegenüber patriarchalischer Autorität – sie müssen jedoch auch durch eine alltägliche und selbstver- ständliche Anwendung Teil des kulturellen Lebens werden. Dies betrifft vor allem die Gleichstellung bei der Suche nach Arbeit, im Erbrecht, bei der Scheidung und in der Frage der Kinderbetreuung. Außerdem öffnet das rechtliche Gleichheitsprinzip den Weg für eine stärkere Partizipation an der Gestaltung der sozialen und politischen Strukturen der arabischen Staaten und öffnet den Weg zu einem direkten Engagement im Prozess der Demo- kratisierung auch und gerade von Seiten der Frauen. Kritik an den vorherrschenden patriarchalischen Strukturen wird auch von den feministischen Bewegungen in der arabischen und islamischen Welt geübt, und die Forderung nach Gleichheit wird zum Teil durchgesetzt.51 Da- bei spielt auf theoretischer Ebene die Kritik an den patriarchalischen Aus- legungen des Korans eine prominente Rolle bei der Entstehung eines neuen Bewusstseins, das es den Frauen erlaubt, sich von der religiös-politischen Hegemonie zu befreien52; auf der praktischen Ebene spielen die Institutio- nen und die Akteurinnen der zivilen Gesellschaft eine gewichtige Rolle bei der Verwirklichung dieses neuen Bewusstseins. Diese gesellschaftlichen und politischen Säkularisierungsprozesse können als Ausdruck der interkulturel- len Vermittlung der Menschenrechte betrachtet werden; sie setzten einen Pro- menschenrechtlicher Sicht vgl. ’Abd al-Razzaq ‘Eid, „Patriarchy and human rights“, in: Salma K. Jayyusi (ed.), Human Rights in Arab Thought. A Reader, London/New York 2009, S. 483-487. 51 Vgl. Leila Ahmed, Women and Gender in Islam: Historical Roots of a Modern De- bate, New Haven 1992. 52 Vgl. Asma Barlas, „Believing women“, in: Islam: Unreading Patriarchal Interpreta- tions of the Qur’an, Austin 2002; Asma Wadud, Qur’an and Women: Rereading the Sacred Text from a Woman’s Perspective, New York 1999. In diesem Zusammenhang ist es wichtig hervorzuheben, dass die feministische Kritik an der interpretatorischen Vereinnahmung des Korans seitens Theologie und Politik in den letzten Jahren in der arabischen Welt an öffentlicher Beachtung gewonnen hat. Dies wäre ohne die digitale Wende und die rasche virtuelle Vernetzung unmöglich gewesen. Als Beispiel vgl. Amal Garami, Al-ikhtilaf fi ath-thaqafa al-arabia al-islamiya [Die Differenz in der arabisch- islamischen Kultur], Beirut 2007; Olfa Youssef, Hajratu muslima fi al-mirāth wa al- zawāj wa al-ginsiya al-mathaliya [Die Verlegenheit einer muslimischen Frau hin- sichtlich der Erbschaft, der Ehe und der Homosexualität], Tunis 2009. Vgl. ferner Fahmi Jadaane, Khārij as-sirb. Bahth fi al-niswīyya al-islamīyya al-rafida wa igrā‘āt al- huriyya [Außerhalb des Schwarms. Studie über den islamischen negationistischen Fe- minismus und die Versuchung der Freiheit], Beirut 2010; Fahmi Jadaane, „Féminisme et Islam“, in: Concordia. Internationale Zeitschrift für Philosophie (Themenheft: Ara- bisch-islamische Philosophie der Gegenwart), Heft 59, S. 83-91. Kritik an der kulturrelativistischen Auffassung der Menschenrechte 69 zess zur Universalisierung und somit zur Transkulturalität der Menschenrechte in Gang und fördern stabilere institutionelle demokratische Strukturen. Um uns vor einem gefährlichen Abgleiten in einen naiven Kulturrelati- vismus oder hohlen Universalismus zu bewahren, ist es sinnvoll, ständig zu versuchen, die Verschiedenheit der Menschen im Lichte menschlicher Le- bensbedingungen und im Horizont der Universalisierung der Menschen- rechte zu denken.53 53 Vgl. Heinz Paetzold, „Tetsuro Watsujis Fudo und die interkulturelle Philosophie“, in: Heinz Paetzold und Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.): Interkulturelle Philoso- phie, Weimar 2007, S. 178-204, hier 199 f. II. Politik als philosophische Aufgabe „A very last point: According to Kant the principle of publicity is a third, which guarantees the unity of morality and politics. This first of all means: All actions, which intend to realize right and justice must be able to be pub- licly legitimized. Kant calls it the ‚transcendental formula of public right‘. It claims that ‚all actions that affect the rights of other human beings, the maxims of which are incompatible with publicity are unjust.‘ (Kant, Perpet- ual Peace, p. 104) […] I add only a few sentences. The principle states that the maxims of ac- tions in favor of the perpetual peace should publicly be uttered and publicly made known. The meaning is that thereby a public critique becomes possi- ble. At the other hand publicity binds my intentions and me. Kant includes or presupposes that we don’t change our intentions from moment to mo- ment. We want to be consistent in our public behavior. We have to take responsibility for our actions and plans. All these aspects taken together prescribe in a way good political acting. At the end of his treatise Kant has given a positive formula for peace keeping relating to international law. As already said, Kant argues, that principles of public law are not completely applicable to relations between states. Instead of a ‚state of peoples‘ Kant asks for a union or a federation of states linked together in peaceful interaction. The principle, wich rules the unity of living together peacefully with each other is: ‚All maxims that require publicity (in order that they not miss their aims are in agreement with both politics and morals‘. (Kant, Perpetual Peace, p. 109) The idea is here that publicity is the formal criterion for nations that intend to regulate their relations according to right in order to create mutual benefit.“ Heinz Paetzold, „The Concept of Politcs in Kant’s Toward Perpetual Peace“1 1 Heinz Paetzold, „The Concept of Politcs in Kant’s Toward Perpetual Peace“, in an unpublished paper for the Inter-University Centre in Dubrovnik, p. 11-12. Heinz Eidam Rationalität und Toleranz in kulturellen Konflikten „[…] wenn zwei Menschen einander anblicken, werden wir einander inne, indem wir auf den Anderen blicken. Ich entäußere mich und werde gerade in dieser Entäußerung meiner selbst inne. Der andere erfährt sich selbst, indem sein Blick auf mir ruht und ich den Blick erwidere. Der ent- scheidende Punkt ist, daß ich etwas tue, und zwar zunächst durchaus selbstlos. Und genau in dem Moment, da ich den Blick des Anderen auf mir spüre, werde ich meines Sehens inne. […] Aber ich begleite mein Sehen nicht nur mit Bewußt- heit, sondern das Sehen erfaßt sich selbst. Man gewinnt beim Sehen Einsichten in die Struktur des Sehens.“ Heinz Paetzold, Die Realität der symbolischen Formen1 Wer sich fragt, in welchem Verhältnis Rationalität, Kultur und Toleranz zueinander stehen,2 der könnte es sich mit einer Antwort leicht machen. Er könnte sagen: Rationalität und Toleranz sind die besten, vielleicht sogar die einzigen Mittel, kulturelle Konflikte zu lösen oder erst gar nicht aufkommen zu lassen. Denn ohne Rationalität und Toleranz werden kulturelle Konflikte nicht zu überwinden sein. Im Gegenteil: Irrationalität und Intoleranz sind und waren stets die Gründe dafür, warum es zu Konflikten, gewaltsamen Auseinandersetzungen und Kriegen kommen konnte. Wer Gewalt anwendet, argumentiert nicht mehr, und wer beabsichtigt, seinen Gegner zu vernichten, kann nicht mehr tolerant sein. Sollen dagegen verschiedene Kulturen kon- fliktfrei nebeneinander bestehen und friedlich miteinander auskommen kön- nen, so wird dies ohne Rationalität und Toleranz auf Dauer nicht gelingen. - Wer so argumentiert, und ich halte eine solche Argumentation für vernünftig, der macht allerdings eine Voraussetzung, die möglicherweise nicht von allen geteilt wird. Vorausgesetzt wird hier, dass Rationalität und Toleranz sich nicht 1 Heinz Paetzold, Die Realität der symbolischen Formen. Die Kulturphilosophie Ernst Cassirers im Kontext, Darmstadt 1994, S. 152 f. 2 Dieser Text ist die überarbeitete deutsche Version des 2005 in Passo Fundo (Brasilien) gehaltenen Vortrags: „Racionalidade e tolerância em conflitos culturais“, in: A. A. Fá- vero/C. A. Dalbosco/T. Marcon, Sobre filosofia e educação: racionalidade e tolerân- cia, Passo Fundo 2006, S. 94-122. Heinz Eidam74 gegenseitig ausschließen, vielleicht sogar wechselseitig implizieren. Das aber würde bedeuten, dass Toleranz rational und Rationalität zugleich tolerant ist. Wäre allerdings nicht auch die gegenteilige Auffassung denkbar, dass Rationalität und Toleranz in einem Widerspruch zueinander stehen, dass mithin Rationalität Toleranz ausschließt und deshalb Toleranz auch nicht rational sein kann? Denn Rationalität, so könnte argumentiert werden, ist die Form eines streng diskursiven oder argumentativen Denkens, das aufgrund seiner immanenten, logisch-stringenten Struktur gar nicht tolerant sein kann.3 Die Forderung, für ein logisch-diskursives Denken Toleranz zu fordern und zuzulassen, würde daher nichts anderes bedeuten als fragwürdige Schlüsse oder gar offensichtliche Fehlurteile zuzulassen. Zumal wenn es um Wahr- heitsansprüche geht, wäre eine solche Verfahrensweise wohl kaum zulässig. Die Wahrheit schließt die Unwahrheit aus, und wer einen Wahrheitsanspruch erhebt, wird nicht zugleich die Unwahrheit als Wahrheit zulassen können. Insofern ist Wahrheit alternativlos, „nicht kompromissfähig“, und Unwahr- heit „nicht tolerierbar“.4 Allerdings wäre es ein Irrtum, daraus voreilig zu schließen, dass Ratio- nalität überhaupt und also solche intolerant sei, weil sie von vornherein alle Unterschiede und damit alle Vielfalt – von Ansichten, Meinungen, Hypo- thesen, Argumenten, Kulturen etc. – ausschließe. Denn auch der Satz, dass es verschiedene Kulturen gibt, ist und bleibt so lange ein wahrer Satz, wie es unterschiedliche Kulturen gibt. Hier müssen die verschiedenen Ebenen sorg- fältig unterschieden werden. Im Bereich der vielfältigen Lebensformen unter verschiedenen geographischen, ethnischen und gesellschaftlichen Bedingun- gen ist Toleranz nicht nur nicht auszuschließen, sondern sogar gefordert. Der Wahrheitsanspruch schließt hier die Verschiedenheit ebenso wenig aus wie das Farbenspektrum die unterschiedlichen Farben. Zwar kann ein Hemd entweder blau oder rot sein, aber es wäre Unsinn zu sagen, die Farbe Rot (als solche) sei wahr und die Farbe Blau unwahr. Die Vielfalt der Kulturen stellt verschiedene Möglichkeiten des menschlichen Lebens dar, gegenüber denen Akzeptanz und Toleranz gefordert und aufgrund der Offenheit des Konzepts des richtigen Lebens auch legitimiert werden kann. Zu einem Antagonismus oder zu einem Konflikt kommt es auf der Ebene der Verschiedenheit der Kulturen erst dann, wenn eine bestimmte Kultur dogmatisch den Anspruch erhebt, die wahre Kultur zu sein, deshalb andere Kulturen abwertet und da- mit gegen die Humanität als gemeinsame Basis aller Kulturen verstößt. So sind etwa – auf der Basis der Menschenrechte – die Anwendung von Gewalt, 3 Der seit der Antike behauptete zwanglose Zwang des besseren Argumentes besagt ja nicht, dass das bessere Argument nicht zwingend wäre, aufgrund seiner inneren Not- wendigkeit, sondern nur, dass externer Zwang oder äußere Gewalt für die Gültigkeit von Argumenten keine Rolle spielen. 4 Vgl. Hans Heinz Holz, „Rationalität und Toleranz“, in: Sitzungsberichte der Leibniz- Sozietät, Bd. 56 (2002), H. 5, S. 119-128. Rationalität und Toleranz in kulturellen Konflikten 75 Folter, Demütigung oder Freiheitsberaubung auch dann nicht zu tolerieren, wenn sie durch entsprechende Gesetze, Religionen oder Traditionen gedeckt sein sollten. Das Neben- und Miteinander der Vielfalt von Kulturen setzt die allgemeine Humanität als gemeinsame Basis und Einheit5 voraus. Worauf es ankäme, wäre also Rationalität und Toleranz so zu denken, dass beide sich nicht nur nicht gegenseitig ausschließen, sondern einander ergänzen oder sich sogar implizieren. Dies erfordert einen Begriff bzw. eine Konzeption von Rationalität, die sich überhaupt und insbesondere kulturphilosophisch dadurch auszeichnet, dass Einheit und Vielheit nicht als Widerspruch, sondern als sich komplementär ergänzende Aspekte (Momente) gedacht werden. So, wie das Licht sich in alle Farben bricht und gleichwohl jede Farbe Licht bleibt, so könnte auch das Mannigfaltige, Bunte, Vielfarbige der unterschiedlichen Kulturen als Vielheit einer Einheit sich denken lassen, in der die Unterschiede nicht ausgelöscht, sondern bewahrt werden, damit überhaupt sinnvoll von einer Einheit die Rede sein kann.6 Nun sind Einheit und Vielheit sicherlich sehr abstrakte philosophische Begriffe. Ich werde im Folgenden zwei, wie ich meine, zentrale Positionen zu dem Problem von Einheit und Vielheit und damit auch zu dem des Ver- hältnisses von Rationalität, Toleranz und Kultur vorstellen. Die eine Position ist die des Philosophen Immanuel Kant. Es sind die Überlegungen zu den ob- jektiven Bedingungen und Strukturen der Friedenserhaltung und -sicherung, die er 1795 in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ formuliert hat. Die zweite Position, die ich kurz vorstellen möchte, ist die kulturpsychologische Theo- rie Sigmund Freuds. Prägend für diese war der Zusammenbruch von Frie- denserhaltung und -sicherung im Ersten Weltkrieg, und in seinen Schriften aus dieser Zeit ist er der Frage nach den subjektiven bzw. psychologischen Ursachen des Krieges und des Unbehagens in der Kultur nachgegangen. Beide Schriften halte ich für zentral, wenn es um die Frage von Rationalität 5 Diese wäre als eine Idee (focus imaginarius) zu denken, die, wie andere Ideen auch, eine Geschichte hat und d. h. hinsichtlich ihrer Bestimmung und (auch) rechtlichen Kodifizierung präzisierbar ist. 6 Dem Optimismus der Einheit von Rationalität und Toleranz lässt sich der Pessimis- mus der Unversöhnbarkeit der unterschiedlichen Kulturen entgegenstellen. Zudem, so könnte eingewandt werden, sei eine solche Auffassung immer noch durch eine be- stimmte Kultur und die in ihr entwickelte – eurozentristische – Rationalität geprägt, so dass auch die durch sie geprägte Einheit immer noch eine hegemoniale sei. Beides sind ernsthaft zu bedenkende Einwände. Kritisiert man Rationalität als eurozentristisch, so müsste man ihr entweder eine andere Form der Rationalität gegenüberstellen oder aber Rationalität überhaupt ablehnen. Lehnt man jede Form von Rationalität ab, dann kann natürlich auch nicht mehr argumentiert, nicht mehr dialogisch nach Lösungen für Kon- flikte gesucht werden. Setzt man dagegen eine bestimmte, kulturell geprägte Ratio- nalität einer anderen entgegen, dann wäre allerdings noch immer sinnvoll zu fragen, wie und inwiefern sich diese beiden Formen unterscheiden und worin sie, wenn beide Formen eben Formen von Rationalität sind, immer noch übereinstimmen. Die Frage wäre dann immer noch, wie hier Einheit und Vielheit sinnvoll zu denken sind. Heinz Eidam76 und Toleranz im Hinblick auf kulturelle Konflikte und Feindseligkeiten so- wie um Perspektiven zu ihrer Überwindung geht. Am Ende meines Vortrags will ich versuchen, in der Form von Thesen meine Ausführungen zu bün- deln und perspektivisch zu erweitern. 1. Immanuel Kant: „Zum ewigen Frieden“ Einheit und Vielheit sind Begriffe, die unterschiedliche Perspektiven formu- lieren. Wir, d. h. wir Menschen, sind alle Bewohner dieser Erde und bilden als solche eine Einheit, logisch gesehen eine Klasse, nämlich die der Erdbe- wohner. Aber wir, die Erdbewohner, sind zugleich viele und unterscheiden uns – auch wenn wir evolutionstheoretisch alle von einer gemeinsamen Großmutter (Lucy) abstammen sollten – in allen möglichen Hinsichten: Augenfarben, Hautfarben, Nasenlängen, Vorlieben, Ess- und Schlafgewohn- heiten, bevorzugten Freizeitvergnügen und weniger bevorzugten Arbeitsver- hältnissen. Der Begriff „Erdbewohner“ ist wie der Begriff der „Menschheit“ in diesem Sinne ein Kollektivsingular (singulare tantum) und meint die Vielheit in der Einheit und die Einheit in der Vielheit. Ebenso wie der Be- griff des „Weltkulturerbes“ ein Ausdruck ist, der die unterschiedlichsten kul- turellen Güter zu einer Einheit, nämlich als etwas zu bewahrendes, weil Bewahrenswertes, zusammenfasst. Auch der Begriff des „Weltbürgers“ (bei Kant) – oder der Begriff des „Weltkulturbürgers“ (bei Freud) – ist ein sol- cher Kollektivsingular. Auf diesen Kollektivsingular setzen beide, wenn auch mit Unterschieden und bei aller Skepsis, ihre Hoffnung. In seiner Abhandlung „Zum ewigen Frieden“7 stellt Kant gegen Ende des 18. Jahrhunderts Überlegungen dazu an, wie – auf Erden – ein dauerhafter Friede zwischen den Staaten und Völkern erreicht und erhalten werden könnte. Der „Friedenszustand unter Menschen“ ist für Kant – wie auch noch für Freud – kein „Naturzustand“, kein „status naturalis“ (B 18). Der Natur- zustand sei „vielmehr“, wie bereits Thomas Hobbes angenommen hatte, „ein Zustand des Krieges“, der zwar nicht immer auch zum tatsächlichen Aus- bruch von Feindseligkeiten führe, aber doch durch die „immerwährende Be- drohung“ gekennzeichnet sei. Aus diesem Zustand der permanenten Bedro- hung (der ewige kalte Krieg) müsse die Menschheit heraus. Weil für Kant der Friedenszustand unter den Völkern kein Naturzustand ist, muss er „ge- stiftet“ werden, d. h. er wird sich nicht automatisch von selbst einstellen, wenn man den Dingen ihren Lauf lässt, sondern er muss gewollt und d. h. bewusst angestrebt werden. Der Friede ist ein Ergebnis der Kultur, und das Ziel der Kulturentwicklung besteht darin, den status naturalis der immer- 7 Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden (1795, zweite Aufl. [B]: 1796), in: Werke in zwölf Bänden, hrsg. v. W. Weischedel, Frankfurt a.M. 1968, Bd. XI.. Rationalität und Toleranz in kulturellen Konflikten 77 währenden Bedrohung zu überwinden. Davon sind wir leider nicht nur immer noch weit entfernt, sondern neigen sogar verstärkt dazu, einen dauernden und substantiellen Frieden für eine Illusion, eine fixe Idee oder für ein paradise lost zu halten, zu dem zurückzukehren oder hinzufinden uns der perennierende Konflikt der Kulturen beständig hindere. Der von Kant vorgestellte Friedenszustand bezieht sich dabei – man ist versucht zu sagen: selbstverständlich, doch das war es seinerzeit keineswegs – nicht nur auf die Länder und Völker Europas – und in Europa gab es zu Kants Zeiten Hunderte von Kleinstaaten –, sondern er ist bei ihm – ich ver- mute: erstmalig – kosmopolitisch gedacht. Erdbewohner waren wir schon immer, Weltbürger sind wir inzwischen alle (nolens volens) geworden, manche mehr, manche weniger, alle aber insofern, als wir auf einer vielfältig ver- netzten, kosmopolitisch geeinten und geopolitisch gebrochenen Oberfläche leben und auf ihr auch bis auf unabsehbar Weiteres gemeinsam leben müs- sen. Aus der Tatsache, dass wir Menschen gemeinsam eine in ihrer Ausdeh- nung begrenzte (und durch Grenzen gezeichnete) Oberfläche bewohnen müs- sen, leitet Kant ein allgemeines Hospitationsrecht ab. Dieses ist noch kein Gastrecht, wozu es besonderer Vereinbarungen bedürfte, sondern Kant ver- steht darunter ein „Besuchsrecht, welches allen Menschen zusteht“, und zwar, so seine Begründung, „vermöge des Rechts des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde, auf der, als Kugelfläche, sie sich nicht ins Unendliche zerstreuen können, sondern endlich sich doch neben einander dulden zu müssen, ursprünglich aber niemand an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht hat, als der andere.“ (B 40 f.) Dieses von Kant gefordert Weltbürgerrecht – ein „jus cosmopoliticum“ (B 19, Anm.) – nennt er das „Recht der Oberfläche“. Es sei ein Recht, „welches der Menschengattung“ – uns allen – „gemeinsam“ zukomme und das „zu einem möglichen Verkehr“ der Völker benutzt werden könne. Gemeint ist damit das Recht als eine „Be- fugnis der fremden Ankömmlinge [...], einen Verkehr mit den alten Einwoh- nern zu versuchen“, und nur zu versuchen, nicht aber, wie auch immer, zu erzwingen. Nur so werde es möglich sein, dass „entfernte Weltteile mit einander friedlich in Verhältnisse kommen, die zuletzt auch öffentlich gesetz- lich“, also völkerrechtlich kodifiziert „werden, und so das menschliche Ge- schlecht endlich einer weltbürgerlichen Verfassung immer näher bringen kön- nen“ (B 41 f.). Im Vergleich zu diesem geforderten jus cosmopoliticum sieht der Ver- kehr der Völker untereinander – zu Kants Zeiten – ganz anders aus. Kant übt hier eine – für die damalige Zeit – scharfe Kritik an den Praktiken der Ko- lonialstaaten: Denn betrachte man „das inhospitale Betragen der gesitteten, vornehmlich Handel treibenden Staaten unseres Weltteils“, so gehe „die Un- gerechtigkeit“, welche diese sich für gesittet ausgebenden Völker bei „dem Besuche fremder Länder und Völker“ beweisen, denn Besuchen und Er- obern gelte „für einerlei“, „bis zum Erschrecken weit“. Kant gibt auch Bei- spiele für sein Erschrecken über das ungesittete Betragen der „gesitteten“ Heinz Eidam78 Völker Europas: Für diese waren „Amerika, die Negerländer“, also Afrika, „die Gewürzinseln, das Kap etc. [...] bei ihrer Entdeckung [...] Länder, die keinem angehörten; denn die Einwohner rechneten sie für nichts. In Ost- indien (Hindustan) brachten sie, unter dem Vorwande bloß beabsichtigter Handelsniederlagen, fremde Kriegsvölker hinein, mit ihnen aber Unterdrü- ckung der Eingebornen, Aufwiegelung der verschiedenen Staaten desselben zu weit ausgebreiteten Kriegen, Hungersnot, Aufruhr, Treulosigkeit, und wie die Litanei aller Übel, die das menschliche Geschlecht drücken, weiter lauten mag.“ (B 42) Weiter bezeichnet Kant die Zuckerinseln als den „Sitz der allergrausamsten und ausgedachtetsten Sklaverei“ und kritisiert die Heu- chelei und Bigotterie derjenigen, die „von der Frömmigkeit viel Werks ma- chen, und, indem sie Unrecht wie Wasser trinken, sich in der Rechtgläu- bigkeit für Auserwählte gehalten wissen wollen“ (B 45 f.).8 Deutlicher kann man es nicht sagen. Gegenüber den Formen der Ungerechtigkeit, der Unter- drückung, selbst vor Vernichtung ganzer Völker nicht Halt machenden „In- hospitalität“ klagt Kant die „Idee eines Weltbürgerrechts“ ein. Diese Idee eines jus cosmopoliticum sei eine Erweiterung und „notwendige Ergänzung des ungeschriebenen Kodex, sowohl des Staats- als [auch des] Völkerrechts zum öffentlichen Menschenrechte überhaupt, und so zum ewigen Frieden“ (B 46). Interessant ist nun der Grund, den Kant dafür angibt, dass diese Idee eines Weltbürgerrechts „keine phantastische oder überspannte Vorstellungs- art des Rechts“, also keine bloße Illusion sei. Dieser Grund liegt für Kant vor allem in der Entwicklung von Öffentlichkeit, nämlich einer Form von Weltöffentlichkeit, die es mit sich bringe, „daß die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird“ (B 46). Dieser Gedanke Kants ist durchaus erstaunlich für eine Zeit, die noch weit von der Entwicklung elektronischer Informationsmedien entfernt war.9 Kant nimmt in gewissem Sinne das vorweg, was man heute im medialen Bereich ein global village nennt. Gewiss hat das zu Kants Zeiten noch gar nicht antizipierbare Me- dienzeitalter seine eigenen und sehr besonderen Probleme, die sich nicht zuletzt daraus ergeben, dass auch Informationen wie Waren gehandelt wer- den. Worauf es Kant ankam, war der – für seine Philosophie der Aufklärung überaus zentrale – Aspekt der „Öffentlichkeit“: Was an einem, und sei es geographisch noch so weit entfernten Platz der Erde an Unrecht geschieht, 8 Negativ, durch das Gegenbild seiner Gegenwart, wird so deutlich, was Kant unter dem Weltbürgerrecht der Hospitalität verstanden wissen will. Als Recht der Oberfläche ist es unvereinbar mit imperialer und kolonialer Hegemonie der kriegs- wie handeltreiben- den, also Handel als Krieg betreibenden Staaten Europas. Dass „niemand an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht hat, als der andere“, dies heißt für Kant vor allem, dass es kein Recht auf Vertreibung, Eroberung, Ausbeutung der „alten Einwohner“ gibt. 9 Zu Kants Zeit gab es, selbstverständlich, Bücher, aber auch Zeitschriften und Journale, die allerdings so teuer waren, dass man sich zu Zirkeln zusammentat, um das Neueste zu lesen und zu diskutieren. Vgl. Manfred Kühn, Kant. Eine Biographie, München 2003, S. 196 f. Rationalität und Toleranz in kulturellen Konflikten 79 das kann und wird auch an allen anderen Orten bekannt und gefühlt werden. So sind die Begrenztheit der Erdoberfläche einerseits und die in der Form einer unbegrenzten Weltöffentlichkeit mögliche Einheit andererseits für Kant die Voraussetzungen dafür, dass eine kosmopolitische Regelung des Verkehrs der Völker untereinander gesucht werden muss und auch gefunden werden kann. Wenn, und das ist Kants Hoffnung, das Unrecht, das an einem Orte der Erde geschieht, auch an allen anderen Orten gefühlt wird, dann eröffnet sich daraus zugleich eine Perspektive, Menschenrechtsverletzungen, Gewalt und Unterdrückung weltweit zu ächten, bestehendes Unrecht abzuschaffen und künftiges zu verhindern. So ist die Ergänzung des Staats- und Völker- rechts zu einem „öffentlichen“ bzw. allgemeinen „Menschenrecht“ für Kant die Bedingung der Möglichkeit, sich dem Ziel der friedlichen Koexistenz der Staaten und Völker und damit einem ewigen Frieden immer weiter an- nähern zu können. Eine gegenseitige Duldung der Völker kann allerdings nur auf der Basis der Anerkennung des allgemeinen Menschenrechts und d. h. wechselseitiger Anerkennung als Menschen gelingen. Allgemeine Menschen- rechte sind solche, welche, „unabhängig von persönlichen und gesellschaft- lichen Verhältnissen, von politischen Konstellationen und geschichtlich-kul- turellen Bedingungen, jedem Menschen zukommen“.10 Diese rechtsförmige Einheit eines öffentlichen Menschenrechts bildet für Kant die Voraussetzung dafür, das die unterschiedlichen Völker den Zustand der permanenten ge- genseitigen Bedrohung überwinden können. Es ist die (durch das allgemeine Menschenrecht definierte) Einheit in der Vielheit, welche eine (kulturell di- vergente) Vielheit in der Einheit ermöglicht. Diesem von der Vernunft gesetzten Ziel oder Ideal kommen nun Kant zufolge auch drei natürliche Entwicklungen bzw. Tendenzen entgegen, die nicht in der Vernunft, sondern in der Natur des Menschen – „in Ansehung der Menschengattung als einer Tierklasse“ (B 58) – gründen. Erstens sind die Menschen, innerer wie auch äußerer Konflikte wegen, von Natur aus ge- zwungen, Staaten zu bilden, und hier ist die republikanische Staatsverfas- sung für Kant „die einzige, welche dem Recht der Menschen vollkommen angemessen“ (B 60) ist. Zwar sei es nicht leicht, eine solche zu stiften, doch selbst im ungünstigsten Falle, nämlich dann, wenn die Menschen nicht aus sittlich-moralischen Gründen, sondern allein aus eigensüchtigen Interessen handelten, sei die Verwirklichung einer republikanischen Verfassung möglich. Es komme nur darauf an, dass durch die Organisation des Staates die zer- störerischen Kräfte und destruktiven Konfliktpotentiale so gegeneinander gerichtet werden, „daß eine die anderen in ihrer zerstörenden Wirkung auf- hält, oder diese aufhebt“ (B 60 f.). Das ist hier ganz liberalistisch gedacht: Die „selbstsüchtigen Neigungen“ (B 62) der Menschen und der „Widerstreit 10 Ottfried Höffe, „Toleranz: Zur politischen Legitimation der Moderne“, in: Rainer Forst (Hg.), Toleranz. Philosophische Grundlagen und gesellschaftliche Praxis einer um- strittenen Tugend, Frankfurt a.M./New York 2000, S. 71. Heinz Eidam80 ihrer unfriedlichen Gesinnungen“ sollen sich dadurch, dass sie Rechtsgeset- zen unterworfen werden, zum Wohl des Ganzen gegenseitig neutralisieren (oder wenigstens schwächen) und die Menschen so dazu genötigt werden, „den Friedenszustand, in welchem Gesetze Kraft haben, herbeizuführen“ (B 61 f.).11 Kants Hoffnung ist, dass eine „gute Staatsverfassung“ auch der „moralischen Bildung eines Volkes“ (B 62) förderlich ist. Durch die Neutra- lisation der destruktiven Kräfte und unfriedlichen Gesinnungen innerhalb des Staates soll das Recht die „Obergewalt“ gewinnen. Die rechtsstaatliche Einheit dient so dem Ziel einer Friedenssicherung. Was nun zweitens das Verhältnis der Völker und Staaten zueinander be- trifft, so ist es, Kant zufolge, gerade die Vielheit der Staaten, welche dem Ziel des Friedens und der Toleranz der Völker dienlich ist. Eine Vielheit der Staaten und ihre „föderalistische Vereinigung“, die dem Ausbruch von Feind- seligkeiten und Kriegen vorbeuge, sei, „nach der Vernunftidee, besser als die Zusammenschmelzung derselben“ zu einem einzigen hegemonialen Rie- senstaat. Ein Staat könne zwar versucht sein, den Weltfrieden dadurch zu erreichen, dass er selbst die Welt beherrsche, aber diese imperiale Weltherr- schaft würde durch ihre Monokultur nur zu Despotie und Unterdrückung, zu Intoleranz und Unfreiheit führen. Nicht die Einheit eines einzigen Weltstaa- tes, sondern die föderative Vielheit von Staaten ist hier für Kant der Weg. Die Vielheit der Staaten und die Vielfalt und Mannigfaltigkeit der Kulturen hat hier Vorrang vor der Uniformität einer weltstaatlichen Einheit. Kant nennt die verschiedenen Sprachen und die unterschiedlichen Religionen der Völker als Formen, in denen sich diese Vielfalt darstellt. Obwohl diese Vielfalt immer auch ein Konfliktpotential enthält, so ist für Kant gerade die Mannigfaltig- keit der Kulturen der Friedenssicherung und -erhaltung nicht nur nicht hin- derlich, sondern förderlich. Weil man eine solche These bei Kant vielleicht nicht erwartet hat, sei sie in extenso zitiert: Es ist, so Kant, die „Verschie- denheit der Sprachen und der Religionen, die zwar den Hang zum wechsel- seitigen Hasse und Vorwand zum Kriege bei sich führt, aber doch, bei an- wachsender Kultur und der allmählichen Annäherung der Menschen zu größerer Einstimmung in Prinzipien, zum Einverständnisse in einem Frieden leitet, der nicht, wie jener Despotism (auf dem Kirchhofe der Freiheit), durch Schwächung aller Kräfte, sondern durch ihr Gleichgewicht, im lebhaftesten Wetteifer derselben, hervorgebracht und gesichert wird.“ (B 64) Kants zentrale Argumente seien nochmals hervorgehoben: Kant sieht deutlich, dass die Verschiedenheit der Sprachen und der Religionen, und 11 Das Ergebnis wäre, dass sich die Menschen selbst dann, wenn sie „ein Volk von Teu- feln“ wären, aber wenigstens Verstand haben, so verhalten, „als ob“ sie gar „keine solch böse[n] Gesinnungen hätten“ (B 61). Die innerstaatliche Neutralisierung der Feind- seligkeiten soll derart dazu führen, dass die Menschen, auch wenn sie deshalb noch lange keine guten, aus sittlichen und moralischen Motiven handelnden Menschen sind, wenigstens gute Bürger werden. Rationalität und Toleranz in kulturellen Konflikten 81 verallgemeinernd könnte man sagen, dass die Verschiedenheit der Kulturen immer auch den Hang des Menschen zu Feindseligkeiten, ja zu wechselsei- tigem Hass mit sich führt. Es ist die Angst und das Misstrauen, die Aggres- sivität und die Feindseligkeit dem gegenüber, was man nicht versteht und nicht kennt, verbunden mit Vorurteilen und Ablehnung gegenüber dem Un- bekannten, Fremden, Anderen, kurz: das Ressentiment, das ideologisch miss- braucht und als Vorwand zu Feindseligkeiten und Kriegen benutzt werden kann. Gemeint ist die mögliche Instrumentalisierung kultureller Unterschiede zu machtpolitischen, wirtschaftlichen oder ideologischen Zwecken. Für Kant ist es nun umgekehrt gerade die Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit der Kulturen, die, bei wachsender Kultur, kulturellem Austausch und der all- mählichen Annäherung der Menschen hinsichtlich universaler Prinzipien (des allgemeinen Menschenrechts) zu einer friedlichen Koexistenz führt. Nicht, wie im Falle der eigensüchtigen Neigungen, durch die Nivellierung, Schwä- chung oder Neutralisierung der verschiedenen Kulturen, sondern umgekehrt durch wechselseitige Anerkennung der Unterschiedenheit, durch Stärkung der unterschiedlichen Kräfte und Förderung der kulturellen Eigenheiten soll hier ein Gleichgewicht, ein lebendiger Kulturaustausch „im lebhaftesten Wetteifer“ miteinander zustande kommen und so der Friede zwischen den Völkern so- wohl hervorgebracht als auch gesichert werden können. Ein friedlicher Wett- streit der Kulturen setzt allerdings neben der Anerkennung kultureller Eigen- heiten eine gleichzeitige Anerkennung allgemeiner (universaler) Prinzipien voraus. Nur unter der Voraussetzung, dass Menschen und Völker sich nicht gegenseitig instrumentalisieren, dass ein jeder Mensch, welcher Kultur er auch angehören und welche Sprache er auch sprechen mag, immer auch als ein Zweck an sich selbst anzusehen ist, kann auch die Mannigfaltigkeit der Kulturen der Sicherung des Friedens dienen. Universale Prinzipien und kul- turelle Vielfalt sind, für Kant und überhaupt, Bedingungen der Möglichkeit eines dauerhaften Friedens zwischen den Staaten und Völkern, von ihrer wechselseitigen Duldung über ihre gegenseitige Anerkennung12 bis hin zu ihrer „fortwährend-freien Assoziation“ (B 103). Neben der herzustellenden (republikanischen) Rechtsverfassung der Staa- ten und der freien Assoziation unterschiedlicher Kulturnationen nennt Kant drittens auch den Welthandel, der gewaltsame Konflikte verhindern und dem so eine friedenserhaltende Funktion zukommen kann. Wer miteinander Handel treiben und voneinander – „durch den wechselseitigen Eigennutz“ – profitieren will, der muss sich wenigstens am Leben lassen. Der „Handels- 12 Zur aktuellen Diskussion über Begriff und Theorie der Anerkennung siehe Nancy Fraser/Axel Honneth, Umverteilung oder Anerkennung. Eine politisch-philosophische Kontroverse, Frankfurt a.M. 2003; zur soziologischen Diskussion vgl. Jürgen Gerdes, „Toleranz, Neutralität und Anerkennung. Aspekte des normativen Inventars der politi- schen Philosophie“, Working Papers – Center on Migration, Citizenship and Develop- ment (COMCAD), No. 4, Bremen 2004. Heinz Eidam82 geist“ kann „mit dem Kriege nicht zusammen bestehen“ (B 65). Freilich, und das wusste auch schon Kant, führt der Handelsgeist auch zu Problemen. Wenn etwa, um ein aktuelles Beispiel zu nehmen, mit einem Plakat auf einem Acker in der Nähe von Kassel gegen Zucker aus Brasilien und damit gegen den Abbau von Subventionen durch die Europäische Union protestiert wird, dann nicht deshalb, weil der Kasseler Bauer Vorurteile gegenüber brasiliani- schen Gutsbesitzern und ihrem Zucker hätte, sondern weil er nicht weiß, ob er in Zukunft von dem eigenen Anbau von Zuckerrüben noch wird leben können. Zu den größten Herausforderungen dieses Jahrhunderts gehört die Einrichtung von Strukturen, die einen fairen und gerechten Welthandel er- möglichen. Gefordert ist ein die Tauschgerechtigkeit ernst nehmender und auf faire Konditionen verpflichteter Handelsgeist, wenn die Abschaffung der globalisierten Ausbeutung gelingen soll. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass für Kant die republikanische Verfassung der einzelnen Staaten, die freie Assoziation der Kulturvölker so- wie auch der (gerechte) internationale Welthandel Bedingungen, wenn auch keineswegs Garantien sind, dem Ziel eines friedlichen Zusammenlebens der Völker näher zu kommen. In diesem Sinne versuchte Kant zu zeigen, das ein dauerhafter Friede aus Gründen der Vernunft nicht nur notwendig, son- dern auch praktisch möglich ist und welches die Bedingungen der Möglich- keit eines friedlichen Zusammenlebens der Völker und Kulturen auf der ihnen gemeinsam gehörenden Kugeloberfläche sind. Die Verwirklichung der Idee eines ewigen Friedens ist für Kant eine Aufgabe der praktischen Ver- nunft, die es als solche uns Menschen „zur Pflicht macht, zu diesem“ – durch politisches Handeln erreichbaren und daher „nicht bloß schimäri- schen“ – Zwecke hinzuarbeiten“ (B 66). Die Idee des ewigen Friedens eröffnet bei Kant geschichtsphilosophisch eine Zukunftsperspektive auf das friedliche Zusammenleben der Völker unter Beibehaltung und Weiterentwicklung ihrer kulturellen Verschiedenheiten. In diesem Sinne gehen Rationalität (Vernunft) und Toleranz bei Kant zusam- men.13 Aber es gibt hier keinen Automatismus, keine Geschichtsnotwendig- keit. Der von Kant avisierte Prozess hin zu einer freien Assoziation der Völ- ker und Kulturen kann scheitern. Die Erfahrung des Scheiterns hat das vergangene Jahrhundert geprägt. – Damit komme ich zu meinen zweiten Punkt: zur Analyse der Kultur und ihrer Bedrohung bei Freud. 13 Gegenüber Kants Konzeption der Vernunft fällt eine Rechts- und Staatsphilosophie, wie sie dann von Hegel vertreten wurde, unendlich zurück. Hegel zufolge würde „ein dauernder oder gar ewiger Friede“ die „sittliche Gesundheit der Völker“ zerstören. Hegel verteidigt die Notwendigkeit des Krieges, weil der Friede auf Dauer zu einem „Ver- sumpfen der Menschen“ führe. (G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Werke in 20 Bänden, hrsg. v. E. Moldenhauer u. K. M. Michel, Frankfurt a.M. 1979, Bd. 7, S. 492 f.). Dem ist – mit Kant – die Einsicht eines alten Griechen entgegenzu- halten, der Krieg sei „darin schlimm, daß er mehr böse Leute macht, als er deren weg- nimmt.“ (B 58). Rationalität und Toleranz in kulturellen Konflikten 83 2. Sigmund Freud: „Das Unbehagen in der Kultur“ Die einschneidendsten geschichtlichen und kulturgeschichtlichen Erfahrungen der Moderne waren der Erste und der Zweite Weltkrieg. Bereits der Erste Weltkrieg hat seinen Zeitgenossen nicht nur drastisch vor Augen geführt, dass „das Prinzip der modernen Welt“ keine menschlich geführten Kriege, die etwa Hegel von der Moderne sich noch erwartet hatte, kennt.14 Sondern er hat zudem zu der Einsicht geführt, dass, entgegen der herrschenden Vor- stellungen, Kultur selbst, als solche, zusammenbrechen kann. Paul Verléry schrieb 1918 den Satz: „Wir Kulturvölker, wir wissen jetzt, dass wir sterb- lich sind.“ Für den Kulturphilosophen Ralf Konersmann gibt dieser Satz die „Bestürzung“ wieder, „die seinerzeit die Menschen erfasst haben muss“. Mit dem Ersten Weltkrieg sei für sie eine Welt zusammengebrochen, die durch die „Ideale der politischen Emanzipation, die Hoffnungen auf soziale Ge- rechtigkeit und die ‚sittlichen Ansprüche der Wissenschaft‘“ geprägt gewe- sen war. „Die Erfahrung der Sterblichkeit ihrer Kultur resümiert“, Koners- mann zufolge, „die jähe Einsicht einer Generation, die den bis dahin fraglos gültigen Hintergrund vertrauter Lebensformen als ganzen und für immer preisgegeben sah.“15 Die Erschütterung der Lebenswelt hatte die Zerstörbar- keit der bis dahin für unzerstörbar gehaltenen Fundamente von Kultur und Zivilisation aufgezeigt. So lange ist es, historisch gesehen, noch gar nicht her, dass Deutsche und Franzosen als Tod- und Erbfeinde galten, dass – wenn hier eine persönliche Anmerkung gestattet ist – der eine meiner Großväter im Ersten Weltkrieg ein Trommelfell und der andere ein Auge verlor und dass, nur dreißig Jahre später, der jüdischen Schulfreund meines Vaters plötzlich spurlos verschwand und er selbst den Zweiten Weltkrieg nur des- halb überlebte, weil er mit 13 Jahren ein Jahr zu jung war, um in letzter Minute noch an die Front geschickt zu werden. Geschichte ist ja nicht etwas, 14 Es gehört wohl zu den größten Irrtümern der Geistesgeschichte, die Hegelsche Theo- rie des Fortschritts unbesehen und daher unkritisch auf die Zukunft bezogen und als Geschichtsnotwendigkeit zum Besseren hin missverstanden zu haben. Der Fortschritts- optimismus wurde im 19. Jahrhundert zum Geschichtsgesetz stilisiert. Der Glaube an den technologischen und zivilisatorischen Fortschritt und seine Unumkehrbarkeit wurde zur geschichts- und kulturphilosophischen Gewissheit. Auch wenn es immer noch zu Kriegen kommen sollte, so würden auch diese zivilisierter geführt werden. Bereits Hegel sah in der Entwicklung des „Feuergewehrs“ als modernster Distanzwaffe die Möglich- keit gegeben, dass sich Feinde nun mit weniger Hass entgegenstehen und sich so auf kultiviertere Art und Weise umbringen könnten. Das „Prinzip der modernen Welt“, wie Hegel es nennt, habe so nicht nur das Gewehr erfunden, sondern auch dafür gesorgt, dass die „neueren Kriege [...] menschlich geführt“ werden. (Hegel, Bd. 7, §§ 328 u. 338, Zusatz). Dies ist nicht nur aus heutiger Perspektive grundfalsch, sondern war be- reits zu Hegels Zeiten eine Lüge. 15 Information Philosophie 3/2005, S. 21. Vgl. auch Hassan Givsan, „Der Erste Weltkrieg oder wie der Tod Einzug in die Philosophie hielt“, in: Hassan Givsan, Zu Heidegger. Ein Nachtrag zu „Heidegger – das Denken der Inhumanität“, Würzburg 2011, S. 146-178. Heinz Eidam84 das neben den Biographien der Einzelnen verläuft, sondern ein Geschehen, das durch sie hindurch sich vollzieht. Einer der ersten, die auch in der Form theoretischer Reflexionen auf diesen welt- und kulturhistorischen Um- und Zusammenbruch des Ersten Weltkrieges reagiert haben, war Sigmund Freud, der Begründer der Psycho- analyse und der psychoanalytischen Kulturphilosophie. Bereits ein halbes Jahr nach Ausbruch des Krieges, im März/April des Jahres1915, schrieb Freud einen Essay mit dem Titel „Die Enttäuschung des Krieges“.16 Daraus möchte ich einige zentrale Passagen zitieren: „Der Krieg, an den wir nicht glauben wollten, brach nun aus, und er brachte die – Enttäuschung. Er ist nicht nur blutiger und verlustreicher als einer der Kriege vorher, infolge der mächtig vervollkommneten Waffen des Angriffes und der Verteidigung, sondern mindestens ebenso grausam, er- bittert, schonungslos wie irgendein früherer. Er setzt sich über alle Ein- schränkungen hinaus, zu denen man sich in friedlichen Zeiten verpflichtet, die man das Völkerrecht genannt hatte, anerkennt nicht die Vorrechte des Verwundeten und des Arztes, die Unterscheidung des friedlichen und des kämpfenden Teils der Bevölkerung, die Ansprüche des Privateigentums. Er wirft nieder, was ihm im Wege steht, in blinder Wut, als sollte es keine Zu- kunft und keinen Frieden unter den Menschen nach ihm geben. Er zerreißt alle Bande der Gemeinschaft unter den miteinander ringenden Völkern und droht eine Erbitterung zu hinterlassen, welche eine Wiederanknüpfung der- selben für lange Zeit unmöglich machen wird.“ (IX, S. 38) Die Enttäuschung, von der Freud spricht, war deshalb so groß, weil man mit einer solchen Form des Krieges, der Feindschaft und des gegenseitigen Hasses im Herzen der Kulturnationen Europas nicht mehr gerechnet, es gar nicht mehr für möglich gehalten hatte. Von den Völkern Europas, „deren Schöpfungen die technischen Fortschritte in der Beherrschung der Natur“ wie auch „die künstlerischen und wissenschaftlichen Kulturwerte sind“, Völker, die man zudem auch „mit der Pflege weltumspannender Interessen beschäftigt wußte“, von diesen Völkern hatte man doch erwartet, „daß sie es verstehen würden, Mißhelligkeiten und Interessenkonflikte auf anderem Wege zum Austrage zu bringen“. Denn innerhalb dieser Nationen waren „hohe sittliche Normen für den Einzelnen aufgestellt worden, nach denen er seine Lebensführung zu richten hatte, wenn er an der Kulturgemeinschaft teilnehmen wollte“. Zwar nahm man an, dass es auch weiterhin kriegerische Konflikte, nicht unbedingt im Herzen, aber an den Rändern Europas, hätte geben können, doch man ging davon aus, dass die großen Kulturnationen inzwischen „so viel Verständnis für ihre Gemeinsamkeiten und so viel To- leranz für ihre Verschiedenheiten erworben“ hätten, „daß ‚fremd‘ und ‚feind- lich‘ nicht mehr wie noch im klassischen Altertume für sie zu einem Be- 16 Sigmund Freud, „Die Enttäuschung des Krieges“, 1. Teil von „Zeitgemäßes über Krieg und Tod“ (1915), in: Freud-Studienausgabe, Bd. IX, Frankfurt a.M. 1974, S. 33-48. Rationalität und Toleranz in kulturellen Konflikten 85 griffe verschmelzen durften“ (S. 36). Verständnis für die Gemeinsamkeiten und Toleranz für die Verschiedenheiten – und beide, Gemeinsamkeiten und Verschiedenheiten, kommen ja immer nur gemeinsam vor – sollten prägend für den Umgang der Kulturvölker miteinander geworden sein. Und fast klingt es wie eine Utopie, wenn Freud die von Rationalität und Toleranz geprägte Vorstellung des „Kulturweltbürgers“ seiner Zeit wie folgt charakterisiert: „Vertrauend auf diese Einigung der Kulturvölker haben ungezählte Men- schen ihren Wohnort in der Heimat gegen den Aufenthalt in der Fremde eingetauscht und ihre Existenz an die Verkehrsbeziehungen zwischen den befreundeten Völkern geknüpft. Wen aber die Not des Lebens nicht ständig an die nämliche Stelle bannte, der konnte sich aus allen Vorzügen und Rei- zen der Kulturländer ein neues größeres Vaterland zusammensetzen, in dem er sich ungehemmt und unverdächtigt erging. Er genoß so das blaue und das graue Meer, die Schönheit der Schneeberge und die der grünen Wiesen- flächen, den Zauber des nordischen Waldes und die Pracht der südlichen Vegetation, die Stimmung der Landschaften, auf denen große historische Er- innerungen ruhen, und die Stille der unberührten Natur. Dies neue Vaterland war für ihn auch ein Museum, erfüllt mit allen Schätzen, welche die Künst- ler der Kulturmenschheit seit vielen Jahrhunderten geschaffen und hinter- lassen hatten. Während er von einem Saale dieses Museums in einen andern wanderte, konnte er in parteiloser Anerkennung feststellen, was für verschie- dene Typen von Vollkommenheit Blutmischung, Geschichte und die Eigen- art der Mutter Erde an seinen weiteren Kompatrioten ausgebildet hatte. [...] Unter den großen Denkern, Dichtern, Künstlern aller Nationen hatte er die ausgewählt, denen er das Beste zu schulden vermeinte, was ihm an Lebens- genuß und Lebensverständnis zugänglich geworden war [...]. Keiner von diesen Großen war ihm darum fremd erschienen, weil er in einer anderen Sprache geredet hatte [...] und niemals warf er sich dabei vor, abtrünnig geworden zu sein der eigenen Nation und der geliebten Muttersprache.“ (S. 37) Dem Kulturweltbürger, den Freud beschreibt, wird die Welt zum Vater- land, die Vielheit und Verschiedenheit der Kulturen zu einer Bereicherung und Erhöhung an Lebensgenuss und Lebensverständnis. Trivialer, aber des- halb nicht unwichtiger ist auch die kulturelle Vielfalt im Bereich des Kuli- narischen. Wer heute z. B. in Deutschland ein Restaurant besuchen will, der hat die Qual der Wahl. Selbst in den kleinsten Städten gibt es inzwischen eine Vielzahl von Möglichkeiten zu einem gastronomischen Kulturvergleich. Man hat die Wahl zwischen den unterschiedlichsten Küchen der Welt: italienisch, spanisch, griechisch, chinesisch, türkisch, mexikanisch, indisch, McDonalds, französisch, thailändisch, um nur die verbreitetsten zu nennen. Fremdlän- dische Küche wirkt als Antidoton gegen Fremdenfeindlichkeit: Wenn sogar die Liebe durch den Magen gehen kann, warum dann nicht auch die allge- meine Völkerverständigung? Was wir kulinarisch schätzen, das sind gerade die kulturellen Besonderheiten, nicht die internationale Monokultur. Es sind Heinz Eidam86 die Unterschiede, welche die spezifischen Reize der verschiedenen Kultur- länder ausmachen. Doch kehren wir zu Freud und seinem Erschrecken über den Ausbruch von Irrationalität und Intoleranz im Herzen der Kulturvölker zurück. Freud beschreibt die Eigenschaften seines Kulturweltbürgers wie etwas Verlorenes in der Vergangenheitsform. Das epische Präteritum wird elegisch. Denn für ihn ist es gerade die Vorstellung eines neuen, größeren Vaterlandes, eines Vaterlandes der unterschiedlichen Kulturen und Muttersprachen, die mit dem Ersten Weltkrieg zusammengebrochen ist. Völker, die voneinander hätten profitieren, von einander hätten lernen, ihren Lebensgenuss so vergrößern und ihr Lebensverständnis wechselseitig hätten vertiefen können, stehen sich nun mit blindem Hass auf dem Schlachtfeld gegenüber und vernichten sich hemmungslos gegenseitig. „So mag der Kulturweltbürger“, den Freud „ein- geführt“ hatte, „ratlos dastehen in der ihm fremdgewordenen Welt, sein gro- ßes Vaterland zerfallen, die gemeinsamen Besitztümer verwüstet, die Mit- bürger entzweit und erniedrigt“ (S. 40). Seiner Enttäuschung liegt Freud zufolge Zweierlei zugrunde: „die geringe Sittlichkeit der Staaten nach außen, die sich nach innen als die Wächter der sittlichen Normen gebärden, und die Brutalität im Benehmen der Einzelnen, denen man als Teilnehmer an der höchsten menschlichen Kultur ähnliches nicht zugetraut hätte“ (S. 40). Was Freud besonders irritiert, und nicht nur ihn, später werden auch Hork- heimer und Adorno diesem Phänomen der Dialektik der Aufklärung nach- gehen, das ist die nicht oder nicht mehr für möglich gehaltene Form der Regression, das Zurücksinken der Kulturvölker auf barbarische Verhaltens- muster, als hätte es eine Kulturentwicklung nie gegeben. Was Freud bei un- seren „Weltmitbürgern“ so sehr enttäuscht und zugleich erschreckt hat, das war „das so schmerzlich empfundene Herabsinken von ihrer ethischen Höhe“. „Ich meine“, so Freud, „die Einsichtslosigkeit, die sich bei den besten Köp- fen zeigt, ihre Verstocktheit, Unzugänglichkeit gegen die eindringlichsten Argumente, ihre kritiklose Leichtgläubigkeit für die anfechtbarsten Behaup- tungen.“ (S. 46) Selbst die Wissenschaft habe „ihre leidenschaftslose Unpar- teilichkeit verloren“, und ihre nur noch vaterländisch denkenden Vertreter „suchen ihr Waffen zu entnehmen, um einen Beitrag zur Bekämpfung des Feindes zu leisten“: „Der Anthropologe muß den Gegner für minderwertig und degeneriert erklären“ und „der Psychiater die Diagnose seiner Geistes- und Seelenstörung verkünden.“ (S. 35) Was Freud zutiefst beunruhigt, ist die Möglichkeit der Unterordnung von Verstand und vernünftigem Willen, von Rationalität im weitesten Sinne, unter blinde Affekte, aggressive Leidenschaf- ten und gefährliche Ressentiments. Gegenüber starken „affektiven Interessen“ werden logische Argumente ebenso ohnmächtig wie das – aus solchen Er- fahrungen geborene – Gebot der Toleranz. Toleranz wird dem bornierten Nationalstolz geopfert und Wissenschaft zum Gehilfen der narzisstischen Triebstruktur degradiert. Das „Streiten mit Gründen“ wird in der von Affek- ten beherrschten „Welt der Interessen“ unfruchtbar, der Zwang des besseren Rationalität und Toleranz in kulturellen Konflikten 87 Argumentes zwingt nicht mehr. Die zivilisierte, durch Vernunft bestimmte Welt scheint auf dem Kopf zu stehen und selbst „die scharfsinnigsten Men- schen“ benehmen sich „plötzlich einsichtslos wie Schwachsinnige“. Die Menschen verhalten sich nicht mehr rational, sondern sie „bedienen sich höchstens der Interessen, um die Leidenschaften zu rationalisieren“, d. h. sie schieben Interessen oder rationale Gründe nur vor, „um die Befriedigung ihrer Leidenschaften begründen zu können“ (S. 47). Das erste Opfer dieser Rationalisierung des Irrationalen ist die Toleranz. Duldsamkeit wird zur Schwäche, Fanatismus17 zur Tugend erklärt. Wie es zu dieser Verkehrung und Pervertierung der Kulturmenschen, denen man diesen Rückfall auf vorzivilisatorische Entwicklungsstufen nicht mehr zutraute, hatte kommen können, das ist die Freud umtreibende Frage. Dass die Völker trotz allem Austausch und aller Gemeinsamkeiten „einan- der eigentlich geringschätzen“, sich „hassen, verabscheuen“, und zwar nicht nur in Kriegs-, sondern „auch in Friedenszeiten, und jede Nation die an- dere“, das ist für Freud durchaus „rätselhaft“ (S. 47). Es sei in diesem Falle „geradeso, als ob sich alle sittlichen Erwerbungen der Einzelnen auslösch- ten, wenn man eine Mehrheit oder gar Millionen Menschen zusammennimmt und nur die primitivsten, ältesten und rohesten seelischen Einstellungen übrig- blieben“ (S. 47 f.). Der Weltkulturbürger, den Freud retrospektiv-projektiv beschrieben hatte, war ein Wunschbild, eine „Illusion“ (S. 40), die sich nun, angesichts der Realität des Krieges, als Täuschung offenbart. Der von Ratio- nalität und Toleranz geprägte Kulturbürger war das Traumbild einer Kultur, die nicht halten konnte, was sie weltbürgerlich versprochen hatte. Was Freud zufolge allein bleibt, ist die Hoffnung, dass an diesen „bedauerlichen Verhält- nissen [...] vielleicht erst späte Entwicklungen etwas ändern können“ (S. 48). Siebzehn Jahre später, im Juli 1932, wandte sich Albert Einstein brief- lich an Freud mit der Frage, ob es denn einen Weg gebe, „die Menschen von dem Verhängnis des Krieges zu befreien“. Freud hatte in der Zwischenzeit über die Enttäuschung und das Unbehagen in der Kultur sowie über das, was jenseits des Lustprinzips liegt, nachgedacht und geht unterdessen von einem eigenständigen, dem libidinösen Lustprinzip entgegengesetzten Destruk- tionstrieb im Menschen aus. Freud bezweifelt in seiner Antwort18 an Ein- stein, dass es möglich sei, „die aggressiven Neigungen der Menschen abschaf- fen zu wollen“, denn das sei eine Illusion, vielmehr könne es nur darum gehen, „die menschliche Aggressionsneigung“ wenigstens „so weit abzulen- ken, daß sie nicht ihren Ausdruck im Kriege finden“ (S. 283) müsse. Ebenso wirke das, was unter den Menschen Gefühlsbindungen herstelle, dem Krieg entgegen. Eine Art von Gefühlsbindung sei die, welche durch Identifizie- 17 Vgl. Victor Klemperer, LTI (Lingua Tertii Imperii). Notizbuch eines Philologen, Leip- zig 1996, S. 77-83. 18 Sigmund Freud, „Warum Krieg“ (1933 [1932], in: Freud-Studienausgabe, Bd. IX, S. 271-286. Heinz Eidam88 rung entstehe. Alles, so Freud, was „bedeutsame Gemeinsamkeiten“ unter den Menschen herstelle oder aufweise, rufe solche „Gemeingefühle“ (S. 283) hervor. Das scheint trivial, ist aber gleichwohl enorm wichtig. Als z. B. 1971 die Apollo 13 Mission zu scheitern drohte, wurde weltweit und mit allen Göttern auf eine glückliche Heimkehr der drei amerikanischen Astro- nauten gehofft. In ihrer inkunablen Notlage wurden die drei Pechvögel zu Repräsentanten der Menschheit und der Hoffnungen der sich ihrer gemein- samen sublunaren Existenz bewusst werdenden Erdbewohner. Vor einiger Zeit haben englische Rettungstaucher die Besatzung eines verunglückten russischen Unterseebootes wieder an die Wasseroberfläche zurückholen können. Jeder war erleichtert, nicht nur die Angehörigen. Zwanzig Jahre früher hätte der Kalte Krieg die rettende Hilfeleistung verhindert und die Matrosen wären elend erstickt. Vor einigen Jahrzehnten wäre es noch un- denkbar – d. h. denkbar schon, aber nicht machbar – gewesen, dass der in- zwischen pensionierte Gerald Asamoah, ein deutscher Schwarzer, das Trikot der deutschen Fußballnationalmannschaft trägt, selbst wenn man seine Künste noch so dringend gebraucht hätte. Dass heute Afrikaner und Südamerikaner, Koreaner und Österreicher in europäischen Fußballclubs ihr Geld verdienen, hat wahrscheinlich mehr zur allgemeinen Toleranz und Völkerverständigung beigetragen als hundert philosophische und sozialpsychologische Abhand- lungen zusammen, die doch niemand liest. Es mag bessere, politisch und sozial wichtigere Beispiele geben, aber solche, von „bedeutsamen Gemeinsamkeiten“ hervorgerufenen „Gemein- gefühle“ gehören zu der Art von Gefühlsbindung, von der Freud in seinem Brief an Einstein spricht. Bedeutsam sind Gemeinsamkeiten, wenn sie – not- falls in Notlagen – als das gegenüber allen Differenzen Primäre sich er- weisen. Menschen sind alle verschieden, im Grunde aber, nämlich als Men- schen, alle gleich, und ohne die Anerkennung ihrer wesentlichen Gleichheit wird es keine Toleranz gegenüber ihren unendlichen Verschiedenen geben können. Repressive Formen der Identifizierung erzeugen soziale Angst und Aggressionen, die dann durch Feindbilder kanalisiert und abreagiert werden. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie den ihnen immanenten Zwang nach außen wenden. Weil man es sich selbst nicht gestattet, anders sein und mit Anderen sich identifizieren zu können, wird alles, was anders ist, zum Feind. Weil eine differenzierte Selbstwahrnehmung nicht möglich ist, muss auch das Fremde als bedrohlich fixiert, die narzisstische Differenz als un- überwindlich angesehen werden. Und wenn Menschen daran gehindert wer- den, Gemeinsamkeiten überhaupt noch und als solche auch erfahren und wahrnehmen zu können, dann werden sie auch keine Gemeingefühle und komplementär dazu keine Neugierde und Toleranz für ihre Verschiedenhei- ten entwickeln können. Doch Freud erwähnt noch eine andere Art von Gefühlsbindung. Diese an- dere Art sind die libidinösen, im weitesten Sinne erotischen Gefühlsbin- dungen, nämlich „Beziehungen wie zu einem Liebesobjekt, wenn auch ohne Rationalität und Toleranz in kulturellen Konflikten 89 sexuelle Ziele“ (S. 283). Was Freud damit meint, das sei das Gleiche, was auch die Religion mit dem Gebot der Nächstenliebe fordere. Dieses Gebot der Nächstenliebe steht bereits im 3. Buch Mose – 19. Kapitel, Vers 18 – und ist insofern für drei Weltreligionen (Judentum, Christentum und Islam) von besonderer Relevanz. Gleichwohl hat es mit diesem Gebot seine Schwierigkeit, denn es sei, so Freud, zwar „leicht gefordert, aber schwer zu erfüllen“ (S 283). Und Freud selbst ist diesem Gebot gegenüber skeptischer, als er es Einstein gegenüber zugesteht. Denn erst zwei Jahre zuvor – 1930 – hatte er in seiner Schrift über Das Unbehagen in der Kultur19 das Gebot der Nächstenliebe einer genaueren Analyse unterzogen. Darauf will ich abschlie- ßend etwas näher eingehen. Freud beginnt seine Analyse, indem er sich dieser Idealforderung in naiver Weise nähert, nämlich so tut, als hätte er noch nie zuvor von ihr gehört. Das ist natürlich eine, nebenbei bemerkt, pseudonaive Einstellung, die sich – und das ist an ihr das Problematische – zugleich mit einem höheren Erkennt- nisanspruch verbindet. Das – diese methodologische Finte analytisch reflek- tierter Pseudonaivität – lasse ich hier auf sich beruhen. Freud analysiert nun die Forderung der Nächstenliebe wie folgt: „Eine der sogenannten Idealforderungen der Kulturgesellschaft [...] lau- tet: ‚Du sollst den Nächsten lieben wie dich selbst. [...] Wir wollen uns naiv zu ihr einstellen, als hörten wir von ihr zum ersten Male. Dann können wir ein Gefühl von Überraschung und Befremden nicht unterdrücken. Warum sollen wir das? Was soll es uns helfen? Vor allem aber, wie bringen wir das zustande? Wie wird es uns möglich? Meine Liebe ist etwas mir Wertvolles, das ich nicht ohne Rechenschaft verwerfen darf. Sie legt mir Pflichten auf, die ich mit Opfern zu erfüllen bereit sein muß. Wenn ich einen anderen liebe, muß er es auf irgendeine Art verdienen. [...] Er verdient es, wenn er mir in wichtigen Stücken so ähnlich ist, daß ich in ihm mich selbst lieben kann; er verdient es, wenn er so viel vollkommener ist als ich, daß ich mein Ideal von meiner eigenen Person in ihm lieben kann; ich muss ihn lieben, wenn er der Sohn meines Freundes ist, denn der Schmerz des Freundes, wenn ihm Leid zustößt, wäre auch mein Schmerz, ich müßte ihn teilen.“ (S. 238) Zunächst beschreibt Freud – in naiver Einstellung – die Nächstenliebe mit Begriffen wie Rechenschaft, Pflicht und Opfer, Wert und Verdienst. Das ist insofern eine in der Tat naive Einstellung, weil sie Liebesbeziehungen als eine Form der Verbindlichkeit begreift, die nach einer Art von Wert- und Tauschlogik funktioniert, auch wenn von jeglichem „Nutzen“, den der an- dere mir bringen kann, abgesehen werden soll. Liebe ist hier Verdienst: Der andere muss sich meine Liebe erst verdienen, er kann sie sich aber nur dann verdienen, wenn er mir selbst auch ähnlich ist. Meinen Nächsten so wie mich selbst zu lieben, das würde dann bedeuten: So, wie ich mich selbst liebe, 19 Sigmund Freud, „Das Unbehagen in der Kultur“ (1930 [1929]), in: Freud-Studien- ausgabe, Bd. IX, S. 191-270. Heinz Eidam90 kann ich auch den anderen lieben, was ich an mir – idealiter – liebe, kann ich auch an meinem Nächsten lieben. Ich liebe ihn insofern also nur und nur auch nur insofern, als er mir gleicht. Die Aufforderung, Liebe deinen Nächs- ten wie dich selbst, würde also, so verstanden, in dieser Form bedeuten, im Nächsten eigentlich nicht ihn, sondern – idealiter – nur mich selbst zu lieben. Sollte dem so sein, sollte dieses Gebot wirklich so gemeint sein, so würde das Gebot der Nächstenliebe nichts anderes als eine idealisierte Erweiterungsform der Selbstliebe darstellen und als Aufforderung zu etwas, was jeder ohnehin tut, sofern jeder sich selbst der Nächste ist, im Grunde überflüssig sein. Doch hören wir weiter Freud: „Aber wenn er [der Nächste, Andere] mir fremd ist und mich durch keinen eigenen Wert, keine bereits erworbene Bedeutung für mein Gefühls- leben anziehen kann, wird es mir schwer ihn zu lieben. Ich tue sogar unrecht damit, denn meine Liebe wird von all den Meinen als Bevorzugung ge- schätzt; es ist ein Unrecht an ihnen, wenn ich den Fremden ihnen gleich- stelle. Wenn ich ihn aber lieben soll, mit jener Weltliebe, bloß weil er auch ein Wesen dieser Erde ist, wie das Insekt, der Regenwurm, die Ringelnatter, dann wird, fürchte ich, ein geringer Betrag Liebe auf ihn entfallen, unmög- lich so viel als ich nach dem Urteil der Vernunft berechtigt bin, für mich selbst zurückzuhalten. Wozu eine so feierlich auftretende Vorschrift, wenn ihre Erfüllung sich nicht als vernünftig empfehlen kann“? (S. 238 f.) Dies ist nun ein ausgesprochen ökonomisches Argument und genauso naiv. Das menschliche Gefühlsleben ist ja keine Torte, bei der am Ende die Stücke immer kleiner werden und schließlich für niemand mehr etwas übrig- bleibt. Freud argumentiert – freilich immer noch (?) in naiver Einstellung – so, dass das Gebot sich seinem Anspruch nach als unerfüllbar, deshalb als in sich widersprüchlich und daher als unvernünftig sich erweist, kurz: sich selbst ad absurdum führt. Ich bin sicher, man kann das Gebot auch anders interpretieren. Doch kehren wir, ein letztes Mal, zu Freud zurück. „Wenn ich näher zusehe, finde ich noch mehr Schwierigkeiten. Dieser Fremde ist nicht nur im allgemeinen nicht liebenswert, ich muß ehrlich bekennen, er hat mehr Anspruch auf meine Feindseligkeit, sogar auf meinen Haß. Er scheint nicht die mindeste Liebe für mich zu haben, bezeigt mir nicht die geringste Rücksicht. Wenn es ihm einen Nutzen bringt, hat er keine Bedenken, mich zu schädigen [...] Ja, er braucht nicht einmal einen Nutzen davon zu haben; wenn er nur irgendeine Lust damit befriedigen kann, macht er sich nichts daraus, mich zu verspotten, zu beleidigen, zu verleumden, seine Macht an mir zu zeigen, und je hilfloser ich bin, desto sicherer darf ich dieses Benehmen gegen mich von ihm erwarten.“ (S. 239) Freud kommt so zu dem Ergebnis – zu dem in naiver Einstellung ge- wonnenen oder in ihr selbst noch verbleibenden Ergebnis, das ist hier nicht leicht zu entscheiden –, dass das Gebot der Nächstenliebe im Grunde eine unsinnige, weil unvernünftige, weil in sich widersprüchliche und deshalb jeden Menschen offenbar überfordernde Forderung ist. Es sei eine „Zumu- Rationalität und Toleranz in kulturellen Konflikten 91 tung“ und im Grunde mit dem neutestamentarischen „Liebe deine Feinde“ identisch. Und das laufe, alles in allem, auf eine Absurdität hinaus: „Credo quia absurdum“ (S. 240). Hinter alldem stehe, so resümiert Freud, ein „gern verleugnetes Stück Wirklichkeit“, dass nämlich „der Mensch nicht ein sanf- tes, liebebedürftiges Wesen“ sei, sondern dass man „zu seinen Triebregungen auch einen mächtigen Anteil von Aggressionsneigungen rechnen“ (S. 240) dürfe. Der Mensch sei kein sanftmütiges und liebebedürftiges Wesen, son- dern eine „wilde Bestie, der die Schonung der eigenen Art fremd ist“. Der Mensch ist, wie schon nach Hobbes, so auch bei Freud, des Menschen Wolf: „Homo homini lupus“. Und wer, so Freuds rhetorische Frage, habe „nach allen Erfahrungen des Lebens und der Geschichte den Mut, diesen Satz zu bestreiten“ (S. 240)? Das Idealgebot der Nächsten- oder gar der Feindes- liebe könne sich allein dadurch rechtfertigen, dass nichts anderes der ur- sprünglichen menschlichen Natur so sehr zuwiderlaufe, und die Aufgabe der Kultur sei es daher, „alles auf[zu]bieten, um den Aggressionstrieben des Menschen Schranken zu setzen“ (S. 241). Denn jeder könne „erfahren, wie sehr ihm das Leben durch deren Übelwollen erschwert und schmerzhaft ge- macht“ werde, so dass schließlich „jeder von uns“ dahin komme, „die Er- wartungen, die er in seiner Jugend an seine Mitmenschen geknüpft“ habe, „als Illusion fallenzulassen“ (S. 241). Freuds auf den Destruktionsstrieb zie- lende Argumentation ist ein pseudonaiv-rhetorisches Kunststück, aber, und das ist das hier Entscheidende, mit einem aus Erfahrung seiner Zeit gespeis- ten fundamentum in re, und das ist die Maßlosigkeit der Enttäuschung. Baruch de Spinoza, der 1632 in Amsterdam geborene Sohn eingewand- erter Juden aus Portugal, hatte in seiner Ethik die Gegenthese zu Hobbes vertreten. Denn „nach den Gesetzen seiner Natur zu handeln“, das hieß für Spinoza nicht, den Aggressionen freien Lauf zu lassen, sondern „nach der Leitung der Vernunft zu leben“. Selbst wenn die Menschen „meist neidisch und einander zur Last sind“, so könnten gleichwohl auch die größten Skep- tiker „die Erfahrung machen, dass die Menschen durch gegenseitige Hülfe- leistung sich das, was sie bedürfen, viel leichter verschaffen und nur durch vereinte Kräfte die Gefahren, die ihnen überall drohen, vermeiden können“. Deshalb gilt für Spinoza: „hominem homini Deum esse“ – „ein Mensch ist dem Andern ein Gott“.20 Was der Mensch dem Menschen sein kann, das ist vielleicht gerade deshalb, weil er ein Mensch ist, nicht vorherbestimmt. Ob der Mensch des Menschen Wolf oder Gott ist, das sind die extremen Alter- nativen. Offenbar kann er beides sein. Man kann das eine (mit Freud und Kant) schlecht leugnen und wird gleichwohl das andere (mit Kant und Spinoza) nicht als bloße Illusion aufgeben wollen. Der Mensch ist, nach der klassischen Definition, ein eigentümliches Zwitterwesen, ein animal ratio- nale. Es ist ebenso dazu in der Lage, seine Vernunft in den Dienst seiner Triebe und feindseligen Gesinnungen zu stellen wie auch seine Triebe und 20 Baruch de Spinoza, Ethik, in: Werke, Bd.2, Darmstadt 1989, S. 431, Lehrsatz 35, Anm. Heinz Eidam92 Aggressionen vernünftigen Überlegungen unterzuordnen. Gleichwohl ist die- ser Antagonismus nicht das Letzte. Jede gelebte Freundschaft ist der gültige empirische Gegenbeweis einer apriorisch behaupteten Unvereinbarkeit von Pflicht und Neigung. Dieser Beweis aber muss, und kann nur, gelebt wer- den. Wenn es um Toleranz der Kulturen, und zwar ebenso nach innen wie nach außen, gehen soll, dann haben wir – wir Erdbewohner im Kollektiv- singular – zur Vernunft keine Alternative. Ohne Toleranz werden wir unsere Konflikte nicht überleben. Pluralität braucht Toleranz, und Toleranz das Ver- ständnis für Gemeinsamkeiten. 3. Thesen über Toleranz 1. Toleranz ist – im Sinne Kants – eine Idee und ein Gebot der Vernunft. Auf der kleinen Kugelfläche unserer großen weiten Welt miteinander auszu- kommen ist nicht nur eine empirische Notwendigkeit, sondern zugleich eine apriorisch gebotene moralische Herausforderung. 2. Wir sind viele und wir sind alle verschieden. Das Menschengeschlecht ist die Einheit einer bunten Mannigfaltigkeit, und nur weil das so ist, kann sich in ihm auch der ganze Reichtum seiner natürlichen Anlagen und kulturellen Verschiedenheiten entfalten. Eine emanzipierte Gesellschaft wäre, wie es Adorno einmal formuliert hat, „kein Einheitsstaat, sondern die Verwirkli- chung des Allgemeinen in der Versöhnung der Differenzen“. Eine wirklich tolerante Gesellschaft wäre dementsprechend eine solche, in der man, „ohne Angst verschieden sein kann“.21 3. Toleranz und Unterdrückung schließen sich gegenseitig aus. In der Ge- schichte des Toleranzbegriffs mögen immer auch pragmatische sowie macht- politische Aspekte eine Rolle gespielt haben. So konnte John Locke etwa religiöse Toleranz einfordern und gleichzeitig noch die Sklaverei befür- worten. Wir leben heute in einem postkolonialen Zeitalter, auch wenn viele Völker und Staaten dieser Welt an den Nachwirkungen kolonialer Inhospita- lität und dem herrschenden ökonomischen Imperialismus noch immer zu leiden haben. Die beschämende Geschichte der Intoleranz darf nicht ver- drängt werden, wenn sie überwunden werden soll. 4. Völker und Staaten können nach außen nicht tolerant sein, wenn sie es nicht zugleich auch nach innen sind. So ist die von konservativen und re- aktionären Gruppen immer wieder angestachelte Angst vor Überfremdung 21 Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt a.M. 1983, Nr. 66: „Melange“, S. 130. Rationalität und Toleranz in kulturellen Konflikten 93 in den meisten, wahrscheinlich sogar in allen Fällen der Versuch, nicht un- begründete Sozialängste gezielt zu steuern und ideologisch zu missbrauchen. Deshalb kann die Forderung nach Toleranz von der Forderung nach sozialer und ökonomischer Gerechtigkeit nicht getrennt werden. 5. Ohne soziale und ökonomische Gerechtigkeit wird es keinen Frieden und ohne Frieden der Völker auch keine Toleranz geben. Das Problem ist nicht die Vielfalt der Kulturen, sondern die macht- und wirtschaftspolitische In- strumentalisierung der kulturellen Unterschiede zu dem Zweck, die Ver- schiedenheit der Menschen zur Herrschaft über sie zu missbrauchen und das Allgemeinwohl partikularen Eigeninteressen zu opfern. 6. Die Gleichheit der Menschen erweist sich nicht zuletzt darin, dass jeder Mensch, gleich welcher Kultur, Hautfarbe, Religion oder Staatsangehörig- keit, verhungert, wenn er nichts mehr zu essen hat. Der Kampf gegen Hun- ger und soziale Ungerechtigkeit muss – nicht nur in Brasilien, sondern welt- weit – gewonnen werden, wenn Toleranz eine Chance haben soll. 7. Das Fremde war und ist ebenso der Ort der Sehnsucht wie der Angst. Es ist das Verdienst der Freudschen Theorie, auf die kulturelle Dimension der Triebstrukturen aufmerksam gemacht zu haben, in der affektive Bindungen eine wesentliche Rolle spielen. Die Liebe freilich ist, Kant zufolge, „eine Sache der Empfindung“ und „nicht des Wollens“. Ich kann also „nicht lie- ben, weil ich will“, „noch weniger aber, weil ich soll“, und niemand kann „zur Liebe genötigt werden“. Eine „Pflicht zu lieben“ sei deshalb „ein Un- ding“. So aber sei das Gebot der Nächstenliebe auch nicht zu verstehen. Das „Wohlwollen (amor benevolentiae) als ein Tun“ kann durchaus eine Pflicht sein: „anderen Menschen nach unserem Vermögen wohlzutun ist Pflicht, man mag sie lieben oder nicht“.22 8. Toleranz beginnt im Kopf, sie ist eine Sache des Bewusstseins. „Toleranz ist die Aufgeschlossenheit in Person, d. h. offen für andere sein zu können.“ (A. E.) Aufgeschlossenheit aber meint das Gleiche wie die Fähigkeit, Erfahrungen überhaupt machen zu können, und ist daher eine zentrale Frage von Erziehung und Bildung. 9. Die Wurzeln der Intoleranz liegen dagegen in der nicht nur trotz, sondern vielleicht sogar aufgrund der Massenmedien sich vergrößernden Erfahrungs- armut und damit der Unmöglichkeit, sich auf Anderes, Fremdes überhaupt noch ernsthaft einlassen zu können oder zu wollen. Wer meint, immer schon alles oder doch genug über sich selbst wie über andere zu wissen, der wird 22 Immanuel Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, in: Werke, Bd. VIII (Die Metaphysik der Sitten), A 39 f.: „Von der Menschenliebe“. Heinz Eidam94 auch nichts mehr dazulernen. Wir können aber nur dann voneinander lernen, wenn wir unsere kulturelle Vielfalt in der Form unterschiedlicher Lebens- weisen bewahren. 10. Ohne Verständnis für unsere Gemeinsamkeiten wird es auch keine To- leranz für unsere Verschiedenheiten geben und umgekehrt. Nur durch die Erfahrung fremder Kulturen lässt sich der kulturelle Eigendünkel überwin- den, nur durch die lebendige Erfahrung mit Anderen können sich auch den amor benevolentiae ergänzende Gefühlsbindungen einstellen. Wohlwollen (aus Verpflichtung dem Nächsten gegenüber) und Gefühlsbindung (aus Neigung zu ihm) schließen sich keineswegs aus, sondern ergänzen sich solidarisch. Joseph Bien Rousseau and the Concept of Legitimacy1 Rousseau in the Social Contract is often touted as a thinker who advocates a collectivism in which an overweening system of laws oppresses the individ- ual. Yet, in the Second Discourse he is celebrated as an individualist who advocates that man be liberated from the artificial constraints and dependen- cies characteristic of both culture and political society. This discussion is an attempt to demonstrate the connection between these two views, as well as to determine to what extent they can be reconciled, chiefly by way of ex- amining the notion of legitimacy found in the Social Contract. Rousseau’s individualist position is epitomized by the notion of liberty taken from the Social Contract and implicit in the Second Discourse – being the master of one’s own actions, or having them limited and determined solely by one’s own will. The condition opposite liberty, again from both works, is to be in relations of „private dependent“ towards others, i.e., to have one’s freedom to act arbitrarily and wrongfully limited by the other’s will. In the Social Contract this individualism is reflected in two ways: First, in the legitimate political arrangement each member of political society is to „obey himself alone,“ making legitimacy a function of kinship of the laws to the issue of the individual’s own will. Second, the legitimate political ar- rangement is to prevent or excise all relations of „private dependence“ in social relations, apart from the exercise of authority. Considering only the notion of political legitimacy, the political ar- rangement, even admitting the possibility of some form of majority rule, must reflect a great deal of unanimity about what the common good of the society is. A central problem in Rousseau’s political philosophy, then, espe- cially in the Social Contract, is to realize the sort of unanimity or a „social bond,“ which could embody this notion of legitimacy, and hence one aspect of the individualist position as well. The collectivism characterizing the legitimate political arrangement in the Social Contract – a pervasive and extensive rule of law – together with other aspects of the legitimate polity afford sufficient conditions to realize the unanimity or „social bond“ demanded by Rousseau’s notion of political legitimacy. The necessity for that collectivism hinges on a claim made about the non-normative tendencies of „human nature,“ which would tend to in- troduce divisiveness and hence illegitimacy into political society. Collectiv- 1 I came to know Heinz Paetzold in the 1980s when we were participants in the course that was a continuation of the Praxis philosophy gathering that took place each spring in Dubrovnik. We spent many hours discussing the question of legitimacy in terms of various classical political theories. It is with this in mind that I wrote the present essay. Joseph Bien96 ism is hence required to realize the individualist position of Rousseau that is reflected in his notion of political legitimacy taken from the Social Contract. But, in order to thwart or prevent these inimical tendencies of „human nature“ so that they do not express themselves as an illegitimate rule of law, they must also be thwarted apart from the exercise of authority as well. The pervasive and extensive rule of law comes to act, in effect, as a replacement for extensive private relations among men, by means of which they would tend to ill use one another and strip one another of their liberty. A pervasive and extensive rule of law, then, also permits realization of the second aspect of the individualism of the Social Contract – excising or preventing rela- tions of „private dependence“ within the society. Therefore, sufficient con- ditions to realize one aspect of individualism are sufficient conditions for its other form as well. These two aspects of individualism are summed in Rousseau’s notion of civil liberty – having one’s actions limited by the general will. If they are so limited, and if the laws are regarded as legitimate, then the individual is „as free as before,“ since what limits his actions resem- bles the issue of his own will. If actions are limited chiefly by such laws, then they cannot be arbitrarily and wrongfully limited by the wills of others. But does a demonstration that the individualism of the Social Contract requires its collectivism as a means of implementation, demonstrate the same relation between the individualism of the Second Discourse and the collectivism of the former work? The answer is „yes,“ since the artificial constraints and dependencies that Rousseau advocates man be liberated from in the Second Discourse, are relations of economic dependence (as between the rich and poor) and the cultural dependence upon the pursuit of money. This is precisely what the pervasive and extensive rule of law advo- cated in the Social Contract would act to replace, because such activities would otherwise lead mankind into relations of „private dependence“ to- wards one another, through the rule of law as well as apart from it. There- fore, although the parallels between the individualism of the Social Contract and the Second Discourse are not examined in detail, it is concluded that the former work’s collectivism is required as a means of implementation for the latter work’s individualism. The discussion might be divided into four parts. In the first part, Rous- seau’s notion of political legitimacy would be derived. In the second, the formal elements common to all legitimate political arrangements would be shown to be means of embodying this notion of legitimacy. In the third, the notion of legitimacy would be reconciled with majority rule. In the fourth, the kinds of social relations and the political relations imposed upon them required for legitimate governance would have to be demonstrated. Today, however, I can only attempt the first; How Rousseau’s notion of political legitimacy may have been derived. For Rousseau „human nature“ is, in effect, two-sided. On the one hand, it suffers from certain defects that must be remedied by the creation of a Rousseau and the Concept of Legitimacy 97 „common power“ and an authority directing it. On the other hand, certain moral or normative considerations about „human nature“ begin to dictate the form this authority ought to take on. Man’s „nature,“ therefore, both re- quires authority and also requires that this authority be of a certain form. Elucidating these two aspects of „human nature“ and conjoining them leads to the „political problem“ and also to the notion of legitimacy against which the political arrangement can be evaluated. Rousseau understands the arguments for creating authority, i.e., the state and its laws (for the most part) as reasons for exchanging a „natural“ condi- tion for a political one, since the former suffers from defects that only authority can remedy.2 The „natural“ condition is understood as historical, i. e., as actually having preceded the development of political societies in a „hypothetical history of government“3 as well as simply an exercise in imagining what human relations would be like without laws. The „state of nature,“ man’s relations „before“ – or without – laws, is a collective conse- quence of the tendencies of several individual „human natures.“ In the Social Contract the „natural“ condition reveals certain „obstacles“ rendering each man’s strength inadequate to the task of self-preservation.4 Rousseau also claims that a „conflict of private interests,“ which perhaps characterizes the „natural“ condition, makes political society necessary.5 In the Second Discourse the source of the „horrible state of war“6 is the enmity in the heart of each man for all the others, coupled with inequality of wealth and privilege and a lack of accepted limits on the use of power, which together provide a vehicle to express this motivation. Both the rich and poor, claiming the right to one another’s goods, are in constant conflict, and individual strength, or even its limited combinations, cannot afford security for anyone’s life or property.7 Presumably, these are the same „con- flicts“ and „obstacles“ Rousseau adumbrates in the Social Contract. In both 2 In the Social Contract Rousseau seems to undermine the impetus for an „exchange“ when he says that a people capable of governing itself well would not need govern- ment at all; e. g., Jean-Jacques Rousseau, The Social Contract, trans., with an Intro- duction by Maurice Granston (Harmondsworth, Middlesex, England: Penguin Books Ltd.; Penguin Classics, 1968), p. 112 (bk. III, chap. 4). Hereafter, all references to this edition of The Social Contract (abbreviated as „SC“) will give only book and chapter numbers. 3 Jean-Jacques Rousseau, Discourse on the Origin and Foundations of Inequality Among Men (Second Discourse), in The First and Second Discourses, trans. by Roger D. and Judith R. Masters; ed., with an Introduction and Notes by Roger D. Masters (New York: St. Martin’s Press, Inc., 1964), p. 97. Hereafter, all references to the Sec- ond Discourse will be abbreviated as „SD.“ 4 SC, I, 6. 5 SC, II, 1. 6 SD, p. 157. 7 SD, pp. 155-157. Joseph Bien98 texts the state of nature (its last stage in the Second Discourse) is ruinous, because it renders the strength of each inadequate to the task of self- preservation and the goal of security. Authority, therefore, appears to be an almost inevitable aspect of human affairs, since without it, man cannot survive, or can survive only with great difficulty. Hence, men will always tend to establish the state and its laws. Or, to put it another way, authority is as „necessary“ to human experience, as first, the picture of human relations without laws is truthful; second, as the tendency of man to do what is required to ensure his survival, is inevita- ble. Authority is desirable as well, because with it certain goods are attain- able – peace and whatever goods are available when peace reigns. Rousseau does not argue directly, as it were, for the creation of the state and its laws. Instead, he argues that a „collective force“8 directed by that authority is required to protect the lives and goods of each. The contribution of any authority towards the end of peaceableness could therefore be evaluated. The „natural“ condition reveals, second, a Hobbesian diffidence among men towards one another. Relations of justice, loosely understood to mean when one gives another his „due,“ or when one attempts to realize the dic- tates of natural justice towards others, or when one attempts to act out of certain obligations towards them, are impossible in such a condition, be- cause so acting merely leaves one open to likely abuse. In the „natural“ condition, then, the just man would not be prudent nor the prudent man just. Whatever relations of justice there are among men are possible only because the state and its laws can guarantee their reciprocal fulfillment.9 Authority is desirable in so far as it makes possible the pursuit of justice through recipro- cally sanctioned obligations that can overcome the „natural“ or prudential diffidence not to act out of any self-imposed obligations towards others. Presumably, authority’s exercise could be evaluated accordingly as it pro- motes relations of justice among men. Third, the „natural“ condition, as well as most extant political arrange- ments, reveal relations of „private dependence“ among men toward one another.10 One stands in a relation of private dependence toward another when one’s actions are arbitrarily limited by the other’s will. This, for Rous- seau, is the worst evil than can befall one, presumably because it thwarts the „natural“ disposition, potential and duty to be the judge of one’s own self- preservation, i.e., to look out after one’s own interests. Moreover, the condi- tion of the „masters“ is little better, since they in turn become excessively dependent upon the superfluities their „slaves“ enable them to enjoy.11 Hence, each becomes excessively dependent upon the other, wrongly limit- 8 SC, I, 6. 9 SC, II, 6. 10 SC, I, 7. 11 SC, I, 1. Rousseau and the Concept of Legitimacy 99 ing his actions or freedom to act.12 Therefore, authority, or the state and its laws, are desirable in so far as they remove such limitations upon the indi- vidual’s „natural“ freedom. Authority’s exercise could be evaluated by the extent to which it prevents, removes or replaces these detrimental human relations. To summarize, the state and its laws are almost inevitable aspects of human experience, since, in order to survive, men will always tend to estab- lish them. Authority is, moreover, a desirable aspect of human experience, since through it, certain goods become available. The putative „exchange“ underlying political society could thus be evaluated in terms of the benefits accruing to mankind from having political relations imposed upon it.13 Similarly, attaining whatever goods are made available when there is peace- ableness, as well as realizing that condition itself, function as Rousseau’s arguments for political obligation. But the focus on political obligation in this discussion is mainly on the basis of abolishing „private dependence.“ As above, the form that authority ought to take on, is in part dictated by further claims about man’s „nature.“ Rousseau claims that „all legitimate authority among men must be based upon convenants.“14 This is understood initially as a series of arguments against the notion that authority is „natu- ral,“ i.e., is not based upon will and consent, as well as against the accom- panying notion that the „exchange“ producing political society is one that legitimates arbitrary authority, i.e., when a people simply gives up its „natu- ral liberty“ in return for nothing on the part of those who will rule it. (These arguments are an attack on Grotius.) First, man ought not to submit himself to arbitrary authority, i.e., when no quid pro quo is „exchanged“ for „natural“ liberty, because to do so is to act as if he were mad. Man’s „nature,“ that is, tendencies of action that are also normative, is to seek his liberty.15 That some would voluntarily submit to „slavery,“ i.e., when no quid pro quo is offered for liberty, only proves for Rousseau that „nature“ can be subverted and „natural“ tendencies of action wrongfully reversed.16 Second, man ought not to submit himself to arbitrary authority (or rather, authority is illegitimate if it is arbitrary) because this is to violate the „natural“ duty incumbent upon him to seek his own self-preservation. Sub- 12 SD, p. 156. 13 e.g., SC, II, 4. 14 SC, II, 1; II, 4. 15 That present tendencies of action are normative in character is indeed to „move from the ‚is‘ to the ‚ought‘.“ Pointing them out does not, then, add weight to the normative claim (in this case distinguishing madness from sanity), but merely serves to empha- size its priority and, in effect, to restate it. 16 SC, 1, 4. Joseph Bien100 mitting to arbitrary authority carries with it the likelihood of abuse and hence violation of this obligation.17 Third, man ought not to submit to arbitrary authority, because only when he is at liberty are certain peculiarly human goods available to him. Man’s liberty, for Rousseau, is a source of his dignity and worth, because through it, actions can take on a „moral significance“ unattainable when he is in thrall to another will. To submit to arbitrary authority thus makes one something less than „human nature“ would admit, which it is wrong, or at least demeaning, for one to do.18 Fourth, man’s „nature,“ again a tendency of action that is at once nor- mative, dictates that he is a competent judge, as well as the sole legitimate one, of the means that conduce to his self-preservation. In other words, he is competent to care for his own needs. Claims about the inherent meanness of most of mankind could be used to argue that arbitrary or despotic authority is the best that man can expect.19 But according to Rousseau, man’s „nature“ does not require a „better nature“ to fulfill his obligation to care for him- self.20 Therefore, authority must in some way reside in individual consent, which not only preserves the individual’s role as a competent judge, but again excludes the legitimacy of arbitrary authority. Thus far, the need for authority has been derived from „human nature,“ as has the demand that authority not be arbitrary, and likewise the demand that the individual ought to remain the judge of his own self-preservation. The „political problem“ can now be examined to see in what way the de- mand for authority and the restrictions upon the quality of its exercise are reflected. The first formulation of the „political problem“ expressed explicitly the demand that authority ought not to be arbitrary, and implicitly the demand for authority itself: „how can he [each man] merge his with others’ [strength and liberty] without putting himself in peril and neglecting the care he owes himself?”21 Yet Rousseau seems to prefer this formulation: „How to find a form of association which will defend the person and goods of each member with the collective force of all and under which each individual, while uniting himself with all the others, obeys no one but himself, and remains as free as before.“22 17 SC, 1, 4. 18 SC, 1, 4. 19 SC, I, 2. 20 The claim that individual men are inherently competent to care for themselves is finally called into question by the necessity for the lawgiver. 21 SC, I, 6. 22 SC, I, 6. Rousseau and the Concept of Legitimacy 101 Three salient features implicit in the second formulation can be offered for Rousseau’s preference of it.23 First, if the individual ought to „obey himself alone,“ even in political society, he would then more obviously be fulfilling his „natural“ obligation, duty and potential to be the judge of his own self-preservation, more so than if he simply did not „neglect the care he owed himself.“ The second salient feature of this formulation is its apparent call for popular sovereignty. That each „obey himself alone,“ even in the confines of political society, is understood to mean that popularly directed government not only fulfills man’s „natural“ obligation, potential and duty, but also could put man out of the reach of arbitrary, and hence illegitimate, govern- ance. If man governs himself, it seems, he could not be abused through the governance of another. There is a third salient feature that the second version of the „political problem“ can be made to express, which is dictated largely by a more prac- tical consideration about the way in which power tends to be exercised. Even popular sovereignty, since it can yield majority tyranny, could also degenerate into arbitrary rule that runs afoul of man’s „nature.“ Therefore, that the individual must „obey himself alone,“ even in political society, is understood to mean that the legitimate political arrangement must also com- prehend the aspect of obedience, as well as the manner of the laws’ forma- tion that popular sovereignty dictates. Any political arrangement therefore, is illegitimate, or its legitimacy is seriously called into question, unless the rule of law it imposes can be judged by almost all individuals in it, as being fair both to themselves and their interests, or as akin to the issue of their own will. Tentatively, it is assumed that kinship of the laws to the individual’s own will is a sufficient condition to render the exercise of authority legitimate.24 Such kinship is termed the central „element“ of legitimacy because it seems to express most adequately and fully the notion that the individual ought to, even in political society, „obey himself alone,“ which is to say that it effectively includes all three salient features of the „political problem’s“ second formulation. The odd – and complex – relationship between the grounds for political obli- gation and the notion of legitimacy do, however, afford a reason to claim that kinship of the laws to the issue of one’s own will, is not „central“ at all. One ought to obey the laws, for Rousseau, chiefly for reasons already hinted at: Through them, relations of „justice,“ or a political morality, can 23 There are further reasons, based on other considerations this formulation expresses, or can be made to express. Only these three are important here. 24 „Kinship“ and „akin“ are used throughout, because they express a judgment of simi- larity or agreeableness to the individual’s aims and will, without tacitly introducing any claims about the nature of the relation of similarity. Joseph Bien102 be imposed; through them, self-preservation and peace is possible; through them, a different and better kind of sociality than that of „private depend- ence“ is made possible. The latter two grounds for political obligation or ends of political asso- ciation are included in the „element“ or notion of legitimacy in two different ways. First, they are included in so far as the system of laws formulated by the lawgiver – and affirmed by the people as „their own“ will – enables them to realize these two ends of political association. Yet the people must be deceived into affirming something as „its own“ will, which it otherwise might not affirm. Therefore, even though public opinion about what is or is not akin to the people’s own will seems the sole determinant of legitimacy, legitimacy is also, unwittingly, made to include the larger considerations of political obligation. Second, the latter two grounds for political obligation are included in the „element“ or notion of legitimacy, in so far as the system of laws which in part creates the people’s beliefs about right and wrong, further enables them, through the continuing exercise of legislative authority in laws they both formulate and affirm, to realize these grounds of political obligation. Again, the determination of legitimacy is made unwittingly to include some consid- eration about the larger ends of political association, since the people pre- sumably remains unaware of the ways in which its opinions, shaped by the lawgiver, help it, over time, reach those ends on its own. Yet from its own perspective, legitimacy seems to be determined solely by kinship of the laws to the issue of its own will. The „element“ of legitimacy is „central,“ then, in so far as public opin- ion about what is or is not akin to the people’s own will, seems to be the sole determinant of legitimacy. Yet this „element“ is not „central“ – and other factors really determine legitimacy – in so far as legitimacy is made unwittingly to include other grounds for political obligation. Gérard Raulet Contemporary political philosophy „after Marx“1 Literature about the death of Marxism covers pages, especially if one adds to it the essays „with Marx beyond Marx“. It is almost a genre of publicis- tics in itself – what journalists call predictable press. Already in the 1970s, the self-proclaimed „new philosophers“ – some of whom have been forgot- ten since then while others keep showing up in the media – took their de- sires for a reality and played the „Marx’s death“ card. Marx is dead Jean- Marie Benoist declared in 1970. For him the „structural revolution“ – the title he gave to another of his books (1975) – had marked an irreversible break up with a theoretical construction, which, according to him, still be- longed to metaphysics. Jean-Marie Benoist – and this is what we’ll remem- ber as the most respectable aspect of his thought – did not stop fighting the „tyranny of the Logos“2, „the irreducible guilt“, as he said, of political phi- losophies which have wanted – since Plato – to establish the power of rea- son and which have borne in themselves the germs of their destruction since their birth. As for André Glucksmann, in The cook and the men-eater (1974), he had the merit – at least at the time – of not sacrificing his criticism of capitalism to his break up from Marxism but he denounced in both the same monster at work: a will of power which manifests itself in modern states under the form of terror. He thus contributed, at the end of the 70s, to a criticism of domination. He too criticizes the „thinking masters“ (Les Maîtres penseurs, Paris, Grasset 1977), while specifying: „When I criticize the Ger- man philosophers – Fichte, Hegel, Marx, Nietzsche – in Les Maîtres pen- seurs, I’m not saying: one reads Hegel, and one builds a concentration camp. One reads Marx and one builds another concentration camp. […] I reproach Marx – and the other German thinking-masters – with having traced a number of intellectual paths: the cult of total and final Revolution, of the State which terrorizes for the community’s sake, of (social) Science, which enables the masses to be guided in spite of themselves.“3 Already riding the horse of fashion at the time, Bernard-Henri Lévy was less delicate in Barbary in a human face (Paris, Grasset 1977). For him, socialism repre- sents the „most serious“ and „the most vulgar“ version of optimism and the most complete encyclopaedia of its lies; it is therefore „reactionary“ for 1 This paper has been presented in 2007 at the course „Social Philosophy“ of the In- teruniversity Centre for postgraduate studies in Dubrovnik. Since Heinz Paetzold has been for so many years one of the co-directors of this course it seemed to me that its publication in the „Gedenkschrift“ might be an appropriate homage. 2 Jean-Marie Benoist, Tyrannie du logos, Paris, Minuit, 1975. 3 André Glucksmann, interview in: L’Express, 18.07.1977. Gérard Raulet104 optimism is an illusion. Socialism has its believers, just as the Church has its own, those who still believe in a meaning of history. One therefore needs to „disqualify the Political, stick to the Provisional, rehabilitate the Ethical […] for fear of sinking into the mirages of semblance“.4 I will not have the cruelty to note that in the name of the „provisional“ intense media activity has widely built on semblance. And as I cannot start here a detailed recon- stitution of the philosophico-political debates of the 1970s, which would imply recalling the French political culture of those years – I did it else- where5 and this is not my purpose here –, I will only remember Lévy’s early option for the ethical. Indeed we will see that in the context that is ours today, debates in political philosophy do focus on the ethical. But before getting to the heart of the matter, a short reminder must be given in order to situate the moment when, once more, the death of Marxism was decreed. The controversies generated in 1997 by the publication di- rected by Stéphane Courtois of the Black book of communism6 are due to the fact that the book has been published in the context of the breakdown of the „achieved socialisms“ and appeared as a definitive settling of accounts, at the cost of an indefensible theoretical weakness as to what it was denounc- ing: totalitarianism. In order to tackle the issue, I will only say this: if the unease provoked by Courtois’s preface is due to his comparison of Nazis crimes with Stalin’s crimes or Pol Pot’s, one will not get away with it by pretending that Marxism invoked the totality of Man and that its totalitari- anism is that of the class which wants to be everything because it is nothing. First, this would mean establishing a distinction among totalitarianisms by adopting their declared ideology and consequently substantiating the falla- cious and widespread thesis that Nazism is an exception, a parenthesis, that it would be the only „totalitarianism“. This would also mean forgetting, as far as bolshevism and Stalinism are concerned, that the so-called „dictator- ship of the proletariat“ – may it have considered itself as provisional or definitive – has precisely never been that of the proletariat but that of a revolutionary elite and then of a nomenklatura. And this would mean re- gressing behind what the contemporaries of Leninism had perfectly seen and against what the Marxists themselves, first Kautsky but also Rosa Luxem- burg, had already warned. 4 Bernard-Henri Lévy, La Barbarie à visage humain, Paris, Grasset, 1977, p. 96. 5 Gérard Raulet, „Disqualifizierung des Marxismus“, in Praxis International, Oxford 1983, vol. 3, no. 2; „The Agony of Marxism and the Victory of the Left“, in Telos, St Louis, 1983, no. 55; Gérard Raulet, Gehemmte Zukunft. Zur gegenwärtigen Krise der Emanzipation, Darmstadt und Neuwied, Luchterhand 1986; Gérard Raulet, Chronique de l’espace public. Utopie et culture politique, 1978-1993, Paris, L’Harmattan, 1994. 6 Stéphane Courtois, Le livre noir du communisme, Paris, Robert Laffont, 1997. Contemporary political philosophy „after Marx“ 105 With all these preliminary remarks, I intend to warn against the conjunctures of the political culture and their exploitation by the media, hence calling for a more precise examination of the political culture in which we live. The great return of moral philosophy The decade that followed the fall down of real socialisms was paradoxically marked by a renewal of political philosophy – but a renewal, which largely assimilated it to moral philosophy. The most innovative trends of „political philosophy“ – like Critical Theory, which was built on the refusal of its assimilation with „sociology“ or with „political sciences“ and which had invented, in an attempt to promote its specificity, the name of „social phi- losophy“ – have in the meanwhile been converted to the ethical mainstream. In order to mark his difference from Luhmann, Habermas took up Karl Otto Apel’s „a priori of the communication community“ and transformed it into a communication ethics. It is on this basis that he engaged into a debate with Rawls on the one hand and with the communitarians on the other hand. Everything took place as if political philosophy had no other choice but to get involved in this general return of the normative. Besides, there is no doubt that political philosophy can’t help but doing so, at least to try to make its own voice heard. First because it intervenes – if it emphasises it – on the ground of its own tradition: the tradition of the rational natural law, which is obviously at the heart of the debate between liberals and communitarians, just as it is at the heart of the „society debates“ on deontology, political ethics, medical ethics, etc. This tradition has always given stakes or even alternatives which are not merely „moral“ or „ethical“, but actually political. Political philosophy, if one can give it an identity which includes all its tradition, both ancient and modern, dwells in the eu zēn. The problem to which political philosophy has been endlessly con- fronted, from its Greek origins up to the recent developments of „globalized politics“, is the constitution of a human community.7 Since Aristotle, this programme forbids the distinction between what morally has to be, the political being and the social being. It rather constitutes the basis on which, concordantly with the mutations of knowledge and of its social and political references, the ancient, modern, and – as we are used to saying nowadays – „post-modern“ variations of the „good life“ have then been produced, which all express the quest of an agreement between the ethical demands and the political forms of their achievement. 7 Cf. Etienne Balibar, „Qu’est-ce que la philosophie politique? Notes pour une topique“, in: Actuel Marx, 28/2000, p. 18. Gérard Raulet106 Then, because the objects and problematics that political philosophy deals with concern the connection between the concrete aspects of individual existence, social existence and political participation, and because it would not miss out, for example when it talks about citizenship or feminism, the radical mutations that affected this connection in the last two or three dec- ades and that precisely result in the fact that the problematics which are specific to political philosophy (violence, safety, political representation of social realities, the will of all and the general will, etc.) are more and more put in terms of either moral philosophy, or legitimization of juridical prac- tices. Political philosophy must face an almost unprecedented conjunction of events and deep mutations going from the long term effects of the ideology related to the events of May 1968 – which has in no way reinforced or re- founded civic commitment – up to the fall down or the discredit of the so- cialist alternatives. As Jean-Jacques Wunenburger notices it8, what testifies to this process is the prominent position, not only in the circles concerned but also in the general episteme of the time, of the questions of „deontol- ogy“, ethics, „bio-ethics“, the reference to human rights – which serves as a palliative to a „scientific“ political practice (if ever that exists), etc. All these phenomena have largely contributed to the conversion of intellectuals to liberal individualism and/or to moralism. And that is precisely why they directly concern political philosophy, for what is in cause is „the emphasis on subjective consciousness, on self-care, to the detriment of public norma- tive representations“9, the decomposition or at least the splitting of collec- tive normativity – be it understood as a foundation or as an expression of the political community. The moral turn of the 1990s and of the beginning of the new century, by reviving the problematic of „the good life“, of the Good and the Fair, there- fore barely shelves political philosophy but on the contrary gives it a re- newed legitimacy. The fall down of „real socialisms“ has restored its com- plete character to the question of the good life and of the political forms of its achievement. The fashion for the words „apolitical“, „depoliticization „, etc. signals a lack and expresses a growing disaffection for politics and a trend to reduce political stakes to stakes internal to the scope of institution- alized politics. In the same way as we could say that it is when there is no religion anymore that a philosophy or religion can develop, the decline of politics gives back, even negatively, a place where political philosophy can be thought. One certainly must require from it to be capable of producing the criticism of politics demanded today. 8 Jean-Jacques Wunenburger, „ La recherche en philosophie morale “, in: La recherche philosophique en France, Rapport de la commission présidée par Pierre Magnard et Yves Charles Zarka, Ministère de l’Education Nationale, de l’Enseignement supérieur et de la Recherche/CNRS 1996, p. 105. 9 Ibid., p. 106. Contemporary political philosophy „after Marx“ 107 Rawls’s liberal juridical fundamentalism attempts to answer this demand. And Rawls is therefore assuredly in our eyes a „contemporary political philosopher“. The same goes for his contradictors in the debate on commu- nitarianism, as well as for Critical Theory in its current developments (which cannot be limited to Habermas only), in so far as these three trends deal with the connection between collective normativity and the political forms of its achievement. But their conclusion in that respect is mitigated. Indeed Rawls faces the „original“ moment of justice, putting together free and equal citizens who, independently from their diverging conceptions of the Good, opt for a common concept of the Fair. He also tries, with the help of his second principle, to include difference into the universality of this concept. But he thereby provides the practice of liberal democracies with the principles they need to justify both the „normal“ existence of inequalities and the pragmatic necessity of corrective measures like affirmative action. As far as Habermas is concerned, he refuses to abstract the theoretical fic- tion, on which Rawls’s first principle lies, from the democratic debate. He objects to Rawls that the a priori construction of fundamental liberal rights relegates the democratic debate to the background and that, at the same time, the citizens can no longer see their own „concern“, their own practical project, but in the best case scenario, only the framework in which they will have to make their claims heard. This objection is important, but the re- introduction of the normative problematic into the political field that it sug- gests remains at the same time dependent on the normative conception of the ethics of the discussion and, if one takes a closer look at the concrete conditions of the latter, on the acknowledgement of the existing functioning of the political debate: organizations or lobbies besiege the State which guarantees the Law. Habermas’s – and by the way Rawls’s – merit dwells in the fact that neither consider that politics can be reduced to the management of social and economical balances; the lack in their conceptions nonetheless lies in their incapacity to free themselves from the acknowledgement of imbalances and that, at the end of the day, their normative renewal of politi- cal philosophy hardly disrupts the subjection of political philosophy to the domination of managing approaches but, under the cloak of „philosophies of the Law“, they inevitably establish it. Limits and aporiae of liberalism. Exploitation and contempt Facts are stubborn. Has there been a change of theoretical paradigm after 1989-90? It undeniably has. Has it invalidated the relevance of the reference to Marxism? As undeniably it has not. It even made it more unavoidable than ever by re-establishing frontlines between capital and labour, which seemed to have lost their clarity in the glorious decades of modernisation. The fall down of socialism has only opened to capitalism internal and exter- Gérard Raulet108 nal spaces of expansion: not only markets but also the possibility to disman- tle social compromises. The ghost of a worldwide re-proletarianization hangs over labour – a re-proletarianization which is justified by its world- wide character. Which is a bit thick: it is as if a car driver who had run over a pedestrian in the street would justify himself by invoking the fact that he’s actually the owner of a car and that a car is potentially able to run over a pedestrian. Globally speaking, there is nothing to be changed in the image that Marx gave to the mode of capitalist production – except that the situation has deteriorated and that contempt has come on top of exploitation – an atomi- sation of the social body, which corresponds to and goes with the methodi- cal destruction of all the achievements of solidarity. The unanimously re- gretted (with crocodile tears) „depoliticisation“ actually points out a re- quirement, which neither the technocratic management processes, nor the liberal and individualistic moral processes seem to be able to meet. The greatest sufferings induced by the neo-liberal modernisation of society, be it suffering at work or most of the forms of deprivation (from one’s rights, job, accommodation, integrity) generated by social disaffiliation, find very rarely their representation in the language of institutionalised politics. On the surface, the forms of the collective protest resemble more the „besiegement“ of the Law by the organizations Habermas and Walzer talk about than the traditional model of political class struggles.10 However, the pyrrhic victory of the liberal model effectively lies on the regression towards a society polarised between „the rich“ and „the poor“, which we had almost forgotten – to be short, on a regression towards the 19th century. Once again now, there are those who participate in the Capital and those who cannot afford to and who are unable to take part in it. Of course the former are no longer ironmasters, but by virtue of a diffusion of the capital that the theore- ticians of revisionism, Bernstein first, had already perfectly identified, the average savers who expect the Stock Exchange and pension funds to guar- antee their pension. They become – by simply defending what they are owed – the forced accomplices of a worldwide social injustice. They are obliged to adopt the leading class’s way of thinking – to which they are led to believe that they belong by forcing them to break away with social soli- darity. Must EuroShuttle shares fall down again and again in order to open their eyes? Should all national riches, on which safety and solidarity were secured, be privatised for them to realise that they have nothing left in their hands but volatile warrants? Beyond the randomness of putting individual safety on the Stock Ex- change, there is what it radically and completely destroys: solidarity. Not solidarity as an individual gesture – the debauchery of „Telethons“ serves as a compensation and is a demonstrative sign of bad conscience as well as an 10 Cf. Raulet, Apologie de la citoyenneté, Paris, Cerf, 1999. Contemporary political philosophy „after Marx“ 109 example of the expressive mode of social interaction which goes together with the dominating performative one. But solidarity as citizenship: the belonging to a national economy in which suppressing a job or delocalising it so that the company can produce dividends it can redistribute to those who participate in its capital (and those ones only) very clearly means suppress- ing an abounding source of national solidarity and at the same time a foun- dation of citizenship. No wonder communitarianisms should develop. Why should we pay for „the others“? For „the Greek“? Let everyone get out of their own mess, and if everyone has to get out of their own mess, no wonder communitarian identities should develop on an infra-national scale. The fallacious abolition of class belongings and references, which ac- companies the socio-economic reality we have just evoked, consequently leads to inversing the logic of social and political modernisation we have known since the 18th century. In the same way as republican constitutions have been inhabited since their beginning by the dynamic of democratisa- tion, popular struggles are struggles for political and economic integration. Potentially, the people have to be absorbed into the People. The same goes for peoples within the Republic. Marcuse had already seen this inversion of the dynamic of social and political modernisation when he noticed in the 1970s that exploitation had spread to „the whole people“ 11 More and more strata of middle classes find themselves under the direct dependence on capital because of the mutation of productive forces, the growing importance of the tertiary sector and the increasing role of intellectual productive forces. Today one must add to his diagnosis the imperative of flexibility, which is at the heart of the new pro- ductive forces and which feeds on their dematerialization and on the fact that they are no longer linked to productions sites – what we call delocalisa- tion. The basis of exploitation is widened but, as Marcuse noticed it, these „objective conditions do not appear as a revolutionary consciousness“.12 He explains this by cultural pauperisation. This diagnosis can certainly be de- veloped by specifying that today, this pauperisation dwells above all in what we can call, along with Benjamin, a loss of experience. The loss of experience, added to the extension of exploitation to the whole „people“, certainly has much to do with the development of popu- lism. The recourse to a fund of supposedly preserved values is used as a defensive withdrawal. It can take various, even extreme forms, from the defence of the so-called national identity to ecology. This nostalgia for a world sheltered from rationalisation is by essence not a- but anti-political. It participates in the depoliticisation of the public sphere. Whereas the latter was the connecting point between the real-life world and rationalisation, its being put offside by the technocraticisation of management and the corol- 11 Herbert Marcuse, Counterrevolution and revolt, Boston, Beacon Press, 1972, p. 15. 12 Ibid., p. 17. Gérard Raulet110 lary phenomenon of privatisation of the public sphere – lobbies besiege administrations and substitute themselves for the legislative power of popu- lar will – consequently leads to the fact that protests have to take other paths than those of the democratic dynamic. Habermas, in The Structural Transformation of the Public Sphere13, showed that a more and more depoliticised form of political publicity had taken over the dynamic of popular representation. I believe one must under- stand the evolution of his reflection in Law and Democracy14 and his impli- cation in the American debate on communitarianism as the consequence of this diagnosis. For Habermas too, democracy does not actually use parlia- mentary representation any longer. The „politische Öffentlichkeit“ has in the meantime taken the form of pressure groups, organizations or others, which „besiege“ the State in order to reach through the lock gate of the Law.15 As a matter of fact, depoliticised publicity is also more and more in the media. We know its superficial manifestations, which must be taken very seriously for they express a whole system of social and political references. The so-called people press talks about „people“, but not just any people: people who symbolize the media coverage of the public sphere: movie stars, golden boys, politicians are put on an equal footing. Berlusconi and Sarkozy have been a decisive step of this radical perversion and destruction of the political public sphere. This is also why a priori fundamentally legitimate claims by pressure groups coming from the reality of the civil society, deprived of involvement in the traditional democratic dynamic, inevitably take a neo-populist form. However shocking this may sound, I must admit that I personally see no structural difference between the Front National members’ claims who cling to a real-life world that has disappeared, and the communitarian claims coming from a lack of integration. In order to „exist“, one must be „in the media“. The only positive aspect that can paradoxically be found in the neo- populist revolts, in the semblance of Jacquerie, which stir the inner-cities as much as the peasant world (two targets for the Front National, and that is not by chance) is the renewal of the „populace“. The media populace is the People and that is why it is so wooed. It is both the weakest and the strong- est link of the „system“. It is obviously out of the question, within the limits of this short paper, to propose a theory of neo-populism. But we can at least note a number of structural characteristics. First, by „neo-populism“, I mean a sort of inverted hegemony, concordantly with the depoliticisation in the background of 13 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Berlin u. Neuwied, Luchterhand 1962. 14 J. Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt/M., Suhrkamp, 1992. 15 Cf. Raulet, Apologie de la citoyenneté, op. cit., p. 105-114. Contemporary political philosophy „after Marx“ 111 which it thrives. Ernesto Laclau considers populism as a moment in the class struggle, as the moment of necessary opening that the self-aware class must achieve in order to polarise the protests of less aware classes.16 Neo- populism is characterised, on the contrary, by the promotion and federation of protests, which do not constitute a real class struggle. While the polarisa- tion the latter aims at must converge in the main direction of the production mode and the social relations, neo-populism only adds up marginalizations. While the former aims at a „direction of history“, the latter plays on the shattering of references. While the former is inscribed in temporality, the latter settles in spatiality. The most obvious manifestation of this is the apt- ness of neo-populism – even if it presents itself as the spokesperson for all sorts of excluded people – not to look for responsibilities at the core of the „system“ but to pass them on even more excluded others: immigration as the source of all evils. In this regard, one must notice that the presence of inte- grated immigrants on the populist parties’ electoral lists (in France the Front National) belongs to this logic: always look for the guilty „outside“ or at the margins, never at the centre. This phenomenon is amplified by the found-again good conscience of neo-liberalism. It is no longer time for radical historical alternatives. Since socialism has collapsed, liberalism does not even need to prove it is a better alternative. It just is. And at the same time all the problems one must still impute to it only appear now as „marginal“ imperfections and slips-up. There is not the least doubt that neo-populism is above all a phenomenon induced by neo-liberalism. But the latter achieves the feat of not being di- rectly accused, except in a fatalistic form. We find again here one of the definitions of populism, meant as a strategy implemented by bourgeois elites in order to avoid an economic and political crisis.17 The conflicts are per- ceived and interpreted in a depoliticised, even individualised, way. The unemployed worker who cannot find a job can only blame himself for it (the French employers’ trade union, the ,MEDEF‘ has negotiated with left as well as with right governments modalities of management of this „civic flaw“). More than ever, justice has an eye on corruption, power abuse, and public funds misappropriations, but this penalisation belongs to a general movement of judicialisation which I denounced in Apology of citizenship. Subjecting deviations to the judgement of the civil code comes back to seeing them as individual turpitudes instead of structural problems. So that the Republican law itself becomes a liberal civil law among a lot of others. But if this tendency has become scandalously obvious (especially under the presidency of Sarkozy in France) what is preoccupying on the opposite 16 Ernesto Laclau, Kapitalismus – Faschismus – Populismus, Berlin, Argument Verlag, 1981. 17 Cf. Gino Germani, Politica y sociedad en un epoca de transicion, Buenos Aires, Editorial Paidôs, 1965. Gérard Raulet112 side is the difficulty to distinguish between the new forms of social struggles and neo-populism. How to trace a neat line between besiegement of the State by particular claims and a populist derivation of democracy? This problem is at the heart of communitarianism. Evidently we cannot consider the ,niches‘ constituted by youth work- schemes, notably as local socio-educational workers, as a success of democ- ratized secondary education and access to higher education. For in this ex- treme example, which too often ,crowns‘ the beginning of a frustrating university career, the candidate for social promotion is sent back to his area, which represents for him the ‚protective womb‘18 and is the only true ‚adap- tive‘ space. In this space anything is possible, but – let us have the courage to say it – within the framework of a ghetto economy. This ghetto economy – let us have the courage to say this as well – is in local politics the way that the republican elevator rids itself of the republican social state’s incapacity to assure equal opportunities for all its citizens. Then let mayors manage as best they can to keep their sensitive areas quiet by creating ,partnerships‘ with the representatives of the areas and the socio-educational protagonists who agree to play the game. Let us also have the courage to say that nothing is clear about the representatives of these partnerships and that teachers, amongst other socio-educational agents intervening in this situation, often find it difficult to situate themselves with respect to the diffuse structures of a ghettoized social reality, the keys to which escape them. Finally, let us have the courage to say that this ghetto-culture, created and financed by the Republic, is also the territory of inner-city fundamentalism. In any case, today the issue of identity has become a myth and, para- doxically, it is relevant only insofar as it enables the thematization of a con- flict at the heart of the host culture. This phenomenon of largely fictitious secondary identity has been analysed in detail by sociologists19, who see the ,cultural division of labour‘20, the ethnically split labour market21, and geo- graphical segregation as so many phenomena whose conjunction leads an ethnic minority to close in upon itself and create a veritable interior colony 18 Stéphane Beaud, 80% au bac… et après? Les enfants de la démocratisation scolaire, Paris, La Découverte, 2002. 19 For an overall view cf. Hartmut Esser, „Ethnische Konflikte und Integration“, in: Caroline Y. Robertson-Wensauer (ed.), Multikulturalität - Interkulturalität? Probleme und Perspektiven der multikuturellen Gesellschaft, Baden-Baden, Nomos Verlagsge- sellschaft, 1993, p. 31-61. 20 Cf. Michael Hechter, „Group Formation and the Cultural Division of Labour“, in: American Journal of Sociology, 1978, p. 293-318. 21 Edna Bonacich, „A Theory of Ethnic Antagonism: The Spilt Labor Market“, in: American Sociological Review, 1972, no. 37, p. 547-559. Contemporary political philosophy „after Marx“ 113 equipped with its own rules for social control22 and aiming to resolve its problems of integration internally.23 This phenomenon of ,ethnic fragmenta- tion‘ of the social body is translated into the emergence of ,communities of fictitious origin‘24, which is to say communities which mobilize the refer- ence to a more or less fictitious origin in response to a situation of depriva- tion, whether in terms of economy, social recognition, or both at once. One need not be particularly aware, sociologically or politically, in order to understand that this is the true reality of multiculturalism and that this reality, even if we are equipped with the most tolerant intentions, is politi- cally, socially, and economically intolerable. As Hans-Joachim Hoffmann- Nowotny rightly asks, can we really accept, within the republican public space, the imposition of a cultural politics which contradicts republican principles? Can we allow within European space – which already has great difficulty in unifying itself – a double (indeed multiple) legislation which depends on whether it is applied to ethnic Europeans or to ethnic minorities within Europe, and in practice assigns different statuses to women or to Polish plumbers, for example? Is it acceptable to vary employment legisla- tion depending on whether it applies to Europeans or immigrant communi- ties (in practical terms: for example, as far as child labour is concerned)?25 The adepts of multiculturalism must give a clear answer to these questions, in a context where the global expansion of capitalism already induces vague impulses to ,relax‘ (or ‚liberalize‘) national social legislation. Just as women and children certainly gain nothing when Europe authorizes night-shifts for women under the pretext of sexual equality and child labour under the pre- text that, in point of fact, it exists in Great Britain, immigrants themselves do not have the least interest in adhering to a multiculturalism which is but the ideology of liberal globalization. Liberal globalization, while in its own way recognizing the rights of the oppressed, systematically rounds down these rights. Equality is reduced to its most formal quintessence – that of the individual shorn of all his rights and replaced in the situation of the original contractor of a new social contract which only recognizes differences in order to treat them as so many individualities to be surpassed. Global liber- alism only recognizes differences so as better to submit them to its yoke. 22 Raymond Breton speaks of „institutional completeness“; cf. „Institutional Complete- ness of Ethnic Communities and the Personal Relations of Immigrants“, in: American Journal of Sociology, 1965, no. 70, p. 193-205. 23 Cf. Georg Elwert, „Probleme der Ausländerintegration. Gesellschaftliche Integration durch Binnenintegration?“, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsycholo- gie, Heft 34, 1982, p. 717-731. 24 „fiktive Abstammunsgemeinschaften“ (H. Esser, „Ethnische Konflikte und Integra- tion“, op. cit., p. 57). 25 Hans-Joachim Hoffman-Nowotny, „Weltimmigration und multikulturelle Gesell- schaft“, in: C. Y. Robertson-Wensauer (ed.), Multikulturalität – Interkulturalität?, op. cit., p. 76. Gérard Raulet114 From the consensus to the recognition: The renewal of a philosophy of History At this point let us return to the diagnosis with which we started: the re- newal of political philosophy under the auspices of a liberal moral philoso- phy. The evolution of the Critical Theory of the Francfort School reflects it too, especially in Habermas’ work but, on the one hand, the question of citizenship is too crucial for his theory of communicative action to allow him to support unrestrictedly Rawls’ liberalism and, on the other hand, a new orientation has taken shape marking the come back of a genuine practi- cal Philosophy of History and which seems to be able to deal with the social implications of globalized liberalism. What radically distinguishes Habermas from liberalism, as much from Rawls as from Walzer, is the demand for a revitalization of the public de- bate, as much in quantity as in quality. Habermas sees the right to equal participation in democratic debate as the fundamental principle of justice. For Habermas, this right precedes even the fundamental liberal rights which constitute the basis of the Rawlsian construction. For democratic debate is not merely a right anchored in these fundamental rights; it actualizes them and it is only through this right that they become effective. This conception assuredly has the merit to rephrase, if not solve, in a dynamic way the ques- tion of the limits of tolerance. For Habermas as well as for Rawls, these limits involve the conceptions of the Good that take the test of being dis- cussed and pass it. Once they have been through the pro et contra, they must, according to Rawls, be recognized as a valid contracting party of „reasonable pluralism“. Thus, the (obviously essential) difference between Rawls and Habermas consists in the latter’s objection to the moment of abstraction by means of which Rawls imagines an original scene bringing together free and equal citizens who, independently of their diverging con- ceptions of the Good, opt for a common concept of the Just. Although this is supposed to be a fiction, Habermas refuses to abstract from democratic debate. Rawls starts from the principle that ideas of the good can be true or false and therefore cannot provide a solid base for a theory of justice. Habermas agrees with this premise for one cannot in fact found a univer- sally valid theory of justice on a ‚world-view‘, even if it is ‚reasonable‘. But he objects that Rawls’s a priori construction of fundamental liberal rights relegates democratic debate to the back seat and that at the same time citi- zens no longer recognize this as ‚their business‘, their practical project, but in the best-case scenario the framework in which they will have to make their claims heard. Schematically: Rawls’s first principle assures agreement on the demand for egalitarian justice. On its own it is quite clearly insufficient and power- less since it is, according to Rawls’s own definition, purely ideal, only con- Contemporary political philosophy „after Marx“ 115 cerning the individual shorn of all his rights and replaced in the situation of the original contractor: The second principle applies the first to real condi- tions, and it is here that the problems begin. For it is also at this point that the dangers of compensatory policies come into play. With respect to these dangers, we must address the same critique to both liberalism and multicul- turalism: they both respond to the demands of liberty and equality estab- lished as law, but no affirmative action, no positive discrimination, measures up to the principle of fraternity and solidarity because it undermines the principle of the republican social state even while using it to the profit of particularist claims. The question is the following: how to produce social dignity (that is to say, citizenship) „without falling into the excess of a communitarian expression which will distance us from the common good and reinforce inequalities“.26 This question does not have a place within liberal conceptions, particu- larly in Rawls’s double-barrelled model, and Walzer only envisages it as the fight of associations for the recognition of minority rights.27 And yet the question implies another dimension than those of formal (egalitarian) justice and (equitable, therefore differential) repartition, something like a ‚third principle‘, which surpasses the typical liberal disjunction of politics and economy. For there cannot be any ‚redistribution‘ of recognition. In concrete terms, only the problematic of social recognition sets up a real theoretical alternative to ‚zoning‘ insofar as it aims at the reconstitution of the demo- cratic space as a space of social and political recognition and not only, as in Anglo-Saxon approaches, as a space of redistribution or, as in the French approach, as a space of mere formal political recognition which is in the facts negated by social conditions. It is in this respect that, amongst the theoretical advances which pres- ently try to surpass the boundaries which have enclosed the reception of Rawls and communitarianism during the last decade of political philosophy, the furrow ploughed by Axel Honneth since Kampf um Anerkennung28 is of considerable importance. For if it approaches the problem of recognition from the normative angle of mainstream moral philosophy, which has taken the place of a political philosophy considered to be discredited by its collu- sion with historicist practical philosophies, nevertheless it reaffirms with no less force the socio-political dimension which was written off in the same stroke. Envisaging the question of social normativity in terms of Sittlichkeit, 26 Jean-Paul Payet, „L’ethnicité et la citoyenneté dans l’espace scolaire“, in: Agnès van Zanten (ed.), L’Ecole. L’état des savoirs, Paris, La Découverte, 2000, p. 395. 27 Cf. Raulet, „Der hochmütige Name der Toleranz“, in: Rolf Koepfer/Burckhard Ducker (ed.), Kritik und Geschichte der Intoleranz, Heidelberg, Synchron, 2000 (p. 249-269). 28 Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Kon- flikte, Frankfurt/M., Suhrkamp, 1992. Gérard Raulet116 that is to say, in terms of the morality of morals29 and therefore the political validity and efficiency of morality, the essays which he has collected in the volume Das Andere der Gerechtigkeit30 bear witness, first of all, to his in- tention to begin from real communicational interactions (an intention of which I can only approve, for, since the publication of the Theory of Com- municative Action, I have been preaching in the desert along the same lines31) and „no longer to conceive the communicational paradigm in the narrow sense of a conception of rational harmony, but in the sense of a conception of the conditions of recognition“.32 As soon as the question is posed in this way, the ‚pathologies of recognition‘ unfold on the theory of communicational action. The value of Honneth’s reflection is undeniably that it does not simply put the finger on the dysfunction of communicational action, but strives to articulate it under the form of a new ‚critical theory of society‘ whose stated ambition is to revive the critical tradition of the Frank- furt Institute for Social Research. This is a courageous ambition in many respects. Indeed, on the one hand, Honneth breaks with both the liberal disjunction of the political and the economic and with Habermas, while overhauling the labour paradigm as the major axis about which actual social experiences and political con- science are organized.33 On the other hand, he does not hesitate to revive issues which I would qualify as Marcusian34 and which today are regarded as out of date, notably by reaffirming that „behind the facade of advanced capitalist integration there may well be hidden a field of moral and practical conflicts in which the old confrontations between classes are reproduced in new forms, socially controlled on one hand, individualized to the extreme on the other“.35 The quest for social recognition (soziale Wertschätzung) allows us to explain some of the reactive and counter-productive phenomena as what nowadays we call the ‚protest vote‘ and of course also the falling back on 29 As it is put, not without reason, in certain translations of Hegel. 30 Axel Honneth, Das Andere der Gerechtigkeit. Aufsätze zur praktischen Philosophie, Frankfurt/M., Suhrkamp, 2000. 31 „Habermas und der philosophische Diskurs der Postmoderne“, in: Gunzelin Schmid- Noerr (ed.): Metamorphosen der Aufklärung, Tübingen, Diskord 1988. „Habermas and the philosophical discourse of postmodernity“, in: Thesis Eleven, Melbourne 1989, no. 23. See also: „Critique de la raison communicationnelle“, in: Rainer Ro- chlitz/Christian Bouchindhomme (ed.): Habermas, la raison, la critique, Paris, Cerf, 1996 (coll. Procope). 32 A. Honneth, Das Andere der Gerechtigkeit, op. cit., p. 103. 33 Ibid., p. 104-5. 34 It is perhaps not by chance that one finds in this passage by Honneth a reference to Barrington Moore, one of the co-authors, with Marcuse, of the Critique of Pure Toler- ance; cf. Honneth, Das Andere der Gerechtigkeit, op. cit., p. 115. 35 Ibid., p. 113. Contemporary political philosophy „after Marx“ 117 gang or ghetto identities.36 Honneth sees here the effect of the growing discrepancy between the representations of law and justice by those who are party to the system and those who are marginalized or rejected outright.37 But the decisive element of these representations is their nature: in distinc- tion from the elaborate representations of justice (including the Rawlsian theory of justice), the „complex of reactive demands for justice“ takes the form of „negative judgments which are not generalized in a positive system of principles of justice“.38 In short, in place of a ‚theory of justice‘, Critical Theory must depart from the ‘consciousness of injustice’ – a consciousness strongly marked by traumata related to the real world and at the same time too closely linked to individual or particular situations to be subsumed in a theoretical approach reposing on the premise of a ‚consistent moral consciousness‘ (the one which in Rawls’s theory is supposed to arise from the choice of inviolable values in action in the fictitious original position of the ‚veil of ignorance‘). „The representations of justice by means of which social groups evaluate and judge a social order can be revealed, in the case of oppressed social strata, rather in the typical feelings of injustice than in normative principles susceptible to a positive formulation.“39 The question to which Honneth’s approach leads is the following: „Of what kind must the moral culture be in order to give victims, the despised and the excluded, the individual strength to articulate their experiences in the democratic public space instead of walling them up in counter- cultures?“40 This way of asking the question, starting from the negative presence of conceptions of justice in the consciousness of the despised and excluded, radicalizes both Rawls and Habermas at once. Honneth brings into doubt the very possibility of bringing experiences and feelings of injustice may come into the democratic debate, both for structural political reasons and for more fundamental reasons, which stem from the very nature of the consciousness of injustice. One reason is that the politico-mediatic order is structured in such a way that it necessarily and immediately limits the chances for feel- ings of social injustice to enter the public political sphere and it is by no means certain that the established sociopolitical or political groupings are apt to echo it.41 Another reason is that the feeling of injustice constitutes a social pathology which is expressed in an infra-discursive register or in a mode which does not have a place in the dominant communicational register. 36 Ibid., p. 108. 37 Ibid., p. 114. 38 Ibid., p. 115. 39 Ibid., p. 118. 40 Ibid., p. 108. 41 Ibid., p. 119. Gérard Raulet118 And yet it is at this point that, objectively speaking, injustice begins: by the fact that there is no follow up – before there is even a question of rights – to the expression of the feeling of injustice, and therefore not at the level of Rawls’s second principle but indeed at the level of the first and/or at the level of the Habermasian postulate of participation in debate. For „if a moral norm can only be considered to be valuable on condition that all persons who may be concerned adhere to it, one must anyway be able to depart from the principle that each person has to the same extent had the opportunity, without constraint, to take position. […] But in this way the possibility of relating the validity of moral norms to a process of discursive training of a will must be linked to the transcendental idea of a discussion free of all domination.“42 And it is at this point that Honneth also, in the essay which gives his work its name, Das Andere der Gerechtigkeit (Justice as Other), must take into account the relevance of Lyotard’s denunciation of the domination, „in our society, of certain kinds of discourse, the first among which is that of the positive right and economic rationality“, the effect of which is that „other kinds of language games are deprived of social articulation on a long-term basis“.43 In these conditions, as Honneth sums it up nicely, political philoso- phy, like Lyotard, finds itself confronted with a dilemma: either to develop an ethics of testimony, entrusting to media other than political debate the task of preserving the victims’ memory, or to open a public debate to lan- guage games which are almost excluded by the structure.44 However, taking difference (disagreement) into account enables us to put the problem of differences back on the political field, whereas the ensu- ing differentialism and affirmative action constitute an economic view of the social and are linked to economic liberalism, as Herbert Marcuse had stressed it as early as 1965 in his Critique of pure tolerance. The stake of this relocation on the political field does not consist in denying the eco- nomic but in outlining the collusion that is taking shape between the liberal economic speech and a bio-ethnicist conception of society – a conception which leads to naturalizing economic inequality. 42 Ibid., p. 141. 43 Ibid., p. 139. 44 Ibid. Hauke Brunkhorst Rechte haben keinen Tauschwert1 Menschenrechtsverletzungen als Problem der Demokratie im Kampf gegen den Terror I Im 13. Jahrhundert wurde im Zuge der Inquisitionsprozesse die Folter ver- rechtlicht. Diese Verrechtlichungsleistung war Teil der großen Rechtsrefor- men des 12. und 13. Jahrhunderts, in denen die Kirche zum ersten modernen Rechtsstaat wurde.2 Damals wurde auch die Folter rechtsstaatlich normiert und ihre Anwendung durch Recht streng begrenzt. Innere Handlungen, Ge- sinnungen und Handlungspläne, Wünsche und Absichten waren bis auf zwei scharf umgrenzte, aber spektakuläre Ausnahmen nicht mehr strafbar, und diese Ausnahmen waren Hochverrat und Ketzerei, die als kriminelle Be- wusstseinszustände verfolgt wurden. Die Folter sollte Fundamentalisten und ‚verstockte‘ Zeugen zur Aussage, ‚verstockte‘ Angeklagte zu einem Geständnis bewegen.3 Denn ohne Ge- ständnis konnte nur verurteilt werden, wer mindestens zwei unabhängige Augenzeugen gegen sich hatte oder einen Zeugen und erdrückende Indizien. Der Einsatz der Folter war bis ins Detail streng normiert, und das unter Folter erpresste Geständnis war nur gültig, wenn es später vor Gericht frei- willig wiederholt wurde.4 1 Heinz Paetzold und ich haben oft tagelang und manchmal bis tief in die Nacht auf den Plätzen und Molen, in den Cafés und Kneipen Dubrovniks und natürlich auch die ganze Zeit in den Seminarräumen des Inter-University Centres diskutiert. Auch den vorliegenden Text habe ich in Dubrovnik vor einigen Jahren vorgetragen und viele Anregungen und Überlegungen von Heinz aufgenommen. Ich habe ihn sehr gemocht. Die Texte, die er jedes Frühjahr in Dubrovnik vorgetragen hat, haben sich mehr und mehr zu einem großen Werk verdichtet. Es ist schrecklich, dass es nicht mehr fertig geworden ist, schrecklicher noch, dass er nicht mehr da ist. 2 Harold Berman, Recht und Revolution. Die Bildung der westlichen Rechtstradition, Frankfurt 1991. 3 Berman, Recht und Revolution, S. 311, 409; Berman, Law and Revolution II: The Impact of the Protestant Reformation on the Western Legal Tradition, Cambridge MA 2006, Vol. II, S. 133; vgl. Walter Ullmann, „Reflections on Medieval Torture“, in: Judicial Review 56, 1944, S. 123-137; John H. Langbein, Torture and the Law of Proof: Europe and England in the Ancien Regime, Chicago 1977. 4 Berman, Law and Revolution II: The Impact of the Protestant Reformation on the Western Legal Tradition, Cambridge MA 2006, S. 133. Hauke Brunkhorst120 Außergewöhnliche Umstände jedoch, so dachte man, obwohl man der Folter als Mittel der Wahrheitsfindung misstraute, das Gottesurteil verboten und erstmals das Recht mit dem freien Willen des Einzelnen verbunden hatte, erfordern außergewöhnliche Maßnahmen. Und kriminelle Bewusst- seinszustände galten in besonders schweren Fällen als äußerste Bedrohung des materiellen und vor allem des spirituellen, des diesseitigen und des jenseitigen Heils der christlichen Gemeinschaft. Die Folter war schon in den Inquisitionsprozessen des 13. und 14. Jahrhunderts rechtsstaatlich gehegte Rettungsfolter, und die Argumente waren schon dieselben wie heute.5 Wir stehen am Beginn der modernen Zeiten. Das Problem ist damals wie heute nicht die Vereinbarkeit von Rechtsstaat und Folter, sondern dass Rechtsstaat und Folter vereinbar sind. Aber heute leben wir nicht nur in einem Rechtszustand oder Rechtstaat (lat. status = Zustand, Staat), sondern in einem demokratischen Rechtstaat, der an die universellen Menschenrechte gebunden ist. Universell sind diese Rechte, weil sie für alle Staaten, Organisationen und menschlichen Subjekte gelten. Der demokratische Rechtsstaat ist deshalb nicht nur Rechtsstaat, sondern Menschenrechtsstaat.6 Grundlage und Zweck dieses Staats ist die Gewährleistung und Verwirklichung der gleichen Freiheit aller Rechtsge- nossen (Art. 2 Abs. 1 GG), und das heißt: Die normative Wirksamkeit glei- cher Freiheitsrechte erstreckt sich nicht nur auf die jeweiligen Staatsange- hörigen und nicht nur der reichen und guten Bürger, sondern ausnahmslos auf all jene, an die eine Gesetzesnorm, eine Maßnahme oder eine Ent- scheidung der politischen Gemeinschaft/Organisation jeweils adressiert ist, und dazu gehören auch unmündige Babys, Bettler, schwachsinnige Greise, 5 Zu den heutigen siehe nur: Winfried Brugger, „Würde gegen Würde“, in: Verwaltungs- blätter Baden-Württemberg (1995), S. 414ff.; Brugger, „Darf der Staat ausnahmsweise foltern?“, in: Der Staat (1996), S. 67 ff.; Brugger, „Vom unbedingten Verbot der Folter zum bedingten Recht auf Folter?“, in: Juristenzeitung 55/2000, S. 165-173; Brugger, „Das andere Auge. Folter als zweitschlechteste Lösung“, in: FAZ (10.03.2003); Alan Dershowitz, „Should the Ticking Bomb Terrorist be tortured? A case Study in how a Democracy should make tragic Choices”, in: Alan Dershowitz, Why Terrorism works, Yale 2002, S. 131, 164; kritisch: Matthias Hong, „Das grundgesetzliche Folterverbot und der Menschenwürdegehalt der Grundrechte – eine verfassungsjuristische Betrach- tung“, in: Gerhard Beestermöller/Hauke Brunkhorst (Hg.), Rückkehr der Folter – Der Rechtsstaat im Zwielicht, München: Beck, 2006, S. 24-35; s.a.: Erhard Denninger, „Rechtsstaat oder rule of law?“, in: Festschrift für Klaus Lüdersen, Baden-Baden 2002, S. 41ff. Matthias Herdegen, „Art. 1 Abs. 1 GG“, in: Theodor Maunz/ Günter Dürig, Grundgesetz Kommentar, 44. Lfg., München 2005, RN 43; kritisch: Felix Hansch- mann, „Kalkulation des Unverfügbaren. Das Folterverbot in der Neu-Kommentierung von Art. 1. Abs. 1 GG im Maunz-Dürig“, in: Beestermöller/Brunkhorst, Rückkehr der Folter, a.a.O., S. 130-141. Udo Di Fabio, „Grundrechte als Werteordnung“, in: Ju- ristenzeitung, 2004, S. 1 ff, 5f. 6 Franz Xaver von Weber, Der Menschenrechtsstaat, Habilitationsschrift, Uni Flensburg 2005. Rechte haben keinen Tauschwert 121 Asylanten, Terroristen, durchreisende Fremde, Gefängnisinsassen, Ketzer, Kriegsverbrecher, Hangtäter, Hochverräter und jedes „unerwünschte Ge- sindel“.7 Mit Samantha Besson könnte man hier von einem Recht sprechen, als Fremder ein Menschenrecht, Recht auf Zugang zu politischen Gemeinschaften zu genießen, seien es nun Staaten oder föderale überstaatliche Gemein- schaften oder internationale Organisationen.8 Negative Rechte begrenzen in diesem Fall das Definitionsmonopol des Staates, darüber zu befinden, was gleiche Mitgliedschaft in der politischen Gemeinschaft jeweils heißt. Ele- mentare Zugangsrechte sind politische Rechte. Sie ermöglichen die demo- kratische Selbstbestimmung aller jeweils Rechtsunterworfenen, indem sie allen politischen Organisationen verbieten, politische Gleichheit durch Ausschluss ganzer Kategorien von menschlichen Individuen zu vernichten. Der Tatbestand gleichheitsvernichtenden Ausschlusses ist bei Verletzung der völkerrechtlichen ius cogens und erga omnes Normen, die Genozid, Folter und andere extreme Formen der Grausamkeit ächten, erfüllt.9 Diese Rechte müssen überstaatlich von der internationalen Gemeinschaft garantiert wer- den, da sie die partikular abgeschlossene, demokratische Selbstbestimmung des nationalen Staatsvolks im Namen des Demokratieprinzips beschränken. Das Demokratieprinzip verlangt nämlich die unterschiedslose, von Staats- bürgerschaft, Volkszugehörigkeit und Staatsfeindschaft (Terrorismus) unab- hängige Gleichheit aller Gesetzesunterworfenen, über das, was ihnen an Un- terwerfung zugemutet wird, selbst zu befinden. Diese Bedingung betrifft in der engmaschig vernetzten Weltgesellschaft in wachsendem Ausmaß Asyl- suchende, Elendsflüchtlinge und Staatenlose.10 Wo das Recht einer nationalen oder transnationalen Gemeinschaft fundamentale Interessen von Individuen jenseits ihrer Grenzen (z. B. durch militärische oder ökonomische Interven- tion) beschränkt, erzeugen diese Interessen ein internationales Recht auf Menschenrechtsschutz.11 Deshalb müssen massive ökonomische Interven- tionen wie diejenigen der Troika (IMF, ECB, EC) heute in Griechenland und andern EU-Ländern, die das Demokratieprinzip aushebeln ohne inter- oder transnationalrechtlichen Ersatz zu schaffen, menschenrechtsrelevant und stellen möglicherweise sogar eine massive Menschenrechtsverletzung dar. 7 Hannah Arendt, Über die Revolution, München 1964, S. 216. 8 Samantha Besson, „The Right to have Rights: From Human to Citizens’ Rights and Back“, in: Marco Goldini/Christopher McCordindale, Hannah Aredndt and the Law, Oxford 2012, pp. 334-355, p. 348. 9 Besson, The Right to have Rights: From Human to Citizens’ Rights and Back, S. 343, 348, 354-355; Zum ius cogens: Stefan Oeter, „Jus cogens und der Schutz der Men- schenrechte“, in: Stefan Breitenmoser/Bernhard Ehrenzeller/Marco Sassòli/Walter Stof- fel/Beatrice Wagner Pfeiffer (Hg.), Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat, Ba- den-Baden 2007, S. 499-521. 10 Besson, The Right to have Rights: From Human to Citizens’ Rights and Back, S. 343. 11 Besson, The Right to have Rights: From Human to Citizens’ Rights and Back, S. 343. Hauke Brunkhorst122 Innerstaatlich steht das Menschenwürdeprinzip des Art. 1 GG den Grund- rechten nach Art einer Präambel voran, die besagt, „dass jeder Mensch verdient, gleichermaßen als ein frei sein eigenes Leben führendes Subjekt geachtet zu werden. Der Staat hat nach Art. 1 GG das menschliche Potenzial zu freier, am eigenen Urteil ausgerichteter Lebensführung zu erhalten bzw. ggf. erst zu schaffen. Die einzelnen Grund- und Menschenrechte explizieren diesen subjekttheoretischen Achtungsanspruch für bestimmte soziale Rol- len, in denen sich das Individuum in seinem Leben wiederfinden kann.“12 Die einzige Ausnahme ist das allgemeine Freiheitsprinzip des Art. 2 Abs. 1 GG, das die gleiche Freiheit aller Gesetzesunterworfenen ebenfalls unabhän- gig von bestimmten sozialen Rollen und Funktionsbereichen oder Wertsphä- ren (und sogar grenzüberschreitend) garantiert. Es gehört zur Menschen- würde wie die andere Seite einer Münze. Jeder Rechtsstaat, ob demokratisch oder nicht, erlaubt alles, was das Gesetz nicht verbietet. So steht es schon bei Thomas Hobbes. Im demokratischen Rechtsstaat aber ist die gleiche Freiheit aller darüber hinaus die Freiheit einer und eines jeden, über das, was das Gesetz verbietet, selbst bestimmen und vor allem, selbst darüber bestimmen zu können, wie – durch welche Methoden und Verfahren – sie zustande kommen. Beide Seiten der Freiheit sind, wie Hobbes Kritiker im Zeitalter der Französischen Revolution, Rous- seau, Sieyes und Kant gezeigt haben, gleichursprünglich und untrennbar.13 Trennt man die eine von der andern ab, vernichtet man beide. Das wird im Grundgesetz auch durch den Art. 79 Abs. 3 („Ewigkeits- garatie“) noch einmal unterstrichen, der die Art. 1 (besonders Abs. 3) und 20 (besonders Abs. 2 und 3) und damit die Bindung der Staatsgewalt an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3) und das Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 2) än- derungs- und abwägungsfest und damit notstandsresistent macht. Für ihren „Kerngehalt“ gilt ein „absolutes Eingriffsverbot“.14 Sie stellen keine Güter oder Werte, auch keine Grundwerte dar, die gegen andere abgewogen und bei entsprechendem Gewicht ausgetauscht werden könnten, sondern sind Rechte oder Grundrechte bzw. Verfassungsorganisationsnormen im starken Sinn, die nur durch ein Gesetz eingeschränkt werden dürfen und – wichtiger noch – durch Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung „konkretisiert“ (Kelsen) werden müssen. Sie haben keinen Tauschwert. Eine der wichtig- sten Aufgaben der Gesetzgebung und Verfassungsrechtsprechung ist es des- 12 Jochen von Bernstorff, „Luftsicherheitsgesetz und Menschenwürde – Zum unbedingten Vorrang staatlicher Achtungspflichten im Anwendungsbereich von Art. 1 GG“, e-Man., 2006, S. 6 (inzwischen erschienen in: Der Staat) Mit Bezug auf BVerfGE 27, 1 (16); 30, 1 (26); 50, 166 (175); S. 64, 274 sowie in: Christoph Menke/Andreas Pollmann, Philosophie der Menschenrechte, Reinbek 2005, S. 163-166; zur Verbindung von Grund- rechten und sozialen Rollen: Niklas Luhmann, Grundrechte als Institution, Berlin 1962. 13 Ingeborg Maus, Aufklärung der Demokratietheorie, Frankfurt a.M. 1994. 14 Bernstorff, „Luftsicherheitsgesetz“, S. 12 (mit Bezg auf Art. 1 GG). Rechte haben keinen Tauschwert 123 halb, den jeweiligen Kerngehalt absoluter Eingriffsverbote in Grundrechte und Organisationsnormen festzulegen. Würdegarantie, allgemeines Freiheitsrecht oder Demokratieprinzip sind als allgemeine Normen in höchstem Maße auslegungs- und konkretisierungsbe- dürftig.15 Die allgemeinen Normsätze sind nicht nur viel zu allgemein und unbestimmt, um von Richtern und Beamten direkt angewendet zu werden, sie sagen auch noch nichts darüber, ob die Würde und das Selbstbestim- mungsrecht entführter Flugzeuginsassen gegen Würde und Selbstbestim- mungsrecht möglicher Anschlagsopfer, oder ob das Leiden des unverbes- serlich hartgesottenen Hangtäters, der rechtsstaatlich gefoltert wird, gegen das Leiden des entführten Kindes oder der unschuldigen Opfer des geplan- ten Bombenattentats aufgerechnet werden dürfen oder nicht. Das Grundgesetz hat, um genau diese Möglichkeit auszuschließen, der allgemeinen Würdegarantie und dem Freiheitsrecht das absolute Verbot aller staatlich angeordneten Formen „körperlicher“ und „seelischer“ Misshandlung im Art. 104 Abs. 1 Satz 2 als spezielle Norm zur Seite gestellt. Sie spe- zifiziert den Schutz selbstbestimmter Subjektivität und verbietet alle Formen des Selbstbestimmungs- und Würdeschutzes, die gegen diese Norm versto- ßen, wie z. B. die Rettungsfolter oder den Abschuss eines von Terroristen entführten Passagierflugzeugs. Ihr gegenüber muss die allgemeine Schutz- pflicht, die der Staat für das Leben nicht nur seiner Bürger, sondern aller Menschen in seinem Hoheitsbereich hat, zurücktreten.16 Der Schutz vor dem Staat bricht, wenn es um selbstbestimmte Würde geht, den entgegenstehen- den Schutz durch den Staat. Nun sind Würdeschutz, Grundrechte und Demokratieprinzip zwar auch nur positives, also änderbares Recht. Aber ihre Änderung wäre „ein Grund- rechtseingriff von einzigartiger Intensität“, der die Verfassung im Ganzen verändern würde.17 Weder durch einfache Gesetze noch durch Verfas- sungsänderung dürfen deshalb Würdegarantie, Selbstbestimmungsrecht und Demokratieprinzip angetastet werden. „Eine neue Verfassung braucht, wer sie antasten will.“18 Der einzige Weg zu ihrer Änderung, den die Verfassung selbst noch weist, ist die Anwendung der Schlussbestimmung des Grundge- setzes. Ein Fall für Artikel 146 oder die verfassungsgebende Gewalt des Volkes. 15 Deshalb ist auch das Bundesverfassungsgericht anders als der Bundestag nicht nur an die Verfassung, sondern wie jedes Gericht an Verfassung und Gesetz gebunden (Art. 20 Abs. 3). 16 Mathias Hong, „Das grundgesetzliche Folterverbot“ . Der Art 104 legt eine vorrangig abwehrrechtliche Deutung selbstbestimmter Menschenwürde ebenso nahe wie schon dessen nähere Bestimmung durch die Bindung aller Staatsgewalt an die dem Art. 1 „nachfolgenden Grundrechte“ (Art. 1, Abs. 3). 17 Hong, „Das grundgesetzliche Folterverbot“. 18 Hong, „Das grundgesetzliche Folterverbot“, S. 26. Hauke Brunkhorst124 Die verfassungsgebende Gewalt des Volkes wäre dann freilich immer noch ans geltende Völkerrecht und die internationalen Menschenrechte ge- bunden, wie wir schon gesehen haben. Der Kerngehalt selbstbestimmter Men- schenwürde ist auch im internationalen Recht abwägungs- und änderungs- fest.19 Auch im Völkerrecht wird die Menschenwürde durch spezielle Nor- men konkretisiert. Dazu gehören das absolute und zwingende Verbot von Fol- ter und Sklaverei, von willkürlichem Freiheitsentzug, willkürlicher Tötung und unmenschlicher Behandlung. Wer derartige Normen verletzt, begeht „Ver- brechen gegen die Menschlichkeit“, die von staatlichen und überstaatlichen Parlamenten, Behörden und Gerichten universell verfolgt werden müssen.20 Damit komme ich zum zweiten Teil meiner Ausführungen, bei denen es um die Frage geht, ob es Menschenrechtsverletzungen gibt, die unmittelbar gegen das Demokratieprinzip verstoßen. II In Verfassungen wie dem Grundgesetz sind staatliche Gesetze, Maßnahmen oder Entscheidungen, die das Selbstbestimmungsprinzip vernichten – para- digmatisch Folter und Sklaverei – nicht nur mit privater, sondern auch mit öffentlicher Autonomie unvereinbar. Sie verstoßen nicht nur gegen die Men- schenrechte, sondern auch gegen das Demokratieprinzip, das sich ja nicht mehr wie im klassischen Athen auf Mehrheitsentscheidungen reduzieren lässt, sondern die freie Selbstbestimmung aller Gesetzesunterworfenen ebenso ver- langt wie egalitäre und strukturell gekoppelte Verfahren freier Diskussion und Entscheidung. Die demokratische Verfassung verbietet Folter oder die Tötung hilfloser Insassen eines entführten Flugzeugs nicht nur, weil sie un- mittelbar geltenden Menschenrechten entgegenstehen, sondern auch, weil sie demokratische Gesetzgebung prinzipiell unmöglich macht. Die gesetzliche Anwendung der Folter würde das Demokratieprinzip aushebeln. Denn alles, was ein demokratischer Gesetzgeber beschließt, um durch Freiheitseingriffe Sicherheit zu garantieren, darf niemals den Status der betroffenen Rechts- adressaten als Koautoren des Gesetzestextes aufheben oder einschränken.21 Die demokratische Verfassung schreibt aus diesem Grund die Relativie- rung der Sicherheit an der Freiheit vor, und sie verbietet umgekehrt die Relativierung der Freiheit an der Sicherheit. Sicherheit ist fundamental für die Ausübung der Freiheitsrechte, aber sie findet ihre Grenze an dem zu schützenden Grundrecht. Eine demokratische Rechtsordnung, die auch der ‚Rettungsfolter‘ kein rechtliches Schlupfloch lässt, „verschläft nicht die 19 Oeter, Jus cogens. 20 Astrid Becker, Der Tatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit, Berlin 1996. 21 Vgl. a. Gerhard Beestermöller, „Kehrt der Leviathan zurück? Der Terrorismus fordert die freiheitliche Demokratie heraus“; in: Herder Korrespondenz 61, 7/ 2007, S. 335-339. Rechte haben keinen Tauschwert 125 Möglichkeit eines Ausnahmezustands, sie weigert sich nur“, so Gertrude Lübbe-Wolf schon 1980, „für diesen Fall die Aufhebung ihrer selbst anzu- bieten.“22 Mit der umgekehrten Relativierung der Freiheitsrechte an der Sicherheit gerät ihr demokratischer Kerngehalt, nämlich die Gleichheit der Freiheit ins Rutschen. Besonders deutlich wird das an der Theorie des Feindstrafrechts, die der Bonner Strafrechtler und Rechtsphilosoph Günther Jakobs entwickelt hat. Er will Geltung und Genuss von individuellen Rechten an eine „kogni- tive Mindestgarantie“ für die „Behandlung“ eines „Individuums“ als „Person“ binden. Nicht erfüllt werde diese Mindestgarantie von Hangtätern, Berufs- verbrechern und Terroristen. Sie hätten das bürgerschaftliche Binnenver- hältnis verlassen, und im damit eingetretenen Außenverhältnis gegen prinzi- pielle Feinde der Rechtsordnung verbiete sich die Anwendung des üblichen „Bürgerstrafrechts“.23 Der Terrorist habe seinen Anspruch, als Person be- handelt zu werden, verwirkt und existiere rechtlich nur noch als rechtloses Individuum im Naturzustand, wie Jakobs mit Berufung auf Hobbes schreibt.24 Deshalb dürfe der Staat den Hangtäter oder Terroristen auch „nicht mehr als Person behandeln“. An die Stelle des „Bürgerstrafrechts“, das die gleichen Rechte eines jeden und gerade auch die des Täters schützt, solle ein rein instrumentelles „Feindstrafrecht“ treten. Das „justizförmige“ müsse sich zu diesem Zweck in ein „kriegsförmiges Strafverfahrensrecht“ verwandeln.25 Aus der Rechtsnorm wird in diesen Fällen eine instrumentelle Maßnahme, um den „Feind“ zu „bekriegen“. Aus gleichen Rechten aller Menschen wird bei Jakobs ein schneidig formuliertes Privileg des Siegers: „Wer den Krieg gewinnt, bestimmt, was die Norm ist.“26 Es ist schwer zu sehen, wie Jakobs Konstruktion eines Feindstrafrechts, das die universelle Menschenwürde und das inklusive Demokratieprinzip an der staatlichen Selbsterhaltung relativiert, von Menschenrechten ausdrück- 22 Gertrude Lübbe-Wolff, „Rechtsstaat und Ausnahmerecht. Zur Diskussion über die Reich- weite des § 34 StGB und über die Notwendigkeit einer verfassungsrechtlichen Rege- lung des Ausnahmezustandes“, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen (1980), S. 110- 125, hier: S. 125; ähnlich: Christoph Möllers, Staat als Argument, München 2001: Ist wie im Fall der Folter „die rechtliche Heilung verfassungsrechtlich ausgeschlossen, so war der Verstoß zur Rettung der Ordnung so eklatant, dass eine Ordnung, die solche Handlungen zuließe, nicht mehr als solche des Grundgesetzes bezeichnet werden könnte: Art. 79 Abs. 3 GG. Ein Verstoß gegen verfassungsrechtliche Grundprinzipien ‚zur Rettung des Staats‘ hat diesen Staat (nämlich den des Grundgesetzes) seinerseits beschädigt.“ (S. 267). 23 Günther Jakobs, „Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht“, in: HRRS 3/ 2004, S. 88-95, hier: S. 89ff. 24 Günther Jakobs, Norm, Person, Gesellschaft. Vorüberlegungen zu einer Rechtsphilo- sophie, 2. Aufl., Berlin 1999, S. 5, S. 43f, S. 56ff, S. 109ff. 25 Jakobs, „Feindstrafrecht“, S. 93. 26 Jakobs, „Feindstrafrecht“, S. 95. Das ist eine für das positive Völkerrecht spätestens seit 1648 ziemlich gewagte These. Hauke Brunkhorst126 lich nicht mehr reden will und dem positiven Völkerrecht jede Geltung ab- erkennt, noch mit dem Grundgesetz vereinbar sein soll. Das ginge nur, wenn man einen Staat vor (und über) der Verfassung konstruiert, der wie ein Wil- lenssubjekt agiert und sich in souveräner Entscheidung selbst durch Ver- fassungsrecht gebunden hat und davon jederzeit wieder entbinden kann. Christoph Möllers hat diese Form staatszentrierter Verfassungstheorie auf den treffenden Begriff einer „mentalen Notstandsreserve“ gebracht.27 Einen Staat vor der Verfassung jedoch, der seine Bürger auch dann noch auf dessen Selbsterhaltung verpflichten könnte, wenn die Verfassungsordnung nicht mehr existiert, kennt das Grundgesetz, kennen auch die strikt auf deren Rahmen verpflichteten Notstandsgesetze nicht. Normativ gibt es keinen „von der Verfassungsordnung distinkten Staat.“28 Das Verfassungsmodell des demo- kratischen Staats kennt, so Adolf Arndt, nur soviel Staat, „als seine Verfas- sung zum Entstehen bringt.“29 Die von Jakobs geforderte kognitive Mindestgarantie für den Status einer Rechtsperson ist dem Grundgesetz ebenso fremd wie allen demokratischen Verfassungen. Weder Art. 1 oder 2 noch Art. 20 GG binden das Personsein an irgendwelche kognitiven Voraussetzungen. Sie gelten für die inneren und äußeren Feinde der Rechts- und Verfassungsordnung ebenso wie für ihre Ignoranten und ihre glühenden Verehrer. Art. 1 und 2 und die nachfolgenden Grundrechte legen die Menschenrechte auf die schlichte Tatsache des nack- ten Menschseins fest und verpflichten weder zur Achtung von Staatlichkeit, Recht und Demokratie noch zu Charakterfestigkeit, westlicher Zivilisation oder andern substanziellen Werten. Rechte sind keine Werte. Man hat – qua positivrechtlicher Zuschreibung – grundlegende Rechte, auch wenn man es nicht weiß, auch wenn man sie nicht haben will, auch wenn man bereit ist, sie mit allen Mitteln zu bekämpfen. Sie werden jedem Menschen aufgrund seiner Geburt und nicht aufgrund irgendwelcher Leistungen juristisch zuge- schrieben. Sie sind unveräußerliches positives Recht. Eine Verfassung, die von vornherein bad people ausgrenzen würde, wäre nicht mehr demokratisch und könnte es nie werden.30 Es ist nämlich nicht 27 Möllers, Staat als Argument, (Fn. 21), S. 261. 28 Möllers, Staat als Argument, S. 263. 29 Adolf Arndt, „Umwelt und Recht“, in: Neue Juristische Wochenschrift 1963, S. 25. 30 Auch in der amerikanischen Verfassung ist der kognitiv und ethisch neutrale Status der Rechtsperson klar und unmissverständlich festgelegt und unmittelbar mit dem De- mokratieprinzip des „We the People“ (Präambel) verbunden. Besonders plastisch wird das, wenn man die Texte der Unabhängigkeitserklärung mit der späteren Verfassung vergleicht. In der Unabhängigkeitserklärung von 1776 ist noch von den „good People of these Colonies“ die Rede. Für diese reklamiert sie das universelle Recht der civilized nations und die Gleichheit aller Menschen, aber gleichzeitig spricht dasselbe Verfas- sungsdokument den merciless Indian Savages jede Zugehörigkeit zu Zivilisation ab. Die merciless Indian Savages sind keine Personen, bloß Individuen, Hangtäter, illegal fighters. Demgegenüber ist es für die Verfassung von 1791 charakteristisch, dass sie Rechte haben keinen Tauschwert 127 das entscheidende Merkmal gleicher Rechte, dass sie aktuell Gleichheit hier und heute, eine vollständige Gleichheit der Rechte gewährleisten und nie- manden außer der Ungleichheit ausschließen, sondern dass sie einen demo- kratischen Lernprozess ermöglichen, in dem der Ausschluss von Ungleichheit immer wieder und immer von neuem hergestellt werden muss. III Die individuellen Menschen- und Grundrechte, die den Prozess demokra- tischer Selbstbestimmung ermöglichen, sind als positives Recht scharf von der Moral zu unterscheiden. Sie haben zwar einen starken moralischen Gehalt, wirken aber nicht wie motivbildende moralische Normen, sondern wie positivrechtliche Gesetze und Verordnungen, die bestimmte äußere Hand- lungen erlauben oder verbieten. Damit dienen sie der Individualisierung der Moral und der Freiheit, werden die Rechtsgenossen doch von der öffentli- chen Pflicht, die Totalität ihrer Lebensführung der politischen Gemeinschaft zu integrieren, entlastet. Rechte erzeugen nur sekundär Pflichten und auch das pflichtvergessene Individuum verliert sie nicht. Gleichzeitig aber bürdet die Trennung von Moral und Recht dem Einzelnen die volle Verantwortung für seine Gewis- sensentscheidung auf. Eine öffentliche Entlastung des individuellen Gewis- sens gibt es jetzt nicht mehr. Wer aus moralischen Gründen glaubt, foltern, ein von Terroristen entführtes Flugzeug abschießen und als Hoheitsträger die Verfassung brechen zu müssen, um Tausenden oder auch nur einem ent- führten Kind das Leben zu retten, muss das mit seinem Gewissen bzw. dem moralischen Diskurs allein abmachen. Diesen tragischen Konflikt kann das Recht – um der rechtlichen Freiheit willen – nicht lösen. Es mag Fälle ge- ben, in denen moralisch ebenso einleuchtend für wie gegen die Folter argu- mentiert werden kann. Wenn die Bombe tickt, mag es den jeweiligen Amts- trägern (und nicht nur ihnen) moralisch geboten erscheinen, die Verfassung zu brechen. In der Moralphilosophie ist der Streit zwischen Deontologen und Instrumentalisten immer noch offen. Kantianer dürfen ein menschliches Leben nicht gegen noch so viele abwägen. Für Utilitaristen ist das hingegen ohne jede kognitive oder ethische Qualifikation einfach nur noch mit „We the People of the United States“ einsetzt und darin die guten wie die schlechten Leute, die Freunde ebenso wie die Feinde der Verfassung gleichermaßen als Rechtsgenossen achtet. Diese feine, aber grundlegende Differenz zwischen einem revolutionären Volk, das sich für gut erklärt und die Bösen ausschließt und der pouvoir constituant, die alle Rechtsge- nossen, egal ob gut oder böse, einschließt, hat Derrida in seiner berühmten Dekonstruk- tion des Repräsentationsbegriffs der Unabhängigkeitserklärung leider vernachlässigt: Jacques Derrida, „OTOBIOGRAPHIEN – Die Lehre Nietzsches und die Politik des Eigennamens“, in: Jacques Derrida/Friedrich Kittler, Nietzsche – Politik des Eigen- namens, Berlin 2000, S. 7-63, hier: S. 12ff. Hauke Brunkhorst128 tägliche Rechenaufgabe. Und die Thomisten stehen deliberierend in der Mitte. Im Recht hingegen ist der Streit durch Gesetzbuch, Methodenlehre und zeit- liche Begrenzung immer entscheidbar und muss entschieden werden. Die Moral kennt – anders als das Recht – keine Grenzen und lässt keine Dogmatik zu. Schon deshalb kann es keine vollständige Deckung morali- scher und juristischer Diskurse geben. Widersprüche zwischen Moral und Recht lassen sich, anders als Kant geglaubt hat, nicht ausschließen. Deshalb gilt, dass es – auch wenn das positive Recht im Ganzen moralisch akzepta- bel bleiben muss – in jedem einzelnen Fall eine im je aktuellen Recht nicht mehr heilbare Kollision zwischen Moral und Recht geben kann. Das ist der Preis des Differenzierungsgewinns. Aus der Perspektive des Rechts gibt es kein Außen des Rechtscodes. „Folter ist entweder Recht oder Unrecht – tertium non datur. Rechtliche Folterverbote verbieten nicht die politische und moralische Diskussion. Sie weisen aber Entscheidungskompetenzen zu.“31 Die Ordnung des Grundgesetzes verbietet es, Staatsorganen die Kompe- tenz zuzuweisen, Rechtsnormen zu setzen, die diese Ordnung aufheben. Anstatt „aus Sorge vor in Ausnahmefällen drohenden Verletzungen der Legalität diese Verletzungen zu legalisieren, mutet sie Staatsorganen, die sich durch exzeptionellen Handlungsdruck zu Rechtsverletzungen gezwungen sehen, die offene Illegalität zu und sieht sich gerade dadurch am besten geschützt.“32 Das Recht wäre – mit Kants in diesem Fall richtigen Rigo- rismus – an der Bundeskanzlerin, die foltern ließe, um Berlin vor der Bombe zu retten, zu vollstrecken. Kant hätte sie wegen Hochverrats hinrichten las- sen.33 In der Erinnerung des Volkes aber würde ihr Andenken womöglich umso mehr im Glanze supererogatorisch moralischen Heldentums erstrahlen – auch wenn bei weniger strahlendem Licht der nicht nur rechtliche, sondern auch moralische Preis für solche Rettung (wie in der klassischen Tragödie) erkennbar bliebe. Die parteiische Geschichte kann zwar die blutige Tragödie zum platten Helden- und Gaunerstück mit glücklichem Ausgang verklären. Aber die Weste der Folterknechte und ihrer Auftraggeber bliebe trotzdem nicht rein, weil die berechtigte Rettung mit der unberechtigten Folter er- 31 Hong, „Das grundgesetzliche Folterverbot“ (Fn. 4) S. 25. 32 Lübbe-Wolff, „Rechtsstaat und Ausnahmerecht“, (Fn. 21), S. 125. 33 Staatliches Handeln durch eine Generalklausel für unvorhergesehene Ausnahmefälle rechtlich zu ermöglichen, wie Böckenförde es in der Zeit des Terrorismus der 1970er Jahre vorgeschlagen hatte, stellt in jedem Fall die weit größere Gefahr für den demo- kratischen Rechtsstaat dar als das Festhalten am strikten Verbot des Verfassungs- und Rechtsbruchs durch staatliche Amtsträger: „Darin, daß diese Möglichkeit des außerge- setzlichen Handelns von Staatsorganen „nicht besteht, liegt die einzige Sicherung gegen ihren Mißbrauch. Wer als Amtsträger glaubt, nur durch eine [...] illegale staat- liche Maßnahme die Bundesrepublik vor einem Anschlag auf ein Atomkraftwerk retten zu können, muss diese Maßnahme mit vollem Risiko, unter Inkaufnahme [...] auch der rechtlichen Konsequenzen treffen.“ (Lübbe-Wolff, „Rechtsstaat und Ausnahmerecht“, S. 120). Rechte haben keinen Tauschwert 129 kauft wurde.34 Tragic choice heißt, dass beide Seiten der Handlungsalter- native superergoratorisches, also rechtlich (und moralisch) unzumutbares Handeln verlangen. Tragisch heißt, dass der Konflikt nicht lösbar ist, wie immer man sich auch dreht oder wendet. Deshalb helfen gegen Tragödien auch keine Gesetze. Unzumutbar ist der Bundeskanzlerin ein unheilbarer Ver- fassungsbruch – denn um einen solchen geht es, wie wir gesehen haben, im Fall der Folter. Gleichermaßen unzumutbar ist ihr aber auch, Berlins Bevöl- kerung dem Strahlentod, den sie durch eine hochverräterische Untat mögli- cher Weise verhindern könnte, auszuliefern, auch wenn sie dafür niemals nur deshalb verantwortlich gemacht werden dürfte, weil sie sich an die Verfas- sung gehalten hat. Der Rest ist Gewissen und dem Recht entzogen. Wenn aber das Recht durch Legalisierung der Folter den politischen Akteur von der unaufhebbaren Gewissensentscheidung, notfalls Recht und Verfassung zu brechen, entlastet, würde es nicht nur die individuelle Selbst- bestimmung des Gefolterten, die Wahrheit zu sagen oder nicht, vernichten, sondern am Terroristen auch die Möglichkeit demokratischer Selbstbestim- mung überhaupt zerstören. Ein Gesetz, das es Amtsträgern erlaubt, sich zum Herrn der Ja-/Nein-Stellungnahmen des dem Gesetz unterworfenen Subjekts zu machen, könnte von diesem nicht mehr akzeptiert oder bestritten werden. Damit aber würde die Möglichkeit, die Bestimmung des Gesetzes an den demokratischen Streit aller Gesetzesadressaten zu binden, vernichtet. Die elementarste Möglichkeit des Gesetzesadressaten zur demokratischen Parti- zipation, in den Streit um die Geltung des Gesetzes – wie es eine sozial, sachlich und zeitlich ununterbrochene demokratische Legitimationskette verlangt35 – jederzeit eingreifen zu können, wäre nicht mehr gegeben. Das- selbe gilt übrigens für den zur äußersten Hilflosigkeit entmündigten Insassen des entführten und von der Luftwaffe ins Visier genommenen Flugzeugs. Auch in diesem Fall wird nicht nur das Leben, sondern am noch Lebenden die Autonomie der Person vernichtet. Der zum Abschuss freigegebene, un- schuldige Passagier ist in derselben Lage wie der gefolterte Straftäter.36 In 34 Zur (über die positivrechtliche hinaus) rechtsethisch-deontologischen Begründung des absoluten Folterverbots: Hong, „Das grundgesetzliche Folterverbot“ (Fn. 4). 35 Zur „ununterbrochenen demokratischen Legitimationskette“: Ernst-Wolfgang Böcken- förde, „Demokratie als Verfassungsprinzip“, in: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, Frankfurt 1991, S. 298-378, hier: S. 299, 302. Hier wird Le- gitimation freilich noch an einen substanzialistisch verdinglichten Volksbegriff zurück- gebunden. Kritisch: Brun-Otto Bryde, „Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie“, in: Staatswissenschaft und Staatspraxis, 3/1994, S. 305-330. 36 Ich folge hier der Argumentation Jochen von Bernstorff, „Luftsicherheitsgesetz“ (Fn. 11). Beim Vortrag hat Georg Beestermöller eingewandt, Folter und Abschuss der Pas- sagiermaschine stünden nicht auf derselben Ebene. Er hat vielleicht recht, dann wäre, folgt man Bernstorff, der Abschuss des Flugzeugs wohl auch noch eine Verletzung von Art. 1 GG, aber eine anderer Art als die Folter. Hauke Brunkhorst130 beiden Fällen verschwindet der eigene Wille im absoluten Willen eines an- deren. Das Band gemeinsamer Autorschaft am Gesetz ist zwischen Herr und Sklave, zwischen Folterer und Gefoltertem, zwischen Kampfpilot und Zivil- passagier gerissen. Das jeweilige Opfer hätte keine Chance mehr, sich den Vollzug des Gesetzes noch als letzte Konsequenz seines eigenen Handelns zuzuschreiben – wie der durch einen finalen Rettungsschuss getötete Gei- selnehmer oder der geständige und zur Hinrichtung geführte Verbrecher bei Hegel, der durch den Vollzug der barbarischen und in Europa zum Glück menschenrechtswidrigen Strafe zwar um sein Leben gebracht, aber doch als „freies Wesen“ und damit zumindest als potentieller Autor des Gesetzes, das ihn richtet, „geehrt“ wird,37 – auch wenn die materialistische Kritik solch zweifelhafte Ehre mittlerweile als Ideologie entzaubert hat. Trotzdem hat Hegel damit den Nagel auf den Kopf getroffen, denn der Unterschied zwischen (Todes-)Strafe und Folter bleibt fundamental auch dann, wenn man glaubt, dass erstere als Menschenrechtsverletzung (wie vielleicht die Strafe, zumindest die Freiheitsstrafe überhaupt) geächtet werden sollte. Auch der gewaltsame Tod vernichtet nicht die Freiheit, wie Hobbesianer (Brugger oder Höffe) fälschlich annehmen. Er verkürzt unser Leben, macht uns aber nicht zu Sklaven. 37 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (Werke 7), Frankfurt a.M. 1971, § 100. III. Ästhetik als kritische Theorie „Seit einigen Jahren haben Abhandlungen zur Ästhetik wieder Konjunktur. Wie aber unter den heutigen Bedingungen des Philosophierens eine philoso- phische Ästhetik auszusehen hätte, wird zumeist nicht thematisiert. Die vor- liegende Abhandlung will daher zumindest die Profile einer solchen sichtbar machen. […] Für eine Rekonstruktion der Ästhetik erachte ich drei methodische Orien- tierungen der Philosophie als relevant: Die Phänomenologie des Leibes (Merleau-Ponty) zur Entzifferung der ästhetischen Erfahrung; den Marxis- mus, der noch immer nötig zu sein scheint, um einen angemessenen Begriff der gesellschaftlichen Realität zu entwickeln und die Semiotik zur analyti- schen Durchdringung kultureller Phänomene. Von daher erweisen sich se- miotische Transformationen der Ästhetik als unerläßlich: ist es doch das Werkzeug von analytischer Sprachphilosophie und Strukturalismus, das Auf- schlüsse über die Logik der Metapher und über die ästhetische Rationalität liefern kann. […] Es scheint mir kein Zufall zu sein, daß eine auf die bildenden Künste zentrierte Ästhetik, wenn sie sich zur Philosophie der Praxis öffnet, auf die Urbanität stößt. Hatte doch Kant schon bezogen auf die bildenden Künste und namentlich auf ihren kulturellen Wert hin betont, daß sie zur ‚Urbanität der oberen Erkenntniskräfte‘ (Kant, Kritik der Urteilskraft, Hamburg 1959, S. 221) beitragen. […] Meine philosophische Strategie läuft darauf hinaus, die Vorzüge der Kom- munikationstheorie als ein Mittel, in immanenter Kritik die Entfremdung unserer Lebenswelt aufzudecken, nicht preiszugeben und gleichwohl Motive der älteren Kritischen Theorie, die vor den katastrophischen Einschnürun- gen unseres Lebens nicht die Augen verschlossen hatte, wiederaufzuma- chen. Das ist mit Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht gemeint.“ Heinz Paetzold, Profile der Ästhetik1 1 Heinz Paetzold, Profile der Ästhetik. Der Status von Kunst und Architektur in der Post- moderne, Wien 1990, S. 11 und 236. Roger Behrens Materialistische Ästhetik und transzendentalkritische Kulturphilosophie „Welch übergroße Freigebigkeit des Vatergottes, welch übergroßes und bewundernswertes Glück des Menschen, dem gegeben ist zu haben, was er wünscht, und zu sein, was er zu sein verlangt.“ Giovanni Pico della Mirandola1 Vorbemerkung: Geplant war dieser Beitrag ursprünglich als Interviewge- spräch mit Heinz Paetzold zu seinem siebzigsten Geburtstag im letzten Jahr, 2011. Thema sollte die Neomarxistische Ästhetik sein; das Interesse galt dem Status und der Aktualisierung dieser ersten philosophischen Monografie, der Promotionsschrift von 1972, vier Jahrzehnte nach ihrer Niederschrift. Überdies war eine Neuauflage der Neomarxistischen Ästhetik angedacht, die Paetzold um einen Beitrag ergänzt haben wollte – vermutlich handelt es sich dabei um das Manuskript eines der Vorträge, für die er zu seiner letzten China-Reise im Frühsommer 2012 eingeladen war; während dieser Reise verstarb Heinz Paetzold. – Die Gelegenheit zur Diskussion strittiger Fragen gibt es nun nicht mehr. Im Andenken an meinen Lehrer versuche ich statt- dessen – in Anlehnung an eine Formulierung John Deweys, den Heinz Paetzold auch schätzte – eine Rekonstruktion seiner Philosophie im Hinblick auf die neomarxistische Ästhetik. 1. Ein allerletzter Abzug vom Negativ der letzten Momentaufnahme der euro- päischen Intelligenz: der Surrealismus ist in Europa gescheitert, nach neun- zehnhundertfünfundvierzig wurde die Avantgarde durch die Auflösung der Kunst konsequent in der konsumistischen Massenkultur fortgesetzt, das heißt als Pop zur Ware; eine – wie Adorno am Jazz explizierte – „falsche Liqui- dation der Kunst: anstatt dass die Utopie sich verwirklichte, verschwindet sie aus dem Bilde.“2 Indes – dieses Bild ist ein Vexierbild, das die Kunst, die mit der radikalen Idee der Freiheit immanent verbunden ist, zwischen den Extremen changierend zeigt: einerseits ihre Verteidigung und Rettung, ande- rerseits ihre praktische Aufhebung als Aufhebung in Praxis, wie die Situa- 1 Giovanni Pico della Mirandola, De dignitate hominis, Stuttgart 1997, S. 9. 2 Theodor W. Adorno, „Zeitlose Mode. Zum Jazz“, in: Gesammelte Schriften, Frankfurt a.M. 1997, Bd. 10.1, S. 137. Roger Behrens134 tionisten es schließlich zu Beginn der sechziger Jahre forderten: als echtes Ende der Kunst in ihrer revolutionären Verwirklichung.3 Trotzdem: die Kunst macht weiter – „alles macht weiter“: als Pop und darüber hinaus, in Amerika, oder amerikanisch, oder in Auseinandersetzung mit dem so genannten Amerikanismus: als vielfältiges Spektakel, das die eindimensionale Gesellschaft in einem neuen Licht von Freude und Glanz erscheinen lässt, konterkariert durch ein neues Unbehagen in der Kultur und mit der Kultur, eine Kulturrevolution, von – bis: Andy Warhol eröffnet 1962 in New York seine erste Factory, in der Volksrepublik China beginnt 1966 unter der Führung Mao Tse-tungs die ‚Große Proletarische Kulturrevo- lution‘, die zum bizarren Vorbild für Strategien vermeintlicher Politisierung der Kunst der westlichen, so genannten Neuen Linke werden sollte. Dazwischen und darüber hinaus: Cuba, die Swinging Sixties, der Freejazz von Albert Ayler, ‚My Generation‘ von The Who, Janis Joplin, die Tropi- cália während der brasilianischen Militärdiktatur, die Filme von Godard, ‚We’re only in it for the Money‘ von Franz Zappa & The Mothers of In- vention, das weiße Album der Beatles mit ‚Revolution 9‘, Woodstock 1969 und so weiter: Subkultur als Superkultur.4 Heinz Paetzold studierte seinerzeit Philosophie, Pädagogik, Germanistik. Dazwischen ergab sich das Thema: Die Beschäftigung mit kritischer Theo- rie, gerade in ihrer Fortsetzung als radikale Kritik der „Verwalteten Welt“ (Adorno) beziehungsweise des „korporativen Kapitalismus“ (Marcuse), führte, wo Befreiung und Befriedung des menschlichen Daseins weiterhin den Ho- rizont des Erkenntnis leitenden Interesses bildeten, zur philosophischen Ästhe- tik. Bei Schwann, einem pädagogischen Verlag mit Sitz in Düsseldorf, der Hauptstadt bundesdeutscher Akademiekunst, erscheint 1974 die Neomar- xistische Ästhetik, in zwei schmale Bände unterteilt: Bloch-Benjamin und Adorno-Marcuse.5 Nicht unwichtig sind die biografischen und bibliografischen Konstella- tionen: Walter Benjamin nahm sich auf der Flucht vor den Nazis im katala- nischen Port Bou 1940 das Leben; sein Essay Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit war erstmals, abgesehen von der fran- 3 „Revolutionäre Verwirklichung“ bezieht sich hierbei auf das, was Marx und Engels die „wirkliche Bewegung“ nannten, das ist: die den Menschen als seine Geschichte und sich selbst bestimmende praktisch-kritische, konkret-kreative Tätigkeit. Vgl. Roger Behrens, „Das Projekt ‚Menschsein‘. Zur utopischen Dimension einer Philosophie ge- sellschaftlicher Praxis“, in: Widerspruch, Heft 33, München 1999, S. 30 ff. 4 Vgl. Lucy Lippard, Pop Art, München und Zürich 1969. 5 Wolfdietrich Schmied-Kowarzik verdanke ich den Hinweis, dass Heinz Paetzold das Buch lieber Materialistische Ästhetik genannt hätte. Aus verkaufsstrategischen Grün- den wählte der Verlag den jetzigen Titel, mit dem sich Paetzold arrangierte: So be- nutzte er im Rückbezug auf die Schriften von Maurice Merleau-Ponty und Henri Le- febvre später selbst den Begriff Neomarxismus auch in anderen Zusammenhängen. Materialistische Ästhetik und transzendentalkritische Kulturphilosophie 135 zösischen Übersetzung, die 1936 in der Zeitschrift für Sozialforschung er- schien, erst 1955 in einer Schriften-Auswahl, dann 1963 in einer Einzel- ausgabe erhältlich. Die Rezeption des Essays begann vor dem Hintergrund der internationalen Protestbewegungen in den sechziger Jahren, freilich in Bezug auf die subversive Kunstpraxis der damaligen Popkultur, was eine mitunter sehr schematische Interpretation des Benjaminschen Textes zur Folge hatte.6 Theodor W. Adorno starb 1969; er hinterließ (u. a.) eine Ästhe- tische Theorie, mit der als Band 7 posthum 1970 die Edition seiner Gesam- melten Schriften eröffnet wurde. Erst über den Umweg poststrukturalistischer beziehungsweise postmoderner Theorien fand eine intensive Beschäftigung mit dem umfangreichen Buch statt; dass die Ästhetische Theorie eine kri- tische Theorie ist, blieb auch hier jedoch weiterhin ausgespart.7 Ernst Bloch stirbt 1977, Herbert Marcuse 1979; Bloch, mit dem Paetzold seine Neomarxistische Ästhetik beginnt, resümiert in seinen letzten Schriften noch einmal Grundmotive seiner Philosophie (Experimentum Mundi; formu- liert zwar schon 1972 bis 1974, herausgegeben 1975 von Burghart Schmidt); Marcuse, mit dem die Neomarxistische Ästhetik schließt, veröffentlicht drei Jahre nach Paetzolds Ästhetik-Studie Die Permanenz der Kunst (1977). Was Bloch und Marcuse gemeinsam haben, ist das Konzept einer Ästhetik als Praxis im Sinne radikaler, konkreter Utopie. Paetzold stellt Bloch, Benjamin, Adorno und Marcuse unter das Vorzei- chen Neomarxismus, kontextualisiert also Ästhetik in der Erneuerung der Marxschen Theorie. Damit setzt Paetzold einen Theoriebezug voraus, bei dem die Ästhetik selbst problematisch ist: Karl Marx hat keine explizite ästhetische Theorie verfasst; gleichwohl hat Marx allerdings mit seiner Kritik der politischen Ökonomie die Bedingungen analysiert, nach denen Ästhetik – dialektisch – möglich und unmöglich ist (im Verhältnis zu Wirk- lichkeit und Unwirklichkeit).8 Gerade diese Dialektik bringt die Ästhetik in das Kraftfeld der Kritik zurück. Unweigerlich ist eine kritische Ästhetik nur 6 Dazu gehört die sich hartnäckig haltende Meinung, Benjamin habe mit dem Kunst- werkaufsatz Massenkultur im Sinne von Mediendemokratie und partizipatorischer (Gegen-) Öffentlichkeit verteidigt. 7 Eine Ausnahme bildeten die Debatten und Publikationen im Umfeld der Zeitschrift Ästhetik & Kommunikation, 1970 ff.; vgl. etwa explizit zu Adornos Ästhetischer Theo- rie: Tilman Rexroth, „Zur Weiterarbeit an der Ästhetik der kritischen Theorie“, in: Ästhetik & Kommunikation, Heft 1 (1970), S. 48 ff. – Außerdem ist freilich auf den fulminanten Essay „Theodor W. Adornos ‚Ästhetische Theorie‘“ von Gerhard Kaiser hinzuweisen; dieser erschien zuerst 1973 in: Gerhard Kaiser, Antithesen. Zwischen- bilanz eines Germanisten 1970–72; wieder aufgenommen in: Gerhard Kaiser, Ben- jamin. Adorno. Zwei Studien, Frankfurt a.M. 1974, S. 79 ff. 8 In der Kunst resultiert daraus die Dynamik der Moderne, einschließlich der Avant- garde-Bewegungen. Entscheidend ist dabei, wie im Ausgang des 19. und dann zu Be- ginn des 20. Jahrhunderts der Wirklichkeitsbegriff selbst problematisch wurde. In der Kunst ist das vom Kubo-Futurismus und Suprematismus ebenso thematisiert worden wie dann von Dada und Surrealismus etc. Roger Behrens136 als materialistische Ästhetik zu bestimmen: als Kritik der Ästhetik selbst. Das geht allerdings über die Kritik der Ästhetik als Ideologie hinaus: „Es kann nämlich durchaus sein, dass die ‚Sache‘ der Ästhetik, auch wenn diese materialistisch kritisiert ist, noch nicht erledigt ist.“9 Paetzold zielt hierbei ab auf das, was in unterschiedlicher Perspektive Otto Karl Werckmeister als das Ende der Ästhetik diagnostizierte und Peter Bürger in seiner Theorie der Avantgarde skizzierte.10 Für sein Projekt postuliert Paetzold: „Wenn die nicht- reduktionistische materialistische Theorie der Ästhetik den Rationalitäts- typus ästhetischer Gebilde als Paradigma einer Vernünftigkeit begreift, die in eins gegenwarts- und gesellschaftskritisch ist, dann ist damit das Problem eines ‚Endes‘ der Kunst bzw. des Ästhetischen bezeichnet. Die Frage nach der Vermittlung ästhetischer Erfahrung mit gesellschaftlichem Bewusstsein wird dann zur Frage nach der ‚Aufhebung‘ des Ästhetischen.“11 2. Die Aufhebung des Ästhetischen meint keineswegs ihre bloße Abschaffung, sondern verweist auf den von Hegel geprägten dialektischen Aufhebungsbe- griff in seinen drei Facetten: Bewahrung, Vernichtung, Erhöhung.12 Über- dies korrespondiert die Aufhebung mit der Verwirklichung: das Ästhetische kann nur aufgehoben werden, wenn es verwirklicht wird, und vice versa: Marx hatte das nicht nur für die nachhegelsche Philosophie gezeigt, sondern gleichzeitig die Dynamik von Aufhebung und Verwirklichung aus der Phi- losophie als soziales Verhältnis begründet. Das gilt auch für das Ästhetische und markiert eines der zentralen Motive, die Paetzold in den Ästhetik-Kon- zeptionen von Bloch, Benjamin, Adorno und Marcuse trotz aller Differen- zen gleichermaßen findet: Die Aufhebung des Ästhetischen ist ein Moment der ästhetischen Logik selbst. Unabdingbar ist damit jede ästhetische Theo- rie kritische Theorie.13 Damit qualifiziert sich die „neomarxistische Ästhetik“ als materialisti- sche, und zwar gerade weil die ästhetische Theorie als kritische Theorie bei- des umschließt – Erkenntniskritik und Gesellschaftskritik, beziehungsweise 9 Heinz Paetzold, Neomarxistische Ästhetik – Teil 1: Bloch, Benjamin, Düsseldorf 1974, S. 15. 10 Vgl. Otto Karl Werckmeister, Das Ende der Ästhetik, Frankfurt a.M. 1971; vgl. auch Otto Karl Werckmeister, Ideologie und Kunst bei Marx, Frankfurt a.M. 1974; Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, Frankfurt a.M. 1974. 11 Paetzold, Neomarxistische Ästhetik – Teil 1, S. 21. 12 Vgl. zum Begriff der Aufhebung: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, „‚Aufhebung‘ – Gedanken zu einer Grundkategorie dialektischer Philosophie“, in: Zeitschrift für kri- tische Theorie, Heft 26/27 (2008), S. 55 ff. 13 Paetzold expliziert dies an der ästhetischen Theorie Adornos: Neomarxistische Ästhe- tik – Teil 2, Düsseldorf 1974, S. 65 ff., insbesondere S. 76 ff. Materialistische Ästhetik und transzendentalkritische Kulturphilosophie 137 Erkenntniskritik als Gesellschaftskritik wie auch Gesellschaftskritik als Er- kenntniskritik. Mit Bloch, Benjamin, Adorno und Marcuse akzentuiert Paetzold hierbei die „ästhetische Erfahrung“ als Grundbegriff. Ästhetische Erfahrung ist Praxis, und als solche nicht nur mit gesellschaftlichem Be- wusstsein vermittelt, sondern immer auch und je schon mit gesellschaftlichem Sein. Mehr noch: die Vermittlung der ästhetischen Erfahrung mit gesell- schaftlichem Bewusstsein kann nur über das gesellschaftliche Sein vollzogen werden. Mit anderen Worten: Ästhetische Erfahrung ist Praxis; ebenso muss aber Praxis zur ästhetischen Erfahrung werden. Solche Ästhetik als Weltveränderung ist notwendig selbstreflexiv-kritisch; permanent ist sie mit dem kruden Rückfall in einen ideenlosen Idealismus konfrontiert, sofern sie nicht ohnehin schon zur Ideologie geronnen ist. Eine falsche Aufhebung des Ästhetischen hat längst stattgefunden: als Ästheti- sierung der Politik, als Kulturindustrie, als Kunst in der verwalteten Welt, als banales Spektakel, schließlich einfach als Freizeit, die mit einem viel- fältigen, bunten und fröhlichen Fassaden-Pop das Erlebnis von Freiheit und Glück simuliert. Paetzold setzt dagegen: eine Aktualisierung des Ästhetischen durch die Kunst. Wesentlich für diese Aktualisierung ist der Rückbezug auf die Grund- legung der philosophischen Ästhetik durch Alexander Gottlieb Baumgarten, schließlich Immanuel Kant, Friedrich Schiller und Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Arthur Schopenhauer:14 „Will man das im deutschen Idealismus erreichte philosophische Niveau der Ästhetik nicht unterbieten, dann muss die Ästhetik erstens auf einer irgend geratenen transzendentalkritischen Ebene durchgeführt werden. Zweitens ist die Ästhetik als philosophische Theorie zu konzipieren. Weder Künstler- ästhetiken noch Kunstkritik noch Methodologie der Kunstwissenschaften können die Ästhetik ersetzen, wohl aber ergänzen. Drittens hat die Ästhetik auf ihre Stellung in der Gesamtheit der Philosophie zu reflektieren. Die Äs- thetik muss ihren systematischen Ort in der Philosophie angeben können.“15 Dies führt Paetzold zu zwei Problemfragen: „Die philosophische Ästhe- tik hat erstens das Rätsel der ästhetischen Erfahrung zu erhellen. Zweitens muss die Ästhetik eine Antwort geben können auf die Frage, was die Kunst sei.“16 In der Beantwortung dieser beiden Problemfragen erweitert Paetzold die materialistische Ästhetik als kritische Theorie der Praxis durch eine Äs- 14 Paetzold übersetzte Baumgartens Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus. Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichts, Hamburg 1983; vgl. vor allem: Heinz Paetzold, Ästhetik des deutschen Idealismus, Wiesbaden 1983. 15 Heinz Paetzold, „Grundlagen der philosophischen Ästhetik“, in: Heinz Paetzold, Die Realität der symbolischen Formen. Die Kulturphilosophie Ernst Cassirers im Kontext, Darmstadt 1994, S. 149. 16 Heinz Paetzold, „Grundlagen der philosophischen Ästhetik“, S. 149. Vgl. auch: Heinz Paetzold, Ästhetik der neueren Moderne, Stuttgart 1990, S. 17 f. Roger Behrens138 thesiologie als Anthropologie der Sinne beziehungsweise durch eine Phäno- menologie des Leibes:17 „Es gibt keine ästhetische Erfahrung ohne Betätigung der Leibesorgane.“18 Und, an anderer Stelle: „Ästhetische Erfahrung ist un- serem Ansatz zufolge als Einheit von leibbezogener Sinneswahrnehmung und Reflexion zu bestimmen. Bei der ästhetischen Erfahrung wird die Betäti- gung der Sinnesorgane vorausgesetzt. Wir erschließen die mit den Sinnen erfassbare Welt auf eine ursprüngliche Weise. Mit den Sinnen erfassbare Welt heißt: die durch Organe des Sehens, des Hörens und Tastens objekti- vierbare Welt.“19 Als „leibbezogene Sinneswahrnehmung und Reflexion“ ist die ästhe- tische Erfahrung keineswegs individualistisch reduziert, sondern als soziales Verhältnis historisch vermittelt. Marx hat das bündig notiert: „Die Bildung der 5 Sinne ist eine Arbeit der ganzen bisherigen Weltgeschichte.“20 Paetzold rekurriert hierbei noch einmal auf die zwei „Rahmendefinitio- nen des Ästhetischen“, die er bei Ernst Bloch findet: „Die eine argumentiert auf der ontologischen Ebene: Sie versucht, den Seinsgrad des Ästhetischen zu bestimmen. Die zweite Rahmendefinition des Ästhetischen nimmt Bezug auf eine geschichtsphilosophische Problemstellung, genauer: auf das Pro- blem einer geschichtlichen Totalitätskonstruktion.“21 Ganz im Sinne einer „nicht-reduktionistischen materialistischen Theorie der Ästhetik“ lässt sich allerdings weder die „ontologische Ebene“ affirmativ bestimmen, noch To- talität geschichtlich positiv konstruieren. Blochs Ontologie des Noch-Nicht- Seins und Adornos „Ontologie des falschen Zustands“22 bezeichnen das gleichermaßen, auch für die Ästhetik: die geschichtliche Totalität gesell- schaftlichen Seins erscheint nur noch negativ, in Bruchstücken. Gerade weil die von der Logik des Kapitals durchherrschte Welt in ihrer Struktur totalitär abgeschlossen ist, lässt sie sich als lebendige Totalität (Kosmologie; Humanismus = Naturalismus)23 nicht unmittelbar erfassen. Auch die ästhetische Erfahrung bedingt keine vollkommene Erkenntnis; durch sie vermag aber eben kritisch-reflexiv erkannt zu werden, warum die Er- kenntnis der Welt und des menschlichen Lebens in ihrer wahrhaften, real- möglichen Totalität verstellt ist. Nichtsdestotrotz bleibt die Kritik (gerade wo sie als Praxis geboten ist) auf den emphatischen Begriff der ästhetischen 17 Vgl. Ebd., S. 19 ff. 18 Heinz Paetzold, „Grundlagen der philosophischen Ästhetik“, S. 150. 19 Heinz Paetzold, Ästhetik der neueren Moderne, S. 125. 20 Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: MEW Erg.-Bd. 1, Berlin 1968, S. 541 f. 21 Heinz Paetzold, Neomarxistische Ästhetik – Teil 1, S. 68. 22 Vgl. Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, in: GS Bd. 6, S. 22. 23 Walter Benjamin entwirft einen solchen Blick auf den Kosmos am Ende seiner Ein- bahnstraße, in: Gesammelte Schriften, Frankfurt am Main 1991, Bd. IV.1, S. 146 ff. Marx formuliert in seinen Ökonomisch-philosophischen Manuskripten die Formel für den Kommunismus: „Humanismus = Naturalismus“, vgl. MEW Erg.-Bd. 1, S. 536. Materialistische Ästhetik und transzendentalkritische Kulturphilosophie 139 Erfahrung verwiesen. Implizit macht Paetzold dabei noch einmal den Rück- bezug auf die materialistische Ästhetik stark, wenn er Anfang der achtziger Jahre schreibt: „Die Bedingung der Möglichkeit ästhetischer Erfahrung ist nicht allein die Betätigung des Leibes. Sondern die ästhetische Erfahrung weist eine eigentümliche Reflexionsstruktur auf.“24 Diese ist durch vier Momente charakterisiert: „Ästhetische Reflexion ist erstens entspezialisiert und entfunktionalisiert. Sie […] ist eine durch die Sinne angereizte Dauerreflexion. Sie ist poly- funktional und multidimensional […]. Ästhetische Reflexion trägt zweitens das Merkmal grenzenloser Offenheit. [Sie …] bleibt frei von Hierarchien. Hier gibt es folglich auch keine Sinnlosigkeit. […] Statt Hierarchien finden wir in der ästhetischen Erfahrung drittens das Moment der Steigerung. […] Von der ästhetischen Erfahrung geht etwas Beseligendes aus. Es ist die Seligkeit, die wir empfinden, wenn wir unsere Erkenntnisfähigkeit in freier Betätigung erfahren. Wir gewinnen Einsichten in die Struktur unserer Sinnes- wahrnehmung, ohne das Medium der Sinnlichkeit zu verlassen.“25 Und schließlich: „An der ästhetischen Reflexivität haftet noch ein viertes Mo- ment, das kurz zu explizieren ist. Ich meine, dass die ästhetische Erfahrung als Einheit von Sinneswahrnehmung und Reflexion in einer Vervollkomm- nung unserer Sinneswahrnehmung terminiert.“26 3. Die ästhetische Erfahrung bleibt auf die Kunst verwiesen, so wie umgekehrt die Kunst die Domäne der ästhetischen Erfahrung bleibt. Paetzold knüpft damit an die ambivalenten Positionen der neomarxistischen Ästhetik zur Kunst und ihrem virulenten Ende an, wie es Hegel für die Debatten um die philosophische Ästhetik berühmt gemacht hat.27 Einmal mehr bedeutet die These vom Ende der Kunst mitnichten, dass es keine Kunst mehr gibt; vielmehr geht es um einen veränderten Status der Kunst (beziehungsweise der Künste) innerhalb der kapitalistischen Gesell- schaft. In Bezug auf das Ästhetische tangiert das vor allem das Problem des Werkes: das Kunstwerk steht in Frage, nicht die Kunst an sich. Ausgehend von Marcuse (der sich gegen ein Ende der Kunst wendet, die Kunst aber nicht länger am Werk orientiert haben will) versucht Paetzold, die Werk- 24 Heinz Paetzold, „Grundlagen der philosophischen Ästhetik“, S. 152. 25 Ebd., S. 153. 26 Ebd., S. 153 f. 27 Vgl. Dieter Henrich, „Zerfall und Zukunft“, in: Dieter Henrich., Fixpunkte, Frankfurt a.M. 2003, S. 65 ff.; Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, (Werke 13), Frankfurt a.M. 1970, S. 24; siehe auch ebd., S. 141 f. Roger Behrens140 ästhetik als kritische Instanz auch für einem nicht werkorientierten Umgang mit Kunst stark zu machen: „Die Theorie nicht am Werk orientierter Ästhe- tik hätte eine Skala von Stufen anzugeben, die unterschiedliche Transforma- tionsebenen von Werkästhetischem in solche des ‚freien‘ Ästhetischen bezeichnen. Sie würde von Aleatorik, Action-painting usw. bis hin zu bloß ästhetischer Apperzeption von Gegenständen reichen. Werkästhetische und nicht werkästhetische Gesichtspunkte müssten sich wechselseitig erhellen. Vor allem käme es darauf an, das von der Werkästhetik ableitbare Kriterium, wonach ästhetische Erfahrungen zur Herausbildung autonomer Subjekte ge- genüber der heteronomen Gesellschaft führen, auf nicht werkorientierte Er- fahrungen zu beziehen.“28 Dies sieht Paetzold in der konzeptionellen Kunst gewährleistet.29 „Der Begriff stammt von Apollinaire und durchzieht wie ein roter Faden zunächst die klassische Moderne (de Stijl, Bauhaus, Konstruktivismus), umfasst Künstler wie Marcel Duchamp und reicht bis unmittelbar in unsere Ge- genwart hinein.“ „Konzeptionelle Kunst heißt erstens eine auch theoretisch formulierbare Bewusstheit der bildnerischen Elementardaten (Farbe, Raum, Modalitäten visueller Wahrnehmung usw.). Konzeptionelle Kunst zielt auf eine genauere (erkundende) Erforschung und Festlegung der bildnerischen Mittel.“ „Konzeptionelle Kunst heißt zweitens die Durchdringung der künstleri- schen Arbeit mittels theoretischer Reflexion. Wie gehen Mittel und Intention zusammen? Welches sind die elementaren Daten künstlerischer Produktion und wie entsteht aus ihnen die komplexe Werkwirklichkeit?“ Und drittens: „In der konzeptionellen Kunst [wird] bloß explizit, was aller Kunstproduktion immer schon vertraut war: Sinnliche Erfahrung folgt einer ihr eigentümlichen ‚Logik‘.“30 Konzeptionelle Kunst wie auch ästhetische Erfahrung versucht Paetzold im Rahmen einer transzendentalen Kulturphilosophie zu verorten. „Kultur- philosophie“ gilt Paetzold dabei einerseits als Tarnbegriff für kritische Theo- rie (so wie Max Horkheimer „Sozialphilosophie“ als Deckname für den historischen Materialismus verwendete), verweist andererseits auf Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. So wie Marx Hegel vom Kopf auf die Füße stellt und die Theorie der bürgerlichen Gesellschaft in eine 28 Heinz Paetzold, Neomarxistische Ästhetik – Teil 2, S. 130. 29 Der Terminus ist nicht mit „Konzeptkunst“ zu verwechseln, auch wenn es Berüh- rungspunkte und Überschneidungen geben mag. 30 Heinz Paetzold, „Bildende Kunst und visuelle Erkenntnis (Thesen zu einem philoso- phischen Begriff der Kunst heute)“, in: Tibor Szemenyey-Nagy (Hg.), Galerie vor Ort. Chronik. Chronologische Dokumentation über die siebenjährigen Aktivitäten und Aus- stellungen der Galerie vor Ort in Hamburg. 1977–82, Hamburg 1984, S. 305. Heinz Paetzold hat auf den Begriff der konzeptionellen Kunst an verschieden Stellen Bezug genommen; vgl. etwa in „Grundlagen der philosophischen Ästhetik“, S. 157 ff.; Heinz Paetzold, Ästhetik der neueren Moderne, S. 130 ff. Materialistische Ästhetik und transzendentalkritische Kulturphilosophie 141 Kritik der politischen Ökonomie übersetzt, so transformiert Cassirer die Tran- szendentalphilosophie Kants, reformuliert die Kritik der reinen Vernunft als Kritik der Kultur.31 Cassirer bestimmt menschliches Tun und Handeln im weitesten Sinne als symbolische Tätigkeit, definiert den Menschen als animal symbolicum: alles Verhalten ist symbolisch strukturiert – das charakterisiert es zugleich als gesellschaftliches Verhalten, die einzelne symbolische Form als soziales Verhältnis. Kunst ist eine symbolische Form. Als solche ist sie eine der möglichen Weisen menschlicher Welterschließung. Hierbei kommt, gerade im Kontext eines konzeptionell erweiterten, „offenen“ Kunstbegriffs, die ästhetische Erfahrung ins Spiel: sie geht insofern über die symbolische Welterschließung hinaus, als dass sie im selben Maße, wie sie Welt durch „Sinn“-Stiftung erfahrbar macht, eine Distanz zur Welt gestattet, die im Modus der Erfahrung der radikalen Kritik Raum gibt (Cassirer würde diesen Raum in Abgrenzung zum homogenen Raumkontinuum der Wissenschaften als „akzentuierten Raum“ bezeichnen). Dieser Raum schützt zugleich davor, an den Einsichten der durch die ästhetische Erfahrung provozierten Kritik zugrunde zu gehen. 4. Es gilt zu bedenken, wie Paetzold hervorhebt, „dass die symbolischen For- men nicht ‚fertig‘ sind, sondern sich in einem Entwicklungsprozess be- finden. Zur Behauptung der Differenz von idealen und faktisch vorhandenen Formen benötigen wir die dialektische Einsicht, wonach die symbolischen Formen immer schon Garanten von ‚Wahrheit‘ sind. Andererseits müssen diese auch weiterentwickelt werden. Damit haben wir eine doppelte Diffe- renzierung: Die symbolischen Formen treten heute als depravierte und authen- tische Formen auf. Die authentischen wiederum unterliegen dem histori- schen Progress. Genau diese zweifache Doppelung der Kultur beschreibt die Lage der Kultur der Menschen angemessen.“32 – Dies führt zurück zur „neo- marxistischen Ästhetik“, bildet gleichsam die Quintessenz zu ihren vier Grundelementen, die Paetzold mit den Namen Bloch, Benjamin, Adorno und Marcuse bezeichnete. Paetzold beschließt seine Neomarxistische Ästhetik mit vier Thesen: 31 Vgl. Heinz Paetzold, „Bedingungen einer transzendentalen Kulturphilosophie“, in: Heinz Paetzold, Die Realität der symbolischen Formen. Die Kulturphilosophie Ernst Cassirers im Kontext, Darmstadt 1994, S. 168. 32 Ebd., S. 174. Roger Behrens142 „1. Der nichtreduktionistische Charakter der neomarxistischen Ästhetik […] Ästhetisches wird […] interpretiert als Versprechen einer erst noch durch Praxis zu bewährenden, sinnvollen Einrichtung der Gesellschaft. Das Wahre, das die Kunst als in sich stimmige Sinntotalität konfiguriert, hat den Status einer erst noch einzulösenden Transzendenz über das Empirische […]. Der neomarxistischen Theorie wird die Kunst zu einem Paradigma von Rationalität, das die wissenschaftliche Rationalität – korrigierend – an die von ihr verbannten mimetischen Impulse ‚erinnert‘ (Adorno). […] Die Zwecklosigkeit ästhetischer Gebilde, gemessen an den Nützlichkeitsvorstellungen der empirischen Gesellschaft, ermöglicht eine Kritik der gesellschaftlichen Zweck-Mittel-Relationen. […] Fremd wer- den die Kunstwerke, weil sie eine Rationalität antizipieren, die erst einer von Zwängen emanzipierten Gesellschaft in vollem Umfang kompatibel wäre.“33 „2. Das Problematischwerden der Kunst Neomarxistische Ästhetik gewinnt ihren Begriff der Kunst von der Moderne aus. Sie unterstellt daher Ästhetisches nicht als Faktum, sondern es ist ihr unter Bedingungen einer Krisis der Erfahrung problematisch geworden (Benjamin, Marcuse). […] Von materialistischen Voraussetzungen aus hat Marx34 auf das mögliche Absterben der Kunst reflektiert. Die Tauschge- sellschaft mit der universalen Dominanz von quantitativen gegenüber quali- tativen Aspekten engt die Konstitutionsbedingungen der am Qualitativen orientierten Kunst entscheidend ein. Die Vorherrschaft technologischer Ra- tionalität lässt die ästhetische Phantasie verkümmern […]. Vom Blickwinkel der Gesellschaftstheorie aus, die auf die Rahmenbedingungen der Kunst reflektiert, scheint die Kunst nahezu unmöglich geworden zu sein. […] Die reale Perspektive auf eine Gesellschaft ohne Not und überflüssiges Leiden scheint praktisch nahezu verstellt.“35 „3. Theorie vom Ende der Kunst Die Theorie vom Problematischwerden der Kunst impliziert die Reflexion auf das Ende der Kunst. […] Neben dem misslungenen Ende der Kunst in der Kulturindustrie ließe sich noch ein weiteres schlechtes Ende denken. Kunst zehrt bei der Konstituierung ihres spezifischen Logos von der Erfah- rung eines Anderen. […] Wenn also eine Gesellschaft die ästhetische Erfah- rung ganz beseitigt, dann könnte das ein Indiz für einen Rückfall in Barbarei 33 Heinz Paetzold, Neomarxistische Ästhetik – Teil 2, S. 132 f. 34 Heinz Paetzold verweist hier auf Marx’ Bemerkungen zur griechischen Kunst in sei- nen Grundrissen, Einleitung, in: MEW Bd. 13, S. 640 f. 35 Heinz Paetzold, Neomarxistische Ästhetik – Teil 2, S. 134 f. Materialistische Ästhetik und transzendentalkritische Kulturphilosophie 143 sein. Die materialistische Kritik des ästhetischen Scheins als Hypostasierung eines versöhnten Seins zielt darauf, den Schein zu erretten. Errettet aber würde der Schein des Ästhetischen dann, wenn die Gesellschaft seiner nicht mehr bedürfte. Die Rettung des Scheins vollendet sich in einem gelungenen Ende des Ästhetischen. […] Erst einer vollkommenen Gesellschaft würde sich der Wahrheitsgehalt der Werke ganz erschließen. In ihr hätte Ästhe- tisches sein Scheinmoment verloren.“36 „4. Aufhebung des Ästhetischen durch Verwirklichung Eine Aufhebung durch Verwirklichung kann für die Ästhetik zweierlei be- deuten: Einmal kann sie beinhalten, dass es darum geht, die in den Kunst- werken latent enthaltenen kritischen Potentiale des Ästhetischen zu mani- festen praktischen Motiven für das gesellschaftliche Handeln zu erheben. Die utopischen Gehalte der Kunst würden dann übersetzt in den Horizont der Gesellschaft. Sie gingen ein in den Motivationsbestand einer emanzipa- torischen Gesellschaftspraxis. Zum anderen enthält der Topos einer Aufhe- bung durch Verwirklichung die radikalere Forderung, dass Ästhetisches seinen Ort im gesellschaftlichen Zusammenhang ändern soll. Ästhetisches würde seiner Existenzform im Kunstwerk entkleidet und würde zum konstitutiven Prinzip der Objektwahrnehmung und des Verhaltens.“37 Ausgangspunkt einer solchen Perspektive bleibt, mit Bloch, eine Ästhetik des Vor-Scheins: sie eröffnet eine ästhetische Dimension leibhaftig-konkreter und sinnlich-praktischer Erfahrung, die von der Möglichkeit bestimmt ist, dass „das Ästhetische zum konstitutiven Prinzip des Lebens selber“ werden könnte; diese Utopie, die Paetzold in eine transzendentalkritische Kulturphi- losophie einbettet, erweitert ästhetische Erfahrung als „Geschichtsphilo- sophie in praktischer Absicht“.38 Solche praktische Absicht umschließt bei- des: kritische Vorsicht und transzendentale Weitsicht; Heinz Paetzold hat dem einen ästhetisch erfahrbaren, und das heißt: theoretischen Raum kriti- scher Praxis erschlossen. 36 Ebd., S. 135 f. 37 Ebd., S. 136 f. 38 Vgl. Heinz Paetzold, Profile der Ästhetik. Der Status von Kunst und Architektur in der Postmoderne, Wien 1990, S. 236. Helmut Schneider Die Ironie in Hegels Ästhetik Gedanken zu einem nicht abgeschlossenen Gespräch mit Heinz Paetzold „Die romantische Kunst erfüllt also nicht mehr jene der klassischen Kunst zukommenden höchsten Absolutheitsansprüche. […] Der Hegelschen Lehre zufolge bringt es eine auf dem Prinzip der Sub- jektivität basierende Formation des Geistes mit sich, daß die empirische Welt in einer ungeahnten Weise freigelassen wird. […] Der romantische Künstler wird in zunehmendem Maße von dieser Vermittlung absoluter Wahrheit freigesetzt und damit wird seine letzte Rückzugsposition die in- dividuelle Geschicklichkeit und das Artistische sel- ber. […] Nach dem bisher Gesagten dürfte klar geworden sein, daß aus der Perspektive der Hegel- schen Ästhetik die romantische Kunst nicht mehr den allerhöchsten Bedürfnissen des Geistes in ur- sprünglicher Weise entspricht.“ Heinz Paetzold, Ästhetik des deutschen Idealismus1 I. Hegels Analyse der romantischen Ironie 1. Die Ironie in Hegels „Vorlesungen über Ästhetik“ Die Ironie war ein Thema, auf das Hegel immer wieder von seiner Frühzeit bis in die letzten Lebensjahre zurückkam. Seine Auseinandersetzung mit dem Problem der Ironie erfolgte reaktiv auf historische und zeitgenössische Thematisierungen der Ironie. In der Reaktion auf diese Vorgaben brachte Hegel jedoch die Prinzipien seiner eigenen Philosophie als Grundlage seines Urteils zur Geltung. Die von Hegel aufgegriffenen Vorlagen nehmen ver- schiedene Aspekte der Ironie auf, die sich jedoch zu einem Gesamtbild zusammenfügen. Hegels Auseinandersetzung mit der Ironielehre von Fried- rich Schlegel ist dabei ein wichtiger Teil seiner Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Romantik, die man auch im Hinblick auf die Ironie be- achten muss.2 In der von Hotho herausgegebenen Ausgabe der Vorlesungen 1 Heinz Paetzold, Ästhetik des deutschen Idealismus. Zur Idee ästhetischer Rationalität bei Baumgarten, Kant, Schelling, Hegel und Schopenhauer, Wiesbaden 1983, S. 258f. 2 Otto Pöggeler, Hegels Kritik der Romantik, München 1998. Die Ironie in Hegels Ästhetik 145 über die Philosophie der Kunst findet sich am Ende der Einleitung ein Ab- schnitt mit der auffälligen Überschrift „Historische Deduktion des wahren Begriffs der Kunst“3. Hier werden die wichtigsten Vertreter einer Ästhetik in Hegels Zeit abgehandelt und in einen lockeren historischen Zusammenhang gestellt: Kant, Schiller, Winckelmann, Schelling. Den Schluss dieses Ab- schnitts bilden Ausführungen über die Ironie bei den Schlegels, Solger und Tieck. In den erhaltenen Nachschriften findet sich dieser Abschnitt noch nicht in den Vorlesungsnachschriften von 1821 und 1823, sondern erst 1826 und 1828/29. 2. Hegels Rekonstruktion der Ironie Friedrich Schlegels im Ausgang von Fichte Hegels wiederholte Auseinandersetzung mit der romantischen Ironie be- sonders Friedrich Schlegels und Johann Gottlieb Fichtes beruhte auf seiner eigenen Rekonstruktion dieser Theorie. So kam es zu der ungewöhnlichen Lage, dass Hegel erst die Theorie der Ironie rekonstruieren musste, um sich mit ihr auseinandersetzen zu können. Die Darstellung Hegels ist viel kon- ziser und ausführlicher als bei Schlegel und Tieck, die nur in wenigen kur- zen Aussagen von der Ironie sprechen. Die Ironie liegt unformuliert über dem Gesamtwerk. Dieser indirekte Theoriestatus führt zu der Frage, warum Hegel sich so intensiv mit der Ironie beschäftigt hat und ob seine Rekon- struktion wirklich die romantische Ironie richtig erfasst hat. Hegel führt die romantische Ironie Schlegels auf Fichte zurück. „Dieser Standpunkt ist eigent- lich aus der Fichteschen Philosophie hervorgegangen, die das Ich als das Absolute ausspricht, das heißt als die absolute Gewissheit, als die allge- meine Ichheit, die durch die weitere Entwicklung zur Subjektivität fortgeht. Von Fichte ist eigentlich nicht zu sagen, dass er im Praktischen die Willkür des Subjekts zum Prinzip gemacht habe, aber späterhin ist im Sinne der besonderen Ichheit von Friedrich v. Schlegel dieses Besondere selbst in Be- treff des Guten und Schönen als Gott aufgestellt worden, so dass das ob- jektiv Gute nur ein Gebilde meiner Überzeugung sei, nur durch mich einen Halt bekommt, und dass ich es als Herr und Meister hervortreten und ver- schwinden lassen kann.“4 Hegel entwickelt Fichtes Lehre vom Ich in zwei Schritten: 3 Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, 3 Bde. (Werke in 20 Bänden, Frankfurt a.M. 1985, Bd.13, Bd.14, Bd.15). Hier zitiert als Hegel, Ästhetik, I, II oder III mit Seitenzahl. Text über die „Historische Deduktion des wahren Begriffs der Kunst“: Hegel, Ästhetik I, 83-99. 4 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Bd. 7, S. 285f. Helmut Schneider146 1. Das Ich ist bei Fichte ‚absolutes Prinzip‘ alles Wissens, aller Vernunft und Erkenntnis – das abstrakte und formale Ich. 2. Das Ich ist als formal in sich einfach und negiert jeden Inhalt, jede Bestimmtheit und Besonderheit, oder wenn es einen Inhalt geben kann, ist dieser nur durch das Ich gesetzt und anerkannt. „Was ist, ist nur durch das Ich, und was durch mich ist, kann ich ebenso sehr auch wieder vernichten.“ Auf diese Formulierung des Schaffens und Ver- nichtens wird später noch näher eingegangen. Da alles durch die Sub- jektivität hervorgebracht ist, gibt es nichts Anundfürsichseiendes, so dass das Ich über alles „Herr und Meister“ bleibt – eine von Hegel in diesem Zusammenhang häufig verwendete Formel. Das Anundfürsichseiende ist Scheinen durch das Ich, in der Gewalt, Willkür und Belieben des in sich absoluten Ichs. 3. Ironie als künstlerische Lebensgestaltung – Theorie des Künstlers – Das Leben als Kunstwerk „Das Ich nun ist lebendiges, tätiges Individuum, und sein Leben besteht da- rin, seine Individualität für sich wie für andere zu machen, sich zu äußern und zur Erscheinung zu bringen. Denn jeder Mensch, indem er lebt, sucht sich zu realisieren und realisiert sich. In Rücksicht auf das Schöne und die Kunst nun erhält dies den Sinn, als Künstler zu leben und sein Leben künstlerisch zu gestalten. Als Künstler aber, diesem Prinzip gemäß, lebe ich, wenn all mein Handeln und Äußern überhaupt, insoweit es irgendeinen Inhalt betrifft, nur ein Schein für mich bleibt und eine Gestalt annimmt, die ganz in meiner Macht steht.“5 Schlegel vertritt eine Theorie des Ichs, die exemplarisch eine Theorie des Künstlers begründet. Das Ich Fichtes in seiner Überbetonung und Ichvergöt- zung wird als künstlerisches Ich verstanden. „In Rücksicht auf das Schöne und die Kunst nun erhält dies den Sinn, als Künstler zu leben und sein Leben künstlerisch zu gestalten.“ Die Idee einer bewussten Lebensgestal- tung ist eine Grundidee der antiken Philosophie, die sich weitgehend als Lebenspraxis verstanden hat, wie Pierre Hadot und Foucault gezeigt haben. Plotin prägte in der Spätphase der antiken Philosophie dafür die Metapher von der Statue, die der Philosoph von sich meißeln soll. Das war kein Auf- trag für eine anzulegende Bildhauerwerkstatt des Philosophen, sondern eine Aufforderung zur Bildung des inneren Selbst in Analogie zu einem Kunst- werk in Form einer Statue. Auch Hegel hat solche Vergleiche gebraucht, 5 Hegel, Ästhetik I, 94. Die Ironie in Hegels Ästhetik 147 z. B. wenn er Sokrates als Kunstwerk bezeichnete6. Im lyrischen Gedicht sieht Hegel den Menschen in seiner Innerlichkeit als Kunstwerk: „Hier wird sich der Mensch in seiner subjektiven Innerlichkeit selbst zum Kunstwerk, während dem epischen Dichter der fremde Heros und dessen Taten und Ereignisse zum Inhalt dienen.“7 In der Anakreontik, den anakreontischen Liedern und Gedichten, schildert sich der Dichter selbst, „wie einen Heros, der unbefangen und frei und daher ohne Beschränktheit oder Mangel nur dieses Eine ist, was er ist: ein Mensch seiner eigenen Art als subjektives Kunstwerk.“8 4. Der verlorene Ernst „Dann ist es mir weder mit dem Inhalt noch seiner Äußerung und Ver- wirklichung überhaupt wahrhafter Ernst. Denn wahrhafter Ernst kommt nur durch ein substantielles Interesse, eine in sich selbst gehaltvolle Sache, Wahrheit, Sittlichkeit usf. herein, durch einen Inhalt, der mir als solcher schon als wesentlich gilt, so dass ich mir für mich selber nur wesentlich werde, insofern ich in solchen Gehalt mich versenkt habe und ihm in mei- nem ganzen Wissen und Handeln gemäß geworden bin. Auf dem Stand- punkte, auf welchem das alles aus sich setzende und auflösende Ich der Künstler ist, dem kein Inhalt des Bewusstseins als absolut und an und für sich, sondern als selbstgemachter zernichtbarer Schein erscheint, kann sol- cher Ernst keine Stätte finden, da nur dem Formalismus des Ich Gültigkeit zugeschrieben ist.“9 Die Gegeneinstellung zur Ironie ist in der Auffassung Hegels also der Ernst. Während es der Ironie mit nichts ernst ist, verbindet der Ernst die Merkmale Echtheit, Authentizität, Ehrlichkeit ohne Heuchelei und Verstel- lung, also die Bindung an die substantielle Wirklichkeit. Allerdings ist der Ernst auch dem Ironiker Schlegel nicht völlig fremd, wie eine sehr schöne Passage im Athenäum über den Ernst zeigt, die ihm durchaus Bedeutung beimisst. Ernst und Spiel müssen sich nicht völlig ausschließen. Es gibt das ernste Spiel. „Die Welt ist viel zu ernsthaft, aber der Ernst ist doch selten genug. Ernst ist das Gegenteil von Spiel. Der Ernst hat einen bestimmten Zweck, den wichtigsten unter allen möglichen; er kann nicht tändeln und er kann sich nicht täuschen; er verfolgt sein Ziel unermüdet bis er es ganz erreicht hat. Dazu gehört Energie, Geisteskraft von schlechthin unbegrenzter Extension 6 Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Bd. II, (Hegel.Sämtliche Werke.Jubiläumsausgabe.Bd.18, S. 54). 7 Hegel, Ästhetik, III, 427. 8 Hegel, Ästhetik, III, 428. 9 Hegel, Ästhetik, I, 94f. Helmut Schneider148 und Intension. Giebt es keine absolute Höhe und Weite für den Menschen, so ist das Wort Größe in sittlicher Bedeutung überflüssig. Ernst ist Größe in Handlung. Groß ist was zugleich Enthusiasmus und Genialität hat, was zu- gleich göttlich und vollendet ist. Vollendet ist, was zugleich natürlich und künstlich ist. Göttlich ist was aus der Liebe zum reinen ewigen Seyn und Werden quillt, die höher ist als alle Poesie und Philosophie. Es giebt eine ruhige göttliche Kraft des Helden und die bildende Thätigkeit des Künstlers. Was zugleich göttlich, vollendet und groß ist, ist vollkommen.“10 5. Psychologie und Pathologie der Ironie als Lebenspraxis – der Konflikt der „schönen Seele“ Hegel gibt eine einfühlende Beschreibung des seelischen Zustandes des iro- nischen Subjets, seines Sozialverhaltens und seines Scheiterns in Hand- lungsunfähigkeit als „schöne Seele“. Hegel hat die romantische Ironie als Krankheit beschrieben. Er schildert in genauen Analysen den Seelenzustand des ironischen Ichs. Ein wesentliches Merkmal des ironischen Subjekts ist seine „Seligkeit des Selbstgenusses“. Man kann sicher für Selbstgenuss ‚Nar- zissmus‘ einsetzen und für Seligkeit ‚Lust‘. Psychoanalytisch gesehen er- innert das an das frühkindliche oder sogar embryonale Stadium, das sich durch narzisstische lustvolle Regression des ironischen Subjekts vom Status des Erwachsenen mit seinen festen Objektbeziehungen gelöst hat. Eng damit verbunden ist die Bindungslosigkeit als Form der narzisstischen Freiheit. Dem narzisstisch fixierten Künstler scheint sein Leben als Kunstwerk wich- tiger zu sein als ein von ihm produziertes Kunstwerk. Zum Solipsismus und zur Bindungslosigkeit tritt als weitere narzisstische Komponente die Be- tonung des Größenichs in einer phantasierten „göttlichen Genialität“. Das sich für genial haltende ironische Subjekt gerät damit in einen Konflikt mit seiner sozialen Umwelt. Hegel schildert treffend die Überheblichkeit und den Hochmut des ironischen Subjekts: „Wer auf solchem Standpunkt gött- licher Genialität steht, blickt dann vornehm auf alle übrigen Menschen nie- der, die für beschränkt und platt erklärt sind, insofern ihnen Recht, Sitt- lichkeit usf. noch als fest, verpflichtend und wesentlich gelten.“11 Wenn das ironische Subjekt seine Gesinnung nicht mitteilt, kommt es zur Täuschung, Verstellung und Heuchelei, der ursprünglichen Bedeutung des griechischen Wortes eironeia. Die Grundlage der sozialen Beziehungen wird durch die 10 Athenaeum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm und Friedrich Schlegel, Berlin 1798. Reprint hg. in zwei Teilen und mit einem Nachwort versehen von Bernhard Sorg, Dortmund 1985, 1. Band, 2.Stück S. 129f. (Fragmente von F. Schlegel) 11 Hegel, Ästhetik, I, 95. Ich danke Douglas Moggach (Ottawa, Kanada) für den interes- santen Hinweis auf Moses Mendelssohn, der bereits feststellte, dass durch die Refle- xion die Bindung des Subjekts an die Wirklichkeit gelöst wird. Die Ironie in Hegels Ästhetik 149 Ironie aufgelöst. Das ironische Subjekt kann bei seinem scheinbar beglücken- den Selbstgenuss dennoch nicht glücklich werden. Trotz der Entwertung der Objektivität bleibt ein Gefühl des Mangels und der Durst nach der festen Objektivität und dem Substantiellen. Es entsteht der innerliche, unglücklich machende Widerspruch, dass das Subjekt zwar nach Objektivität verlangt, sich aber von der ironischen Haltung mit ihrer absoluten Selbstbezüglichkeit nicht freimachen kann. Es entsteht die reine Sehnsüchtigkeit, die Sehnsucht nach dem nicht erreichbaren Objekt, die ebenfalls Fichte schon kannte.12 Dieser Zustand der „schönen Seele“ ist die „Schönseelischkeit“. Ihr Haupt- merkmal ist ihre Unwilligkeit und ihre Unfähigkeit zum Handeln. Sie will in ihrer Schwäche nichts berühren, um nicht die innere Harmonie zu stören und um rein zu bleiben. „Es ist dies eine Sehnsucht, welche sich zum wirklichen Handeln und Produzieren nicht herablassen will, weil sie sich durch die Berührung mit der Endlichkeit zu verunreinigen fürchtet, obschon sie ebensosehr das Ge- fühl des Mangels dieser Abstraktion in sich hat.“13 „Denn eine wahrhaft schöne Seele handelt und ist wirklich.“14 Mit der Bezeichnung dieses Zustands als „schöne Seele“ nimmt Hegel einen Ausdruck auf, der im 18. Jahrhundert vielfach verwendet wurde, aber schon auf ältere Wurzeln zurückgeht. Hegel charakterisiert diesen Zustand als „krankhafte Schönseelischkeit“. Das von Hegel genannte Musterbeispiel ist jedoch nicht Friedrich Schlegel, von dem die Theorie stammt, sondern Novalis, der „zu der Leerheit von bestimmten Interessen, zu dieser Scheu vor der Wirklichkeit getrieben und zu dieser Schwindsucht gleichsam des Geistes hinaufgeschraubt wurde.“15 „Schwindsucht“ ist das deutsche Wort für Tuberkulose, an der Novalis gestorben ist. Bereits in der Phänomeno- logie des Geistes hatte Hegel darauf angespielt, ohne Novalis zu nennen. Heute würde man den Zustand der „schönen Seele“ als Depression be- zeichnen. 12 Johann Gottlieb Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre als Handschrift für seine Zuhörer (1794). Einleitung und Register von Wilhelm G. Jacobs, Hamburg 1979, S. 219-225; 236-238; 240f; 244. 13 Hegel, Ästhetik, I, 211 14 Hegel, Ästhetik, I, 96. 15 Hegel, Ästhetik, I, 211. Helmut Schneider150 II. Hegels philosophischer Hintergrund zur Deutung der Ironie 1. Absolute Subjektivität und absolute Negativität Fichte hatte das Ich als absolutes Prinzip alles Wissens, aller Vernunft und Erkenntnis aufgestellt. Dieses Ich negiert jeden Inhalt, jede Besonderheit und Bestimmtheit, ist also völlig abstrakt und formal. Das Ich ist absolutes Ich, das sich und alles andere Hervorgebrachte setzt, so dass alles auch vom Ich vernichtet werden kann. Gelegentlich bezeichnet Fichte das absolute Ich auch als absolutes Subjekt. „Und dies macht es denn völlig klar, in welchem Sinne wir hier das Wort Ich brauchen, und führt uns auf eine bestimmte Erklärung des Ich, als absoluten Subjekts. Dasjenige, dessen Sein (Wesen) bloß darin besteht, daß es sich selbst als seiend setzt, ist das Ich, als ab- solutes Subjekt. So wie es sich setzt, ist es; und so wie es ist, setzt es sich; und das Ich ist demnach für das Ich schlechthin, und notwendig. Was für sich selbst nicht ist, ist kein Ich.“16 Für Hegel ist absolute Subjektivität auch absolute Negativität, das Prin- zip der Ironie: „So liegt allerdings in der Ironie absolute Negativität, in welcher sich das Subjekt im Vernichten der Bestimmtheiten und Einseitig- keiten auf sich selbst bezieht [...]“,17 die Ironie wird von Hegel geradezu als „allseitige Vernichtigungskunst“ bezeichnet. Das Vernichten des Bestimmten in der Ironie erfolgt durch die Beliebigkeit des ironischen Subjekts bei der Wahl seiner Inhalte. Dieses Vernichten ist vorgeprägt durch das absolute Ich, das alle bestimmten Inhalte ausschließt als reines und formales Ich. Das Begriffspaar „Schaffen und Vernichten“ bzw. Selbsterschaffung und Selbst- vernichtung geht auf Fichte zurück und wurde von Schlegel auf den Künst- ler und die Kunst bezogen. Das Ich wird als hervorbringend beschrieben und dadurch mit dem Recht versehen, seine Hervorbringungen wieder zu ver- nichten. Dieses Recht wird nicht näher begründet. Darf ein Schöpfer grund- sätzlich seine Geschöpfe auch wieder vernichten, zudem noch ohne Begrün- dung? Hegels Formel, dass das Ich über die Wirklichkeit „Herr und Meister“ ist, macht diese absolute Macht des Ichs deutlich. Hegels Urteil über die romantische Ironie Schlegels ist also weitgehend ablehnend, weil die in der romantischen Ironie absolut gesetzte Subjektivität die Bindung an das Vorgegebene, die Substanz verliert. Die Substanz soll zwar Subjekt werden, aber das Substantielle dadurch nicht in Frage gestellt und aufgelöst werden. Die Ironie Schlegels mit der absoluten Freiheit eines Subjekts, das über seine Werte in Wahrheit und Sittlichkeit selbst entscheidet, ist mit Hegels 16 Johann Gottlieb Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, S. 17. 17 Hegel, Ästhetik, I, 211. Die Ironie in Hegels Ästhetik 151 Vorstellung von einer vorgegebenen Ordnung nicht vereinbar. Das entspricht Hegels auch sonst bekannter Abwehr der zeitgenössischen Romantik und damit der ästhetischen Moderne. 2. Die Ironie als Gestalt im Gang des Geistes In der Enzyklopädie, in der 2. und 3. Auflage, führt Hegel die Ironie im Ab- schnitt über den absoluten Geist im Übergang von der Religion zur Philo- sophie ein (§571). Er spricht dort von der „unendlichen Subjektivität“ als dem sich in sich als absolut wissenden Selbstbewusstsein, der Ironie. Das Auftauchen der Ironie an dieser prominenten Stelle des Systems ist zunächst erstaunlich. Sie ist eine notwendige Stufe der Entwicklung des Geistes, wie die Phänomenologie des Geistes schon gezeigt hat. Sie muss jedoch aufgehoben und überwunden werden. § 571: „Wird das Resultat, der für sich seyende Geist, in welchem alle Vermittlung sich auf- gehoben hat, in nur formellem, inhaltslosem Sinne genommen, so daß der Geist nicht zugleich als an sich seyender und objectiv sich entfaltender gewußt wird, so ist jene unendliche Subjectivität das sich in sich als absolut wissende Selbstbewußtseyn, die Ironie, welche allen objectiven Gehalt sich zu nichte, zu einem eitlen zu machen weiß, somit selbst die Gehaltlosigkeit und Eitelkeit ist, die sich nur zufälligen und beliebigen Inhalt und Be- stimmung gibt, Meister darüber bleibt, durch ihn nicht gebunden ist, und mit der Versicherung auf der höchsten Spitze der Religion und der Philosophie zu stehen, vielmehr in die hohle Willkühr zurückfällt.“18 In der 3. Auflage von 1830 hat Hegel diesen Abschnitt an einigen Stellen etwas verändert mit kleinen Ergänzungen. Er fügte jedoch auch noch einen kürzeren Abschnitt hinzu, der für das Verständnis sehr nützlich ist. „Nur indem die reine unendliche Form, die bey sich seyende Selbstmani- festation, die Einseitigkeit des Subjectiven, worin sie die Eitelkeit des Den- kens ist, ablegt, ist sie das freye Denken, welches seine unendliche Bestim- mung zugleich als absoluten, an und fürsichseyenden Inhalt, und ihn also als Object hat, in welchem es ebenso frey ist. Das Denken ist insofern selbst nur das Formelle des absoluten Inhalts.“19 Hegel verwendet hier die Beschreibung der Struktur der Ironie mit den bekannten Formulierungen, um die Struktur des rein formalen, subjektiven Denkens zu erläutern. In der immanenten Einfachheit des Denkens gibt es auch die Entfaltung und Ausbreitung der Wahrheit als Gegenstand der Phi- losophie. Hegel fordert im Gegensatz zur reinen, unendlichen Form, der Ein- 18 Hegel, Encyclopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Zum Gebrauch seiner Vorlesungen. 2. Ausgabe, Berlin 1827, § 571, Anmerkung. 19 Hegel, Encyclopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Zum Gebrauch seiner Vorlesungen. 3. Ausgabe, Heidelberg 1830, § 571, Anmerkung. Helmut Schneider152 seitigkeit des Subjekts in der Ironie, der Eitelkeit des inhaltslosen Denkens, das freie Denken, das seine Bestimmung auch als absoluten Inhalt zum Objekt hat, in welchem es frei ist. Hegel fordert also die Einheit von Form und Inhalt im Denken: „Das Denken ist insofern selbst nur das Formelle des absoluten Inhalts.“ Hegel bewertet die Ironie also als eine einseitige und nicht weiterführende Form der absoluten Subjektivität, die den Inhalt preis- gegeben hat. Es ist eine Absage Hegels an eine „Ästhetik der reinen Form“, die Hegels Orientierung am Inhalt der Kunst widersprechen würde. Man könnte mit guten Gründen aber auch eine „Ästhetik der reinen Form“ gegen Hegel vertreten, die mit Schlegel die Kunst in die reine, absolute Form setzt. Reine Form findet man in der Musik, wenn sie auf inhaltliche Symboli- sierung verzichtet. Auch im japanischen No-Theater hat sich die Form vom Inhalt gelöst. 3. Die Ironie als Element der Moderne In der Entstehung der romantischen Ironie in der Zeit um 1800 kann man die beginnende Entwicklung der Moderne und ihrer Fortsetzung in der Post- moderne erkennen. Die von Hegel abgelehnte romantische Ironie konnte sich in der Folgezeit verstärken und durchsetzen, bei Nietzsche, Sartre, Derrida. Sie war fortschrittlicher und entsprach besser der gesamten kultu- rellen Entwicklung. Wesentliche Elemente der Moderne wurden von Hegel nicht vertreten, wie die Abwehr eines tyrannischen Absoluten, die Freiheit der Beliebigkeit, die Bedeutung des Fragments im Gegensatz zum System und zur Totalität, der Phantasie im Gegensatz zur Ratio, des Spiels und der Toleranz. In der Ablehnung der romantischen Ironie kam Hegel an seine Grenzen. Die Entwicklung ging über ihn hinweg.20 Italienische Übersetzung: „L’ ironia nell’ Estetica di Hegel“, in: Il pensiero di Hegel nell’ Età della globalizzazione. A cura di Giacomo Rinaldi e Thamar Rossi-Leidi, Roma: Aracne Editrice. 2012, S. 301-310. 20 Helmut Schneider, „Die romantische Kunstform Hegels als Theorie der ästhetischen und künstlerischen Moderne und Postmoderne“, in: Jahreshefte der Kunstakademie Düsseldorf. Sonderband. Teil 1: Perspektiven einer Didaktik der bildenden Künste, Düsseldorf 2002, S. 37-67. Italienische Übersetzung: „La forma d’ arte romantica di Hegel come teoria della modernità e del postmodernismo estetico e artistico. II futuro dell’ arte dopo Hegel“, in: Magazzino di filosofia, Nr.16, 2005, S. 128-143. Die Ironie in Hegels Ästhetik 153 „Liegen die eigentlichen Leistungen der Hegelschen Theorie vorab auf dem Felde der Werkästhetik, so zeigen sich hier zugleich auch ihre Schwächen: Hegels Ästhetik verkörpert den Typus spekulativer Gehalts- ästhetik. […] Dies alles hängt mit einem zweiten Punkt zusammen, den man kritisch gegen Hegel geltend machen kann: Seine Ästhetik basiert auf einer unzureichenden Theorie sinnlicher Erfahrungsmodi. […] Be- denkt man diesen Zusammenhang, dann ergibt sich daraus als Forde- rung, daß die Ästhetik an eine philosophische Konzeption zurückzu- binden wäre, welche beides zusammenbringt, also einmal die von den spekulativen Idealisten der Kunst zuerkannten höchsten Ansprüche auf Wahrheitsdarstellung, andererseits müßte dies innerhalb einer Philoso- phie geschehen, welche eine Alternative zum Szientismus bietet.“ Heinz Paetzold, Ästhetik des deutschen Idealismus21 21 Heinz Paetzold, Ästhetik des deutschen Idealismus. Zur Idee ästhetischer Rationalität bei Baumgarten, Kant, Schelling, Hegel und Schopenhauer, Wiesbaden 1983, S. 405ff. Gerhard Schweppenhäuser Wertgefühle, Wertunterscheidungen und moralische Wertbezeichnungen Moralphilosophie im Kommunikationsdesign „Moralisch ... handelt ein Mensch dann, wenn er nicht allein den Bestand der realen Kommunika- tionsgemeinschaft nicht gefährdet, sondern in dieser zugleich ihre Erweiterung zur idealen Gemein- schaft anbahnt.“ Heinz Paetzold In der Design-Tradition von Arts-and-Crafts, Werkbund und Bauhaus herrschte die Überzeugung, die industrielle Welt könne nur dann besser werden, wenn die Lebenswelt schöner und rationaler gestaltet wird. Nostal- gische Konstrukte integraler Produktionsformen der Gotik vermischten sich mit modernistischen Utopien eines technisch, wissenschaftlich und sozial- ethisch optimierten Zusammenlebens. Der Gestaltungsdiskurs verband Motive aus Ästhetik, Metaphysik, Erkenntnistheorie und Ethik zu einer kontrafak- tischen Grundlage für Kritik und Normativität.1 Die Vision lebte nach dem Zweiten Weltkrieg weiter, zum Beispiel an der Hochschule für Gestaltung in Ulm, wo man ästhetische Gestaltung der Alltagskultur und die Menschen- würde in einem Verhältnis der Wechselwirkung sah.2 Auch heute beanspru- chen Produktdesigner, nicht nur für das Schöne und Praktische zuständig zu sein, sondern auch für das Richtige und das Gute – von Gebrauchsgegen- ständen bis hin zur Gestaltung von Lebensräumen und -formen. Entwerfer treffen Entscheidungen, die ethisch begründbar sein sollten; ihre Produkte 1 Die Avantgarde des 20. Jahrhunderts hat ihre „sozialethischen Visionen einer besseren Gesellschaft“ – Catrin Misselhorn, „Die symbolische Dimension der ästhetischen Er- fahrung von Kunst und Design“, in: J. Nida-Rümelin u. J. Steinbrenner (Hg.), Kunst und Philosophie. Ästhetische Werte und Design, Ostfildern 2010, S. 77 – vom Stand- punkt einer Wahrheitsgewissheit aus verkündet. Ihre Anhänger waren von der „idea- listischen Überzeugung“ durchdrungen, „dass gute Form auch gute Menschen macht“: Christian Demand, „Haltung! Wie viel Ethos braucht Design?“, in: J. Nida-Rümelin u. J. Steinbrenner (Hg.), Kunst und Philosophie. Ästhetische Werte und Design, S. 33. Ich möchte allerdings betonen, dass es hier aber nicht nur ‚idealistisch‘ in dem (in Wahrheit pseudoidealistischen) Sinne zuging, der einer Wirklichkeit das gute Gewissen verleiht, welcher jene Qualitäten abgehen. 2 Max Bill hatte1949 für den Schweizer Werkbund eine Wanderausstellung „Die gute Form“ entwickelt, die wenig später von Ulm aus um die ganze Welt ging. Wertgefühle, Wertunterscheidungen und moralische Wertbezeichnungen 155 drücken Werthaltungen und „Wertbezeichnungen“3 aus. Für Otl Aicher, den guten Geist von Ulm, stand fest: „der designer ist eine art moralist. Er wer- tet. Seine tägliche arbeit besteht aus wertungen.“4 Ich denke, Nietzsches Be- griffe „Werthgefühle und Werthunterschiede“5 eignen sich, um die emo- tionalen und kognitiven Seiten der moralischen Haltung zu charakterisieren, die Gestalter demnach einnehmen sollten, die mit ihren Produkten ihre Einstellung ausdrücken und eine Bewertung der bestehenden Welt abgeben. Am Unterscheidungsvermögen zeigt sich nicht nur die ästhetische, sondern auch die ethische Sensibilität. Ist ein Moralist dasselbe wie ein Ethiker? „Moral“ kann man die indi- viduellen Überzeugungen von Menschen nennen oder auch die herrschen- den Sitten in einer Gemeinschaft. „Ethik“ ist dann die „Reflexionstheorie der Moral“ (Luhmann): Sie fragt nach Prinzipien und Geltungsansprüchen, die moralischen Überzeugungen von Individuen, Gemeinschaften und Ge- sellschaften zugrunde liegen.6 Ein Ethiker ist also ein Moralphilosoph, der nach der Begründung von Moralprinzipien fragt; ein Moralist hingegen tritt offensiv für seine Überzeugungen ein. Er will die bestehenden Sitten durch Kritik, Praxis, Entwurf und Vorbild beeinflussen. In den 1990er Jahren bezogen sich „moralistische“ Produktdesigner gern auf die Verantwortungsethik von Hans Jonas, der „wegen der exzessiven Größe unserer Macht“ „eine neue Art von Demut“7 forderte: Janusköpfige Errungenschaften aus Wissenschaft und Technik wie Atomkraft oder Gen- technologie hätten irreversible Folgen; die „Wiederherstellung der Kategorie des Heiligen“8 sollte uns im nachreligiösen Zeitalter dabei helfen, aufs Neue „Ehrfurcht und Schaudern“ zu lernen, um uns „vor den Irrwegen unserer Macht zu schützen“9 und „den eigentlichen Zweck“ zu befördern, nämlich „das Gedeihen des Menschen in unverkümmerter Menschlichkeit“10. Designer folgerten daraus, Design habe ökologisch, nachhaltig sowie generationen- und sozialverträglich zu sein.11 Die Benutzer sollten zwar nicht mit Schau- 3 Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, in: Kritische Studienausgabe, hg. v. G. Colli u. M. Montinari, Bd. 5, München 1980, S. 209. 4 Otl Aicher, die welt als entwurf, Berlin 1991, S. 67. 5 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, S. 105. 6 Siehe dazu Gunzelin Schmid Noerr, Geschichte der Ethik, Leipzig 2006 (Kap. 1: „Moral und Ethik“). 7 Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a.M. 1984, S. 55. 8 Ebd., S. 57. 9 Ebd., S. 392. 10 Ebd., S. 393 (Hervorhebung: G.S.). 11 Siehe Günther Altner, „Die ökologische Frage als Herausforderung für eine Ethik der Mitkreatürlichkeit bei der technischen Gestaltung der Natur“, in: Ethik & Design. 15. Designwissenschaftliches Kolloquium. Burg Giebichenstein, Hochschule für Kunst und Design, Halle/Saale 1994, S. 20; siehe dazu auch Siegfried Maser: „Design – ein Teil Gerhard Schweppenhäuser156 dern auf ihre Artefakte reagieren, aber Ehrfurcht dürften sie ihnen schon entgegenbringen – genauso wie die Gestalter den natürlichen Ressourcen. Die philosophischen Bezüge wechseln, aber über Design und Ethik wird weiter nachgedacht. 2009 wurde auf einer Tagung des Rats für Formgebung über die Marktchancen von Luxus-Produkten diskutiert. Angesichts sozialer Armutsprobleme vor der Haustür sowie weltweitem Hunger und Elend ein ethisch hochbrisantes Thema. Bei seiner Präsentation dominierte jedoch das eher ethikferne Interesse daran, „welche Voraussetzungen für eine starke Markenpositionierung im Luxussegment geschaffen werden müssen und wie sich grundlegende Wettbewerbsvorteile nachhaltig gestalten lassen“.12 Der Begriff der Nachhaltigkeit wurde hier (ich fürchte, ohne sarkastische Inten- tion) seiner political correctness ebenso entkleidet wie der Tendenz zur öko- logischen Romantik; er wurde auf seinen harten, profitorientierten Kern ge- bracht. Wenig später veranstaltete die Kulturstiftung des Bundes im Museum für Kunst und Design eine Tagung zum Thema „Ästhetische Werte und Design“. Christian Demand setzte sich in seinem Vortrag mit den Problemen der – oben bereits angesprochenen – „idealistischen Überzeugung“ ausein- ander, „dass gute Form auch gute Menschen macht“. Er fragte: „Wieviel Ethos braucht Design?“13 In der Frage klang bereits eine gewisse Ermüdung an, die im Vortrag auch zum Ausdruck kam. Dennoch bleibt der ethische Diskurs relevant, aber er wird fast nur von Vertretern des Produkt- und Industriedesigns geführt. Stimmen aus dem Kom- munikationsdesign, das unsere visuelle Kultur zunehmend prägt, sind kaum vernehmbar. Kommunikationsdesigner verstehen sich als Subjekte im öffentlichen Raum mit sozialer Verantwortung, denn in ihrem Bereich geht es nicht nur darum, vorgegebene Mitteilungsziele strategisch optimal zu erreichen, son- dern auch darum, wie die kommunikativen Zwecke zu bewerten sind, welche Mittel gerechtfertigt sind, welche nicht usw. Die Verbindung von Kommu- nikationsdesign und Ethik ist also keine bloße Zuschreibung „von außen“. Gestalter und Wissenschaftler aus dem Bereich der visuellen Kommunika- tion haben sich mit Beiträgen zum Thema „Design und Ethik“ bislang aller- dings zurückgehalten. Aicher war eine der wenigen Ausnahmen; auf zwei andere werde ich später noch zu sprechen kommen. Eine weitere, jüngere Ausnahme sind Hajo Eickloff und Jan Teunen. In ihrem Buch Form:Ethik. Ein Brevier für Gestalter plädieren sie für Werte, von jener Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft?“, in: Ethik & Design. 15, S. 91 ff. 12 Rat für Formgebung: „Strategien für einen nachhaltigen Luxus 1. Deutscher Marken- und Designkongress in Dresden, Frankfurt a.M., 29. Juni 2009; www.german-design- council.de/fileadmin/.../PM09_DMDK.pdf (01.06.2012). 13 Christian Demand, „Haltung!“, (Fn. 1), S. 33. – Beim Nachdenken über Werte ist in der Debatte über Design und Ethik die Reflexion über Normativität bislang unterbe- lichtet geblieben. Dazu weiter unten mehr. Wertgefühle, Wertunterscheidungen und moralische Wertbezeichnungen 157 die für alle akzeptabel sind: für Produktentwerfer und -hersteller, für Kon- sumenten und für Gestalter, die sie bewerben. Das Ergebnis ähnelt einem politischen Koalitionsvertrag: Unvereinbare Vorstellungen werden hinter Kompromissformeln versteckt, das Ganze strotzt vor Unverbindlichkeit. Die Werte-Kandidaten, die Eickloff und Teunen vorschlagen, heißen Naturbe- wahrung, Nachhaltigkeit, gesellschaftlicher Nutzen, Schönheit und Kreativi- tät. Wer würde dem widersprechen? Eine substanzielle Auseinandersetzung mit visueller Kommunikation anhand von moralphilosophischen Kategorien findet aber nicht statt. Sie müsste dort ansetzen, wo es weh tut, also bei den normativen Konflikten, in die Gestalter im Bereich der visuellen Kommuni- kation geraten können. Stattdessen beschwören die Autoren Werte, die nicht dissensfähig sind, und proklamieren – in unstatthafter Verkürzung der Ar- gumentation von Hans Jonas – eine banal-pantheistische Weltanschauung: „Für Gestalter kann es wichtig sein, sich eine Sensibilität für den unsicht- baren Bauplan des Universums zu bewahren, weil er dadurch eine Verant- wortung für seine Mitmenschen, seine Umwelt und gegenüber zukünftigen Generationen gewinnt.“14 1964 veröffentlichte der Grafikdesigner Ken Garland ein Manifest mit dem Titel First Things First,15 das für die Priorität nützlicher und dauer- hafter Formen der Kommunikation plädiert. Statt Werbung für Konsumviel- falt sollten sich Grafikdesigner Dingen widmen, die zum „nationalen Wohl- stand“ beitragen. Garland nennt Orientierungssysteme, Bücher, Zeitschriften, Kataloge, Bedienungsanleitungen, Lehrmittel, Filme und Fernsehfeatures, Industriefotografie und wissenschaftliche Veröffentlichungen. Sie sollen Bildung, Erziehung und Kultur sowie größere Aufmerksamkeit für die Welt im Allgemeinen fördern. 35 Jahre später wurde das Manifesto 2000 der Ad- busters veröffentlicht.16 Die Autoren stellen selbstkritisch fest, dass sie als Werbeprofis ihren Beitrag zur Verstümmelung des öffentlichen Diskurses leisten: Reklame, Marketing und Markenentwicklung erzögen Bürger zu Konsumenten und veränderten deren Sprache, Gefühle, Kommunikation und Interaktion. In einer global kommerzialisierten Kultur sollten Designer aber bei der Entwicklung kultureller Neuerungen mitwirken, z. B. mit sozialen Marketingkampagnen, Büchern, Zeitschriften, Ausstellungen, Lehrmitteln, Fernsehprogrammen, Filmen und Wohltätigkeitsprojekten. Auch hier wird für eine Umkehr der Prioritäten plädiert: weg vom Produktmarketing, hin zu nachhaltigen und demokratischen Formen der Kommunikation. Die visuel- len Sprachen des Designs sollen dem Konsumismus den Kampf ansagen. 14 Hajo Eickloff u. Jan Teunen, Form:Ethik. Ein Brevier für Gestalter, Ludwigsburg 2006, S. 111. 15 Ken Garland, „First Things First“, 1964 (http://www.kengarland.co.uk/KG%20published% 20writing/first%20things%20first/index.html [08. 09. 2012]). 16 http://maxbruinsma.nl/index1.html?ftf2000.htm [08. 09. 2012]. Gerhard Schweppenhäuser158 Beiden Manifesten liegen ethische Argumentationen zugrunde. Sie re- kurrieren auf die Werte sozialer Nutzen, Nachhaltigkeit und demokratische Teilhabe. Grundlage der Argumentation ist eine utilitaristische Auffassung: Weil der soziale Gesamtnutzen (bzw. Gesamtgewinn) in der Wert-Rangliste über dem egoistischen Gewinninteresse steht, sei moralisch nur ein Handeln gerechtfertigt, das zum maximalen Glück der größtmöglichen Zahl von Menschen beiträgt. Das Einzelinteresse wird nicht verleugnet; die kritischen Manifeste rufen nicht zum Berufswechsel oder zum Branchenboykott auf, sondern legen Kommunikationsdesignern ans Herz, ihren Lebensunterhalt auf anständige, sozial und kulturell zuträgliche Weise zu verdienen. Bislang fehlt eine Theorie, die dem Verhältnis von visueller Kommuni- kation und Ethik auf dem Niveau philosophischer Begründungsstandards umfassend gerecht wird. Kann der ethische Anspruch im Kommunikations- design auch von anderen Positionen als dem Utilitarismus aus begründet werden? Als weitere Bezugspunkte bieten sich Verantwortungsethik, deon- tologische Ethik oder Mitleids- bzw. Solidaritätsethik an. Ich werde das im Folgenden ausführen und dann die These vertreten, dass die beste Ethik des Kommunikationsdesigns eine Ethik der Kommunikation ist. Kommunikationsdesign und angewandte Ethik – Kommunikationsdesign als angewandte Ethik Im Bereich der angewandten Ethik werden „normative Prinzipien und Regeln auf problematische Falltypen oder Einzelfälle“17 bezogen. Ziel ist dabei ers- tens, diese moralisch beurteilen zu können und zweitens, „die entsprechen- den Handlungsräume moralisch zu gestalten“.18 Im Zentrum angewandter Ethik steht die Urteilskraft, von der es grundsätzlich zwei Arten gibt. Ent- weder versucht man, allgemeine normative Prinzipien besonderen Einzel- fällen zuzuordnen. Diese Art der Urteilskraft wird mit Kant die bestimmende genannt: Sie verfährt wie ein Richter, der entscheiden muss, ob ein beste- hendes Gesetz im Einzelfall vor Gericht anzuwenden ist und zu welchem Ergebnis das in diesem Falle führt. Oder man versucht herauszufinden, ob es 17 Urs Thurnherr, Angewandte Ethik zur Einführung, Hamburg 2000, S. 21. – Mein kur- zes Resümee der Grundlagen angewandter Ethik folgt der überzeugenden Darstellung von Thurnherr, der mit einem Begriff angewandter Ethik arbeitet, welcher die Grund- lagenreflexion nicht außen vor lässt. Häufig wird angewandte Ethik hingegen lediglich als die Tätigkeit von interdisziplinären Arbeitsgruppen bezeichnet, in denen Praktiker, Wissenschaftler und Philosophen handlungsorientierte Leitlinien formulieren, meist in Form von Gutachten oder Empfehlungen. Siehe dazu Kurt Bayertz: „Was ist ange- wandte Ethik?“, in: J. S. Ach, K. Bayertz u. L. Siep (Hg.), Grundkurs Ethik, Bd. 1, Paderborn 2008, S. 165-179, und Detlef Horster, „Einleitung“, in: Detlef Horster, Texte zur Ethik, Stuttgart 2012, S. 64 ff. 18 Ebd. Wertgefühle, Wertunterscheidungen und moralische Wertbezeichnungen 159 für unbestimmte besondere Einzelfälle allgemeine normative Prinzipien gibt. Kant nannte dies die reflektierende Urteilskraft; sie verfährt induktiv, wäh- rend die bestimmende Urteilskraft deduktiv ausgerichtet ist. Weiterhin ver- sucht man, sogenannte Brückenregeln zu formulieren: Regeln mittlerer Reichweite, die zwischen den allgemeingültigen Prinzipien und den konkre- ten einzelnen Fällen vermitteln, damit die Kluft zwischen Allgemeinem und Partikularen überbrückt werden kann. Wenn es um Kommunikationsdesign und angewandte Ethik geht, wird die Sache komplizierter, aber auch reizvoller, da in einigen Bereichen des Kommunikationsdesigns ohnehin moralische Grundannahmen oder Haltun- gen in visuelle Botschaften übersetzt werden (z. B. bei karitativen Kampag- nen und dergleichen), während in anderen Bereichen Botschaften kommuni- ziert werden, die den moralischen Vorstellungen und Überzeugungen der meisten Menschen widersprechen (z. B. im „enthüllenden“ Boulevardjour- nalismus oder in der Reklame). Schauen wir uns die Bereiche des Kommunikationsdesigns etwas genauer an. Ich unterscheide vier Sektoren, die jeweils mehrere Medienbereiche übergreifen: 1. Information, Bildung und Aufklärung, 2. soziale Kampagnen, 3. Public Relations und 4. Reklame bzw. Werbung. In den ersten drei kann man mit Hilfe der bestimmenden Urteilskraft Beziehungen zwischen norma- tiven Prinzipien und Anwendungsfragen herstellen. In den Public Relations und in der Reklame kommen wir mit der bestimmenden Urteilskraft aber nicht weiter und brauchen die reflektierende Urteilskraft. Information, Bildung und Aufklärung: Selbstbestimmung und moralischer Impuls Der Pionier auf dem Gebiet sozialer Aufklärung durch visuelle Kommuni- kation war Otto Neurath, der Informationen niedrigschwellig gestalten wollte, damit arbeitende Menschen sie nutzen können, um ihre Lebenslage zu ver- bessern.19 Kommunikationsdesign heißt dann, Informationen so zugänglich machen, dass niemand vom Verständnis ausgeschlossen bleibt. Die Verant- wortung des Gestalters war für ihn an eine sozialethische Haltung gebunden. Deren Kern bestand darin, dass Lebensverhältnisse mit Hilfe von Forschung und Wissenschaft verbessert werden können, wenn Menschen ihre sozialen Beziehungen vernünftig gestalten, das heißt: planen.20 19 Frank Hartmann u. Erwin K. Bauer: Bildersprache. Otto Neurath. Visualisierungen, Wien 2006. 20 Das war bei Neurath aber keine Variante der Volkspädagogik der „guten Form“ – deren Vertreter glaubten zu wissen, was die „gute Form“ ist und wie sich „gute Menschen“ verhalten sollen. Kommunikationsdesign als Aufklärung ist etwas anderes, nämlich Gerhard Schweppenhäuser160 Dieser Bereich ist häufig auf universalistische Moralprinzipien verpflich- tet. Er kann „von innen her“ ethisch programmiert und reflektiert werden. Denn so ein Ansatz impliziert, dass Vernunftgründe für selbstbestimmtes Han- deln angeboten werden. Nach Kant kann Vernunft nur praktisch werden, wenn sich Menschen in und aus Freiheit selbst bestimmen. Freiheit ist aber nur denkbar und reali- sierbar, wenn die Grundlage des Handelns widerspruchsfrei verallgemeinert werden kann. Dafür ist erst einmal von allen konkreten Inhalten abzusehen und das Ziel des Handelns nicht als Inhalt, sondern als Form zu betrachten. Alle Menschen möchten (im Prinzip) glücklich sein, aber was sie jeweils unter Glück verstehen, ist individuell höchst verschieden. Moral muss die Bedingungen schaffen, dass alle Menschen ihre Vorstellungen vom glück- lichen Leben verwirklichen können. Man muss nicht allen vorschreiben, worin dies besteht, sondern freie und gerechte Lebensbedingungen für alle schaffen. Diese Argumentation ist formal und universalistisch, hat aber inhaltliche Folgen. Jeder sollte, wenn es moralisch darauf ankommt, so handeln, dass sein Grundsatz „jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzge- bung gelten könnte“21. Dann würde er „die Menschheit“ in sich und in allen anderen „niemals bloß als Mittel“, sondern „jederzeit zugleich als Zweck“22 auffassen. Kontrafaktisch antizipiert Kant ein vernunftbestimmtes Allgemeines. Erst als Teil davon wären wir frei und selbstbestimmt und überhaupt erst im- stande, moralisch zu handeln. Kein vernünftiger Mensch kann leugnen, dass der Endzweck moralischen Handelns die allgemeine Humanität ist. Die Pointe von Kants Moralphilosophie liegt darin, dass sie „eine Gesellschaft“ kritisiert, „in der alles zum Mittel wird und in der nichts mehr Zweck ist.“23 Wenn die Menschheit nicht nur als Idee, sondern auch in der Praxis Zweck an sich selbst wäre, müssten das besondere und das allgemeine Interesse nicht mehr auseinanderfallen. Das ist aber bis heute nicht der Fall. Es gilt der wirtschaftsliberalistische Interessenbegriff, der auf das Eigeninteresse kon- kurrierender Wirtschaftssubjekte beschränkt bleibt. Das utilitaristische Nutzenkalkül des Gemeinwohls, das letztlich immer nur entweder statistisch zu ermitteln oder aber per Dekret des Philosophen Hilfe zum selbstständigen Wahrnehmen und Denken. – Heute wird dieser Ansatz u. a. von Ruedi Baur weitergeführt. 21 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, in: Werke in sechs Bänden, hg. v. W. Weischedel, Darmstadt 1983, Bd. IV, A 54. 22 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Werke Bd. IV), BA 66 f.; vgl. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, in: Werke Bd. IV, A 155 f. 23 Theodor W. Adorno, Probleme der Moralphilosophie, Vorlesung an der Universität Frank- furt im Wintersemester 1956/57, Vorlesung vom 27. Januar 1957; zit. nach Gerhard Schweppenhäuser, Ethik nach Auschwitz. Adornos negative Moralphilosophie, Ham- burg 1993. Wertgefühle, Wertunterscheidungen und moralische Wertbezeichnungen 161 festzulegen ist, der bewertet, welche Interessen und welche Formen des Glücks höherwertig sind als andere,24 ist mittlerweile vom wohlfahrtsstaatlichen Planungsgedanken abgekoppelt. Grundlage ist der Wettstreit der Selbster- haltungsinteressen antagonistischer homines oeconomici. Aus dieser Perspek- tive wäre gegen die utilitaristische Begründung der oben betrachteten kriti- schen Manifeste zum Kommunikationsdesign Einspruch einzulegen. Kommunikationsdesigner müssen sich in Konfliktfällen entscheiden und ihre Position mit Gründen rechtfertigen können. Es ist meist nicht unstrittig, was ethisch zu rechtfertigen ist und was nicht. Geht es um Gebrauchs- anleitungen für eine Herz-Lungen-Maschine oder für Landminen oder um Werbung für Fair-Trade-Produkte aus der Landwirtschaft oder für Klei- dung, die von ausgebeuteten Kindern genäht wurde, dann gibt es wohl einen Konsens, was moralisch „in Ordnung“ ist. Aber bei der AIDS-Aufklärung hört dieser Konsens z. B. schon auf, wenn die Religion ins Spiel kommt. Mit der Ethik der unbedingten Ehrfurcht vor Gottes Einrichtung der Natur lässt sich die Ächtung von Kondomen moralisch legitimieren. Wenn es um eine Kampagne für Kondomverwendung geht, muss man normativ begründen können, wieso es moralisch richtig ist, Kondome zu verwenden und moralisch falsch, dies nicht zu tun. Lässt man sich dafür auf eine Wertediskussion ein, könnte sie auf die Frage hinauslaufen: „Fortpflan- zung mit hohem Risiko (bzw. um jeden Preis) oder Schutz der Gesundheit des einzelnen?“ Sie könnte auch in einer Abwägung zwischen dem Gebot, die Fortpflanzung nicht zu behindern, und dem Gebot, sich und andere vor Schaden zu bewahren, bestehen. Wenn man die Diskussion aber nicht auf der Ebene individueller Wertpräferenzen führen will, kann man versuchen zu zeigen, dass die Verbotsposition inkonsistent ist. Dann muss man den for- malen Nachweis führen, dass die Verbotsposition inkonsistent ist. Etwa fol- gendermaßen: Wenn „das Leben“ als solches der höchste Wert und unbe- dingt zu schützen ist, gilt das ja auch für das Leben jedes einzelnen, der sich also vor einer HIV-Infektion schützen sollte. Eine ähnliche Argumentation wäre auch dann vorzubringen, wenn es um öffentliche Aufklärung über Mög- lichkeiten und Risiken von Schwangerschaftsabbrüchen geht. Wie aber, wenn Information und Aufklärung mit moralisch zweifelhaf- ten Mitteln kommuniziert werden? So z. B. in der AIDS-Schutz-Kampagne, die 2009 mit Hitler-, Stalin- und Saddam-Darstellern um öffentliche Auf- merksamkeit buhlte. Schockierende Bilder mit Schurken aus der neueren Geschichte, die sich an attraktive junge Damen heranmachen, sollten in Verbindung mit dem Slogan „AIDS ist ein Massenmörder“ spürbar machen, wie ernst die Lage ist.25 Viele hielten das für geschmacklos und protestierten 24 John Stuart Mill, Der Utilitarismus, übers., hg. u. mit e. Nachwort v. D. Birnbacher, Stuttgart 1985, Zweites Kapitel, S. 11 ff. 25 http://www.spiegel.de/fotostrecke/praeventionskampagne-aids-ist-ein-massenmoerder- fotostrecke-46277.html (18. 07. 2012) Gerhard Schweppenhäuser162 gegen die Zumutung einer Gesundheitspropaganda mit dem Holzhammer. Eine ethisch reflektierte Kritik an dieser Kampagne müsste hingegen an den kommunikativen Mitteln ansetzen, welche die Gestalter gewählt hatten, und an deren historischem Bezugsrahmen. Wenn man Gräueltaten von Dikta- toren als beliebiges Beispiel benutzt, um daran zu erinnern, wie gefährlich ein Virus ist, trägt man dazu bei, diese Gräuel zu relativieren und Geschicht- liches wie Natur erscheinen zu lassen. Aufklärung kann Hinweise darauf geben, was sein soll, also darauf, wie wir etwas im Handeln verwirklichen können, was unseren vernünftigen In- teressen gemäß ist. Sie richtet sich an den erkennenden Verstand und die re- flektierende Vernunft. Sie kann sich aber auch an das Gefühl richten und zeigen, was nicht sein soll. Die Dokumentation von Situationen des falschen Lebens wird dann zum negativen Maßstab für unsere Vorstellungen vom richtigen Leben. Fotografie hat heute zwar ihren Status als Medium privilegierter Wahr- heitsbeweise verloren. Aber sie kann nach wie vor Medium der Aufklärung sein. Jan Bannings Fotoreportagen über Langzeitwirkungen von Kriegen, die ich hier als Beispiel heranziehen möchte, zeigen Menschen mit Geburts- fehlern, die entstanden sind, weil das Pflanzengift, mit dem die US-Army den vietnamesischen Urwald verseuchte, um freie Sicht für ihre Bombar- dements zu bekommen, in die Nahrungskette gelangt ist,26 oder Frauen, die während des Zweiten Weltkriegs in Asien zur Prostitution gezwungen wur- den.27 Banning erinnert daran, wie Opfer imperialistischer Gewalt heute leben. Dergestalt können Fotoreportagen moralische Impulse geben. Meist argumentieren Moralphilosophen entweder kognitivistisch oder emo- tivistisch, setzen also entweder auf Urteilskraft oder auf moralisches Gefühl. Adornos Theorie des moralischen Impulses aus den 1960er Jahren vermittelt hingegen zwischen Kants kognitivistischer Moralbegründung und Schopen- hauers emotional fokussierter Ethik. Moralische Handlungen brauchen dem- nach mehr als nur rationale Reflexion; sie entstehen nicht als Ableitungen aus ethischen Werten oder Prinzipien, sondern immer auch impulsiv, ange- sichts konkreter Herausforderungen des moralischen Gefühls und der Ver- nunft. „Moralische Fragen stellen sich bündig in Sätzen wie: Es soll nicht gefoltert werden; es sollen keine Konzentrationslager sein“28 – solche Aus- sagen würden nicht aus Werten und obersten Moralprinzipien abgeleitet, sondern drängten sich auf „als Impuls, wenn gemeldet wird, irgendwo sei 26 http://www.janbanning.com/gallery/agent-orange-children-of-the-white-mist/ (18.07. 2012) 27 http://www.janbanning.com/gallery/comfort-women/ (18.07.2012). – Zu Bannings Er- innerungsarbeit gehört übrigens, dass er Interviews mit den Menschen führt, die er porträtiert. Das Wissen aus dieser intensiven Kommunikation geht in die Präsentation seiner Arbeiten in Büchern oder Vorträgen ein. 28 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, in: Gesammelte Schriften Bd. 6, Frankfurt/M. 1984, S. 281. Wertgefühle, Wertunterscheidungen und moralische Wertbezeichnungen 163 gefoltert worden.“29 Adorno sah darin einen unerlässlichen Teil der Mo- ralität,30 der aber die moralische Vernunft nicht ersetzen könne. Der moral sense geht nicht in Rationalität auf, er kann nicht mit der verpflichtenden Vernunft im Sinne Kants identifiziert werden. Wenn wir aber strikt gefühls- ethisch argumentieren und alles auf den moral sense setzen, haben wir keine Instanz für normative Kritik, die nötig ist, wenn moralische Impulse aus- bleiben. Soziale Kampagnen: moralische Parteinahme als öffentliches Anliegen Soziale Kampagnen sind häufig „angewandte Ethik“ in visuell prägnanter Form – wie z. B. Mobilisierung gegen rituelle Genitalverstümmelungen, Warnungen vor Raserei auf den Autobahnen oder Hinweise für effektives Händewaschen in Zeiten von Pandemiegefahren. Sie zielen auf Verhaltens- änderung bei den Adressaten im Sinne von moralischen Handlungsgrund- sätzen, sind also intrinsisch moralisch motiviert. Ihr „moral point of view“ ist unparteiisch, jedoch nicht neutral. Zunächst wird ein Sachverhalt über- parteilich geprüft, dann aber Partei ergriffen und z. B. für Freiheit, Gerech- tigkeit und Unversehrtheit plädiert. Die Motive lassen sich in der Regel auf drei normative Begründungen zurückführen: Hilfe zur Selbstbestimmung, Mitleid oder Gemeinwohl. Ein möglicher Bezugspunkt ist hier natürlich die utilitaristische Ethik: Raserei und mangelnde Hygiene können volkswirtschaftliche Probleme schaf- fen, und Genitalverstümmelungen verstoßen gegen die Maxime des negati- ven Utilitarismus, soviel Leid wie möglich zu vermeiden. Ein anderer Bezugs- punkt wäre Schopenhauers Moralprinzip des Mitleids und der Solidarität: Verletze niemanden, sondern hilf allen, soviel du kannst.31 Dessen normative Basis geht über die rationale, kognitivistische Ethik von Kant hinaus; sie setzt nicht primär auf rationale Urteilskraft, sondern auf moralisches Gefühl. Schopenhauer argumentiert gegen Kant, dass Mitleid das einzig rational erkennbare, wenngleich selbst nicht rationale Moralprinzip ist. Es sei „die alleinige Quelle uneigennütziger Handlungen“, „die wahre Basis der Mora- 29 Ebd. 30 Adorno schließt in dieser Hinsicht an die Tradition der englischen moral-sense-Ethi- ker Shaftesbury und Hutcheson an, die davon überzeugt waren, dass es den Menschen angeboren ist, das Wohlergehen des Ganzen zu fördern, dessen Teil sie sind, und die Mitgefühl dementsprechend für einen natürlichen Instinkt hielten. Letzteres behauptet Adorno, der die soziale Konstitution der inneren Natur der Menschen betont, freilich nicht. 31 Arthur Schopenhauer, Preisschrift über die Grundlage der Moral, in: Zürcher Aus- gabe. Werke in zehn Bänden, Bd. VI, S. 177. Gerhard Schweppenhäuser164 lität“32; Gerechtigkeit und Menschenliebe könnten nur aus Mitleid folgen. Habermas hat im Anschluss an Schopenhauer betont: Wer humane Lebens- verhältnisse erreichen möchte, muss die Verletzlichkeit von Menschen beachten. Weil Individuen verletzlich sind, brauchen wir die Prinzipien mo- ralischer Subjektivität, also Autonomie und Gleichberechtigung.33 Schützen können wir uns aber letztlich nur in intersubjektiver, solidarischer Lebens- praxis. Immer öfter tragen soziale Kampagnen Züge von Werbemaßnahmen, mit denen sich soziale Träger und Institutionen im Konkurrenzkampf um die Aufmerksamkeit des Spenden-Publikums bemühen. Hilfe zur Selbstbestim- mung, Mitleid und Gemeinwohl sind dann lediglich akzidentelle Motive der kommunikativen Aktivität; substanzielles Motiv wird das Selbstbehauptungs- interesse von Organisationen, die bei knappen Ressourcen zu wirtschaftli- cher Effizienz gezwungen sind. Anders gesagt: Selbstbestimmung, Mitleid und Gemeinwohl verlieren dann ihren Status als Zwecke und werden zu Mitteln, um die eigenen Aktivitäten in gutem Licht erscheinen zu lassen und sich auf dem Markt des Mitleids gegen Mitbewerber durchzusetzen.34 Public Relations: Orientierung als Massenbetrug Die sogenannten Public Relations, die Inszenierung der öffentlichen Wirkung wirtschaftlicher Unternehmen, wollen Kontrolle der öffentlichen Wirkung erreichen – von landwirtschaftlichen Erzeugnissen über Politik bis hin zu Medien35 und Hochschulen. Fachleute werden dafür bezahlt, Politikern und Medienschaffenden geeignetes Material zur Selbstdarstellung zuzuspielen.36 Hierfür schließen wirtschaftliche Konkurrenten einen Burgfrieden. Edward Bernays, Begründer der PR, nannte diese noch „Meinungsmanagement“ und „Propaganda“.37 Sie sei in einer komplexen Marktwirtschaft unerlässlich, um 32 Ebd., S. 285 (im Original gesperrt). 33 Jürgen Habermas, „Moralität und Sittlichkeit. Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch auf die Diskursethik zu?“, in: Jürgen Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt a.M. 1991, S. 9-30. 34 Damit gerät die Eigenwerbung in ein ähnliches moralisches Zwielicht wie die so- genannte Schockwerbung, von der unten noch zu sprechen sein wird. 35 Zur Tätigkeit der „PR-Leute als ‚geheime Verführer‘“ der Journalisten siehe Stephan Ruß-Mohl u. Susanne Fengler: „Scheinheilige Aufklärer? Wie Journalisten und Me- dien über sich selbst berichten“, in: M. Karmasin (Hg.), Medien und Ethik, Stuttgart 2002, S. 175-193. 36 Siehe dazu Heinz Steinert: „Unterhaltung, Werbung, Propaganda: Elemente einer Kri- tischen Theorie der Medien“, in: Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 28-29, 2009, S. 144 f. 37 Edward Bernays, Propaganda. Die Kunst der Public Relations (1928), o. O. [Freiburg i. Br.] 2007, S. 21. Wertgefühle, Wertunterscheidungen und moralische Wertbezeichnungen 165 den Ablauf der Geschäfte zu gewährleisten; Alternative wäre eine Planwirt- schaft mit Expertenkomitees, die uns empfehlen, welche Kleidung und Nah- rungsmittel wir kaufen und wen wir wählen sollen etc. Die PR sind ein moderner Nachfahre der antiken Rhetorik: Ihr Zweck ist Überredung, ihr Mittel Suggestion. „Die bewusste und zielgerichtete Manipulation der Ver- haltensweisen und Einstellungen der Massen ist ein wesentlicher Bestandteil demokratischer Gesellschaften“,38 dekretierte Benays. Damit wird aber der normative Kern von Demokratie, die vernünftige Selbstbestimmung aller Einzelnen aus Freiheit, ad absurdum geführt.39 Unmoralische Mittel können moralische Zwecke nicht befördern. Aus der Sicht einer Ethik der Freiheit und Selbstbestimmung dürfen Menschen nur durch Information und Auf- klärung für moralisch richtige Zwecke gewonnen werden. Was sie dann tun, muss ihre selbstbestimmte Entscheidung sein. Beeinflussen darf man diesen Prozess nur durch Vernunftgründe, nicht durch Suggestion. Das Verfahren der PR kann ethisch nicht gerechtfertigt werden, denn es betrachtet Men- schen nicht als Selbstzweck und degradiert sie zu bloßen Mitteln. Man gibt vor, Medium der Aufklärung zu sein und bei der freien Meinungsbildung zu helfen, tut de facto aber das Gegenteil und gerät in die Nähe der autoritären Ethik, die (nach Erich Fromm) unser Handeln heteronomen Geboten und Vorschriften unterwirft, anstatt Wege zu zeigen, auf denen wir zu autonomen Entscheidungen finden können.40 Der Bereich der PR ist nicht auf Moral- normen verpflichtet und muss daher von außen „überwacht“ werden. Reklame: Machtwille und ästhetische Daseinsrechtfertigung Reklame hat in modernen Marktwirtschaften bekanntlich die Aufgabe, Auf- merksamkeit zu erregen und in bestimmte Richtungen zu lenken, damit Konsumeinstellungen gefestigt werden und Kaufhandlungen erfolgen. Sie vermittelt Informationen und löst Empfindungen aus. Sie beeinflusst das Fühlen, Denken und Handeln im Sinne kommerzieller Zwecke.41 Dabei spricht 38 Ebd., S. 19. 39 Unter der dünnen Schicht des Bekenntnisses zur Demokratie kommt beim Theoretiker der modernen Propaganda denn auch immer wieder der alte Topos der Massenver- achtung zum Vorschein: „Steht kein Vorbild eines Führers zur Verfügung, muss die Herde für sich selbst denken. Dabei greift sie zurück auf Klischees, Schlagworte oder Bilder“ (Ebd., S. 51). 40 Erich Fromm, Psychoanalyse und Ethik, Stuttgart, Konstanz 1954, S. 21-27. 41 Ich halte die Unterscheidung zwischen (marktschreierischer) „Reklame“ und (subtiler) „Werbung“ für eine sachlich irrelevante Sprachregelung. Sie stammt aus einer Zeit, als „gebildete Kulturmenschen“, die ihr täglich Brot als Reklametexter verdienen muss- ten, noch von schlechtem Gewissen geplagt wurden und ihr Metier aufwerten wollten. – Für heutige Marketingfachleute ist Werbung ein „kommunikativer Beeinflussungspro- zess mit Hilfe von (Massen-) Kommunikationsmitteln […], der das Ziel hat, beim Gerhard Schweppenhäuser166 sie nicht nur Bedürfnisse an, sondern weckt vor allem Begehrnisse.42 Wenn sie suggestiv und manipulierend arbeitet, ist sie nicht von innen heraus an moralische Prinzipien gebunden – oft ist ein „unmoralisches Angebot“ auf- fälliger und vermeintlich wirkungsvoller als jedes andere. Ein Sonderfall ist der gezielte Tabubruch. Mit Bildern, die moralische Empörung auslösen, erregen Wirtschaftsunternehmen Aufmerksamkeit: die Uniform eines getöteten Soldaten, leidende Menschen usw. Diese Erregungs- und Empörungsauslöser sollen dafür sorgen, dass die Firma im Gespräch bleibt, und wenn es eine kontroverse Debatte gibt, ob dies legitim ist oder nicht, sagt man sich: umso besser. Es geht also nicht um die zur Schau ge- stellten Vorgänge selbst. So etwas ist moralisch nicht zu rechtfertigen. Aber Werbung kann damit Grenzen erforschen. Was wird in einer Gesellschaft noch moralisch toleriert, wo ist Schluss? Doch wenn die Exploration nur dazu dient, sich von der Konkurrenz abzuheben, werden ethische Themen instrumentalisiert, und das ist nicht akzeptabel. Moralische Fragen stellen sich immer, wenn es um die angewendeten Mittel und den Kontext geht. Zu fragen ist erstens, ob die Mittel ethisch le- gitim sind. Das gilt nicht nur für Schockwerbung, sondern auch für psy- chologische Tricks zur Manipulation. Schon Bernays hatte mit Bezug auf Freuds Theorie der ins Unbewusste verdrängten Triebwünsche bemerkt: „Eine Ware wird nicht wegen ihres spezifischen Werts oder wegen ihres Nutzens begehrt, sondern weil sie als Symbol für etwas anderes steht; für eine Sehn- sucht, die der Konsument sich aus Scham nicht eingesteht. […] Menschen sind oft von Beweggründen getrieben, die sie vor sich selbst verbergen.“43 Wer sich das gezielt zunutze macht, behandelt die Menschen seiner target group definitiv nicht wie Subjekte, deren Anspruch auf Selbstbestimmung er anerkennt und verstößt gegen das Instrumentalisierungsverbot, welches Kant zufolge mit unseren Begriffen der Person und der Menschenwürde im- pliziert wird.44 Adressaten marktrelevante Einstellungen und Verhaltensweisen im Sinne der Unter- nehmensziele zu verändern.“ (Heribert Meffert, Christoph Burmann u. Manfred Kirch- georg: Marketing. Grundlagen marketingorientierter Unternehmensführung, Wiesbaden 2008, S. 649.) 42 Bedürfnisse dienen der Erhaltung, Begehrnisse hingegen „der Inszenierung, der Aus- staffierung und Steigerung des Lebens“ (Gernot Böhme, „Zur Kritik der ästhetischen Ökonomie“, in: Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 12, 2001, S. 70). Begehrnisse kön- nen – im Gegensatz zu Bedürfnissen – nicht befriedigt werden: „Begehrnisse sind sol- che Bedürfnisse, die durch ihre Befriedigung nicht gestillt werden, sondern vielmehr gesteigert.“ (Ebd., S. 71.) 43 Bernays, Propaganda, (Fn. 37), S. 52 f. 44 Menschen dürfen durch Suggestion und Manipulation auch nicht zu „guten Zwecken“ geführt werden, sondern nur durch vernünftiges Informieren und Überzeugen. An- dernfalls behandelte man sie nicht „immer auch als Zweck an sich selbst“, sondern nur noch als Mittel. Wertgefühle, Wertunterscheidungen und moralische Wertbezeichnungen 167 Zweitens ist zu fragen, ob die Zwecke ethisch legitim sind. Sinn und Zweck von Werbung ist Beeinflussung und Überredung der Konsumenten im In- teresse der Auftraggeber. Diese Interessen sind nicht verallgemeinerbar, son- dern per definitionem an partikulare Standpunkte gebunden. Das universa- listische Postulat der freien Selbstbestimmung jeder Person ist mit dem Zweck von Werbung daher häufig nicht vereinbar. Weil Reklame per se nicht auf Moralnormen und -prinzipien verpflichtet ist, muss sie also von außen ethisch „überwacht“ werden. Nun könnte man aber mit Nietzsche das neuzeitliche Konzept des Ge- wissens als Zentrum der rationalen Pflichtmoral problematisieren und die Legitimität der universalistischen Rechtfertigung von moralischen Urteilen generell anzweifeln. Moral, lautet Nietzsches Argument, ist nicht an sich gut, sondern immer nur gut für etwas. Sie ist kein Zweck an sich selbst, sondern Mittel für etwas, das außerhalb von ihr liegt. Moral ist notwendig, damit Menschen überleben können; sie ist eine Erscheinungsform des Willens zum Leben (d. h., wie Nietzsche meint: des Willens zur Macht). Also ist sie nicht das Andere der Natur, sondern ein Teil von ihr. Der naturfeindliche Universalismus der christlich inspirierten Moralphi- losophie ist demzufolge eine Fiktion, weil verschiedene Menschen verschie- dene moralische Grundsätze brauchen. Was für den einen gut ist, muss es nicht auch für den andern sein. Starke haben andere Werte als Schwache, für diese sind andere Dinge, Haltungen und Taten förderlich als für jene. Daher sei es ein Irrtum zu glauben, Selbstaufgabe sei der höchste Wert. Die christ- lich geprägte Moral behauptet, Selbstlosigkeit sei die höchste Tugend, aber: „Sie ist eine Moral der Selbstlosigkeit auf Gegenseitigkeit“.45 Das Gute ist nützlich, gut für die Menschen, die ohne Sitten nicht überleben und auch nicht gut leben könnten. Doch das ist paradox: Moral – für die christlich-kantische Tradition gewissermaßen Medium des Selbstzwecks – läuft auf „Selbst- losigkeit auf Gegenseitigkeit“ hinaus, auf den gemeinsamen Vorteil. Dieser Selbstwiderspruch wird aber nicht reflektiert, sondern tabuiert. Als Folgen des Tabus diagnostiziert Nietzsche Selbstverleugnung bei den Einzelnen und Nivellierung der Unterschiede zwischen den Lebens-Formen im Ganzen. Tabuiert wird dabei auch, dass Moral etwas Naturhaftes ist. Moral ist für Nietzsche aber nur im Hinblick auf das Leben zu erklären, und „Leben“ ist zweierlei: biologischer Naturzusammenhang und geschichtliche Entfaltung von Kultur und Zivilisation. Als solches ist es „jenseits von gut und böse“; es gibt keine „moralischen Phänomene“ im Leben, „sondern nur eine mo- ralische Ausdeutung von Phänomenen“.46 45 Werner Stegmaier, Nietzsches ‚Genealogie der Moral‘, Darmstadt 1994, S. 18. 46 Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, (Fn. 3), S. 92. Gerhard Schweppenhäuser168 Angenommen, man würde so weit gehen, Reklame in diesem Sinne als allgemeines Lebensphänomen zu verstehen.47 Dann ließe sich argumentie- ren, dass die suggestive Funktionalisierung anderer Menschen nicht per se illegitim ist. Als das Zentrum aller Lebensregungen – vom tierischen und menschlichen Körpergeschehen bis zu den feinsten, sublimierten kulturellen Gestaltungen und Praxisformen – könnte man dann das unbedingte Bedürf- nis nach Erhaltung und Steigerung des eigenen Daseins ansehen, als nietz- scheschen „Willen zur Macht“.48 Und eine seiner machtvollen soziokulturellen Manifestation wäre die suggestive (Ver-)Formung von Wahrnehmungsweise und Begehren durch die modernen Mittel der Reklame. Wer so spricht, würde allerdings einer Täuschung erliegen, weil er Er- scheinungen, die auf die entwickelte Marktwirtschaft und ihre gegenwärti- gen oligopolistischen Erosionszustände zurückzuführen sind, wie Naturphä- nomene deutete. Will man diesen Denkfehler vermeiden, kann man sagen: Werbung als Information über Produkte, die den Produkt- und Preisvergleich ermöglicht, 47 Die euphemistische Ersetzung des Wortes „Reklame“ durch „Werbung“ legt das ja nahe, denn das Wort „Werbung“ wird nicht nur verwendet, um Kulturelles zu bezeichnen (wie das Anlocken von Söldnern oder die Bemühungen um eine Braut), sondern auch Na- turhaftes (wie das Paarungsvorspiel von Tieren). 48 Dieser ist eigentlich im Plural zu verstehen: In der Welt sind viele „Willen zur Macht“, die miteinander konkurrieren. „Macht […] ist für Nietzsche stets Macht gegen andere Macht, eine Macht im Spiel mit anderen Mächten.“ (Stegmaier, ebd., S. 83) Macht ist demnach nur Macht, „sofern sie sich gegen andere Macht behaupten und sie über- mächtigen will.“ (Ebd., S. 84) Mit diesem Konzept verfolgte Nietzsche die Intention einer philosophischen Welterklärung, die nach dem von ihm beobachteten Scheitern der Hegelschen Begriffsmetaphysik auf der einen Seite und dem dazu konträren An- satz des mechanisch-materialistischen Naturdeterminismus auf der anderen Bestand haben könnte. Die ethische Implikation von Nietzsches Konzeption sieht Stegmaier im Programm einer selbstbestimmten Lebensgestaltung: „Sie fordert dann nicht mehr […] dazu auf, Gewalt auszuüben, sondern aus eigener Kraft, ohne Berufung auf ein fiktives Unbedingtes, seines Lebens Herr zu werden, ihm einen Sinn zu geben und es dabei auszuhalten, daß ihm andere einen anderen Sinn geben“ (ebd., S. 87). – Gegen diese Lesart kann man mit Tugendhat einwenden, dass Nietzsche keinen klaren Be- griff von Macht hat. „Das Wort ‚Macht‘ ist […] vieldeutig, es wird üblicherweise so verstanden, dass man von ‚Macht über –‘ sprechen muss, und dabei ist das, worüber Macht ausgeübt wird, der Wille anderer Personen. Nietzsche verwendet das Wort aber auch in dem allgemeineren Sinn von ‚Kraft‘ und ‚Kraftsteigerung‘, entsprechend dem lateinischen potentia. […] da Nietzsche die Verschiedenheit der Bedeutungen nicht klargestellt hat, pendelt er zwischen ihnen. […] Nietzsche schwankt, wenn er von Kraft und Gesundheit spricht, zwischen einem mehr geistigen und einem mehr physischen Verständnis. Und wo er nicht nur potentia, sondern Macht im eigentlichen Sinn im Auge hat, also Macht über andere, setzt er sich über die verschiedenen Möglichkeiten von Machtausübung hinweg und denkt ausschließlich an physische Gewalt.“ (Ernst Tugenhat, „Der Wille zur Macht. Macht und Antiegalitarismus bei Hitler und Nietz- sche – Einspruch gegen den aktuellen Versuch einer Verharmlosung“, http://www.zeit.de/ 2000/38/200038_nietzsche_hitler.xml [09.09.2012]) Wertgefühle, Wertunterscheidungen und moralische Wertbezeichnungen 169 ist ethisch korrekt, Werbung als persuasive Rhetorik nicht. Die Frage ist nur: Wo verläuft die Grenze? Das wäre jeweils an einzelnen Fallbeispielen zu untersuchen. Zudem hat Werbung inzwischen häufig eine andere Funktion als die Über- redung zum Kauf. Sie versucht auch „nur noch selten, […] Kunden […] die Vorteile eines Produkts zu erklären“49, wie Thomas Steinfeld zutreffend festgestellt hat. Sie „illustriert […] die Ware, verzichtet auf Text und Argu- ment, schafft für jedes Ding eine eigene Wirklichkeit, in die der Kunde eintreten muss wie in einen Traum.“50 So wird sie Schrittmacherin der Äs- thetisierung des Alltagslebens und der Inszenierung diversifizierter Lebens- Formen. Wenn die Diagnose zutrifft, dass Werbung heute Inszenierung ist, die das Leben ausstaffiert und steigert (so Gernot Böhme51), kann man fragen, ob es eine ästhetische Rechtfertigung für Formen der Werbung gibt, die ethisch nicht legitimierbar sind. Könnte man also, frei nach Nietzsches Satz: „nur als aesthetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfer- tigt“,52 sagen: „Als ästhetisches Phänomen ist Werbung moralisch gerecht- fertigt“? Nach Nietzsche kann es keine moralische Rechtfertigung des Daseins geben, weil Moral nichts anderes ist als die Delegitimierung des Daseins, die ins Werk gesetzt wird, indem schlechtes Gewissen und Schuldgefühl in der Psyche installiert werden. Gäbe es überhaupt einen Wert des Daseins, könnte er nicht mit moralischen Kategorien beschrieben werden; eine Rechtferti- gung des Daseins sei nur in der Ästhetik zu finden. Der Wert des Daseins bestand für Nietzsche in der ästhetischen Erfahrung, d. h. in der Wahrneh- mung des Daseins als Ereignis. Die Ästhetisierung der Lebenswelt, die po- puläre Kultur des 20. Jahrhunderts im Zeichen des Konsumismus der mo- dernen Massenproduktion, muss insofern auch im Zeichen von Nietzsches vitalistischer Theorie ästhetischer Erfahrung gelesen werden. Man könnte nun folgende Grenzwerte benennen: Auf der einen Seite stimuliert Werbung kreative Kräfte im visuellen und narrativen Bereich. Auf der anderen Seite korrumpiert sie unsere Urteilskraft – auch in moralischer Hinsicht. Darüber hinaus gibt es ein Phänomen, das Roland Posner als „semiotische Umweltverschmutzung“53 bezeichnet hat: Wahrnehmung und Kommunikationsfähigkeit werden nicht nur durch Gestank und Lärm ein- 49 Thomas Steinfeld, „Wie Werbung wirkt. Apple und der Schweinebauch“, in: Süddeut- sche Zeitung, 14. August 2009 50 Ebd. 51 Siehe oben, Fußnote 45. 52 Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, in: Kritische Studienausgabe, Bd. 1, S. 47. 53 Roland Posner, „Semiotische Umweltverschmutzung: Vorüberlegungen zu einer Öko- logie der Zeichen“, in: Günter Lobin u. a. (Hg.), Europäische Kommunikationskyber- netik heute und morgen, München 1998, S. 141-158. Gerhard Schweppenhäuser170 geschränkt, sondern auch durch das „Rauschen“, mit dem die Werbebot- schaften alle Kanäle erfüllen. Wer in der Werbung arbeitet, kann auf die „Ökologie der Zeichen“ (Posner) achten und versuchen, nachhaltig mit symbolischen Ressourcen um- zugehen. Ebenso kann man versuchen, sich so weit es geht an Moralprin- zipien zu halten bzw. nirgendwo mitzumachen, wo dagegen verstoßen wird. Generell gesprochen, gibt es keine ethischen Probleme, wenn z. B. Ver- lage auf ihre Buchproduktion aufmerksam machen und dabei Autorenfotos und Zitate aus Kaufempfehlungen aus dem Zeitungsfeuilleton verwenden oder wenn Baumärkte ihre Geräteschuppen in digital bearbeiteten Bildern mit blauem Himmel und grünen Rasen präsentieren. Werbung und Ethik kön- nen auch zusammengehen, z. B. bei Produkten, deren ethische Bilanz besser ist als andere: Fair-Trade-Produkte, „ökologisch korrekte“ Produkte etc. Es ist trivialerweise moralisch besser, für Produkte zu werben, bei denen keine Kinderarbeit ausgebeutet wird, Arbeiter halbwegs angemessen bezahlt und natürliche Lebensressourcen nicht geschädigt werden. Die Grenze dürfte dort liegen, wo derartiges Werben das Gewissen beruhigen soll oder Teil eines kollektiven Buß-Rituals wird.54 Allerdings gibt es nicht nur Pflichten anderen gegenüber, sondern auch Pflichten gegen uns selbst, und daher entstehen immer wieder Pflichten- kollisionen. Angenommen, ein Kommunikationsdesigner lehnt es strikt ab, für eine Bank zu werben, die möchte, dass die Kunden Geld in Aktienfonds anlegen, deren Kursgewinn auf wachsendem Hunger und Elend basiert,55 oder die suggeriert, ihre Produktverkäufer, die zum großen Teil von Provi- sionen leben, seien uneigennützige Kundenberater. Wenn er dann seine An- stellung verliert oder seine Agentur schließen muss, hat er zwar der Pflicht 54 Siehe „Grün kaufen allein genügt nicht“, in: Süddeutsche Zeitung vom 17. August 2009. 55 „Eine umstrittene Werbeaktion der Deutschen Bank für einen Fonds ruft Globalisie- rungsgegner auf den Plan“, berichtete die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 29.04. 2008. ATTAC wurde vier Wochen später deutlicher: „Während die Hungerkrise ver- zweifelte Menschen in Haiti, Bangladesh, Westafrika und anderswo auf die Straße treibt und auch in Deutschland viele Eltern ihre Kinder nicht mehr ausreichend er- nähren können, wirbt die Deutsche Bank für die Spekulation mit Getreide – auf Bröt- chentüten bei Frankfurter Bäckern. Darauf liest der erstaunte Kunde: ‚Freuen Sie sich über steigende Preise? Alle Welt spricht über Rohstoffe – mit dem Agriculture Euro Fond haben Sie die Möglichkeit, an der Wertentwicklung von sieben der wichtigsten Agrarrohstoffe zu partizipieren. Investition in etwas Greifbares‘. […] Attac, die Kriti- schen Aktionäre und Urgewald protestieren anlässlich der Hauptversammlung der Deut- schen Bank vor der Festhalle der Messe Frankfurt gegen die skrupellose Geschäfts- politik des Unternehmens. Wir fordern […] sofort die Werbung und die Ausweitung der Spekulation mit Lebensmitteln zu stoppen.“ (http://www.attac.de/index.php?id= 2445; 06.09.2012). Verständlich, dass empörte Kritiker einen alternativen Gestal- tungsvorschlag gemacht haben: In die Anzeigenseite mit dem zynischen Werbetext wur- den Fotos hungernder Kinder montiert (http://blog.pantoffelpunk.de/brechmittel/ agriculture-euro-fond-der-deutschen-bank [06.09.2012]). Wertgefühle, Wertunterscheidungen und moralische Wertbezeichnungen 171 gemäß gehandelt, niemandem beim Lügen zu helfen, kann aber die Pflicht nicht mehr erfüllen, für seine Familie zu sorgen. Welche Pflicht hat den Vor- rang? Hier gilt es wieder im Einzelfall abzuwägen. Allgemein betrachtet, scheint es zumutbar, vom arbeitslos oder zahlungsunfähig gewordenen Ge- stalter, der ja vorher wissen konnte, dass er durch seine Entscheidung für die Werbebranche über kurz oder lang in eine Situation geraten könnte, die seine moralische Integrität auf die Probe stellt, zu erwarten, seine Schutzbefoh- lenen nun durch anderweitige (Lohn-)Arbeit zu ernähren. Doch die rigorose Forderung unbedingter moralischer Sauberkeit würde nicht nur den Einzel- nen überfordern, sondern auch verkennen, wie wichtig es ist, dass Menschen mit intaktem Gewissen nicht von vornherein einen Bogen um die Reklame- industrie machen, sondern zumindest versuchen, auch da moralisch verant- wortlich zu handeln, wo es im allgemeinen unverantwortlich zugeht.56 Wie kann man der „Ethik-Ferne“ der Werbung abhelfen? Gebote und Verbote „von außen“ gibt es bereits; verbindliche Normen müssen „von innen“ entwickelt werden, durch Selbstreflexion der Werbedesigner. Wir haben gesehen, dass es dazu Ansätze wie die Manifeste von 1964 und 2000 gibt. „Von innen“ heißt: durch Reflexion auf die kommunikativen Zwecke. Deren objektive Grenze dürfte darin bestehen, dass Werbung strategische – und nicht verständigungsorientierte – Kommunikation ist. Strategisches Han- deln orientiert sich am Erfolg, kommunikatives Handeln dagegen an Ver- ständigung und am Konsens. Ethik der Kommunikation Ich schlage daher vor, die ethische Reflexion des Kommunikationsdesigns am Zentralbegriff der Kommunikation festzumachen.57 Ethische Leitbegriffe wandeln sich fortlaufend: In den späten 1960er Jahren stand Selbstentfal- tung im Zentrum, in den 1970ern Gerechtigkeit, in den 1980ern der Friede, bald darauf Verantwortung für die Natur und neuerdings Furcht vor Gen- manipulation und Menschenparks. Heute scheint – neben der Nachhaltigkeit – das Vertrauen (bzw. die Glaubwürdigkeit) ein prominenter Wert zu sein. Die bunte Vielfalt der „moralischen Wertbezeichnungen“58 eignet sich aber kaum für eine grundlegende moralphilosophische Reflexion des Kommunikations- 56 Vgl. dazu Alperns stringente Argumentation in Bezug auf die Verantwortung von In- genieuren in Kenneth D. Alpern: „Ingenieure als moralische Helden“, in: H. Lenk u. G. Ropohl (Hg.), Technik und Ethik, Stuttgart 1993, S. 177-193. 57 Das passt im Übrigen zur Intention des Manifesto 2000 der Adbusters, denn dort wird nicht nur utilitaristisch, mit Verweis auf kulturelle Wertprioritäten, argumentiert, son- dern auch mit dem Hinweis, dass die Formen der sozialen Kommunikation und des öffentlichen Diskurses durch Kommerzialisierung verzerrt und beschädigt werden. 58 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, S. 209. Gerhard Schweppenhäuser172 designs. Ich plädiere dafür, nicht die permanent sich wandelnden Werte als Bezugsrahmen zu nehmen, sondern deren konstante Form. Als Unterschei- dungscode sollte statt „gut oder schlecht“ angesetzt werden: „richtig oder falsch“ bzw. „gerecht oder ungerecht“. Den Bezugsrahmen müssen mithin normative Moralprinzipien bilden. „In alltäglichen Lebenssituationen“ – so Heinz Paetzold mit Bezug auf Apels sprachethischen Ansatz – „bewegen wir uns immer schon im Medium kommunikativer Verständigungen.“59 Die Ethik der Kommunikation, die Apel und Habermas als „Diskursethik“60 formuliert haben, will deutlich machen, welche Verständigungsmöglichkeiten in der verbalen Kommunikation ste- cken und dass es eine Differenz zwischen dem Faktischen und dem Mögli- chen gibt. Das beruht auf dem Gedanken, dass in die Struktur des Sprechens immer schon eine normative Zielvorstellung eingebaut ist, nämlich die Idee konsensueller Verständigung. Die Diskursethik geht davon aus – noch ein- mal mit Paetzolds Worten –, dass „in der realen Kommunikationsgemein- schaft zugleich deren ideale Gestalt angebahnt“61 wird. Man kann diesen Gedanken auf das Kommunikationsdesign übertragen und annehmen, dass nicht nur in sprachlicher, sondern auch in visueller Kom- munikation objektiv das Ziel gleichberechtigter Verständigung und freier Kon- sensfindung aller Beteiligten steckt. Wer Zeichen in den öffentlichen Raum setzt, muss die Adressaten deshalb wie vernünftige Menschen behandeln, ihre Menschenwürde achten und bereit sein, über die Grundlagen des gemeinsa- men Handelns nachzudenken. In visuellen Diskursvorgaben müssen die ge- rechtfertigten Bedürfnisse aller Teilnehmer angemessen berücksichtigt werden. Auch im Werbegeschäft können nur solche Normen Geltung beanspruchen, denen alle Beteiligten, also auch die Konsumenten, vernünftigerweise zustim- men könnten, und sämtliche Folgen und Nebenfolgen müssen von allen Be- troffenen akzeptiert werden können. Jeder, der irgendwie beteiligt ist, muss das Recht und die Möglichkeit haben, am Diskurs über die normativen Grund- lagen des Kommunikationsdesigns teilzunehmen. Damit eine Gestaltungsnorm gelten darf, so kann man Habermas’ Kriterium abwandeln, „müssen Ergeb- nisse und Nebenfolgen, die sich voraussichtlich aus [ihrer] allgemeinen Be- folgung für die Befriedigung der Interessen eines jeden ergeben, von allen 59 Heinz Paetzold, Ästhetik der neueren Moderne. Sinnlichkeit und Reflexion in der kon- zeptionellen Kunst der Gegenwart, Stuttgart 1990, S. 12. 60 Vgl. Karl-Otto Apel, „Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grund- lagen der Ethik. Zum Problem einer rationalen Begründung der Ethik im Zeitalter der Wissenschaft“, in: Karl-Otto Apel, Transformation der Philosophie, Frankfurt a.M. 1973, Bd. 2, S. 358-435; Karl-Otto Apel, Diskurs und Verantwortung. Das Problem des Übergangs zur postkonventionellen Moral. Frankfurt a.M. 1988; Jürgen Habermas, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt a.M. 1983; Jürgen Ha- bermas, Erläuterungen zur Diskursethik, (Fn. 33). 61 Heinz Paetzold, Ästhetik der neueren Moderne. Sinnlichkeit und Reflexion in der kon- zeptionellen Kunst der Gegenwart, Stuttgart 1990, S. 15. Wertgefühle, Wertunterscheidungen und moralische Wertbezeichnungen 173 zwanglos akzeptiert werden können“.62 Um intersubjektive, gleichberechtigte Verständigung zu gewährleisten, soll nie nur strategisch gehandelt werden: Andere Subjekte sind immer auch als gleichberechtigte Kommunikationspart- ner zu achten. Der unbedingte Geltung beanspruchende Imperativ lautet dann: Gestalte so, dass deine Gestaltungsmaximen in einem Diskurs bestehen könn- ten, zu dem alle zugelassen sind, die möglicherweise davon betroffen wären. Kommunikationsdesignerische Moralprinzipien müssen universalistisch sein. Nochmals in Abwandlung eines Gedankens von Habermas: Visuelle Kom- munikation soll „nicht nur die Vorurteile des erwachsenen, weißen, männ- lichen bürgerlich erzogenen Mitteleuropäers von heute widerspiegeln“, d. h., „nicht nur die Intuitionen einer bestimmten Kultur oder einer bestimmten Epoche ausdrücken“63, sondern verallgemeinerungsfähig sein. Nicht nur verbale, sondern auch visuelle Kommunikation im Alltag hat das Potenzial gleichberechtigter Verständigung, aber ihre Rahmenbedingun- gen werden aufgrund der „Kolonialisierung der Lebenswelt durch die Impe- rative eines ungesteuerten ökonomischen Wachstums“64 verzerrt. Die Wirk- lichkeit bleibt hinter ihrem Potenzial zurück. Strategische Ziele blockieren kommunikative Ziele. Die Dominanz partikularer Interessen und strategi- scher Ziele verhindert, dass die Idee herrschaftsentlasteter Symbolisierungen verwirklicht wird; sie geht aus Machtstrukturen und Profitorientierung her- vor, welche die Sprache, die intersubjektiven Beziehungen in der Lebens- welt sowie Erziehung, demokratische Öffentlichkeit und visuelle Kultur in ihrer Entfaltung behindern. Dagegen ist auch mit den Mitteln des Kommunikationsdesigns Wider- stand zu leisten. Menschen, die im Kommunikationsdesign arbeiten, sind aus dieser Sicht ethisch dazu verpflichtet, kognitive und emotionale Fähigkeiten zu fördern, die wir erstens für verständigungsorientiertes und solidarisches Handeln und zweitens für den reflexiven Diskurs brauchen. Die kommuni- kativen Zwecke, die mit visuellen Medien realisiert werden, müssen sich durch die Prinzipien „Selbstbestimmung in Freiheit“ und „gleichberechtigte Verständigung“ rechtfertigen lassen. Über die Fragen, ob es einen Ethik-Kodex des Kommunikationsdesigns geben kann, wie er aussehen sollte und ob die Kommunikationsethik sein bester Rahmen wäre, herrscht alles andere als Konsens. Ohne konsensuelle Verständigung wird er aber nicht zu haben sein, denn er müsste als regula- tive Idee der täglichen Praxis erkannt und anerkannt werden. Zur Durchset- zung kann ihm keine Ethik-Kommission des Bundestags und keine Zensur- behörde verhelfen, sondern nur die kritische Selbstreflexion der Produzenten und Akteure. 62 Jürgen Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, S. 12. 63 Ebd. 64 Jürgen Habermas, Philosophisch-politische Profile. Dritte, erweiterte Auflage, Frank- furt a.M. 1981, S. 400. Jörg H. Gleiter Claude-Glas. Architekturkritik und Feuilleton Architektur ist nicht ohne Architekturkritik denkbar, ganz im Sinne des Phi- losophen Herbert Schnädelbach, der vor einiger Zeit formulierte, dass in modernen Gesellschaften Kultur ohne Kulturkritik genau jene Barbarei wäre, gegen die Kultur von jeher sich zur Wehr setzte. Mit der beschleunigten kulturellen Dynamik moderner Gesellschaften kann die Architektur ihre orientierenden Maßstäbe nicht mehr ohne weiteres und unhinterfragt ihrer eigenen Tradition, dem Bekannten und Alterprobten entlehnen. Immer wie- der aufs Neue muss sie die Frage nach der Angemessenheit ihrer Mittel und Ziele stellen. Wo nicht zuletzt heute die digitalen Technologien in alle ge- sellschaftlichen Bereiche eingreifen, wo alles ständig umgebaut, neu geord- net und umgedeutet wird, bedarf es mehr denn je der kritischen Reflexion der Architektur. Mehr als Musik, Kunst oder Theater ist aber die Architekturkritik mit einer besonderen Schwierigkeit konfrontiert. Auch wenn von der Sprache der Architektur die Rede ist, so entzieht sich die architektonische Erfahrung immer wieder der sprachlichen Fassung. Architektur ist die am wenigsten sprachähnlichste der Künste. Die Gründe dafür hat Wolfgang von Goethe in seiner Farbenlehre benannt, in einer sehr einfühlsamen Beschreibung archi- tektonischer Erfahrung, ohne dass er jedoch die Absicht hatte, über Archi- tektur zu sprechen. Er beschreibt dort die Erfahrung, mit der bei der Be- trachtung von Farben immer „das Gesehene in ein Getastetes verwandelt wird“. „Der schärfste Sinn“, so Goethe weiter, „soll sich in den stumpfesten auflösen, uns durch ihn begreiflicher werden.“ Farbe existierte nur „inso- fern, als sie allenfalls tastbar werden könnte“1. Eine wunderschöne Beschreibung architektonischer Erfahrung! Denn was für die Oberflächen und die Farben gilt, gilt umso mehr für die gesamte, räumlich-materielle Wahrnehmung: Dass nämlich in der architektonischen Erfahrung das Sehen immer mit dem Tastsinn verknüpft ist. Der schärfste Sinn, der optische Sinne, geht im stumpfesten Sinn, dem Tastsinn, auf – wo- bei das Adjektiv „stumpf“ von Goethe alles andere als abwertend gebraucht wurde. Im Gegenteil, er bezeichnete damit den Leibsinn und damit jenen Sinn, der das, was da draußen ist, in unmittelbar am eigenen Körper Ge- spürtes überführt. Es ist jener Sinn, in den alle anderen Sinne eingehen, und 1 Johann Wolfgang von Goethe, Geschichte der Farbenlehre, in: Johann Wolfgang von Goethe, Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 14: Naturwissenschaftliche Schriften, 2. Teil, München 1981, S. 34. Claude-Glas. Architekturkritik und Feuilleton 175 durch den die Welt, weil leiblich erfahren, uns am nächsten kommt. Es ist daher auch jener Sinn, der sich am wenigsten in Worte fassen lässt. In Bezug auf die Verbindung von Auge und Tastsinn sprach der Phi- losoph Helmuth Plessner vom „Auge-Hand-Feld“2 und vom Leibsinn als dem propriozeptiven Sinn. Zuvor schon um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert und in Anschauung besonders der architektonischen Erfahrung wurde der propriozeptive Sinn, die leibliche Wahrnehmung, in der Einfüh- lungsästhetik thematisiert. Bei seiner Analyse der räumlichen Wahrnehmung sprach August Schmarsow vom „Tastraum“3. Mit physiologischer Begrün- dung beschrieb Paul Klopfer die räumliche Wahrnehmung als Resultat eines die Oberflächen abtastenden Sehens.4 Dabei nahm er an, dass die Bewe- gungen der Augen und überhaupt die Muskelbewegung unseres Körpers eine bedeutende Rolle für die Wahrnehmung spielten. Noch dem Klassizismus und seinem Primat des Sehens verpflichtet, glaubten die Einfühlungsästhetiker Schwarsow und Klopfer, dem optischen Sinn eine Leitfunktion zugestehen zu müssen. Mit dem Expressionismus und der abstrakten Kunst der Moderne änderte sich dies. Walter Benjamin kehrte das Verhältnis von Seh- und Tastsinn um. Er stellte fest, dass die Re- zeption der Architektur immer durch „Gebrauch und deren Wahrnehmung“ oder „taktil und optisch“5 erfolge. Es geschähe die optische Wahrnehmung „nach Anleitung der taktilen Rezeption“6. Die eigentliche leibphänomenolo- gische Wende vollzog dann Benjamin in seinen Ausführungen zur Kultur- technik des Flanierens. Wie Benjamin zeigte, rückte mit dem Flanieren das leibliche Spüren ins Zentrum unserer sinnlichen Erfahrung. Es stand in- folgedessen über dem Sehen, wobei gerade die Architektur sich durch die unbewusste, somatisch-leibliche Erfahrung auszeichne. Sie ist uns deswegen am nächsten, viel näher als Malerei, Literatur, Theater oder selbst Musik. Auf die paradoxe Erfahrung des Flanierens hat Heinz Paetzold im Kon- text seiner kritischen Kulturtheorie hingewiesen. Paradox sei das Flanieren daher, weil es „intentional und zugleich in einen Hof der Intentionslosigkeit 2 Helmuth Plessner, „Anthropologie der Sinne“, in: Jörg H. Gleiter u. Thomas Friedrich (Hg.), Einfühlung und phänomenologische Reduktion. Grundlagentexte zu Architektur, Design und Kunst, Münster 2007, S. 204. 3 August Schmarsow, „Der Werth der Dimensionen im menschlichen Raumgebilde“, in: Jörg H. Gleiter u. Thomas Friedrich (Hg.), Einfühlung und phänomenologische Re- duktion, S. 115. 4 Paul Klopfer, „Das räumliche Sehen“, in: Jörg H. Gleiter u. Thomas Friedrich (Hg.), Einfühlung und phänomenologische Reduktion, S. 149-161. 5 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt/M. 1977, S. 40. 6 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 41. Jörg H. Gleiter176 eingeschrieben“ sei. 7 Das Flanieren bestehe in der Übergangserfahrung von bewusster zu unbewusster, leibphänomenologischer Wahrnehmung. Das zeige sich darin, dass das Flanieren, wie Franz Hessel berichtete, „eine Art Lek- türe der Straße“8 sei, andererseits nach Benjamin in der Erfahrung des Rausches gründe. Das Besondere des Flanierens sei aber, dass im Flanieren nicht nur Intellektualität in physiologische Erfahrung sich wandle, sondern das Flanieren das Potenzial habe, dass physiologische Erfahrung wiederum in kritische Reflexion der Stadtkultur umschlage, d. h. in die Produktion von kritischen Texten über die Realität der Stadt. Für Heinz Paetzold steht daher im Zentrum einer kritischen Kulturtheorie die Architektur und die Stadt. Denn Architektur ist, wie auch Benjamin festgestellt hatte, immer um uns. Sie ist immer Leitmedium wie auch Stein des Anstoßes. Wir können uns nicht einfach von ihr lösen, wie man das mit einem Bild machen kann, das wir wegstellen oder von dem wir uns abwenden können, oder wie wir das mit der Musik machen können, indem wir den CD-Player ausmachen oder in der Pause den Konzertsaal verlassen. Man könnte auch sagen: Es gibt kein Entkommen aus der Architektur. Umkehrung der leiblichen Symbolik In Goethes so einfühlsamer Definition architektonischer Erfahrung wird aber auch die Schwierigkeit mit der Architekturkritik sichtbar. Wenn es die Auf- gabe der Architekturkritik ist, uns über die Wirkungsweise der Architektur bewusst zu werden, dann zeichnet sich die Kritik in einer grundsätzlich dem leiblichen Spüren entgegensetzten Bewegung aus. Wo in der architektoni- schen Erfahrung der schärfste Sinne, das Sehen, erst in den stumpfesten Sinn, das Getastete, überführt wird, muss die Architekturkritik dieses einer ent- gegensetzten Transformation unterziehen. Ihre Aufgabe besteht darin, die Erfahrung des unbewussten und stumpfesten Sinns dem Bewusstsein zu- gänglich zu machen. Sie soll das Begreifliche und damit das Ertastete des Leibsinns ins Begriffliche und damit ins Sprachliche überführen. Was nichts anderes heißt, als dass die Kritik die Unmittelbarkeit der leiblich-somatischen Erfahrung aufgeben muss. Sie soll dagegen gerade Distanz zur unbewuss- ten, propriozeptiven Erfahrung und damit zur Architektur schaffen. Das Medium dazu ist die Sprache. Das heißt aber, dass die Aufgabe von Architekturkritik nicht Vermittlung ist. Sie soll uns die Architektur gerade nicht nahe bringen. Denn sie ist uns schon das Nächste. Im Gegenteil, über die Sprache ist Architekturkritik das notwendige Medium der Distanz, damit wir uns bewusst werden können, 7 Heinz Paetzold, „Phänomenologie der Kultur des Flanierens“, in: Heinz Paetzold (Hg.), Integrale Stadtkultur, (Philosophische Diskurse 7), Weimar 2006, S. 49. 8 Heinz Paetzold, „Phänomenologie der Kultur des Flanierens“, S. 51. Claude-Glas. Architekturkritik und Feuilleton 177 wie Architektur wirkt, was da mit uns passiert, und um beurteilen zu kön- nen, ob sie uns wirklich zuträglich ist. Schließlich ist es die Aufgabe der Architektur, eine den Menschen zuträgliche und damit eine seinen Bedürf- nissen entsprechende Umwelt zu schaffen. Was aber im jeweiligen größeren kulturellen Kräftefeld dem Menschen zuträglich ist, das muss zu jeder Zeit in der Sprache, das heißt in der kritischen Reflexion des Gebauten und des noch zu Bauenden geklärt werden. Das bedeutet aber keineswegs, die Begrifflichkeit über die reale Erfah- rung und die Praxis über die „sinnliche Elementarempfindung“9, wie dies Plessner bezeichnete, zu stellen. Aber auch das hat Goethe in seiner Farben- lehre angemerkt, als er schrieb, dass die „Symbole von dem Tasten herge- nommen werden“10 müssen. Goethe forderte, dass das Symbolische und damit die Bedeutung der Architektur ihren Ausgangspunkt in der Erfahrung haben müsse und nicht umgekehrt vom abstrakten Begriff hinunter zur sinnlichen Erfahrung wirken solle. Anders formuliert: Die symbolische, also die gesellschaftliche, historische oder allgemein kulturelle Bedeutung von Architektur muss aus der architektonischen Erfahrung kommen und mit ihr gesättigt sein. Womit nicht nur die persönliche Erfahrung mit Architektur gemeint ist. Gemeint ist, dass neben der sinnlichen Elementarempfindung auch der materiell-konstruktive Prozess des Machens und Gemachtwerdens, der Prozess des Bauens wie auch des Entwerfens eingeschlossen sein sollen, mitsamt der darin impliziten historischen Dimension. Begriff und Metapher Damit sind die Schwierigkeiten der Architekturkritik beschrieben. Sie soll das leibliche Spüren in Sprache überführen. Damit lässt sich auch das immer wieder gegen die Architekturkritik geäußerte Unbehagen benennen: Dass Architekturkritik die Architektur auf Worte reduziere, dass die Architektur- kritik die Architektur in leblosen Abstraktionen erstarren lasse, wodurch das Wesentliche der Architektur, die sinnliche Erfahrung, verloren gehe. Das steht in direktem Kontrast mit der Tatsache, dass Architekten sich oft einer bildhaft-metaphorischen Sprache bedienen, wenn sie über Archi- tektur und ihre spezifische Wirkung sprechen. Sie tun sich oftmals mit der sprachlichen Beschreibung dessen schwer, was in der Architektur passiert, und sprechen gerne in Bildern und Vergleichen. Aber sie tun dies mit einiger Berechtigung. Mit den metaphorischen Bildern versuchen sie, auch beim Sprechen über Architektur nicht die Anschaulichkeit und die Unmittelbar- 9 Helmuth Plessner, „Anthropologie der Sinne“, in: Jörg H. Gleiter u. Thomas Friedrich (Hg.), Einfühlung und phänomenologische Reduktion, S. 199 f. 10 Johann Wolfgang von Goethe, Geschichte der Farbenlehre, S. 34 f. Jörg H. Gleiter178 keit der sinnlichen Erfahrung zu verlieren, was das Spezifische der architek- tonischen Erfahrung ist. Das Spannungsverhältnis zwischen Metaphern und Bildern einerseits und den sachlichen Begriffen andererseits hat Friedrich Nietzsche mit großer Anschaulichkeit in seinem Aufsatz Ueber Wahrheit und Lüge im aussermora- lischen Sinne beschrieben. Darin zeigt er, wie der Mensch seine individuel- len, gefühlten und, wie er sagt, „Urerlebnisse“ in einem ersten Schritt immer in Bildern, Metaphern und Metonymien überträgt. Durch die sprachlichen Bilder und Vergleiche versuche er, das unmittelbare Erlebnis zu kommuni- zieren, ohne dessen sinnlichen Gehalt zu verlieren. Die Nervenreize würden erst in Bilder übertragen, die mit der jeweils gemachten sinnlichen Erfah- rung getränkt seien: Erste Metapher. Diese würden dann in Laute übersetzt, also in Sprache: Zweite Metapher. Aber je länger die Metaphern in Ge- brauch seien, umso mehr stumpften sie ab. Millionenfach gebraucht, würden sie mit dem Individuellen und Sinnlichen auch den Bezug zur Erfahrung verlieren. Es verflüchtige sich die Anschaulichkeit. Die Metaphern würden sinnlich kraftlos, bis sie als trockene, starre und unanschauliche Masse übrig- blieben. Nietzsche beschrieb dies selbst durch eine Metapher, als er die Me- taphern mit Münzen verglich, die durch langen Gebrauch das aufgeprägte Bild und damit ihren Wert verlieren und am Ende „nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen“11. Feuilleton Mit „Hart- und Starr-Werden“ der Metaphern kann man nun den Argwohn beschreiben, der der Architekturkritik entgegengebracht wird, während um- gekehrt die Architekturkritiker immer wieder ihren Vorbehalt gegenüber der Sprache der Architekten und ihrem Gebrauch von Bildern und schrägen Metaphern äußern. Dieser Konflikt zeigt sich in den Feuilletons. Hier ist es der latente Vorwurf der Literatur-, Kunst- und Theaterkritik, dass die Archi- tekturkritik im Anschaulichen gefangen bleibe, dass sie immer wieder in der persönlichen Erfahrung ansetze und sich dadurch dem kritischen Diskurs entzöge. Das ist natürlich leicht gesagt, wo Literatur, Kunst und Theater und selbst Musik sich der Sprache als Medium bedienen oder zumindest eine gewisse Affinität zur ihr besitzen. Die Architektur als die Unsprachlichste aller kulturellen Praktiken unterscheidet sich davon. Die Architekturkritik hat es ungleich schwerer. Sie ist im Feuilleton herausgefordert, die symbo- lische Funktion, also das Begriffliche aus der „sinnlichen Elementaremp- findung“, aus dem Begreiflichen, aus dem, was uns am nächsten ist, zu ent- 11 Friedrich Nietzsche, „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“, in: Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1999, Bd. 1, S. 884. Claude-Glas. Architekturkritik und Feuilleton 179 wickeln und so die Architektur der kritischen Reflexion zu öffnen. Ohne dabei die Architektur als solche zu verlieren. So wie Goethe das gegenüber Eckermann geäußert hatte, als er ein tieferes Ansetzen der Kritik bei den Sinnen wünschte. Die Schwierigkeit mit der begrifflichen Fassung der Architektur und mit der Öffnung der sinnlichen Elementarempfindung für die Sprache wurde – Zeichen der beginnenden Moderne – erstmals im 17. Jahrhundert zum Thema. Auslöser war die Entdeckung der Landschaft, das heißt die Erweiterung des Architekturbegriffs auf die Landschaft. Evidenz erhielt dies in der Malerei und dort besonders in den Bildern von Claude Lorrain (1600-92), in denen sich auf ideale Weise arkadische Landschaft und antike Architektur ergän- zen. Sie wurden so zu Vorbildern für die Landschaftsgärten des 18. Jahrhun- derts. Für die Betrachtung der Landschaftsgärten wurden dann unter Reisen- den und Malern die sogenannten Claude-Gläser populär. Das waren kleine, gekrümmte Spiegel aus leicht getöntem Glas. Man stellte sich mit dem Rücken zur Landschaft, sodass sich diese in dem in der Hand gehaltenen Claude-Glas spiegeln konnte. Im Claude-Glas verwandelt sich die Landschaft zu einem gerahmten Bild, ganz im Stile Claude Lorrains. Dadurch dass Architektur und Landschaft ins Bild gebannt werden, wird im Claude-Glas gleichsam die leiblich-soma- tische Erfahrung auf Distanz gebracht. Im Bild erscheint uns die Landschaft und die Architektur als vermittelte Erfahrung, nicht mehr als unmittelbare Erfahrung. Was betrachtet wird, dem kehrt man den Rücken. Man sieht ein gerahmtes Bild, nicht die Realität. Damit bekommt der Sehsinn wieder die Oberhand über den propriozeptiven Sinn und den Tastsinn. So lässt sich anhand der bildhaft gerahmten Darstellung im Claude-Glas in sachlich- kritischer Distanz, dennoch in der Präsenz vor Ort, über Landschaft und Architektur sprechen. Das Claude-Glas, mit dem man ein Bild der Landschaft und der Archi- tektur in der Hand hält, ist eine eigenwillige Interpretation von Plessners Auge-Hand-Feld. Denn in ihm kehrt sich die bei Plessner bezeichnete Nahe- beziehung zwischen Auge und Hand um. Obwohl ganz nah vor Augen rückt uns dennoch im Bild die Landschaft und die Architektur fern. Damit können wir im Claude-Glas eine subtile Vorform des Feuilletons erkennen, zu einer Zeit, als es das Feuilleton nicht gab. Im übertragenen Sinne sind die archi- tektonischen Feuilletons solche Claude-Gläser, die uns einerseits die zeitge- nössische Architektur in die nötige Distanz rücken, damit wir über sie spre- chen und uns über ihre Wirkung und Intention Klarheit verschaffen können, die aber andererseits das Symbolisch-Bedeutende aus der sinnlich architek- tonischen Erfahrung schöpfen, so dass der Faden zwischen architektonischer Erfahrung und Wort, zwischen dem Begreiflichen und dem Begrifflichen, zwischen Praxis und Kritik nicht abreißt. IV. Philosophie symbolischer Formen „Es ist ratsam, bei Cassirers Konzept der symbolischen Form systematisch eine phänomenologische und eine strikt semiotische Facette zu unterschei- den. […] Alle menschliche Erfahrung als eine symbolische wird von dem getragen, was Cassirer in Anlehnung an die Gestaltpsychologie symbolische Prägnanz nennt. […] Mit ihr versucht Cssirer, allen Gestalten des mensch- lichen Bewußtseins gerecht zu werden. […] Die menschliche Kultur hat sich in relativ stabilen Formkreisen auskristallisiert: Mythos, Kunst, Religion, Sprache, Wissenschaft, Technik, Geschichte, Wirtschaft, Sitte und Recht sind Resultate spezifischer symbolischer Formungen. […] Beim Durchdenken der strikt semiotischen Facette im Verständnis der symbolischen Formen greift Cassirer zurück auf die Sprachphilosophie Wilhelm von Humboldts. Die Sprache dürfen wir Humboldt zufolge nicht als ein abgeschlossenes Werk (ergon) verstehen, sondern wir müssen sie be- greifen als eine dynamische Wirksamkeit (energeia). […] Aber die energe- tische Arbeit des Geistes ist nicht nur in der Sprache, sondern in allen symbolischen Formen wirksam. […] Cassirers Kulturphilosophie weist zwei Vorzüge auf. Erstens werden alle relevanten menschlichen Erfahrungen als kulturelle Erfahrungen interpre- tiert. Unsere Erfahrungen tragen den Stempel der Kultur. Zweitens bewegt sich die Frage nach der menschlichen Kultur im Hofe des transzendentalen Kritizismus Kants. Indem die Frage nach der Kultur des Menschen als Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit menschlicher Erfahrung gestellt wird, diese mit erweiterten Kantischen Mitteln bearbeitet wird, bleibt die Kulturphilosophie mit dem Zentrum der Transzendentalphilosophie ver- knüpft […]. Im folgenden möchte ich den Cassirerschen Ansatz an zwei Stellen erweitern. […] Zunächst rechnet Cassirer nicht systematisch mit Verformun- gen und Depravationen der symbolischen Formen. Diesen Punkt möchte ich mit Hilfe der Kulturtheorie der Kritischen Theorie erläutern. Außerdem kann man den Ursprung der symbolischen Formen in tiefsitzenden anthro- pologischen Subschichten nachweisen und somit ihre Verankerung in der Natur des Menschen plausibel machen. Diesen Aspekt will ich mit der Phi- losophischen Anthropologie erklären.“ Heinz Paetzold, Die Realität der symbolischen Formen1 1 Heinz Paetzold, Die Realität der symbolischen Formen. Die Kulturphilosophie Ernst Cassirers im Kontext, Darmstadt 1994, S. IXff. und 170. Marlene Montes de Sommer Der Weg zum Kulturverstehen über Cassirers Lehre von der „symbolischen Form“ Einleitung Im Kulturschaffen erkennen wir den Menschen als einen Schöpfer der Kul- turen. Er offenbart uns auf diese Weise sein Denken und Handeln. Dieser Zugang zum Menschen ist jedoch nicht einfach begehbar, da uns hier das Individuum nur in einer untrennbaren Einheit mit seiner Gemeinschaft erscheint. Vielleicht ist dies der Grund dafür, dass sich so wenige Philoso- phen den Problemen der Kulturen zuwenden, und dennoch bleibt dieses Erbe aus langer Vergangenheit, das uns im Kulturschaffen vermittelt ist, eine He- rausforderung an die Philosophie. Es stellt sich die Frage inwiefern gerade hierdurch eine Brücke zwischen der empirischen Erkenntnistheorie und Kants Erkennen mittels einer reinen Vernunft möglich wird. Es war Ernst Cassirer, der zu Anfang des 20. Jahrhunderts diesen Weg genauer erforschte und uns damit die Möglichkeit eröffnete, mit den Methoden der Philosophie die Kul- turen der Menschen besser zu verstehen und deren Bedeutung für unser Menschsein zu erfassen. Von 1917 bis 1929 arbeitete Cassirer an seiner Konzeption für eine Kul- turphilosophie, aber durch die Wirren der Zeit fand diese zunächst nicht die ihr gemäße Beachtung. Es ist auch das Verdienst von Heinz Paetzold, die Bedeutung Cassirers wieder entdeckt und dessen Ideen verbreitet zu haben. In der Zeit des Neuanfangs, nach dem zweiten Weltkrieg, als viele Men- schen nach neuen Orientierungen suchten, aber diese in der wieder ent- deckten Freiheit, angesichts einer sie überflutenden vielgestaltigen Kultur und einer unverständlichen Kunst nicht entdecken konnten, waren Paetzolds Arbeiten über Cassirer ein philosophischer Ansatz diesen bisher vernach- lässigten Zugang zum Verstehen des menschlichen Lebens zu nutzen. Heinz Paetzold weist aber auch nachdrücklich darauf hin, dass Cassirers Weg seinen Ursprung im Neukantianismus nicht verleugnen konnte und dass es erst der neueren philosophischen Forschung aufgetragen ist, seine Verbindungen zu den Entwicklungen der neueren Philosophie im 20. Jahr- hundert herzustellen. Paetzold bewahrt Cassirers Ideen einer Kulturtheorie, aber er bringt diese ein, in einen erweiterten Horizont einer Philosophie, der Kunst und Kulturschaffen mit einbezieht. Ich möchte im hier vorgelegten Beitrag diesen Weg von Heinz Paetzold weiter beschreiten und den Versuch unternehmen, mit einer Verstehensweise, die sich auf Cassirer beruft, aus dem Horizont einer einzigen Kultur auszubrechen und zu einer interkul- turellen Betrachtungsweise zu gelangen. Marlene Montes de Sommer184 Geführt werden wir auf diesem Weg durch die Malerschule von Cusco. Diese Bilder, die von einheimischen Künstlern im Auftrag der Kirche her- gestellt wurden, werden auf Grund ihrer Zwischenstellung zwischen west- licher und andiner Kultur von Kunsthistorikern häufig verkannt, da die unterschiedlichen Lebenswelten auch als Brüche im Kunstwerk erscheinen. Aber genau diese Brüche werden es sein, die durch Cassirers Lehre von der „Symbolischen Form“ für uns zum Sprechen gebracht werden können und die uns nicht nur das Wesen dieser Bilder, sondern auch das Wollen ihrer Schöpfer erhellen. Mit dem Verstehen der Bilder der Cuscoer Maler wird sich uns dann auch eine wirklich interkulturelle Brücke zum Denken La- teinamerikas eröffnen. Wir werden erkennen, dass Cassirers Suche nach dem Verstehen der Kulturen genau den Intentionen entspricht, die auch Perus wichtigsten Den- ker des 20. Jahrhunderts José Carlos Mariátegui leiteten. Mariátegui hatte erkannt, dass die Befreiung Lateinamerikas aus Unfreiheit und Armut nur über das Auffinden einer eigenen Authentizität möglich sein wird und genau diese Suche führte ihn zu Erkenntnissen, die diejenigen Cassirers ergänzen und komplementieren. Unser Weg mit Cassirer zum Kulturverstehen führt so zu einer interkulturellen Philosophie. Cassirers Zugang zum Kulturverstehen Jedes Kulturschaffen stellt uns vor die Frage nach dem Verstehen des Men- schen. Diese Frage zielt in die entgegengesetzte Richtung zu derjenigen, in die uns die Naturwissenschaften führen. Nicht die Welt steht in ihr an erster Stelle, als eine Welt, aus der der Mensch hervorgeht, sondern es ist der Mensch selbst, der an den Anfangspunkt gerückt wird und der sich eine Welt nach seiner Art zu leben schafft. Diese Frage erfordert daher auch eine Vorgehensweise, die sich von derjenigen des Naturwissenschaftlers unter- scheidet. In der Erkenntnis, dass das mathematisch-naturwissenschaftliche Wissen, beim Erkennen der Welt des Menschen, seinem Selbstbewusstsein und dem Sinn des menschlichen Lebens nicht hilfreich sein kann, sucht Cassirer nach neuen Wegen und neuen Theorien. Für Cassirer gilt: Die Gesamterfahrung und das gesamte Denken kann man nicht nur in einem rationalen System erfassen. Die Sprache, mit der wir unsere Welt beschreiben bietet „Keine Abbildung der Wirklichkeit, sondern sie ist eine die Welt erschließende und das Denken und die Wahrnehmung strukturierende Kraft.“1 1 Heinz Paetzold, „Symbolische Formen als Wissensmedien“, in: U. Büttner, M Gehring, M. Gotterbarm, L. Herzog, M. Hoch (Hg.), Potentiale der symbolischen Formen, Würz- burg 2011, S. 123. Der Weg zum Kulturverstehen 185 Die Symbole, die unser Wissen kodieren haben immer auch einen geis- tigen Bedeutungsgehalt. Bei seinem Versuch zu „einer allgemeinen Theorie der geistigen Ausdrucksformen“ geht es daher nicht nur um das Erkennen, sondern auch darum, die Bedeutung der „Symbolischen Formen“ von ihrem Wesen her zu verstehen. Cassirer strebt nach einer Theorie, die auch die Geisteswissenschaften begründet und die das naturwissenschaftlich ausge- richtete Denken seiner Zeit ergänzen soll. Die Suche nach der Bedeutung der Symbole wurde zentral im Denken Cassirers und er erkannte bald, dass die Philosophie seiner Zeit ihm dabei wenig helfen konnte. Die moderne Wissenschaft lehrt uns nicht, wie wir die Welt sehen können, sondern sie erklärt uns ausschließlich deren Funktionieren in den Begriffen von Ursache und Wirkung. Sie kann uns nicht aufzeigen, wie es uns möglich wird, Vor- stellungen von möglichen noch unrealisierten Welten zu erlangen. Aus die- sem Grunde müssen wir nach neuen Zugangsmöglichkeiten suchen zur komplexen Lebenswelt der menschlichen Gemeinschaften. Aus dieser Erkenntnis heraus begründet sich die große Beachtung, die Cassirer der Arbeit den Ethnologen, den Wissenschaftshistoriker, den Sprach- wissenschaften und den Künstler schenkte. Er war es, der uns die Türen zu einem besseren Verstehen der Kulturen öffnete. In einem Jahrhundert, das so stark vom Glauben an die Wissenschaft und an die Machbarkeit durch die Technik geprägt wurde, schrieb Cassirer, viele Jahre bevor Heidegger sich zum Kritiker einer unhinterfragten Technikentwicklung entwickelt hatte: „Wissenschaft bedeutet Abstraktion, und Abstraktion ist immer eine Ver- armung der Wirklichkeit. Die Formen der Dinge, so wie sie in wissenschaft- lichen Konzepten dargestellt werden, geraten mehr und mehr zu bloßen Formeln.“2 Paetzold hebt insbesondere den Grundbegriff der „symbolischen Präg- nanz“ hervor, der Cassirers Lehre von der „Symbolischen Form“ direkt mit dem Kunstschaffen verbindet. Paetzold betont: „Ein Phänomen muss uns prägnant gegeben sein, um seine weitere Verarbeitung in der betreffenden symbolischen Form zu stimulieren. [...] In der Präzisierung eines Phäno- mens durch seinen Eintritt in die symbolische Form und in der hier stattfindenden Verfeinerung besteht ja im Grunde der Prozess der Kultur.“3 Durch diesen Eintritt einer Idee in die konkrete Form des Symbols be- steht die Möglichkeit, dieser Idee eine konkrete Gestalt zu geben. Ein ein- drückliches Beispiel für diese Beziehung zwischen realem Symbol und dessen geistiger Bedeutung finden wir in der mittelalterlichen Kirchenbaukunst. Die Kirchen symbolisierten die Macht Gottes aber sie veranschaulichten diese Macht auch in konkreter Weise und machen sie somit für die Menschen erfassbar. Im Kunstwerk verbindet sich die geistige Idee mit einem präg- 2 Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen, Einführung in eine Philosophie der Kunst, 2. Aufl., Hamburg, 2007, S. 222. 3 Heinz Paetzold, „Symbolische Formen als Wissensmedien“, S. 126 f. Marlene Montes de Sommer186 nanten Werk. Diese Verbindung von geistiger Idee und Werk tritt uns im Kulturschaffen entgegen. Für Cassirer ist es die Kunst, in der sich unser Menschsein über eine Welt der reinen technischen Abläufe erhebt und mittels der es dem Menschen möglich ist ein Verstehen zu entwickeln, das über das formale Verstehen hinausgeht. Er formuliert: „Auch die Kunst kann man Erkenntnis nennen, doch die Kunst ist Erkenntnis von einer besonderen eigentümlichen Art.“4 Und er hebt hervor: „Wir können das Kunstwerk nicht begreifen, indem wir es logischen Regeln unterwerfen. [...] Die Kunst erwächst aus anderen, tieferen Quellen. Um diese Quellen zu entdecken, müssen wir unsere ge- wöhnlichen Maßstäbe zunächst einmal vergessen, wir müssen in die Ge- heimnisse unseres Unbewussten eintreten.“5 Für Cassirer ist der Mensch ein ‚animal symbolicum‘ und alle mensch- liche Tätigkeit ist Schöpfung von Symbolen. Cassirer weist darauf hin, dass: „[Der Mensch] lebt nicht mehr in einem bloß physikalischen, sondern in einem symbolischen Universum.“6 Der Symbolismus eröffnet uns dabei die Methode, mit der wir über das formale Denken hinaus denken können und einen wissenschaftlich fundier- ten Zugang auch zum Kunstschaffen finden: „Kunst ist tatsächlich Symbo- lik, doch die Symbolik der Kunst muss man als Immanenz, nicht als Tran- szendenz verstehen. [...] Man muss [den wirklichen Gegenstand der Kunst] in bestimmten fundamentalen Strukturelementen unserer sinnlichen Erfah- rung suchen.“7 Cassirer fügt hinzu: „In die Tiefe der Dinge vorzudringen erfordert die Anstrengung unserer aktiven und konstruktiven Energien. Aber da diese Energien nicht alle in dieselbe Richtung gehen und dasselbe Ziel anstreben, können sie uns auch nicht dieselbe Ansicht der Wirklichkeit vermitteln.“8 Die Kunst kann den Anstoß zu einem konstruktiven Erzeugungsprozess von Wirklichkeit liefern: „Gleich allen anderen symbolischen Formen ist auch die Kunst keine bloße Nachbildung einer vorgegebenen Wirklichkeit. Sie ist einer der Wege zu einer objektiven Ansicht der Dinge und des menschlichen Lebens.“9 Cassirer stellt uns die Kunst dar als eine Konkretisierung der geistigen Kräfte, mit denen der Mensch seine Welt formt. Durch sie können wir unserer Welt ein anderes Gesicht geben, sie verstehbar und Leben ermögli- chend gestalten. Genau in dieser Weise hat auch der bedeutende peruanische Denker José Carlos Mariátegui die Kunst verstanden und Zeit seines Lebens 4 Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen, S. 260. 5 Ebd., S. 247. 6 Ebd., S. 50. 7 Ebd., S. 242. 8 Ebd., S. 259 f. 9 Ebd., S. 219 f. Der Weg zum Kulturverstehen 187 diese in seinem politischen Kampf eingesetzt. Kunst und Kunstverständnis sind universelle menschliche Begriffe die zu einer Brücke über die Ränder der Kulturen hinweg werden können. Natürlich erscheint es zunächst problematisch, das Kunstschaffen Süd- amerikas aus einer eurozentristischen Perspektive, wie sie Cassirers Philo- sophie darstellt, erkennen zu wollen. Aber wer die Schriften von Heinz Paetzold liest, erkennt, dass für ihn die Attraktivität Cassirers gerade darin liegt, dass dieser mit seiner Methode des Erkennens der „Symbolischen For- men“ Wege bereitstellt, die über das angestammte Denken der westlichen Welt hinaus führen. Neben die wissenschaftliche Erfahrung, in der er das Erbe Europas erkennt, treten bei Cassirer die mythische, die religiöse und auch die ästhetische Erfahrung. Gerade über die ästhetische Erfahrung kön- nen wir uns einer Ideenwelt annähern, zu der uns die Denkweisen und Denkgewohnheiten unserer eigenen Kultur sonst keinen Zugang ermögli- chen. Heinz Paetzold gibt zu bedenken: „Der Mensch, der ästhetische Er- fahrungen macht, wird ein ganzer Mensch, indem er die in ihm liegenden und im Alltag verschütteten Fähigkeiten komplexer Sinneswahrnehmung er- wirbt. Er öffnet sich universalen Erfahrungsmöglichkeiten. Er steigert seine Erfahrungsmöglichkeiten, indem er der Strukturen der Wahrnehmung inne wird.“10 Während wir also in unserem alltäglichen Dasein ganz im Kontext un- serer eigenen Lebenswelt und unserer Kultur eingefangen sind, ermöglicht es uns unsere ästhetische Erfahrung, Strukturen als solche, das heißt als für alle Menschen universale „Icons“ wahrzunehmen. Als Signale, die ihre Bot- schaft in sich selbst tragen und damit kontextunabhängig sind. Genau auf diese Weise hatte schon der amerikanische Philosoph Charles Sanders Peirce (1839–1914), der Begründer des Pragmatismus, die Bedeutung des „Icons“ festgelegt. Cassirer versteht ein Zeichen und weitergehend „symbolisches Zeichen“ auf folgende Weise: „Das Zeichen ist keine bloß zufällige Hülle des Gedan- kens, sondern sein notwendiges und wesentliches Organ.“. „Die symboli- schen Zeichen aber, die uns in der Sprache, im Mythos, in der Kunst ent- gegentreten, ‚sind‘ nicht erst, um dann, über dieses Sein hinaus, noch eine bestimmte Bedeutung zu erlangen, sondern bei ihnen entspringt alles Sein erst aus der Bedeutung“.11 Die Denkweise Cassirers ist, so zeigt uns Heinz Paetzold, diejenige, mit der wir uns fremden Kulturen annähern können und die somit grundlegend ist zum Versuch einer Interkulturellen Philosophie. 10 Heinz Paetzold, Die Realität der symbolischen Formen, Darmstadt 1994, S. 162. 11 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Darmstadt 1973, Bd. I, S. 42. Marlene Montes de Sommer188 Zeit des Vergessens und der Wandel der Sensibilität In Bezug auf ein gegenseitiges Kulturverstehen zwischen Europa und Lateinamerika gibt es jedoch nicht nur den Weg von Europa nach Amerika, sondern auch denjenigen in der Gegenrichtung. Viele Lateinamerikaner lernten die Bedeutung der Kunst erst durch die Betrachtung der europäi- schen Kunst verstehen und bildeten ihr Kunstverständnis auf ihren Reisen durch die „alte Welt“. Sie standen dem Erbe der alten Kulturen, die vor der spanischen Eroberung ihren Kontinent prägten zunächst fremd gegenüber. Lange Jahre blieb der Reichtum der präkolumbianischen Kulturen daher selbst für die Menschen Lateinamerikas, im Verborgenen. Von den großen Kulturen der Azteken, der Mayas und der Inkas und deren Vorgänger wurde während der Zeit der Eroberungen durch die Europäer vieles zerstört und Anderes blieb unverstanden, da durch die Auslöschung der einst herrschen- den Klasse und durch Aktionen wie die Verbrennung der Bücher der Mayas das alte präkolumbianische Wissen in Zentralamerika verloren ging. Es war für die Europäer des 16. Jahrhundert auch zweifellos einfacher, die Geo- graphie, die Flora und Fauna des Kontinents zu erforschen, als sich in das doch sehr andersartige Denken dieser Kulturen einzufühlen. Nach und nach mussten sich auch die Einheimischen an den Maßgaben der neuen Herren ausrichten und so verloren auch sie den Kontakt und die Wertschätzung für all das, was die Generationen vor ihnen erdacht und erschaffen hatten. Ein grelles Licht auf die Beziehungen der Menschen Lateinamerikas zu ihren alten Kulturen eröffnet uns der Bericht des mexikanischen Schriftstel- lers Octavio Paz, Nobelpreisträger von 1990, in seinem Buch Zwiesprache, Essays zu Kunst und Literatur. Paz berichtet, dass im Jahr 1790 die Skulptur der Göttin Coatlicue entdeckt wurde. Der damalige Vizekönig Revillagigedo ordnete an, dass sie als „ein Denkmal des amerikanischen Altertums“ in der Königlichen und Erzbischöflichen Universität von Mexico aufgestellt wurde. Aber bedauerlicherweise: „nach wenigen Monaten beschlossen die Univer- sitätsprofessoren, sie wieder zu vergraben, und zwar an demselben Ort, wo man sie gefunden hatte.“12 1804 war Alexander von Humboldt in der Stadt Mexico. Wie Miguel León Portilla berichtet, hatte der deutsche Wissenschaftler die mezoameri- kanischen Völker als „halb barbarische Völker“, bezeichnet. Außerdem hatte er ein „romantisches Bild“ von den Sitten und Gebräuchen und auch von den Institutionen dieser Gesellschaft. Von Humboldt wusste von der Skulptur der Göttin Coatlicue und wollte sie unbedingt sehen. Der Historiker Ignacio Bernal informiert, dass gemäß der Anordnung der Obrigkeit folgenderma- 12 Octavio Paz, Zwiesprache, Essays zu Kunst und Literatur, Frankfurt a.M. 1984, S. 7f. Der Weg zum Kulturverstehen 189 ßen verfahren wurde: „man grub die Statue aus, und als der deutsche Gelehrte seine Neugier befriedigt hatte, vergrub man sie wieder.“13 Ähnliche Erfahrung vermeldeten auch die ersten europäischen Chronis- ten. Man weiß von vielen Diskussionen zwischen den europäischen Wis- senschaftlern über die vorgefundenen Kulturgegenstände und es wird sogar berichtet, dass einige Objekte nach Spanien gebracht wurden, um zu einer Entscheidung zu gelangen. Oft wurden solche Objekte dann jedoch als falsche Götzenbilder eingestuft und zerstört, wie dies während den be- kannten Kampagnen zur „Ausrottung der Götzen“ vorkam. Dabei stellte sich nicht nur damals die Frage: Liegt alle diese Unsi- cherheit nur an einem Missverständnis über den Begriff der Kunst? Zwei- fellos verlangte die Entdeckung Amerikas von den Europäern ein anderes Bewusstsein und andere Wertkriterien wie die, die sie von dort mitbrachten und auch eine große ästhetische Sensibilität. Nichtsdestotrotz finden wir in der Geschichte Beispiele wie den italienischen Humanisten Pietro Martire d’Anghiera oder den deutscher Künstler Albrecht Dürer, die sich über die Kunst der amerikanischen Kulturen mit großer Anerkennung äußerten. Martire d’Anghiera drückt seine Bewunderung aus mit den Worten: „was mich in Bewunderung versetzt, ist die Fertigkeit und Kunst, mit der diese Werke das Material vervollkommnen und über dieses hinausgehen; ich habe tausend Figuren und tausend Gesichter gesehen, die ich nicht wieder- geben könnte; es erscheint mir, dass ich niemals Ähnliches gesehen habe, das auf diese Weise durch seine Schönheit die Blicke der Menschen auf sich ziehen würde.“14 Erstaunlicherweise schreibt Albrecht Dürer in seinem Tagebuch im Jahr 1520 ganz ähnliche Sätze: „Nichts habe ich in meinem bisherigen Leben gesehen, das so mein Herz erfreut hätte, wie diese Werke. In ihnen habe ich herrliche künstlerische Objekte entdeckt, die mich in Bewunderung vor der subtilen Genialität dieser Menschen aus so fernen Gegenden versetzte.“15 Dabei darf nicht vergessen werden, dass auch Europas Eliten solche Ob- jekte mit den ästhetischen Kategorien ihrer Welt wahrnahmen und daher viele derselben ihnen unverständlich oder sogar unerträglich erschienen. Im Fall der Cuscoer-Maler, verkannten auch viele Kunsthistoriker und Kunst- kritiker die Kunst der andinen Kultur, da sie deren Symbole, aus ihrer west- lichen Perspektive, nicht dechifrieren konnten. 13 Ebd., S. 8: „Die Coatlicue [...] wurde endgültig erst Jahre nach der Unabhängigkeit ausgegraben. [...]. Die Göttin Coatlicue [ist] im größten Saal des Museo Nacional de Antropología, der der Kultur der Azteken gewidmet ist“. 14 Pietro Martire d’Anghiera, De Orbe Novo, zitiert v. Miguel León Portilla in: Los antiguos Mexicanos, 10. Aufl., México 2006, S. 158. 15 Albrecht Dürer, „Tagebuch der Reise in die Niederlande, Anno 1520“, in: Albrecht Dürer in seinen Briefen und Tagebüchern, zusammengestellt von Ulrich Peters, Frank- furt a.M. 1925, S. 24f. Marlene Montes de Sommer190 Es war das Werk des José Carlos Mariátegui, durch das die prähispani- schen Kulturen im 20. Jahrhundert in Lateinamerika „wiederentdeckt“ wur- den. Mariátegui war erfüllt von der Idee, dass die „unangreifbare Wirk- lichkeit“ der Andenkultur sich in ihrer Kunst und ihrem kulturellen Erbe widerspiegele. Dabei lebte er jedoch in einer Zeit und einer Gesellschaft, die den Zugang zu dieser Kunst erst wiederfinden musste und ihr oft mit Miss- achtung begegnete. Er musste daher seine Mitmenschen zuallererst lehren, dieses Erbe zu verstehen. Wir können fremde und vergangene Kulturen wahrnehmen, indem wir die Werke: Tempel, Monumente und Grabbeigeben betrachten, die diese ge- schaffen haben. Dabei müssen wir jedoch unseren Blick öffnen, da diese Kunstobjekte die Menschen in verschiedenen Kulturen in häufig ganz unter- schiedlichen Lebenssituationen begleiteten. Die Kulturen mit ihren Traditionen, die wesentlich in der Kunst, der Architektur und in den Wissenschaften ausgedrückt werden, haben eine konkrete Bedeutung. Die Bewahrung dieser Traditionen kann sich nicht auf die Erhaltung von Gewohnheiten, Riten und Erzählungen beschränken, sondern muss deren Bedeutung in das Leben einbringen. Jeder kulturelle Schaffensakt ist Ausdruck eines spirituellen Empfindens. Wir stimmen Cas- sirer zu, wenn er schreibt: „In jeder Sprachhandlung und in jedem schöp- ferischen Werk erkennen wir eine deutlich teleologische Struktur. [... Ziel ist], die Verkörperung eines menschlichen Charakters.“16 Die ästhetische Empfindung des europäischen Menschen unterscheidet sich von demjenigen der Menschen anderer Kontinente, die in unterschied- lichen Traditionen aufgewachsen sind. Jedes Kunstschaffen bringt Ideen zum Ausdruck, die in einer bestimmten geschichtlichen Situation Menschen bewegen, sie ihrer Situation bewusster machen und ihnen helfen, in dieser leben zu können. Das Denken in einer Kultur spiegelt sich in ihren Werken. Das Kunstschaffen der antiken indigenen Bevölkerung Südamerikas stand in der Funktion zeremonieller, nützlicher oder dekorativer Absichten, so wie dies in allen magisch oder religiös geprägten Kulturen der Fall ist. „Ange- sichts der Volkskunst und der magischen Kunst, wie angesichts der reli- giösen Kunst war der ästhetische Genuss nicht isoliert, sondern mit anderen Erfahrungen verbunden. Die Schönheit17 war kein Wert an sich; in einigen Fällen war sie verbunden mit religiösen Werten und in anderen mit der Nützlichkeit. [...] Die Kunst war kein Selbstzweck, sondern eine Brücke [...] Als Brücke führt uns das Kunstwerk vom Hier des Jetzt zu einem Dort in einer anderen Zeit. [...] Das Kunstwerk ist ein Medium, es überträgt heilige 16 Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen, S. 219. 17 Octavio Paz, Zwiesprache, S. 19: „Ich habe von Schönheit gesprochen. Das war ein Irrtum. Das Wort, auf das Mesoamerikanische Kunst zutrifft, ist Ausdruck. Es ist eine Kunst, die spricht, doch das, was sie sagt, sagt sie mit solchem Nachdruck, dass dieses Sprechen immer ausdrucksvoll ist“. Der Weg zum Kulturverstehen 191 Kräfte und Mächte. [...] Die Funktion der Kunst ist es, uns die Tore zu öffnen, die auf die andere Seite der Wirklichkeit führen.“18 In Europa dagegen erlangt die Kunst in der Zeit der Renaissance, neben ihrer Funktion der Versinnbildlichung der Werte, die die Mitglieder einer Gemeinschaft verbindet auch eine kreative Funktion, die es dem Künstler ermöglicht, sein eigenes Empfinden auszudrücken. Etwa im Portrait und in der Landschaftsmalerei drückt der Künstler nicht mehr eine gemeinschafts- stiftende Idee, sondern seine eigene Vorstellung von einem Menschen oder von einer Landschaft aus. Mit diesem Wandel, der in der Zeit der Säkula- risierung stattfand, war auch ein neues Selbstverständnis der Künstler ver- bunden. Der Renaissance-Künstler empfand sich nicht mehr als Handwer- ker, der die Ideen anderer, der Priester oder der Könige ausführt, sondern er empfand sich als Erschaffer eines neuen, „spirituellen Objekts“. Er empfand sich als Schöpfer und nicht nur als Realisierender. Diese Entwicklung führte dazu, dass sich in Europa die Kunst immer stärker individualisierte und ver- wissenschaftlichte, wohingegen die alte handwerkliche Kunst in einer von der „offiziellen“ intellektuellen oder akademischen Kunst abgesonderten Volkskunst weiterlebte. Mit der Zeit bildete sich ein Dualismus zwischen anerkannte Kunst und Volkskunst. In Lateinamerika war eine solche Entwicklung dagegen nicht möglich. Da den einheimischen Kunstschaffenden, wegen ihrer Herkunft, ein Aufstieg in höhere Gesellschaftskreise verwehrt blieb, konnten auch ihre Werke nicht die Anerkennung finden,19 die der europäischen Kunst entgegengebracht wurde. Lateinamerikanische Kunstschaffende blieben Handwerker und ihren Werken wurde nur dann ein besonderer Wert zuerkannt, wenn sie diesen durch ihre Funktion, etwa als Heiligenbilder, zugewiesen bekamen. In der Geschichte der Kunst ist es interessant zu beobachten, dass die Frage: „Was ist Kunst“ immer erneut gestellt wird. Aber zu dieser Frage gehört auch die andere Frage: „Welche Rolle Kunst in der Entwicklung der Menschheit und in der Beziehung des Menschen zum Menschen spielt.“ Octavio Paz bemerkt hierzu: „Die Kunst überlebt die Gesellschaft, von denen sie geschaffen wird. [...] Unser Verständnis ist nicht illusorisch: es ist mehr- deutig. Diese Mehrdeutigkeit taucht bei allen unseren Betrachtungen der Werke anderer Kulturen auf und selbst angesichts der Werke unserer eige- nen Vergangenheit. Wir [Mexikaner] sind weder Griechen noch Chinesen noch Araber; auch können wir nicht sagen, dass wir die romanische oder die byzantinische Skulptur völlig verstehen. Wir sind dazu verurteilt, zu über- setzen [...].“20 Diese Beschränkung gilt für uns alle, wenn wir uns fremder Kunst nähern. 18 Ebd., S. 19. 19 Die Indigenen (bei wenigen Ausnahmen,) durften nicht ihre Bilder mit dem Namen signieren. Nur die Europäer durften sich Künstler nennen. 20 Octavio Paz, Zwiesprache, S. 13f. Marlene Montes de Sommer192 Die Welt der Kultur als Schlüssel zur Harmonie der Welt in der indo-amerikanischen Kunst Die Künstler der präkolumbianischen Kulturen drücken die Welt aus, indem sie den Klang der Welt aufnahmen. Ihre Darstellungsweise ist nicht diejenige einer Fotographie, die das Wahrgenommene in einer geschichts- und zu- kunftslosen Form wider gibt, sondern in einer Realität, die realer ist als dieser Eindruck des Augenblicks. Die Kulturen sind die Zeugen der Beson- derheiten einer Geschichte und ihrer Träger und eine jede hat ihr eigenes geistiges Leben. Jede Kultur muss in ihrer Einmaligkeit und Einzigartigkeit gesehen und aus dem Verstehen ihrer kulturellen Werke heraus erfasst wer- den. Diese Werke sind die Zeugen einer eigentlich nur im gesamten Kultur- zusammenhang verständlichen Geisteswelt. Jeder Augenblick und jeder Ort in einem Kulturraum erhält seine Bedeutung aus dem Kulturganzen, analog dem einzelnen Geigenton, der seine Bedeutung aus dem Ganzen einer Sym- phonie schöpft. Mit Recht bemerkt Cassirer: „Kunst ist Intensivierung von Wirklichkeit. [...] Der Künstler ist ebensosehr Entdecker von Naturformen [...].“21 An anderer Stelle setzt er fort: „Nur indem wir die Kunst als eine besondere Ausrichtung, als neue Orientierung unseres Denkens, unserer Phantasie und unserer Ge- fühle begreifen, erfassen wir ihre wirkliche Bedeutung und ihre eigentliche Funktion.“22 Eine wahre Darstellung der Wirklichkeit des Andenlebens erfasst mit jedem Zeitpunkt, jedem ‚Jetzt‘, auch die Vorgeschichte und die nachfolgende Zukunft, die den Ereignissen des Augenblicks überhaupt erst einen Sinn zuweisen. Es ist dies eine Verstehensweise der Zeit, die Edmund Husserl methodisch in die Phänomenologie einführte, indem er das ‚jetzt‘ aus der Trilogie von Retention, Gegenwärtigem und Prätention konstituierte. Das Gegenwärtige kann erst dann zur Realität und zum ‚Jetzt‘ werden, wenn es aus dem aus der Vergangenheit Übernommenen und dem in der Zukunft Er- hofften seinen Sinn bezieht. Auch sie indische Philosophie kennt den Unterschied zwischen dem Bild des Augenblicks und dem Begriff des ‚jetzt‘. Raimon Panikkar drückt diesen so aus: „Unsere Weltanschauung ist nicht ein Bild der Welt, da wir bereits in dieser Welt sind. Unsere Weltanschauung bezieht sich dagegen auf eine Erfahrung der Welt selbst, in die wir eingetaucht sind. Es ist der Ho- rizont, der aus jeder Kultur entsteht, den wir voraussetzen müssen. Die Er- fahrung der Welt, wenn sie sich uns vor diesem Hintergrund darstellt, nennen wir Weltverständnis.“23 21 Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen, S. 221. 22 Ebd., S.259. 23 Raimon Panikkar, La experiencia filosófica de la India, Barcelona 2002, S. 83 f. Der Weg zum Kulturverstehen 193 Traditionen bestehen aus geschriebenen Texten, Malerei, mündlichen Über- lieferungen, Gewohnheiten, Handlungen, Riten und Musik, die von Genera- tion zu Generation weitergegeben werden. Sie konstituieren das, was die Menschen in früheren Zeiten mit dem Begriff „Heimat“ verbanden. Diese Traditionen sind die Weisheit eines jeden Volkes. Diese Weisheiten und das Lebensgefühl, das hinter jedem Kunstwerk steht wollen wir nun in Bildern der Malerschule von Cusco aufspüren. Die Bilder der Malerschule von Cusco entstanden im 17. Jahrhundert und sind für unsere Fragestellungen besonders interessant, da sie im Kontakt zweier gegensätzlicher Kulturen entstanden sind. Die Kunst der Cuscoer-Maler will nicht eine eigene Authentizität gegen eine als erdrückend empfundene dominante Kultur zum Ausdruck bringen und sie erstrebt auch keineswegs die Anpassung an die spanische Kultur. Sie steht vielmehr im Dienste der Menschen, für die sie gemalt wurde und will diesen in ihrem Leben Be- gleitung und Stärkung bieten. Diese Kunst ist aber auch der Ausdruck des Überlebenswillens einer Kultur. Man kann diese Bilder unter dem Aspekt der politischen Wirkung der Kunst besprechen. Wie können wir die Gemälde der Maler-Schule von Cusco interpre- tieren? Vor dieser Aufgabe standen auch die Spanier im 16. Jahrhundert. Mit den Kategorien der europäischen Kunst konnten sie die Kunst Amerikas nicht verstehen, da sich diese ihren Auffassungsschemata entzog. Die Welt Amerikas und insbesondere diejenige der Anden war geprägt durch ihre eigenen Symbole. Den Spaniern fehlte somit die Orientierung in dieser, für sie fremden Welt. Sie konnten den Europäischen Realismus nicht mit dem Amerikanischen Symbolismus zur Deckung bringen, vor allem deshalb, da diese symbolische Information auch nicht an ein rein rationales Denken gebunden war, sondern durchaus auch Widersprüche und Spannungen zum Ausdruck bringen konnte. In den alten Kulturen Südamerikas erreicht die Kunst ihr höchstes Niveau in der Gewebekunst, der Keramik und der Schmiedekunst. Kennzeichnend für den Symbolismus Amerikas sind geometrische Strukturen, die wir auch in den Quipus, Uncus und Tocapus erkennen können. Sie vermitteln uns einen Eindruck von der Komplexität dieser Symbolsprache. Die strukturierten Entwürfe und deren feine Ausarbeitung ergeben kom- plexe Kunstwerke, die in Geweben oder auch in Schmiedearbeiten ausge- drückt und realisiert sind. Um Bilder der Cuscoer-Schule zu verstehen, müssen wir jedoch nicht nur einen Weg zu ihrer Symbolik finden, sondern auch verstehen, wie diese Symbolik aus der alten prä-hispanischen Kultur in die neue Zeit hinüber ge- rettet werden konnte. Betrachten wir die Marien-Darstellungen der Cuscoer-Maler, so wird uns zunächst das Gewand der Maria auffallen und sonderbar erscheinen. Es ent- spricht nicht unserem Schönheitsideal in Westeuropa, das von mittelalter- lichen und renaissancehaften Madonnen-Darstellungen geprägt ist. Marlene Montes de Sommer194 Aber ist ‚Schönheit‘ überhaupt die Botschaft, die uns die Maler vermit- teln möchten? Haben wir nicht versucht die Botschaft des Bildes von ihrem Ende her zu erfassen, wenn wir es in dieser Weise betrachten? Wir sollten uns zunächst in vollkommener Unbefangenheit vor diese Bil- der der Cuscoer-Schule stellen und uns direkt fragen: Werden wir von ihnen in irgendeiner Weise berührt? Ist dies der Fall, so gilt unsere nächste Frage dem Grund dieses Berührtseins. Was ist die Ursache, die in uns selbst be- steht, und die uns einen Zugang zu diesen Bildern ermöglicht? Was erzählen uns diese Bildern? Wir wollen versuchen, diese Geschichten aufzuspüren, indem wir uns nun einem Bild ausführlicher zuwenden und untersuchen, was uns dieses Bild vermittelt. Unsere Liebe Frau von Bethlehem (Nuestra Señora de Belén) Das Bild ist eine Darstellung der Jungfrau Maria mit dem Jesus Kind. Zu- nächst erkennt man die Maria, wie sie das Jesuskind in den Händen hält. Auffallend ist der Mantel der Maria mit seinen geometrischen Formen und die Widerspiegelung dieser Formen in der Kleidung des Jesuskindes. Sie hält das Kind anscheinend ohne jede Kraftanstrengung in ihren Händen, wie eine Puppe. Die Haltung der Hände der Madonna erscheint nicht natürlich. Der Maler scheint keinen Wert auf eine physikalisch korrekte Darstellung gelegt zu haben, sondern er repräsentiert die Figuren mit den Symbolen ihrer Bedeutung. Die geometrischen Formen hatten in der andinen Welt einen über die reine Darstellung hinausgehenden Symbolwert. Die dreieckige Form ist typisch und wird in vielen Frauendarstellungen verwendet. Diese Form erinnert an die Berge der Anden, die in der alten Mythologie die lebenspendende Mut- ter Erde (Pachamama) symbolisierten. Das Kind scheint aus dem Mantel der Mutter (dem Berg) herauszukommen. Die Jungfrau Maria steht auf einem Podest und ist von zwölf Engel- knaben (Cherub) umgeben, die die zwölf Apostel repräsentieren. Am oberen Bildrand erkennt man die Körper von zwei weiteren Engelknaben, die einen roten Vorhang zurückhalten und so den Blick auf die Figur Maria freigeben. Im Hintergrund erscheint der Eingang zu einem Tempel, der eine Mischung aus einer christlichen Kathedrale und dem alten Baustil der Inkas zu sein scheint. Der majestätische Mantel der Maria, der mit blauen Schleifen und roten Blumen übersät ist, dominiert das ganze Bild mit seinen Erdfarben. Aus- gehend von den Schleifen bilden zwei Kordeln goldene Halbmonde. Aber dieser Mantel hat nicht die Funktion, wie sie uns von den europäischen Schutzmantel-Madonnen her bekannt ist. Er schützt nicht das Leben auf der Erde, sondern er repräsentiert dessen Ursprung und überträgt so die Funk- Der Weg zum Kulturverstehen 195 tionen, die die Mutter Erde im alten andinen Glauben hatte, auf die Maria. Eine der wesentlichen Figuren des alten Glaubens, die Pachamama, wurde so in den neuen christlichen Glauben hinüber gerettet. Unsere Liebe Frau von Bethlehem, Anonyme, Öl auf Leinwand 18. Jh., Museo de Arte de Lima Marlene Montes de Sommer196 Die Haltung der Jungfrau von Bethlehem ist nicht natürlich, die Kopfform erregt in beträchtlichem Maße die Aufmerksamkeit, weil sie sich hinter dem Gewand zu befinden scheint. Das Gesicht der Maria erscheint seltsam ausdruckslos und unterhalb der Halskrause erkennt man ein Kreuz auf der Brust der Maria. Das Kreuz ist das Symbol der Passion Christi, aber es war auch ein Symbol der andinen Kultur, wie Josef Estermann uns hinweißt: „Das Kreuz auf den Gipfeln symbolisiert die kosmische Brücke zwischen hanaq pacha und kay pacha, [...] Die Hauptachsen der Pachasophie er- strecken sich gemäß der räumlichen ‚Ordnung‘ zwischen Oben (hanaq) und Unten (uray), sowie zwischen Links (lloq’e) und Rechts (paña).“24 Das Bild zeigt uns die wesentlichen Elemente, die für die Schule von Cusco insgesamt charakteristisch sind. Jedes Bild ist geprägt von einer geometrischen Ordnung, die von Ornamenten geschaffen wird und die je- dem Detail seinen Platz zuweist. Die dargestellten Figuren bleiben im Allge- meinen und werden nicht zu individuellen Gestalten. Sie erhalten ihre Be- deutung aus den ihnen mitgegebenen Symbolen. Die Bilder entsprechen nicht den Realitätserwartungen, die ein europäischer Betrachter der damaligen Zeit an ein Bild stellte, sondern sie spiegeln die Gestaltungsideale der alten andinen Mythologie, in deren Zentrum die Harmonie des Menschen mit der Natur steht. Das Bild hat nicht die Aufgabe eine bestehende Realität abzu- bilden. Seine Aufgabe ist es vielmehr, der bestehenden Realität durch zu- sätzliche Botschaften einen Sinn zu geben. Diese Botschaft könnte hier darin bestehen, den Menschen aufzuzeigen, dass auch die neuen Götter (die mit den Spaniern ins Land kamen), ihren Ursprung in der alten vertrauten Welt- ordnung haben. Aus der Harmonie der Welt, der Pachamama, entspringt das Symbol des neuen Glaubens, das Jesuskind. Das Bild gab den Menschen die Gewissheit, weiterhin im Schutze eines Weltganzen zu stehen, aus dem heraus ihnen nun neue Kräfte gegeben wurden. Das Bild zeigt aber auch deutliche Unterschiede im Lebensgefühl zwi- schen den Europäern und der indigenen Bevölkerung. Die Versessenheit nach individueller Selbstverwirklichung in der Welt und der Wunsch, dass die individuelle Leistung oder das individuelle Abbild in der Welt erhalten bleibt, das große Ziel der realistischen Malerei, blieb den Urbevölkerungen Ame- rikas fremd. Für sie ist das Menschsein nur im Zusammenhang mit dem Weltganzen verständlich und diese Idee drückten die Cuscoer-Maler ab- sichtsvoll oder vielleicht auch unbewusst, in ihren Bildern aus. Heutzutage können wir diese Bilder von einer anderen Perspektive aus betrachten. Wie Heinz Paetzold schreibt: „Wir schauen der Welt nicht un- mittelbar ins Antlitz, sondern die Menschen bauen zwischen sich und die 24 Josef Estermann, Andine Philosophie, Frankfurt am Main 1999, S. 163, 303. Der Weg zum Kulturverstehen 197 Welt ein Reich symbolischer Bedeutsamkeiten und Verweisungen. [...] Die Erfahrungen des Menschen organisieren sich in ‚symbolischen Formen‘“25 Unser ästhetisches Bewusstsein anerkennt heute auch die Kunst anderer Kulturen, was früher viel weniger der Fall war. Künstler wie Picasso und Gauguin zeigten größtes Interessen an dieser außereuropäischen Kunst und versuchten deren direkte Wirkung auch mit ihren Bildern zu erreichen. Daher ergibt eine Vertiefung in die präkolumbianische Kunst auch einen besseren Zugang zur Kunst im allgemeinen und zu den modernen Malern um Picasso und Gauguin. Kunst als symbolische Deutung der Welt Unser Weg, der uns an Bildern der Cuscoer-Maler heran geführt hat, kehrt nun zurück zu seinem Ausgangspunkt unserer Suche nach einem Weg zum Kulturverstehen. Wir erkannten die Kulturbedingheit unseres Denkens. Durch unsere Denkweisen eröffnet sich uns der Zugang zur Wirklich- keit. Sie enthalten die „intersubjektiven Bedeutungen“, die allen unseren konstitutiven Unterscheidungen und Motivationen zugrunde liegen. Durch ihr Verstehen eröffnet sich uns das Verständnis für eine Kultur. Unsere Un- tersuchung hat uns die Möglichkeit aufgezeigt, die Realität mittels unserer Kreativität zu „beeinflussen“, eine Möglichkeit auf die uns bereits Cassirer in eindrücklicher Weise hinweist. Wir haben bemerkt, dass im Denken der Menschen durchaus auch eine kreative Kraft steckt, die es ermöglicht die Erfassung der Wirklichkeit den jeweiligen menschlichen Bedürfnissen anzu- passen und diese kreative Kraft des menschlichen Verstehens drückt sich in der Kunst aus. Ernst Cassirer lehrt uns: „Die menschliche Erfahrung und Erlebnisfähig- keit beruht darauf, dass wir imstande sind, verschiedene Sehweisen einzu- setzen und unsere Anschauung der Wirklichkeit zu variieren. [... Die Kunst] lehrt uns, die Dinge zu visualisieren, statt sie nur zu konzeptualisieren und unter Nützlichkeitsgesichtspunkten anzusehen. [...] Es ist kennzeichnend für den Menschen, dass er nicht auf einen einzigen, spezifischen Zugang zur Wirklichkeit festgelegt ist, sondern seinen Blickwinkel selbst wählen und auf diese Weise von einer Ansicht der Dinge zu einer anderen wechseln kann.“26 In den Gemälden der Cuscoer-Schule wird menschliche und kulturelle Erfahrung dargestellt. Die Bilder der Cuscoer-Schule sind der Ausdruck der kreativen Kraft der Andenkultur, die unter dem massiven Einfluss der spani- schen Eroberer und deren europäischer Kultur nicht einfach verschwand, 25 Heinz Paetzold, Ästhetik der neueren Moderne. Sinnlichkeit und Reflexion in der Kon- zeptionellen Kunst der Gegenwart, Stuttgart 1990, S. 141. 26 Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen, S. 260 f. Marlene Montes de Sommer198 sondern einen kreativen Weg zwischen dem alten und dem fremden Denken eröffnete. Für den peruanischen Schriftsteller José María Arguedas steht fest, dass genau in dieser kreativen Kraft zur Vermittlung die Stärke einer Kultur liegt. Dabei zeigt sich die Kunst gegenüber der verstehenden Logik als die weit- aus stärkere Kraft. Während die rationale Logik unbeugsam und starr ist und uns in Stunden der Not mit ihren Widersprüchen an der Welt verzweifeln lässt, ist die Kunst flexibel, sie fixiert nicht, sondern symbolisiert. Die Botschaft der Kunst ist immer konkret, sie gibt den Ideen eine ma- terielle Gestalt und reale Wirklichkeit. An der Betrachtung eines der Bilder der Cuscoer-Schule haben wir beobachtet, wie in uns selbst eine Verände- rung vorgegangen ist. Während uns der erste Anschein vieler dieser Ge- mälde zunächst an Kinderzeichnungen erinnert, erkennen wir bei längerer Betrachtung und einer Erklärung der Symbolik der präkolumbianischen Kunst, den Ausdruck eines konsistenten Weltverständnises und einer kosmischen Vision. Unser Bildverständnis schwankt zwischen mehreren Möglichkeiten, die ganz stark auch von unserer eigenen Gestimmtheit und unseren Inten- tionen abhängen. Diese Vieldeutigkeit begründet aber auch die künstlerische Freiheit und sie eröffnet die Möglichkeit zur Kreativität. In Kunstwerken offenbaren sich uns die kreativen Kräfte, die in unserem Denken enthalten sind. Für eine interkulturelle Verständigung sollten wir daher ebenfalls die Kraft aus den Betrachtungen der Kunstwerke der jeweils anderen Kulturen schöpfen. Die Kunst ist der Schlüssel zum Kulturverstehen, da sie die Quellen ent- hält, die uns von den kreativen Menschen dieser anderen Kultur erschlossen wurden. Sie zeigt uns den Anderen, aber mittels einer Symbolik die zum Allgemeingut der Menschheit gehört. Die Kunst ist interkulturell, weil sie uns eine Menschlichkeit aufzeigt, die hinter allen Kulturen steht. Mit dieser Funktion ist die Kunst aber nicht nur der Ausdruck einer Kultur und deren Gesellschaft, sondern sie hat eine Rückwirkung auf diese und spiegelt in gewisser Weise deren Zukunft. In Lateinamerika bestanden über viele Jahrhunderte große Zweifel bei den führenden Denkern an der eigenen Kultur. Das zentrale Thema des pe- ruanischen Denkers und Schriftstellers José Carlos Mariátegui war daher die Frage nach einer eigenständigen Kultur Perus. Mariátegui hatte auf seinen Reisen durch Europa (1921–1923) die Bedeutung des Kulturschaffens für das soziale Leben der Menschen erkannt und er war davon überzeugt, dass eine wirkliche Kreativität nur aus der Verwurzelung in einer kulturgeprägten Lebenswelt entstehen könne. Der Suche und der Festigung dieser kulturellen Identität seines Heimatlandes widmete Mariátegui sein gesamtes Leben. Seine Schriften sind für uns daher die andere Quelle, mittels der wir eine Brücke zu schlagen versuchen, zum Verstehen der Botschaften der Cuscoer Maler. Mariátegui hat uns aufgezeigt, dass derjenige, dem es um die Zukunft einer Gesellschaft geht, deren Kunst mit größter Aufmerksamkeit beachten Der Weg zum Kulturverstehen 199 muss. In ihrer Kunst erkennt er wie im Spiegel nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Zukunft dieser Gesellschaft. Die Eigenständigkeit einer Ge- sellschaft spiegelt sich in ihrer Kunst. Mit unseren Betrachtungen sind wir so zur Ausgangsfrage nach der Be- deutung der Eigenständigkeit der Kunst zurückgekehrt. Mariáteguis Ziel war es, das Leben der Mehrheit der peruanischen Bevölkerung aus Armut und Unterdrückung zu befreien und gerade deshalb stellte er sich die Frage nach den Bedingungen unter denen eine neue Literatur und eine neue Form der Kunst aus einer Gesellschaft erwachsen. Mariategui hat sich in die Politik seines Landes eingemischt, indem er mit seiner Zeitschrift Amauta, der peruanischen Kunst eine Stimme verlieh. Er wusste: „Die Kunst ist eine Flucht, wenn der Künstler die Zeit und die Wirklichkeit, in die er gestellt ist, weder akzeptieren noch vermitteln kann. […]. Diese Künstler reifen und entfalten sich fern der mühseligen und harten Wachstumsprozesse ihrer Völker.“27 Mariategui und Cassirer entdeckten im Symbolismus den Weg zum tie- feren Verstehen des Menschen und seiner Lebenswelt. Dieser Weg ist an keine Geschichtsepoche gebunden, wie Mariátegui feststellt: „Der Symbolismus ist zeitlos“.28 Und er erschließt uns das Innerste der Menschen: „Der Sym- bolismus bietet sich besser als jeder andere Stil an, den einheimischen Geist zu interpretieren. Da der Indio animistisch und bukolisch ist, neigt er dazu, sich in anthropomorphen oder ländlichen Symbolen und Bildern auszudrü- cken.“29. „Die Wissenschaft“ tötet die Legende [das Aussagbare], indem sie das Symbol zerstört [...], die Wissenschaft kann uns nicht dabei helfen das Tawantinsuyo [Inka-Imperium] zu verstehen. Die Legende oder die Dicht- kunst, zeigt uns dagegen [...] sein kosmisches Gefühl.“30 Mariátegui und Cassirer kamen also von ganz verschiedenen Ausgangs- punkten zu analogen Folgerungen. Während sich Mariátegui als Schrift- steller aktiv in die Politik einmischte und nach Methoden suchte, um auf das Geschehen seiner Zeit einzuwirken, ging es Cassirer um neue Wege zur Er- kenntnis. In derselben Zeitspanne, in die auch die wesentlichen Aktivitäten Mariáteguis fielen, zwischen 1923 bis 1929 arbeitete Ernst Cassirer an seiner Philosophie der symbolischen Formen. Mit diesem Werk gelingt Cassirer einer der originellsten Beiträge zur Philosophie des 20. Jahrhunderts, während im anderen Teil der Welt Mariátegui das Denken wesentlich um- gestaltete und neu prägte. Cassirer erkennt in den Symbolen nicht nur Instrumente, sondern orga- nische, lebendige Formen über die die Menschen auf Grund ihres Mensch- 27 José Carlos Mariátegui, Sieben Versuche, die peruanische Wirklichkeit zu verstehen, Berlin 1986, S. 258. 28 Ebd. S. 266. 29 Ebd. S. 266. 30 José Carlos Maríategui, Peruanicemos el Perú, Lima, 1988, S. 88. Marlene Montes de Sommer200 seins verfügen. Die Bedeutung des Symbols reicht weit über seine physika- lische Existenz hinaus, es hat eine spirituelle Energie. Jede Kultur hat solche Energien entwickelt und wir erkennen diese in ihrem Kunstschaffen. Cassi- rers wissenschaftlicher Beitrag macht uns so auch das Wirken und die Bedeutung Mariáteguis verständlich, die dieser bis heute im politischen Leben Lateinamerikas hat. Mariátegui ging es nicht um Nostalgie, wenn er die Menschen seiner Zeit auf die bedeutenden präkolumbianischen Kulturen verwies. Es ging ihm um die Kräfte, die er mit der Kunst freizusetzen hoffte, um die Probleme seiner Zeit zu lösen. Die Kunsterzeugnisse der antiken peruanischen Zivilisationen repräsen- tierten für Mariátegui eine geistige Kraft und die Fähigkeiten dieser Zivilisa- tionen, massive Steinquader in ihren Monumenten einzusetzen symbolisiert deren Fähigkeit, sich in einer gewaltigen Natur zwischen den tiefsten Meeren, dem Pazifik, und dem zweithöchsten Gebirge der Welt, den Anden, zu behaupten. Die Symbolik dieser Natur spiegelt sich in ihrem Mythos, ihren Legenden und ihrer Dichtkunst bis hinein in die Malerei. Die Bilder der Maler von Cusco haben aufgezeigt, wie uns die Kunst hinter dem vordergründig Dargestellten durch ihre Symbolik weitere Bot- schaften vermittelt, durch die dieses Vordergründige erst seinen Kontext erhält. Damit veranschaulichen uns diese Bilder Cassirers Lehre von den „Symbolischen Formen“ und sie zeigen uns auf, dass wahre Wissenschaft nicht am rationalen Erkenntnisvermögen endet. Das Einwirken Mariáteguis, mittels dem dieser eine bessere Welt erstrebte, wird uns durch Cassirers Phi- losophie verständlich. Die Cuscoer Maler zeigen auf, was Cassirer formu- liert: „Die Formen der Kunst [sind] keine leeren Formen. Sie erfüllen eine ganz bestimmte Aufgabe bei der Konstruktion und Organisierung der mensch- lichen Erfahrung. Im Reich der Formen zu leben bedeutet nicht Flucht vor den Problemen des Lebens; im Gegenteil, es bedeutet Verwirklichung einer der höchsten Kräfte des Lebens selbst. Wer die Kunst als ‚außermenschlich‘ oder ‚übermenschlich‘ bezeichnet, der übersieht eines ihrer zentralen Merk- male: ihre konstruktive Rolle bei der Gestaltung des menschlichen Uni- versums.“31 Schlussbetrachtungen Durch die Kunst werden Lebensformen vermitteln und nicht nur Formen, die Kunst symbolisiert Inhalte des Lebens in all seiner Komplexität. Durch unsere Überlegungen auf dem Weg zum Kulturverstehen über Cassirers Lehre von der „symbolischen Form“, wurden uns bewusst, dass 31 Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen, S. 256. Der Weg zum Kulturverstehen 201 die Kraft der Kulturen ein große Potential ist, dass die Befreiung unseres Denkens aus den alltäglichen Voreingenommenheiten bewirken kann. Cassirer und Mariátegui gelangten, jeder auf seinem eigenen Weg, zu sehr ähnlichen Schlussfolgerungen über die Bedeutung der Kunst und ihrer Symbolformen für die Kulturen und für das menschliche Leben im Allge- meinen. Die Idee des Symbolismus hatte für beide eine besondere Bedeu- tung und mit ihr formulierten beide ihre Ideen. Ein Kunstwerk ist niemals nur Abbild, sondern immer auch Neuschöp- fung. Es ermöglicht uns eine neue Sicht der Welt. Mariátegui erkannte im Kunstwerk diesen kreativen Akt und darin liegt seine Gemeinsamkeit mit Cassirer. Aber es gibt auch einen großen Un- terschied zwischen beiden Denkern. Die „geistige Kraft“, die Mariátegui in einer authentischen Kultur findet, ist die Kraft, die hinter seinen politischen Ideen und all seinen Reformbestrebungen steht. In seinem Glauben an die positiven Wirkungen der Kunst und deren Effektivität unterscheidet er sich von Cassirer. Gerade im Zweifel an der Kunst erkennt Mariátegui die Zerbrechlichkeit der westlichen Kultur, die nur noch auf die Vernunft baut und die ihre spirituellen Wurzeln verloren hat. Die Kriege Europas waren für ihn das deutlichste Zeichen dieser Orientierungslosigkeit. Die Welt Europas hatte, so diagnostiziert Mariátegui, ihren Zauber und ihre geistige Kraft verloren. Die „Entzauberung der Welt“ ist noch heute ein Problem für uns alle. Für beide Denker, für Cassirer und Mariátegui, ist es die Kunst, die uns neue Wege eröffnet und neuen Utopien den Weg bahnt zu einem tieferen menschlichen Leben, in dessen Horizont wir Hoffnung finden. Hassan Givsan Cassirers Philosophie der Kultur als Philosophie der symbolischen Formen und die Frage, ob der Krieg, der Mord ... symbolische Formen sind* Es wird zu prüfen sein, ob Cassirers „Buch The Myth of the State, das, 1944 konzipiert, erst im Jahr 1946 posthum publiziert wurde [...], Cassirers philo- sophische Verarbeitung des nationalsozialistischen Holocaust“ sei, wie Heinz Paetzold schreibt1. Paetzold gebührt jedenfalls der Dank dafür, daß er nicht darauf aus ist, vergessen zu machen, daß Cassirer in einer Zeit gelebt und seine Bücher ge- schrieben habe, in der auch der Holocaust geschah: „War doch der am 28. Juli des Jahres 1874 geborene und am 13. April 1945 verstorbene Ernst Cassirer Zeuge zweier Weltkriege. Seine Lebensspanne umfaßte gewaltige soziale und politische Umwälzungen und Revolutionen. Nicht zuletzt hatte Cassirer die Verkehrung der europäischen Kultur zum Holocaust der Nationalsozialisten zu verarbeiten.“2 Was eingangs als das zu Prüfende angezeigt wurde, soll nicht wiederholt werden, sondern es soll eine andere Frage gestellt werden, die Paetzolds letz- ter zitierter Satz provoziert, nämlich: was denn von Cassirers Philosophie der Kultur her „die europäische Kultur“ sei, so daß „der Holocaust der Na- tionalsozialisten“ „die Verkehrung“ derselben darstellte. Da Paetzold also „den Holocaust der Nationalsozialisten“ – womit er den von den Nationalsozia- listen an den europäischen Juden begangen Mord, also den Genozid, den Völkermord an den Juden, gemeint haben dürfte, denn das merkwürdige Wort „Holocaust“ ist nun einmal als Bezeichnung dafür eingeführt worden – als „die Verkehrung der europäischen Kultur“ bezeichnet, ist die Frage zu * Der Text wurde als Beitrag zu einer Festschrift für den Freund Heinz Paetzold geschrie- ben: ich war bei dem letzten Absatz, als ich die bestürzende Nachricht erhielt, daß Heinz Paetzold in China, wohin er wegen einer Tagung gereist war, gestorben ist. Ich hörte auf, die letzten Worte zu schreiben. Mit der erwähnten Nachricht erhielt ich auch die Mitteilung, daß aus der Festschrift eine Gedenkschrift werden soll. Ich ließ den Text einige Zeit liegen, und als ich mich dem Text zuwandte, wurde mir klar, daß ich den für die Festschrift verfaßten Beitrag nicht ändern kann, denn ich schulde es meinem Freund, auch in der Gedenkschrift so zu reden, wie wir uns in den letzten dreißig Jah- ren über philosophische Fragen gestritten haben. Deshalb lasse ich den Text so, wie er ursprünglich als Beitrag zu einer Festschrift verfaßt wurde. 1 Heinz Paetzold, Ernst Cassirer zur Einführung, Hamburg 1993, S. 10. Hervorhebung im Original. 2 Heinz Paetzold, Ernst Cassirer zur Einführung, S. 12. Cassirers Philosophie der Kultur 203 stellen: steht nicht schon am Beginn der Neuzeit „der europäischen Kultur“, an jenem Beginn der europäischen Neuzeit, der den Namen „Renaissance“ trägt, ein Völkermord, und zwar verübt im Zuge der „Landnahme“ des neu entdeckten Kontinents? Und ist nicht das Land, in dem Cassirer zuletzt Zu- flucht fand und wo er das eingangs erwähnte Buch schrieb, auf einem Völ- kermord gegründet? Und stand nicht der Völkermord in Belgisch-Kongo mit etwa zehn Millionen Toten im Vorfeld und Zeichen dessen, dessent- wegen der Erste Weltkrieg geführt wurde? Statt die Reihe dieser Fragen, die übrigens endlos ist – und nicht zu vergessen, daß die begangenen Greuel, zunächst in den Kolonien und sodann in dem zweiten Dreißigjährigen Krieg in Europa selbst, nicht nur im Namen der „europäischen Kultur“ begangen, sondern geradezu als die Rettung der „europäischen Kultur“ angesehen wur- den –, fortzusetzen, sei die Frage gestellt: Was heißt denn überhaupt „die Verkehrung“ einer „Kultur“? Gehört nicht „die Verkehrung“ einer „Kultur“ auch zu dieser „Kultur“, und zwar so, daß die Form der „Verkehrung“, die Weise, wie eine „Kultur“ „verkehrt wird“, in dieser „Kultur“ selber gründet und daraus entspringt? Ist das nicht ein Zeichen dafür, daß der Begriff „Kultur“ in sich selbst grundfaul und verdeckend ist, so daß deshalb in ihrem Namen bloß ästhe- tisch das, was in ihrer Mitte und aus ihrer Mitte ausbricht, als eine „Verkeh- rung“ denunziert wird? Es ist merkwürdig, daß in der unzähligen Literatur zu Cassirers „Philosophie der Kultur“ nie die Frage gestellt wird, wie und in welchem Kontext das Wort „Kultur“ in Deutschland zu dem Topos avan- cierte, der dann von Cassirer beerbt wurde. Müßte man diesen Literatur- Produzenten gesondert in Erinnerung rufen, daß der Erste Weltkrieg von der deutschen „Kultur“-Elite als der deutsche Krieg der „Kultur“ gegen ... an- gesehen wurde? Paetzolds Worte, daß Cassirers „Lebensspanne gewaltige soziale und po- litische Umwälzungen und Revolutionen umfaßte“ könnte man zwar durch- gehen lassen, aber Paetzold kann damit nur gemeint haben, daß Cassirers „Lebensspanne“ in eine „Zeit“ fiel, die „gewaltige soziale und politische Um- wälzungen und Revolutionen“ umfaßte. Denn laut Paetzold selber umfaßt die „Lebensspanne“ des Philosophen Cassirer nur einige „interne Transfor- mationen seiner Philosophie“, nämlich: „daß die Erkenntnistheorie sich zur Kulturphilosophie entwickelt“; daß „die Kulturphilosophie indessen [...] sich in Anthropologie [verwandelt]“; daß „die Anthropologie schließlich [...] nur als sozialphilosophisch informierte politische Philosophie möglich [ist]“3. Daß Paetzold mit seinem „schließlich“, indem er Cassirer zum „Sozialphiloso- phen“ und zum „politischen Philosophen“ mutieren läßt, zu leichtfüßig und wild verfährt, sei zunächst bloß in Parenthese vermerkt. Da also Cassirers „Lebensspanne“ in eine „Zeit“ fiel, die „gewaltige so- ziale und politische Umwälzungen und Revolutionen“ umfaßte, so stellt sich 3 Heinz Paetzold, Ernst Cassirer zur Einführung, S. 11. Hassan Givsan204 die Frage, ob diese „gewaltigen sozialen und politischen Umwälzungen und Revolutionen“ Cassirers Philosophie in ihrem substantiellen Kern tangiert haben, und d. h. ob diese „gewaltigen sozialen und politischen Umwälzun- gen und Revolutionen“ den Ausgang des Cassirerschen Philosophierens irgend- wie bestimmten oder gar den Ausgang bildeten. Man kann diese Frage, sehr abgeschwächt, auch so stellen: ob in Cassirers Philosophie der symbolischen Formen überhaupt ein Ort vorgesehen ist für so etwas wie „soziale und politische Umwälzungen und Revolutionen“. Und diese sehr abgeschwächte Frage kann man noch einmal abschwächen und fragen: ob Cassirers Philo- sophie der symbolischen Formen die sozialen Verhältnisse – wie Eigen- tumsverhältnisse, Produktionsverhältnisse, Ungleichheiten usw. – und die politischen Verhältnisse – wie Rechtsverhältnisse, Herrschaftsverhältnisse, Kriege, Genozide usw. – überhaupt zum Thema macht, und zwar das in dem Sinne, daß dargelegt wird, welche Art von „symbolischen Formen“ die so- zialen Verhältnisse, die politischen Verhältnisse, die Kriege, die Genozide usw. usf. seien, oder ob sie nicht alles das geradezu notorisch und „systematisch“ ausblendet. Ob nun The Myth of the State eine Antwort auf die zuletzt ge- stellte Frage sei, ist zweifelhaft schon deshalb, weil Cassirer in diesem Buch nicht einmal die Frage stellt, was für eine „symbolische Form“ der „Staat“ als solcher sei, denn selbst dort, wo er unter dem Titel „Der Mythos des zwan- zigsten Jahrhunderts“ den „totalitären Staat“ zum Thema macht, steht, wie wir noch sehen werden, „der Mythos“ nicht für eine „symbolische Form“, sondern „der Mythos“ steht für „die Finsternis“, für „das alte Chaos“. Und ob The Myth of the State „Cassirers philosophische Verarbeitung des natio- nalsozialistischen Holocaust“ sei, wird noch zur Sprache kommen. I. Wie gesagt: Paetzold gebührt der Dank dafür, daß er nicht darauf aus ist, ver- gessen zu machen, daß Cassirer in einer Zeit lebte und seine Werke schrieb, in der zwei „Weltkriege“, „gewaltige soziale und politische Umwälzungen und Revolutionen“ und „Holocaust“ geschahen. Und das ist nicht so selbst- verständlich. Denn liest man Oswald Schwemmer, den Mitherausgeber der Cassirer- schen Nachlaßschriften, der „Cassirers Philosophie in ihrer Zeit“ ausdrück- lich zum Thema macht4, so hört man nichts davon, daß „die Zeit“, in der Cassirer seine Werke schrieb, die nun von Schwemmers auf den Podest der Verklärung erhoben werden, die Zeit zweier Weltkriege ist, deren Ende die 4 Oswald Schwemmer, „Die Vielfalt der symbolischen Welten und die Einheit des Geistes. Zu Ernst Cassirers ‚Philosophie der symbolischen Formen‘“, in: Dorothea Frede und Reinhold Schmücker (Hg.), Ernst Cassirers Werk und Wirkung. Kultur und Philoso- phie, Darmstadt 1997, S. 1-57, hier S. 1ff. Cassirers Philosophie der Kultur 205 Tore der Todeslager öffnet und durch den Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki markiert ist und den Übergang in den Kalten Krieg darstellt. Schwemmer eröffnet den Abschnitt, der die Überschrift „Cassirers Phi- losophie in ihrer Zeit“ trägt, mit den Worten: „Die Zeit, in der Erst Cassirer seine philosophische Konzeption entwickelt – das ist seit dem Erscheinen seines Werkes über ‚Substanzbegriff und Funktionsbegriff‘ im Jahre 1910 –, ist eine Zeit der philosophischen Neuorientierungen.“5 Nun würde man, nach der Angabe des Jahres „1910“ erwarten, daß die andere Jahresangabe das Todesjahr Cassirers, nämlich „1945“ wäre. Aber weit gefehlt: Schwem- mer geht zurück bis „1889“, dem Erscheinungsjahr von Henri Bergsons Essai sur les données immédiates de la conscience, und markiert das Jahr „1958“, in dem „die 1949 abgeschlossenen ‚Philosophischen Untersuchun- gen‘ Wittgensteins“ erschienen sind6. Also „die Zeit“ zwischen „1889“ und „1958“ sieht Schwemmer als die Zeit des Erscheinens der Werke, von denen er meint, „daß sie einen entscheidenden Einfluß auf das Denken in unserem Jahrhundert ausgeübt haben – und zwar nicht nur im deutschsprachigen Raum, sondern überall dort, wo am philosophischen Gespräch teilge- nommen wurde“7. Welche weiteren Werke Schwemmer noch nennt, wird gleich kurz zur Sprache kommen, zuvor muß aber gefragt werden, ob der Autor der zitierten Worte, veröffentlicht im Jahre 1997, ein begnadeter Geschichtswirklich- keitsausblender oder ein Zyniker ist: denn von „unserem Jahrhundert“, also von dem 20. Jahrhundert, sprechen und dabei so tun, als wäre das Jahr- hundert das des „philosophischen Gesprächs“, ist zynisch. Nicht weniger zynisch ist es, vom „Denken in unserem Jahrhundert“ zu sprechen, auf das angeblich jene Werke „entscheidenden Einfluß“ ausgeübt hätten, ohne zu fragen, welches „Denken“ denn es war, das das Medusagesicht des Jahr- hunderts prägte. Die weiteren Werke, die Schwemmer hinsichtlich „der philosophischen Neuorientierungen“ im Kontext der „Zeit, in der Cassirer seine philosophi- sche Konzeption entwickelt“ für bedeutsam hält, sind: Bergsons Introduc- tion à la métaphysique (1903), William James’ Does ‚Consciousness‘ Exist? (1904) und Pragmatismus-Vorträge (1907), Husserls Ideen (1913), Wittgen- steins Tractatus (1921), Cassirers Philosophie der symbolischen Formen (1923–1929), Heideggers Sein und Zeit (1927), Husserls Krisis-Schrift (1936/ 1954)8. Umrahmt sind diese Werke, wie schon angegeben, durch Bergsons Essai (1889) und Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen (abgeschlos- sen 1949: erschienen 1958). 5 Oswald Schwemmer, „Die Vielfalt der symbolischen Welten ...“, (Fn 4), S. 1. 6 Vgl. ebd., S. 1f. 7 Ebd., S. 2. 8 Ebd., S. 1f. Hassan Givsan206 So weit, so gut. Schwemmers Bemerkung: „Natürlich kann man noch wei- tere ‚große‘ deutschsprachige Werke der Philosophie in unserem Jahrhundert ausmachen“9, womit er sichtlich „Werke“ anderer Autoren meint, beiseite lassend, ist zunächst zu konstatieren, daß in der Aufzählung Schwemmers Cassirers Werk The Myth of the State (1946), von der, wie eingangs vermerkt, Paetzold sagt, daß es „Cassirers philosophische Verarbeitung des nationalsozialistischen Holocaust“ sei, keine Erwähnung findet. Und das ist kein Zufall, denn Schwemmer blickt, wie schon gesagt, auf „unser Jahr- hundert“, d. h. auf das 20. Jahrhundert, als das Jahrhundert „des philosophi- schen Gesprächs“ zurück. Und wir sehen, daß Schwemmer in einem ganz anderen Sinn als Paetzold Cassirer eine „Ästhetisierung“ vorhält, wovon noch die Rede sein wird, gut Cassirerisch ästhetisch die Geschichtswirk- lichkeit ausblendet. Zuvor ist aber darauf einzugehen, weshalb Schwemmer in den von ihm anvisierten „philosophischen Neuorientierungen“ Cassirer eine zentrale Be- deutung zuweist. Nach der Markierung der drei wichtigsten „Perspektiven“ der „philosophischen Neuorientierungen“, die hier anzuführen, nicht erfor- derlich ist, zumal es viel Platz einnehmen würde10, schreibt er: „Es ist kein Zufall – und, wie ich denke, auch Kunstgriff der Darstellung –, daß Cassi- rers Name der einzige ist, der in allen drei Perspektiven vorkommt.“11 Und fortfahrend schreibt er: „Es ist ein Charakteristikum seines Denkens, daß Cassirer sich mit allen Perspektiven der menschlichen Existenz und ihrer verschiedenen Ausdrucksformen auseinandersetzt: um das, was der Mensch ‚ist‘, in seiner Ganzheit erfassen zu können.“12 Was zunächst als Paradox auffällt, ist, daß Schwemmer, der Cassirer in den drei herausgestellten „Perspektiven“ der „philosophischen Neuorientie- rungen“ eine herausragende Stellung zuweist, seinen Text einem Autor wid- met, nämlich: „Herbert Schnädelbach zum 60. Geburtstag“13, der in seinem Buch Philosophie in Deutschland. 1831–1933 von 1983 nicht einmal den Namen Cassirers nennt, geschweige denn, daß Cassirer Philosophie der sym- bolischen Formen eines der Werke sei, die „einen entscheidenden Einfluß auf das Denken in unserem Jahrhundert ausgeübt“ hätten. Da es nicht an- zunehmen ist, daß Schnädelbach, als er sein genanntes Buch schrieb, aus Leichtfertigkeit oder gar aus schulphilosophischer Zugehörigkeit, Cassirer übersehen hätte, zumal das Buch dem angelsächsischen Publikum German Philosophy 1831–1933 vorstellten sollte, ist zu fragen, was der Grund ge- wesen sein könnte, daß Schnädelbach in seinem Buch Cassirer einfach über- geht. Dieser Grund dürfte darin gelegen haben, daß Schnädelbach Anfang der 9 Ebd., S. 2. 10 Vgl. ebd., S. 2 11 Ebd., S. 2. 12 Ebd., S. 2 13 Ebd., S. 1. Cassirers Philosophie der Kultur 207 1980er Jahre nicht ahnen konnte, daß einige Jahre später eine regelrechte Cassirer-Literatur-Produktion einsetzt, die durch die Herausgabe der Gesam- melten Werke und der Nachlaßschriften seit der Mitte der 1990er Jahre verstärkt wurde. Damit zurück zu Schwemmers Satz: „Es ist ein Charakteristikum seines Denkens, daß Cassirer sich mit allen Perspektiven der menschlichen Exi- stenz und ihrer verschiedenen Ausdrucksformen auseinandersetzt: um das, was der Mensch ‚ist‘, in seiner Ganzheit erfassen zu können.“ Es ist aber zu fragen, ob das wahr ist, was Schwemmer Cassirer attestiert, oder ob es nicht vielmehr so ist, daß Cassirer weite Bereiche dessen, was Schwemmer hei- deggerisch „menschliche Existenz“ nennt, einfach ausblendet. Immerhin hat Schwemmer ein Problem mit Cassirers „‚Ästhetisierung‘ der menschlichen Existenz“, denn er schreibt: „Mit dieser anthropologisch- kulturphilosophischen Konzeption erzeugt Cassirer eine Doppeldeutigkeit, die nicht ohne weiteres zu beseitigen ist. Es ist nämlich zu fragen, ob mit dieser Konzeption eine umfassende ‚Ästhetisierung‘ der menschlichen Exi- stenz – und damit all unseres Tuns – verbunden ist oder ob nur ästhetische Momente in unser Tun hineingetragen werden sollen, um in ihm den Cha- rakter des Schöpferischen entdecken zu können. Eine umfassende ‚Ästheti- sierung‘ würde ich darin sehen, daß alle unsere Tätigkeiten als Gestaltung einer Ausdrucksform ihren Sinn gewinnen und damit andere Ziele oder Wirkungen zu einzelnen Momenten oder Faktoren, zu Randbedingungen oder Nebenwirkungen abgewertet werden. Im Geiste einer solchen Ästheti- sierung wäre z. B. eine politische Entscheidung oder eine technische Vor- kehrung in ihrem wesentlichen Sinn für uns nicht durch die – angenommenen oder bestehenden – politischen Notwendigkeiten und technischen Zusam- menhänge, also ‚sachlich‘, bestimmt, sondern als eine Ausdrucksform un- serer Existenz, letztlich daher als Präsentation unserer Existenz in einem Symbol: einem Bild oder Begriff unseres Handelns, unserer Haltung oder sogar unserer Lebenseinstellung insgesamt.“14 Ich habe diese Textstelle ganz zitiert, weil ich im folgenden mich allein darauf beziehen will. Und ich werde bei Schwemmers Beispiel: „eine po- litische Entscheidung oder eine technische Vorkehrung“ das „oder“, d. h. das Beispiel „einer technischen Vorkehrung“ beiseite lassen, d. h. mich allein auf das Beispiel „einer politischen Entscheidung“ beziehen. Erwähnt sei auch, daß ich als Beispiel „einer politischen Entscheidung“ die Produktion des Giftgases und dessen Einsatz im Ersten Weltkrieg und später in den Todeslagern anführe. Daß diese „Sache“, mit Schwemmers Worten gespro- chen, „eine politische Entscheidung [und] eine technische Vorkehrung“ zu- gleich war, dürfte unstrittig sein, d. h. daß sie auch eine technische Seite hat, soll nicht bestritten werden, aber worauf hier wesentlich ankommt, ist, daß sie auch und wesentlich „eine politische Entscheidung“ war. 14 Ebd., S. 13f. Hassan Givsan208 Nun stehe ich vor dem Dilemma, ob ich denn mit Cassirer die Produk- tion des Giftgases und dessen Einsatz im Ersten Weltkrieg und später in den Todeslagern, mit Schwemmer Worten gesprochen, „als eine Ausdrucksform unserer Existenz, letztlich daher als Präsentation unserer Existenz in einem Symbol“ sehen soll, oder ob ich mit Schwemmer die Produktion des Gift- gases und dessen Einsatz im Ersten Weltkrieg und später in den Todeslagern „in ihrem wesentlichen Sinn für uns [...] durch die – angenommenen oder bestehenden – politischen Notwendigkeiten [...], also ‚sachlich‘, bestimmt“ ansehen soll. Vermutlich wird man dagegen geltend machen, daß das genannte „Dilemma“ ein bloßes Konstrukt sei, weil weder Cassirer noch Schwemmer von der Produktion des Giftgases und dessen Einsatz im Ersten Weltkrieg und später in den Todeslagern spricht. Das ist völlig richtig. Aber gerade das ist das Problem, daß Cassirer sowohl wie sein Nachlaß-Mitherausgeber darüber kein Wort verlieren, d. h. weite Bereiche – wovon die Produktion des Giftgases und dessen Einsatz im Ersten Weltkrieg und später in den To- deslagern nur ein Beispiel ist – dessen, was Schwemmer „menschliche Exi- stenz“ nennt, schlicht ausblenden. Schwemmer spricht immerhin von „poli- tischen Entscheidungen“, wenn auch sein Problem darin zu bestehen scheint, ob „eine politische Entscheidung“ nur „eine Ausdrucksform unserer Exi- stenz, letztlich daher als Präsentation unserer Existenz in einem Symbol“ sei, was für Schwemmer „eine umfassende ‚Ästhetisierung‘“ bedeutete, oder ob „eine politische Entscheidung“ „durch die – angenommenen oder beste- henden – politischen Notwendigkeiten [...], also ‚sachlich‘, bestimmt“ sei. Dabei macht Schwemmer, gleichsam unter der Hand, und zwar durch das Wörtchen „sachlich“, vergessen, daß „politische Entscheidungen“ von Men- schen getroffen und „politische Notwendigkeiten“ von Menschen als solche Notwendigkeiten deklariert werden. Außerdem: Es gibt keine „sachliche“ Notwendigkeit, die nicht für irgendwen und dessen Interesse sich als solche „Notwenigkeit“ erweist, denn diese „Notwendigkeit“ ist die Notwendigkeit dessen, was er als seine „Sache“, als „Sache“ seines Interesses ansieht. Es ist merkwürdig, daß Schwemmer zwar auf das Beispiel „der politi- schen Entscheidungen“ verweist, die er seinerseits jenseits der Cassirerschen „symbolischen Formen“ angesiedelt wissen möchte, ohne aber die Frage zu stellen, ob dafür in Cassirers Philosophie der symbolischen Formen über- haupt ein Ort vorgesehen ist. Es wäre übrigens völlig abwegig zu sagen: doch, denn siehe The Myth of the State. Darauf komme ich, wie eingangs gesagt, noch zu sprechen. Hier sei nur vermerkt: Der Mythos ist bei Cassirer zwar eine symbolische Form, aber daß Cassirer „den Staat“ unter dem Titel „Mythos“ thematisiert, ist in sich völlig fragwürdig. Gewiß kann man ein- wenden – und Paetzold würde das tun –, daß „der Staat“, in bezug worauf Cassirer vom „Mythos“ spricht, nicht „der Staat“ überhaupt ist, sondern „der totalitäre Staat der Nationalsozialisten“, der mit seinem „Holocaust“, so Paetzold, eine „Verkehrung“ der „europäischen Kultur“ sei. Nun dachte ich Cassirers Philosophie der Kultur 209 bislang, daß für Cassirer „alle Kultur“ Erschaffung „symbolischer Formen“ ist und daß der Mythos eine symbolische Form sei. Damit zurück zu Schwemmer, der, wie gesagt, zwar auf das Beispiel „der politischen Entscheidungen“ verweist, die er seinerseits jenseits der Cassirerschen „symbolischen Formen“ angesiedelt wissen möchte, aber die Frage nicht stellt, ob es dafür in Cassirers Philosophie der symbolischen Formen überhaupt einen Ort gibt. Und er darf die Frage gar nicht stellen, denn vorweg attestiert er Cassirer, daß dieser „sich mit allen Perspektiven der menschlichen Existenz und ihrer verschiedenen Ausdrucksformen aus- einandersetzt“. Stimmt das aber? Wo setzt sich Cassirer in seiner Philoso- phie der symbolischen Formen mit gesellschaftlichen Verhältnissen, mit Herr- schaftsverhältnissen usw. usf. auseinander? Ist überhaupt im systematischen Aufbau der Philosophie der symbolischen Formen ein Ort für solche Fragen vorgesehen? Vielleicht sollte Schwemmer gegen seinen verklärenden Satz, daß Cassirer „sich mit allen Perspektiven der menschlichen Existenz und ihrer verschiedenen Ausdrucksformen auseinandersetzt“, darauf verwiesen werden, daß Birgit Recki, die später Herausgeberin der Gesammelte Werke Cassirers wurde, in ihrem Aufsatz15, der in der unmittelbaren Nachbarschaft zu Schwemmers Aufsatz veröffentlicht ist, nicht nur das Fehlen einer „Ethik“ bei Cassirer registriert, sondern gar die Frage aufwirft, warum Cassirer „keine Ethik schreiben konnte“. Sollte Schwemmer, was speziell „die politischen Entscheidungen“ angeht, doch auf den Mythos des Staates verweisen, so käme er in Verlegenheit, seinen Satz, daß „eine politische Entscheidung [...] in ihrem wesentlichen Sinn für uns [...] durch die – angenommenen oder bestehenden – politischen Notwendigkeiten [...], also ‚sachlich‘, bestimmt“ sei, aufrechtzuerhalten. II. Bevor ich auf die eingangs gestellte Frage zurückkomme, soll Habermas zu Wort kommen, denn Habermas erteilt das Prädikat „anschlußfähig“: Cassirer wird der Pluspunkt gutgeschrieben, daß er „die sprachpragmatische Wende“ vollzogen habe. Der Textpassus, an dessen Ende Habermas Cassirer den Vollzug der „sprachpragmatischen Wende“ gutschreibt, beginnt mit den Worten, daß Cassirer „den Ort, von dem aus er selbst spricht, nicht mehr ausweisen kann. Der Philosophie, die doch alle symbolischen Sprachen analysiert, fehlt eine eigene Sprache. Denn eine symbolische Form, mit der sie sich über alle an- 15 Birgit Recki, „Kultur ohne Moral? Warum Ernst Cassirer trotz der Einsicht in den Primat der praktischen Vernunft keine Ethik schreiben konnte“, in: Dorothea Frede u. Reinhold Schmücker (Hg.), Ernst Cassirers Werk und Wirkung. Kultur und Philo- sophie, Darmstadt 1997, S. 58-78. Hassan Givsan210 deren symbolischen Formen erheben könnte, wäre nach den eigenen Voraus- setzungen ein Paradox. / Dieses Defizit hatte Heidegger in der berühmten Davoser Kontroverse richtig erkannt: ‚Man könnte sagen, daß der terminus ad quem bei Cassirer das Ganze einer Kulturphilosophie ist im Sinne einer Aufhellung der Ganzheit der Formen des gestaltenden Bewußtseins. [Aber] der terminus a quo ist vollkommen problematisch [...]. Es kommt Cassirer zuerst darauf an, die verschiedenen Formen der Gestaltung herauszustellen, um dann im Hinblick auf diese Gestaltungen nachträglich eine gewisse Dimension der gestaltenden Kräfte selbst auszuführen.‘ Heidegger meinte natürlich, daß er mit seiner in ‚Sein und Zeit‘ vorgenommenen Analyse des In-der-Welt-Seins in diese grundlegende Dimension, die bei Cassirer un- aufgeklärt bleibt, eingeführt habe. Allerdings hatte Cassirer damals aufgrund seiner Humboldt-Rezeption längst die sprachpragmatische Wende vollzo- gen, die Heidegger noch bevorstand.“16 Es sei vermerkt, daß das Heidegger- Zitat aus der Davoser Kontroverse so übernommen ist, wie es bei Habermas steht. Und der Grund, warum ich hier Habermas aufnehme, ist gerade sein Rekurs auf die Davoser Kontroverse. Denn Habermas hat schon einmal, und zwar in seinem Aufsatz „Der deutsche Idealismus der jüdischen Philoso- phen“ (1961), dort, wo er auf Cassirer zu sprechen kommt17, das Davoser Streitgespräch zwischen Cassirer und Heidegger ins Zentrum gestellt. Wel- ches Urteil Habermas in dem Aufsatz von 1961 fällt, wird noch zur Sprache kommen. Bleiben wir also zunächst bei der zitierten Stelle aus Habermas’ Aufsatz von 199718. Es sind drei Punkte, die auseinandergehalten werden müssen. Der erste Punkt betrifft das, was Habermas selber Cassirer vorhält, und das kommt in den ersten drei Sätzen zur Sprache. Liest man diese Sätze genau, so stellt man fest, daß zwischen dem ersten Satz und den beiden folgenden Sätzen ein Graben klafft. Denn im ersten Satz ist davon die Rede, daß Cassirer „den Ort, von dem aus er selbst spricht, nicht mehr ausweisen kann“, und das besagt etwas ganz anderes, als daß: „Der Philosophie, die doch alle symbolischen Sprachen analysiert, fehlt eine eigene Sprache. Denn eine symbolische Form, mit der sie sich über alle anderen symbolischen Formen erheben könnte, wäre nach den eigenen Voraussetzungen ein Para- 16 Jürgen Habermas, „Die befreiende Kraft der symbolischen Formung. Ernst Cassirers humanistisches Erbe und die Bibliothek Warburg“, in: Dorothea Frede u. Reinhold Schmücker (Hg.), Ernst Cassirers Werk und Wirkung. Kultur und Philosophie, Darm- stadt 1997, S. 79-104, hier S. 99. 17 Jürgen Habermas, „Der deutsche Idealismus der jüdischen Philosophen“ (1961), in: Jürgen Habermas, Philosophisch-politische Profile, Frankfurt/M. 1973, S. 37-66. Cas- sirer wird hier S. 52-54 besprochen. 18 In dem Vorwort der Herausgeber des Bandes: Dorothea Frede u. Reinhold Schmücker (Hg.), Ernst Cassirers Werk und Wirkung. Kultur und Philosophie, Darmstadt 1997, S. IX, ist zu lesen, daß der Beitrag von Habermas auf einen Vortrag, der 1995 an der Univer- sität Hamburg gehalten wurde, zurückgeht. Cassirers Philosophie der Kultur 211 dox.“ In dem ersten Satz wird, wenn auch unausgesprochen, gefordert: „der Ort, von dem aus“ die symbolischen Formungen thematisch werden dürften, müßte „der Ort“ vor aller symbolischen Formung sein. Damit ist das mar- kiert, was Heidegger den terminus a quo nennt. Aber die Sache ist damit noch nicht erledigt. Denn „thematisch werden“ hieße, daß davon „gesprochen werde“. „Sprechen“, „Sprache“ ist aber eine symbolische Form. Da aber „der Ort, von dem aus“ die symbolischen Formungen thematisch werden dürften, „der Ort“ vor aller symbolischen Formung sein müßte, und da „thematisch werden“ „davon sprechen“ hieße, „Sprechen“, „Sprache“ aber „symbolische Form“ sei, so wird also gesagt: es ist schlechterdings unmöglich, zu jenem „Ort“ zurückzugehen. Und das ist etwas anderes und entschieden mehr, als die Habermassche Formulierung: daß Cassirer „den Ort ... nicht mehr aus- weisen“ könne, ausspricht. Man kann das auch so formulieren, daß Haber- mas – wie er in dem vorangehenden Satz, der oben nicht mit zitiert wurde, sagt, daß Cassirer „die Grenzen einer kritischen Erkenntnistheorie in Rich- tung des objektiven Idealismus“ überschreite19 – Cassirer in jenes „Dilemma“ drängt, in das Schelling in seiner „positiven“ Philosophie sich begibt: das unvordenkliche Sein, das Sein, das allem Denken vorausgeht, zu denken. Dagegen verlagern die beiden anderen Sätzen das, was Habermas bei Cassirer bemängelt, auf eine ganz andere Ebene, nämlich auf die Ebene der symbolischen Formen selber. Und hier werden, wenn man die beiden Sätze genau liest, zwei verschiedene Aussagen gemacht. Der eine Satz lautet: „Der Philosophie, die doch alle symbolischen Sprachen analysiert, fehlt eine eigene Sprache.“ Und der andere: „Denn eine symbolische Form, mit der sie sich über alle anderen symbolischen Formen erheben könnte, wäre nach den eigenen Voraussetzungen ein Paradox.“ In dem ersten Satz wird, und zwar unausgesprochenerweise, unterstellt, und zwar gleichsam als „Grundsatz“ unterstellt, daß die Sprache der Analyse eine andere sein müsse als die des Analysierten. Aber dieser unausgesprochenerweise unterstellte „Grundsatz“ ist nicht nur willkürlich gesetzt, sondern geradezu falsch, so daß dagegen zu sagen ist, daß die Sprache der Analyse die des Analysierten sein müsse, sofern die Analyse der analysierten Sache angemessen sein soll. Und unab- hängig davon, ist Habermas zu fragen: welche „Sprache“ es denn ist, die Cassirers Philosophie der symbolischen Formen „spricht“. Daß sie „spricht“, davon zeugen die dicken Bände. Es scheint, daß Habermas das, was als „der Gedanke“ zu bezeichnen ist, der als Cassirers „eigener Gedanke“ der Philo- sophie der symbolischen Formen zugrunde liegt, mit „einer eigenen Sprache“ verwechselt, und es könnte sein, daß Habermas mit dem „Fehlen einer eigenen Sprache“ Cassirer „den eigenen Gedanken“ absprechen will. Und in dem anderen Satz: „Denn eine symbolische Form, mit der sie sich über alle anderen symbolischen Formen erheben könnte, wäre nach den eigenen Vor- 19 Jürgen Habermas, „Die befreiende Kraft der symbolischen Formung. Ernst Cassirers humanistisches Erbe und die Bibliothek Warburg“, S. 99. Hassan Givsan212 aussetzungen ein Paradox“, wird, wenn auch unausgesprochenerweise, eine symbolische Metaform als erforderlich unterstellt, mit der die Philosophie der symbolischen Formen sich „über alle anderen symbolischen Formen“ erheben können sollte. Aber warum eine symbolische Metaform erforderlich sei, das läßt Habermas erst recht ungesagt. Gesagt wird aber, daß das, was Habermas ungesagterweise als erforderlich unterstellt, nach Cassirers „eige- nen Voraussetzungen“ ein Paradox wäre. Nebenbei sei gesagt: nach Habermas’ Konstruktsatz wäre es ein Paradox, wenn gesagt wäre: über alle symbo- lischen Formen, nicht aber, wenn gesagt ist: über alle anderen symbolischen Formen. Nun zum zweiten Punkt, den Habermas mit den Worten einleitet: „Die- ses Defizit hatte Heidegger in der berühmten Davoser Kontroverse richtig erkannt ...“ Nach dem Gesagten stellt sich die Frage, welches „Defizit“ Habermas denn meint. Ich lasse diese Frage hier so stehen und merke nur an: geht man von dem aus, was Heidegger in den von Habermas zitierten Sätzen Cassirer vorhält, so stellt man fest, daß Heidegger über das ganze Gewäsch vom „Fehlen der eigenen Sprache“ und davon, daß „eine symbo- lische Form“, mit der Cassirer über alle anderen symbolischen sich erheben könnte, ein Paradox wäre, kein Wort verliert, sondern allein: daß der ter- minus a quo bei Cassirer problematisch und d. h. nicht ausdrücklich zum Problem gemacht und geklärt sei. Was Habermas offenbar nicht aufgegangen ist, ist, daß Heidegger mit den Worten „Formen des gestaltenden Bewußtseins“ Cassirer vorhält, daß er sich auf jenem Boden bewege, dem der Bewußtseinsphilosophie und der Sub- jektphilosophie, der Heidegger den Kampf ansagte. Und das durfte Haber- mas gar nicht registrieren, denn sonst wäre seine Rede von Cassirers „sprachpragmatischer Wende“ – was als der dritte Punkt noch zur Sprache kommt – brüchig geworden. Festzuhalten ist jedenfalls, daß Habermas den Heidegger der Davoser Kontroverse als Zeugen anführt, der jenes von Habermas gemeinte „Defizit“ „richtig erkannt“ habe. Hier ist nun der Ort das anzuführen, was Habermas in dem oben ge- nannten Aufsatz „Der deutsche Idealismus der jüdischen Philosophen“ von 1961 zu derselben Kontroverse sagte. Ich sagte bereits, daß Habermas in diesem Aufsatz, wo er auf Cassirer zu sprechen kommt, die Davoser Kon- troverse ins Zentrum stellt. Den Abschnitt, der den Übergang von „Husserl“ zu „Cassirer“ darstellt, eröffnet Habermas mit den Worten: „Wie sehr dieser Posten verloren war“ – das bezieht sich auf den Schlußsatz zu Husserl: „auf verlorenem Posten hält er am Pathos und an der Illusion reiner Theorie fest“20 –, „zeigte sich schon im Jahre 1929, als in Davos das berühmte Streitgespräch zwischen Cassirer und Heidegger stattfand.“21 Und der Ab- 20 Jürgen Habermas, „Der deutsche Idealismus der jüdischen Philosophen“ (1961), S. 52. 21 Ebd., S. 52. Cassirers Philosophie der Kultur 213 schnitt zu Cassirer endet mit den Worten: „Heideggers wie immer fragwür- diger Sieg über die humane Geistigkeit eines Cassirer gewinnt freilich Un- erbittlichkeit erst dadurch, daß er die aufklärerische Position auch einer wirklichen Schwäche überführte: gegenüber dem als ‚radikal‘ proklamierten Denken reichen die Wurzeln des 18. Jahrhunderts nicht tief genug. Aber vor dem 18. Jahrhundert liegt kein jüdisches Abendland, liegt vielmehr das Mittelalter des Gettos. Ein Rückgang auf die Griechen, wo er von Juden ver- sucht wurde, hat so immer etwas Kraftloses behalten – Kraft barg allein die Tiefe der eigenen Tradition, die Kabbala.“22 Was Habermas hier verklau- suliert Cassirer ins Stammbuch schreibt, habe ich andernorts auseinander- gelegt23, was ich hier nicht wiederholen möchte, denn da es ohnehin nicht geglaubt wird, daß das, was im Satz steht, Habermas gesagt habe, wie ich erfahren mußte, erspare ich mir die Mühe, das andernorts Gesagte zu wie- derholen, zumal dessen Wiederholung mir noch mehr Feindschaft eintragen würde. Aber was verbindet diese Sätze von 1961 mit denen von 1997? Zunächst dies, daß Heidegger nach Habermas’ Sätzen von 1961 Cassirers „aufkläreri- sche Position [...] einer wirklichen Schwäche überführte“ und nach den Sätze von 1997 Cassirers „Defizit“ „richtig erkannte“. Sodann dies, daß in den Worten von 1961 gesagt wird, daß die Traditionsgrenze für die jüdi- schen Philosophen, natürlich auch für Cassirer, sofern sie nicht aus der „Tiefe der eigenen Tradition, [der] Kabbala“ schöpfen, „das 18. Jahrhun- dert“ ist, also die Zeit der „Aufklärung“ und des „deutschen Idealismus“, und daß in den Worten von 1997 gesagt wird, daß Cassirer „aufgrund seiner Humboldt-Rezeption [...] die sprachpragmatische Wende vollzogen“ hat. Klar- text: Wird also in den Sätzen von 1961 gesagt, daß die (deutschsprachigen) jüdischen Philosophen, sofern sie nicht aus der „Tiefe der eigenen Tradition, [der] Kabbala“ schöpfen, der „Aufklärung“ und „dem deutschen Idealis- mus“ verpflichtet sind, so wird in den Sätzen 1997 ungesagterweise gesagt, daß Cassirers „Gedanke“ von den „symbolischen Formen“ – und zwar in- dem Habermas, wie wir gleich sehen werden, „alle symbolischen Formen“ als „Sprachen“ faßt und indem er das, was er Cassirer gutschreibt, nämlich „die sprachpragmatische Wende“, in dessen „Humboldt-Rezeption“ gegrün- det sieht – nicht Cassirers „origineller Gedanke“, sondern Humboldt zu verdanken ist. Damit bin ich beim dritten Punkt, also bei dem, was Habermas als „die sprachpragmatische Wende“ deklariert, die Cassirer „aufgrund seiner Hum- boldt-Rezeption“ vollzogen habe. Daß Cassirer Humboldts Schriften zur Sprache rezipiert hat, ist unstrittig. Unstrittig ist auch, daß für Cassirer „die 22 Ebd., S. 54. 23 Hassan Givsan, Zu Heidegger. Ein Nachtrag zu „Heidegger – das Denken der Inhu- manität“, Würzburg 2011, und zwar in dem ersten Kapitel „Dasein contra Mensch. Heidegger und Cassirer in Davos“, S. 17ff. Hassan Givsan214 Sprache“ „eine symbolische Form“ ist, aber nur eine der symbolischen Formen, die als solche eben verschiedene Formen sind. Nun hat Habermas in den oben zitierten Sätzen von 1997, bevor er von Cassirers „sprachprag- matische Wende“ „aufgrund seiner Humboldt-Rezeption“ spricht, den Satz installiert: „Der Philosophie, die doch alle symbolischen Sprachen ana- lysiert, fehlt eine eigene Sprache.“ Mit diesem Satz erklärt er unter der Hand „alle symbolische Formen“ als „Sprachen“. So wird Cassirer als einer, der „die sprachpragmatische Wende“ vollzogen habe, für Habermas, der in „der sprachpragmatischen Wende“ die Verabschiedung der Subjekt- und Bewußt- seinsphilosophie und der damit verbundenen Metaphysik feiert, „anschluß- fähig“. Und das erklärt in etwa, warum 1997 Cassirer, im Unterschied zu 1961, ein Pluspunkt gegenüber Heidegger gutgeschrieben wird – ob Heidegger die Habermassche Zuschreibung, daß ihm [Heidegger] „die sprachpragmatische Wende ... noch bevorstand“, gelten ließe, sei es bloß wegen des „noch be- vorstand“, sei es überhaupt wegen der Rede von der „sprachpragmatischen Wende“ selbst, mag hier dahingestellt bleiben –, auch wenn es Heidegger nach wie vor attestiert wird, daß dieser „ursprünglich“ denke und frage: denn wurde 1961 Heidegger attestiert, daß er „radikal“ denke und frage und zu den Griechen als „Wurzel“ des Abendlandes zurückgehen könne, was Cas- sirer als Juden versagt ist, so wird 1997 gesagt, daß Heidegger „richtig“ vermerke, daß bei Cassirer der terminus a quo ungeklärt sei. Aber manches hat sich in den verflossenen Jahrzehnten seit 1961 geän- dert, wozu auch die seit den 1980er Jahren eingesetzte rege Cassirer- Rezeption, speziell die der Philosophie der symbolischen Formen gehört. Darauf verweist Habermas, wenn auch nur einen Namen nennend, in der Widmung seines Aufsatzes: „Für John Michael Krois24, dessen Mahnung ich nachkommen möchte“25. Dazu gehört auch der Vortrag von Habermas im Jahre 1995 an der Universität Hamburg „aus dem doppelten Anlaß der Einweihung des wiederhergestellten Gebäudes der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg und der 50. Wiederkehr von Cassirers Todestag“26, auf den der Aufsatz von 1997 zurückgeht: denn so ein Vortrag verpflichtet. Dazu gehört schließlich, daß Habermas selber im Rahmen seiner „Westbindung“ den Anschluß an „die sprachpragmatische Wende“ in der Gestalt seiner Theorie des kommunikativen Handelns (1981 veröffentlicht) vollzogen hat. 24 Michael Krois ist Mitherausgeber der Cassirerschen Nachlaßschriften. 25 Jürgen Habermas, „Die befreiende Kraft der symbolischen Formung. Ernst Cassirers humanistisches Erbe und die Bibliothek Warburg“, S. 77. 26 Wie es in dem Vorwort der Herausgeber des Bandes: Dorothea Frede u. Reinhold Schmücker (Hg.), Ernst Cassirers Werk und Wirkung. Kultur und Philosophie, Darm- stadt 1997, S. IX, zu lesen ist. Cassirers Philosophie der Kultur 215 III. Damit komme ich auf die Eingangsfrage zurück, nämlich: ob Cassirers „Buch The Myth of the State, das, 1944 konzipiert, erst im Jahr 1946 posthum publiziert wurde [...], Cassirers philosophische Verarbeitung des nationalso- zialistischen Holocaust“ sei, wie Heinz Paetzold schreibt. Es ist zuallererst zu bemerken, daß in Cassirers Mythos des Staates nir- gends vom „Holocaust“ die Rede ist, sofern Paetzold mit dem „Holocaust“ die Vernichtung der europäischen Juden gemeint haben soll (denn es könnte sein, daß Paetzold dieses Wort bloß als Metapher gebraucht). Zweitens ist zu bemerken, daß die Rede von der „philosophischen Verarbeitung“ des „Holo- caust“, außer der bloßen Rhetorik, keinen besonderen Sinn erkennen läßt. Denn wenn es sich darum handelt, „historisch“ zu „erklären“, wie es dazu gekommen sei, dann ist „der Historiker“ gefragt, und die „historische Er- klärung“ bedarf der „philosophischen“ Weihe nicht. Drittens ist zu fragen, was denn überhaupt das bizarre Wortgebilde „philosophische Verarbeitung“ des Völkermords besagen will. Viertens ist zu fragen, ob Cassirers Philo- sophie der symbolischen Formen, also eine Philosophie, die den Menschen als animal symbolicum definiert, den „Holocaust“, d. h. den Mord an Mil- lionen von Menschen, zu „verarbeiten“ vermag, es sei denn, daß sie den Mord als Mord als „symbolische Form“ und mithin als zur „Kultur“ gehörig ansieht. Daß dieser Mord von Menschen begangen ist und da der Mensch in dieser Philosophie als animal symbolicum definiert ist, müßte alles, was die Menschen tun, also auch der Mord eine symbolische Form sein. Und die Frage, die sich stellt, ist: was für eine symbolische Form ist der Mord? Hier angelangt, wird die Frage unumgänglich, welche Einsicht denn damit überhaupt gewonnen ist, daß das, was die Menschen tun, „symbolische Formen“ seien und daß der Mensch animal symbolicum sei. Schauen wir nun zu, ob sich ein innerphilosophisches Motiv ausmachen ließe, weshalb Cassirer den Begriff der „Kultur“ und somit auch der „sym- bolischen Formen“ einführt. Sofern man Cassirer beim Wort nehmen darf, gibt er in der „Einleitung“ seiner Philosophie der symbolischen Formen27 die „Nahtstelle“ an, von der aus er den Schritt als notwendig ansieht, von der „Kultur“ und somit von „symbolischen Formen“ zu sprechen: diese „Naht- stelle“ ist das Kantsche kritische Denken. Cassirer schreibt, nachdem er die „Revolution der Denkart“ bei Kant erläutert hat28: „Denn das Grundprinzip des kritischen Denkens, das Prinzip des ‚Primats‘ der Funktion von [es müßte heißen: vor] dem Gegenstand, nimmt in jedem Sondergebiet eine neue Ge- stalt an und verlangt eine neue selbständige Begründung. Neben der reinen Erkenntnisfunktion gilt es, die Funktion des sprachlichen Denkens, die 27 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil. Die Sprache (1923). Nachdruck: Darmstadt 1977, S. 3-52. 28 Ebd., S. 9f. Hassan Givsan216 Funktion des mythisch-religiösen Denkens und die Funktion der künstle- rischen Anschauung derart zu begreifen, daß daraus ersichtlich wird, wie in ihnen allen eine ganz bestimmte Gestaltung nicht sowohl der Welt, als vielmehr zur Welt, zu einem objektiven Sinnzusammenhang und einem ob- jektiven Anschauungsganzen sich vollzieht. / Die Kritik der Vernunft wird damit zur Kritik der Kultur. Sie sucht zu verstehen und zu erweisen, wie aller Inhalt der Kultur, sofern er mehr als bloßer Einzelinhalt ist, sofern er in einem allgemeinen Formprinzip gegründet ist, eine ursprüngliche Tat des Geists zur Voraussetzung hat. Hierin erst findet die Grundthese des Idealis- mus ihre eigentliche und vollständige Bewährung. Solange die philosophi- sche Betrachtung sich lediglich auf die Analyse der reinen Erkenntnisform bezieht und sich auf diese Aufgabe einschränkt, solange kann auch die Kraft der naiv-realistischen Weltansicht nicht völlig gebrochen werden. Der Gegen- stand der Erkenntnis mag immerhin in ihr und durch ihr ursprüngliches Ge- setz in irgendeiner Weise bestimmt und geformt werden – aber es muß nichtsdestoweniger, wie es scheint, auch außerhalb dieser Relation zu den Grundkategorien der Erkenntnis als ein selbständiges Etwas vorhanden und gegeben sein. Geht man dagegen nicht sowohl vom allgemeinen Weltbe- griff, als vielmehr vom allgemeinen Kulturbegriff aus, so gewinnt damit die Frage alsbald eine veränderte Gestalt. Denn der Inhalt des Kulturbegriffs läßt sich von den Grundformen und Grundrichtungen des geistigen Produ- zierens nicht loslösen: das ‚Sein‘ ist hier nirgends anders als im ‚Tun‘ erfaßbar.“29 An anderer Stelle heißt es: „Wenn alle Kultur sich in der Er- schaffung bestimmter geistiger Bildwelten, bestimmter symbolischer For- men wirksam erweist, so besteht das Ziel der Philosophie nicht darin, hinter all diese Schöpfungen zurückzugehen, sondern vielmehr darin, sie in ihrem gestaltenden Grundprinzip zu verstehen und bewußt zu machen.“30 Ange- führt sei noch dies: „Der Gehalt des Geistes erschließt sich nur in seiner Äußerung; die ideelle Form wird erkannt nur an und in dem Inbegriff der sinnlichen Zeichen, deren sie sich zu ihrem Ausdruck bedient.“31 Damit sind, so meine ich, die zentralen Sätze angeführt. Es ist zwar über- haupt nicht einsichtig, weshalb aufgrund einer bloßen Nennung weiterer „Funktionen“ neben der „Erkenntnisfunktion“, wie es in dem zuerst zitierten Textpassus heißt, die Kritik der Vernunft zur Kritik der Kultur werde, es sei denn, daß Cassirer dabei Kants gesamtes kritisches Werk auf die erste Kritik, die Kritik der reinen Vernunft, reduzierte. Und dieser Eindruck wird verstärkt durch die Worte: „Solange die philosophische Betrachtung sich lediglich auf die Analyse der reinen Erkenntnisform bezieht und sich auf diese Aufgabe einschränkt ...“ Aber Cassirer hat etwas anderes im Sinn, dies 29 Ebd., S. 11. Was in dem Zitat kursiv wiedergegeben wird, ist im Original im Sperr- druck. 30 Ebd., S. 51. 31 Ebd., S. 18f. Cassirers Philosophie der Kultur 217 zunächst ausgesprochen in den Worten: „eine ganz bestimmte Gestaltung nicht sowohl der Welt, als vielmehr einer Gestaltung zur Welt“, sodann in den Worten: „Geht man dagegen nicht sowohl von einem allgemeinen Welt- begriff als vielmehr vom allgemeinen Kulturbegriff aus ...“, und schließlich in den Worten: „das ‚Sein‘ ist hier nirgends anders als im ‚Tun‘ erfaßbar“. Und das läßt sich so ausdrücken: ist das „Tun“ als solches die konstitutive Mitte, so wird selbst der „Weltbegriff“ problematisch, da dieser Begriff ein „selbständiges Sein“ impliziert. In der Formulierung „zur Welt“ gebraucht Cas- sirer noch das Wort, aber in der nächsten Formulierung wird ausdrücklich gesagt, daß „der Weltbegriff“ durch den „Kulturbegriff“ zu ersetzen und d. h. als „Weltbegriff“ fallenzulassen sei. Damit komme ich zu dem Haupt- punkt, der darin besteht, daß Cassirer hier in diesem Textpassus den Begriff markiert, der eigentlich fallengelassen werden müßte, sofern „die Grund- these des Idealismus“, die „eine ursprüngliche Tat des Geistes“ fordert und nichts zuließe, was nicht in „einer ursprünglichen Tat des Geistes“ gründete, „ihre eigentliche und vollständige Bewährung“, d. h. Geltung, finden soll: es ist der Begriff „Erkenntnis“. Denn „Erkenntnis“ als solche verlangt, daß das, was in der Erkenntnis erkannt wird, „als ein selbständiges Etwas vorhanden und gegeben sein [muß]“. Und das spricht Cassirer so aus: „Der Gegenstand der Erkenntnis mag immerhin in ihr und durch ihr ursprüngliches Gesetz in irgendeiner Weise bestimmt und geformt werden – aber es muß nichtsdesto- weniger, wie es scheint, auch außerhalb dieser Relation zu den Grundkate- gorien der Erkenntnis als ein selbständiges Etwas vorhanden und gegeben sein.“ Und davon ist auch der Kantsche Begriff der „Erkenntnis“ betroffen, denn die Kantschen Dinge an sich sind außerhalb der Relation der Er- kenntnis „als ein selbständiges Etwas vorhanden und gegeben“, die selber zwar nicht erkennbar sind, die aber die Sinne des erkennenden Subjekts affi- zieren, so daß das erkennende Subjekt zwar alle Formen, die die Erkenntnis als Form konstituieren, a priori mitbringt, aber den „Stoff“, die „Materie“ durch das Affiziertwerden durch die Dinge an sich empfängt: dieser „Stoff“, diese „Materie“ heißt „Empfindung“. Und der Satz davor: „Solange die philosophische Betrachtung sich lediglich auf die Analyse der reinen Er- kenntnisform bezieht und sich auf diese Aufgabe einschränkt, solange kann auch die Kraft der naiv-realistischen Weltansicht nicht völlig gebrochen wer- den“, ist exakt auf die Kantsche Erkenntnistheorie gemünzt, womit keines- wegs gemeint sein kann, daß die Kantsche Philosophie nur „die Erkenntnis“ analysiere und auf diese eine Aufgabe eingeschränkt sei, d. h. nur „Erkennt- nistheorie“ sei, sondern gemeint ist nur, sofern sie als Erkenntnistheorie in Frage stehe: die erste Kritik, die Kritik der reinen Vernunft, ist eben die Analyse der „Erkenntnis“. (Ich erwähnte bereits, daß Cassirer durch diesen Satz den Eindruck bestärkt, als würde er das gesamte kritische Werk Kants auf die erste Kritik reduzieren, was ohnehin Kant verfälschen würde, falls dies Cassirers Intention gewesen sein sollte.) Denn die Kantsche Erkennt- nistheorie bezieht sich nicht nur „lediglich auf die Analyse der reinen Er- Hassan Givsan218 kenntnisform“, d. h. der reinen Form der Erkenntnis, und läßt schon damit nicht nur „die Kraft der naiv-realistischen Weltansicht“ ungebrochen beste- hen, sondern sie potenziert „die naiv-realistische Weltansicht“ geradezu da- durch, daß sie das selbständige Sein der Dinge an sich fordert. Kurz gesagt: sie fordert nicht nur a priori die Formprinzipien, d. h. die Kategorien, die reinen Verstandesbegriffe als Denkformen, und die Formen der Sinnlichkeit, sondern auch a priori das Sein der Dinge an sich, die durch das Affizieren der Sinne den „Stoff“, nämlich „die Empfindung“, liefern. Daß der Neukantianismus, speziell der Marburger Neukantianismus, der von Cohen ins Werk gesetzte also, zwei Grundsäulen der Kantschen Er- kenntnistheorie, nämlich die Dinge an sich und das Ich, verabschiedete, dürfte bekannt sein. Der Rekurs auf die Dinge an sich mußte fallengelassen werden, weil dies noch ein Überrest „der naiv-realistischen Weltansicht“ ist, d. h. „unkritisch“ und mithin dem kritischen Idealismus widersprechend. Und das Ich mußte fallengelassen werden, weil es nun allein um das Faktum „Wissenschaft“ zu tun ist: von Interesse ist allein die Logik der Konstitution der Wissenschaft(en). Kurz gesagt: Das „Subjekt“ der Erkenntnis ist nun allein die „Wissenschaft“. Daher ist der Rekurs auf „das Ich“ schlicht sinn- los. Daß Cassirer auf dem Boden des Cohenschen Neukantianismus steht und daß dessen Monumentalwerk Das Problem der Erkenntnis dem histo- rischen Nachweis der Konstitution der Wissenschaft im Sinne Cohens dient, dürfte ebenfalls bekannt sein. Und daß ein grundsätzlicher Unterschied zwi- schen Cohen und Cassirer obwaltet, ist nicht weniger bekannt: Cohen ist systematischer Ursprungsdenker, Cassirer vor allem Historiker. Aber darauf kommt es hier nicht an. Denn worauf es uns hier ankommt, sind die zitierten Textpassagen. Aus dem dargelegten Grunde müßte Cassirer eigentlich den Begriff „Erkenntnis“ fallenlassen. Aber er tut das nicht, und er tut das nicht, weil er sonst den Begriff „Wissenschaft“, eine Säulenheilige des Marburger Neukantianismus, fallenlassen müßte. Ja, der dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen ist der „Phänomenologie der Erkenntnis“ gewidmet, in der es we- sentlich um die Herausbildung der wissenschaftlichen Begriffe, der Begriffe der Naturwissenschaft, geht. Damit zurück zu den zitierten Textpassagen. In dem zweiten zitierten Textpassus sagt Cassirer, worin „alle Kultur“ besteht, nämlich „in der Er- schaffung bestimmter geistiger Bildwelten, bestimmter symbolischer For- men“, und er fügt hinzu, daß „das Ziel der Philosophie nicht darin besteht, hinter all diese Schöpfungen zurückzugehen“. Klartext: warum es denn über- haupt zu „all diesen Schöpfungen“ kommt, bleibt also ungeklärt. Und genau das wirft Heidegger in den oben von Habermas aus dem Davoser Streit- gespräch angeführten Worten Cassirer vor, nämlich daß bei Cassirer der ter- minus a quo ungeklärt sei. In diesem Zusammenhang soll noch einmal an die Anfangsworte des ersten zitierten Textpassus erinnert werden, wo Cassirer von dem „Prinzip Cassirers Philosophie der Kultur 219 des ‚Primats‘ der Funktion [vor] dem Gegenstand“ als dem „Grundprinzip des kritischen Denkens“ spricht. Damit gibt Cassirer die Antwort auf die Frage, die er vorher wie folgt formuliert: „Immer liegt die entscheidende Frage darin, ob wir die Funktion aus dem Gebilde oder das Gebilde aus der Funktion zu verstehen suchen, ob wir diese in jenem oder jenes in dieser ‚begründet‘ sein lassen.“32 Nach dem „Prinzip des ‚Primats‘ der Funktion“ muß also das Gebilde aus der Funktion verstanden und in der Funktion „begründet“ angesehen werden. Aber das, nämlich um das Gebilde aus der Funktion zu verstehen, setzt voraus, daß hinter „das Gebilde“ als „Schöp- fung“ zurückgegangen werde und zurückgegangen werden könne. Abgese- hen davon, daß Cassirer, wie gesehen, das Zurückgehen „hinter all diese Schöpfungen“ und d. h. hinter „all die Gebilde“ abweist, sagt er selbst in dem dritten oben zitierten Textpassus: „Der Gehalt des Geistes erschließt sich nur in seiner Äußerung; die ideelle Form wird erkannt nur an und in dem Inbegriff der sinnlichen Zeichen, deren sie sich zu ihrem Ausdruck bedient.“ Denn wenn nur in der „Äußerung“, die nichts anderes als erschaf- fene „Gebilde“ meinen kann, der geistige Gehalt und mithin „die Funktion“, die diesen Gehalt in der „Äußerung“ „äußert“, d. h. als „Gebilde“ erschafft, sich erschließt, dann wird also aus dem „Gebilde“ auf „die Funktion“ und mithin aus dem bestimmten „Gebilde“ auf die bestimmte „Funktion“ ge- schlossen, kurz: „die Äußerung“, „das Gebilde“ gibt Auskunft über „die Funktion“ und somit kann erst nachträglich gesagt werden, daß dieses oder jenes „Gebilde“ in dieser oder jener „Funktion“ „begründet“ sei. Und in dem Satz: „Der Gehalt des Geistes erschließt sich nur in seiner Äußerung; die ideelle Form wird erkannt nur an und in dem Inbegriff der sinnlichen Zeichen, deren sie sich zu ihrem Ausdruck bedient“ wird ge- wissermaßen beschrieben, was Cassirer unter einer „symbolischen Form“ versteht, auch wenn das Wort nicht ausdrücklich gebraucht wird. Denn es wird von der „Äußerung“ des Geistes gesprochen und von „dem sinnlichen Zeichen“, dessen sich „die ideelle Form zu ihrem Ausdruck bedient“. Dem- nach sei „das sinnliche Zeichen“, das „der ideellen Form zu ihrem Aus- druck“ dient, „die symbolische Form“. Zu beachten ist, daß, während im ersten Teilsatz von „dem Gehalt des Geistes“ die Rede ist, im zweiten Teil- satz von „der ideellen Form“ gesprochen wird, was nicht dasselbe ist. Zu beachten ist auch, daß Cassirer nicht sagt, daß „das sinnliche Zeichen“ durch „die ideelle Form“ „geformt“ sei. Und nun der Satz, in dem Cassirer sich darauf, und zwar das einzige Mal, einläßt, zu „definieren“, d. h. ausdrück- lich zu sagen, was er unter einer „symbolischen Form“ versteht: „Unter einer ‚symbolischen Form‘ soll jede Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen 32 Ebd., S. 10. Hassan Givsan220 geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird.“33 Auch hier wird kein Wort darüber gesagt, daß „das sinnliche Zeichen“ durch „die geistige Energie“ „geformt“ sei. Und während es in dem zuerst besprochenen Satz immerhin so scheint, als sei „das sinnliche Zeichen“ „die symbolische Form“, wird in diesem Satz als „die symbolische Form“ „die geistige Energie“, „die Energie des Geistes“ selbst bezeichnet. Es wird zwar gesagt, daß durch „die Energie des Geistes“ „ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinn- liches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird“, aber es wird eben nicht gesagt, daß „das konkrete sinnliche Zeichen“ durch „die Energie des Geistes“ „geformt“ sei. Damit ist aber noch nicht der wunde Punkt angesprochen, der darin besteht, daß Cassirer kein Wort darüber ver- liert, warum denn „der Geist“, „das Geistige“, „der geistige Bedeutungs- gehalt“, um sich „auszudrücken“, überhaupt „des Sinnlichen“, „des sinnli- chen Zeichens“ bedarf. Und in der Cassirer-Literatur-Produktion wird diese Frage nicht einmal als ein Problem registriert. Festzuhalten ist jedenfalls, daß „das sinnliche Zeichen“ als „Zeichen“ und „der geistige Bedeutungs- gehalt“ grundverschieden sind, so daß kein „geistiger Bedeutungsgehalt“ irgend etwas „Sinnliches“, das als „Sinnliches“ „ein selbständiges Etwas“, das als solche „vorhanden und gegeben“ wäre, bedeuten kann. Denn dem widerspricht „die Grundthese des Idealismus“, der jeden Rest von „der naiv- realistischen Weltansicht“ getilgt wissen möchte. Kurz: „Der geistige Be- deutungsgehalt“ des Wortes „Baum“ als eines „sinnlichen Zeichens“ ist nicht der Baum im Garten, denn in der Rede von „dem Baum im Garten“ ist „die Kraft der naiv-realistischen Weltansicht“ noch nicht gebrochen. Zu bemerken ist auch, daß auf dem Boden des Cassirerschen Idealismus das, was Cassirer „Kultur“ nennt, nicht so gefaßt werden darf, als würde die „Kultur“ als etwas Spezifisches für die „Welt“ der Menschen den Unter- schied zur „Natur“, was von sich her sei, markierte, und zwar so, als gäbe es so Etwas wie „die Natur“ als „selbständiges Etwas“, das „vorhanden und gegeben“ wäre, denn dies würde erst recht „die Kraft der naiv-realistischen Weltansicht“ ungebrochen lassen. Hier angelangt, wäre die scheinbar triviale Frage zu stellen, ob der Cas- sirersche Mensch als animal symbolicum so etwas wie Brot ißt. Aber diese scheinbar triviale Frage sprengt nicht nur den Cassirerschen Idealismus, sondern das ganze Gerede von „symbolischen Formen“. Denn daß das Brot das Resultat einer geistigen und physischen Arbeit, und zwar der weltge- schichtlichen Arbeit der Menschheit, ist, ist bei Hegel, dem „Erzidealisten“, nachzulesen. Nun ist das Brot nicht „ein sinnliches Zeichen“ und als „Zei- chen“ unterschieden von „dem geistigen Bedeutungsgehalt“, sondern in die- sem „Sinnlichen“ hat sich „der Geist“, „das Geistige“ – um Cassirers Worte 33 Ernst Cassirer: „Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaf- ten“ (1921/22), in: Ernst Cassirer, Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt 1983, S. 169-200, hier S. 175. Cassirers Philosophie der Kultur 221 zu gebrauchen: „die geistige Energie“, „der geistige Bedeutungsgehalt“ – „ver- sinnlicht“, und zwar „versinnlicht“ durch „die Formung“ eines „vorhandenen und gegebenen“ „Stoffs“, so daß der „geformte“ „sinnliche Stoff“ nichts als sich selbst bedeutet, und zwar sich selbst als „ein selbständiges Etwas“. Und eben weil es „ein selbständiges Etwas“ ist, entscheiden die Besitzverhält- nisse darüber, ob und wie die Hungernden zum Brot kämen. Also: Nicht bloß die Frage nach dem Krieg, nach dem Giftgas, nach dem Mord, sondern bereits die Frage nach dem Brot zeigt, wie fragwürdig Cas- sirers Definition des Menschen als animal symbolicum und Cassirers Begriff der „Kultur“ und der „symbolischen Formen“ ist. Nun gehört zu Cassirers Begriff der „Kultur“ als des Inbegriffs der „symbolischen Formen“ auch der „Mythos“, ja, der Mythos ist die Ur- sprungsform der „Kultur“, denn der Mythos ist der „gemeinsame Mutter- boden“, von dem sich andere symbolische Formen „erst ganz allmählich“ gelöst und so als „gesonderte, für sich seiende und für sich erkennbare Ge- staltungen“ hervortreten34: „Das theoretische, das praktische und das ästhe- tische Bewußtsein, die Welt der Sprache und der Erkenntnis, der Kunst, des Rechts und der Sittlichkeit, die Grundformen der Gemeinschaft und die des Staates: sie alle sind ursprünglich noch wie gebunden im mythisch-reli- giösen Bewußtsein.“35 In demselben Sinn spricht Cassirer in dem „Vorwort“ zum zweiten Band der Philosophie der symbolischen Formen von „der Genesis der Grundformen der geistigen Kultur aus dem mythischen Be- wußtsein“36: „Keine dieser Formen besitzt von Anfang an ein selbständiges Sein und eine eigene klar abgegrenzte Gestalt; sondern jede tritt uns gleich- sam verkleidet und eingehüllt in irgendeine Gestalt des Mythos entgegen. [...] Die Gebilde der Kunst wie die der Erkenntnis, – die Inhalte der Sitte, des Rechts, der Sprache, der Technik: sie alle weisen hier auf das gleiche Grundverhältnis hin.“37 Nach einer langen Wiederholung der Frage nach dem „Ursprung“ und „Anfang“ von „Sprache“, „Kunst“, „Schrift“, „Recht“, „Wis- senschaft“, „Eigentum“, „Wirtschaft“, „Gemeinschaft“, „Technik“, die alle ihren „Ursprung“ und „Anfang“ in dem „Mythos“, in „dem mythischen Be- wußtsein“ haben, schreibt Cassirer abschließend: „Das Hervorgehen der ein- zelnen spezifischen Gebilde des Geistes aus der Allgemeinheit und Indif- ferenz des mythischen Bewußtseins kann nicht wahrhaft verstanden werden, wenn dieser Urgrund selbst als ein unbegriffenes Rätsel stehen bleibt – wenn er, statt daß in ihm eine eigene Weise der geistigen Formung erkannt wurde, 34 Ernst Cassirer, „Sprache und Mythos. Ein Beitrag zum Problem der Götternamen“ (1925), in: Ernst Cassirer, Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt 1983, S. 71-167, hier S. 112. 35 Ebd., S. 112. 36 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil. Das mythische Denken (1925), Nachdruck: Darmstadt 1977, S. IX. 37 Ebd., S. IX. Hassan Givsan222 vielmehr nur als gestaltloses Chaos genommen wird.“38 (In dem Satz ist das Wort Urgrund von mir hervorgehoben.) Zwei Punkte sind hier hervorzuheben. Erstens, daß Cassirer hier, wo er den Mythos, das mythische Bewußtsein, als „Mutterboden“, als „Urgrund“ bezeichnet, neben den „Gebilden“: „Sprache“, „Kunst“, „Wissenschaft“, „Tech- nik“, auch die „Gebilde“: „Recht“, „Sittlichkeit“, „Eigentum“, „Wirtschaft“, „Gemeinschaft“, „Staat“ nennt, die allerdings im Mythos, im mythischen Be- wußtsein noch nicht als „gesonderte, für sich seiende“ Gebilde hervortreten. Bemerkenswert ist das deshalb, weil Cassirer in seiner vorgelegten Philo- sophie der symbolischen Formen erstens paradoxerweise den Mythos, das mythische Bewußtsein, was, wie gesagt: „der Mutterboden“, „der Urgrund“ sein soll, erst nach „der Sprache“ thematisiert und zweitens solche „Gebilde“ wie „Sittlichkeit“, „Eigentum“, „Wirtschaft“, „Gemeinschaft“, „Staat“ über- haupt nicht als „gesonderte, für sich seiende“ Gebilde gesondert themati- siert, wobei ausdrücklich darauf zu verweisen ist, daß es darum ginge, diese „Gebilde“ in ihrer Besonderheit als besondere „symbolische Formen“ zu thematisieren, so daß daraus ersichtlich würde, worin z. B. die besondere „symbolische Form“ des „Staates“ besteht. Es ginge also nicht bloß darum, etwa den „Staat“ oder das „Eigentum“ als Thema aufzunehmen, sondern auch und vor allem: zu zeigen, daß der „Staat“, daß das „Eigentum“ eine „sym- bolische Form“ sei. Es ist auch zu bemerken, daß hinter all diesen Fragen sich die Frage verbirgt, die man als die Grundfrage bezeichnen muß, weil sie Cassirers „Anthropologie“ als solche betrifft: die Frage nämlich, ob der Mensch selbst, der in dieser Anthropologie als animal symbolicum definiert wird, eine „symbolische Form“ sei. Das würde jedenfalls Cassirers „Grund- these des Idealismus“ verlangen. Zweitens, daß Cassirer hier in dem zuletzt zitierten Satz ausdrücklich macht, daß der Mythos, das mythische Bewußt- sein als der „Urgrund“ nicht „ein unbegriffenes Rätsel“, nicht „ein gestalt- loses Chaos“ sei, sondern „eine eigene Weise der geistigen Formung“. Und genau dieser Charakterisierung des Mythos, des mythischen Bewußt- seins schlagen die Schlußsätze des Mythus des Staates39 direkt ins Gesicht. Bevor diese Schlußsätze angeführt werden, müssen die Anfangssätze des vorhergehenden Absatzes angeführt werden, die lauten: „Um die Beziehung zwischen Mythus und anderen großen kulturellen Mächten zu veranschau- lichen, können wir vielleicht ein Beispiel aus der Mythologie selbst gebrau- chen. In der babylonischen Mythologie finden wir eine Legende, die die 38 Ebd., S. IX. 39 Ich zitiere nach der deutschen Übersetzung, die 1949 (1. Aufl.; 2. Aufl. 1978) im Artemis Verlag erschienen ist: Ernst Cassirer, Der Mythus des Staates. Philosophische Grund- lagen politischen Verhaltens, 2. Auflage, Zürich/München 1978. Ich merke hier auch an, daß ich im folgenden überall dort, wo ich aus dieser Übersetzung zitiere, die Schreibweise „Mythus“ übernehme, aber sonst „Mythos“ schreibe. Cassirers Philosophie der Kultur 223 Erschaffung der Welt beschreibt.“40 Daß Cassirer den babylonischen Mythos von der Erschaffung der Welt als „eine Legende“ (im amerikanischen Ori- ginal: „a legend“) tituliert, hat eine inhaltliche Funktion, die sich gleich ent- hüllt. Denn nach der kurzen Wiedergabe dieses von Cassirer als „Legende“ titulierten Mythos, schreibt Cassirer den Schlußabsatz: „Die Welt der mensch- lichen Kultur kann mit den Worten dieser babylonischen Legende be- schrieben werden. Sie [d. h. die Welt der menschlichen Kultur] konnte nicht entstehen, ehe die Finsternis des Mythus besiegt und überwunden war. Aber die mythischen Ungeheuer waren nicht endgültig vernichtet. Sie wurden für die Schöpfung eines neuen Universums verwendet, und sie leben noch fort in diesem neuen Universum. Die Mächte des Mythus wurden durch höhere Kräfte besiegt und unterworfen. Solange diese Kräfte, intellektuelle, mora- lische, ethische und künstlerische, in voller Stärke stehen, bleibt der Mythus gezähmt und unterworfen. Aber wenn sie einmal ihre Stärke zu verlieren be- ginnen, ist das Chaos wiedergekommen. Dann beginnt mythisches Denken sich von neuem zu erheben und das ganze kulturelle und soziale Leben des Menschen zu durchdringen.“41 Liest man diese Sätze aufmerksam, so ent- hüllt sich gleich die Funktion, warum Cassirer den babylonischen Mythos von der Erschaffung der Welt als „eine Legende“ tituliert, denn „der Mythos“ soll nun inhaltlich stehen für die Mächte der Finsternis, des Chaos. Cassirer macht hier vollends vergessen, daß er zu Beginn seiner Karriere als Phi- losoph der Kultur und der symbolischen Formen den Mythos als „Mutter- boden“ und „Urgrund“ aller Gebilde „der Kultur“ und als „eine eigene Weise der geistigen Formung“ charakterisierte. Jetzt am Ende dieser Kar- riere wird gesagt: „Die Welt der menschlichen Kultur [...] konnte nicht ent- stehen, ehe die Finsternis des Mythus besiegt und überwunden war“, und: „das Chaos [ist] wiedergekommen“, da „die mythischen Ungeheuer [...] nicht endgültig vernichtet [waren]“. Daß Cassirer das mit den Worten der „Legende“ sagt, ändert nichts daran, daß hier am Ende jener Karriere der Mythos eine radikale Umdeutung erfährt. Gewiß hätte ein systematisch- ontologisch geschultes Denken gleich zu Beginn, als der Mythos als „Mut- terboden“ und „Urgrund“ charakterisiert wurde, auch ins Wort gebracht, daß dieser „Urgrund“ nie aufhört, „Urgrund“ alles dessen zu sein, was daraus „entspringt“. Aber Cassirer sah historisch nur „die allmähliche Loslösung“ der Gebilde vom „Mutterboden“ und in dieser „allmählichen Loslösung“ offenbar auch nur eine Weise der „Emanzipation“. Also: Ausgehend von den Schlußsätzen ist festzuhalten, daß der Mythos hier am Ende jener Karriere eine radikaler Umdeutung erfährt. Es ist dieser Begriff des Mythos, der den Titel des Buches Der Mythus des Staates bestimmt. Und dieser Titel „präformiert“ die Fragestellung derart, daß die Frage, die zu stellen wäre, gar nicht zum Zuge kommt, die 40 Ebd., S. 389. 41 Ebd., S. 390. Hassan Givsan224 Frage nämlich, was denn der Staat sei, eine Frage, die von der Philosophie der symbolischen Formen eine spezifische Antwort und Aufklärung verlangt hätte, sodann die Frage, was den „totalitären Staat“ als solchen kennzeich- net. Würde man Cassirers The Myth of the State mit Poppers The Open Society and Its Enemies (das Vorwort der englischen Ausgabe ist datiert: „Neuseeland, April 1944“; sie erschien 1945 in London) vergleichen – was übrigens nichts abwegiges, sondern geradezu naheliegend wäre, weil beide Autoren durch den Hitler-Faschismus zum Schreiben dieser Bücher getrie- ben wurden (Popper notiert, daß er „den Entschluß zur Niederschrift“ faßte, als ihn im März 1938 „die Nachricht von der Invasion Österreichs“ er- reichte) –, so würde man – auch ohne jede Sympathie für Popper – sagen müssen, daß Cassirer Buch weder eine fundierte Analyse und Kritik der politischen Theorien ist, die Popper in den „totalitären Staat“ münden sieht, noch eine fundierte Analyse dessen, was den „totalitären Staat“ als solchen kennzeichnet. Und während Popper bereits im Titel seines Buches einen kla- ren theoretischen Standpunkt anzeigt, den er auch in seiner Auseinanderset- zung mit den von ihm analysierten politischen Theorien zur Geltung bringt, kann Cassirer, wenn auch zunächst scheinbar bloß Comte erwidernd, nur sagen: „Politik ist noch weit davon entfernt, eine positive Wissenschaft zu sein, geschweige denn eine exakte Wissenschaft. [...] In der Politik haben wir noch keinen festen und zuverlässigen Boden gefunden. Hier scheint keine klar verankerte kosmische Ordnung zu bestehen; wir sind immer vom plötz- lichen Rückfall in das alte Chaos bedroht.“42 Zunächst: Von den Schlußsätzen her wissen wir es schon, was Cassirer mit dem „Rückfall in das alte Chaos“ meint, nämlich: Rückfall in den Mythos. Sodann: Wenn das, was Cassirer also in den zitierten Sätzen sagt, nämlich: daß „wir in der Politik noch keinen festen und zuverlässigen Boden gefunden haben“, so daß „wir immer vom plötzlichen Rückfall in das alte Chaos [d. h. in den Mythos] bedroht sind“, der Bescheid ist, den der Phi- losoph der symbolischen Formen geben kann, dann sagt er damit im Kern nichts anderes, als daß die ganze Sphäre der „Politik“ und d. h. des politischen und sozialen Lebens sich nie vom „Mutterboden“ und „Urgrund“, der My- thos hieß, wobei jetzt Mythos für das alte Chaos steht, „loslöste“, d. h. „emanzipierte“. Und tatsächlich schreibt Cassirer schon zwei Dutzend Seiten vorher: „In der Politik leben wir immer auf vulkanischem [!, d. h.: mythischem] Boden. [...] Denn der Mythus ist nicht wirklich besiegt und un- terdrückt worden. Er ist immer da, versteckt im Dunkel und auf seine Stunde und Gelegenheit wartend.“43 Ist dem so, dann bedarf „der plötzliche Rück- fall in das alte Chaos“ auch keines besonderen, historisch zeitgebundenen, politischen „Mythos“, etwa des „Mythos der Rasse“ (darauf komme ich noch einmal zurück). 42 Ebd., S. 386. 43 Ebd., S. 364. Cassirers Philosophie der Kultur 225 Schließlich: Wenn Cassirer es zum besten gibt, daß „Politik noch weit davon entfernt ist, eine positive Wissenschaft zu sein, geschweige denn eine exakte Wissenschaft“, so provoziert das zu der Frage, ob das, was er selbst tut, wovon die unzähligen Bände seiner Schriften zeugen, „eine exakte Wissenschaft“ sei. Und wenn Cassirer schreibt: „Niemand würde daran den- ken, ein Problem der Naturwissenschaft oder ein technisches Problem durch die Methoden zu lösen, die zur Lösung politischer Fragen empfohlen und angewandt werden. [...] Wissenschaftliche Erkenntnis [gemeint ist also: Naturwissenschaftliche Erkenntnis] und technische Beherrschung der Natur gewinnen täglich neue und beispiellose Siege“,44 dann sind zunächst zwei Fragen an ihn zu stellen. Erstens: Würde er denn „die Methode der Na- turwissenschaft und der Technik“ dem Historiker, dem Philosophen bei der Lösung seiner Probleme empfehlen wollen? Zweitens: Würde er „die Me- thode der Naturwissenschaft und der Technik“ dem sozial und politisch Handelnden bei der Lösung seiner Probleme empfehlen wollen? Fragt man ihn so, wird er vermutlich ausweichend sagen: er rede von der „rationalen Methode“, womit er sich aber hinter dem Wort „rational“ bloß versteckt – dabei ungeniert vergessen machend, daß er mit seiner Definition des Men- schen als animal symbolicum das Prädikat animal rationale verabschiedet hat45 –, ohne die Frage auch nur zu stellen, was denn nun im Kontext der Geschichtsrealität „rational“ heißt. Das hätte er aber von seinem Zeitgenos- sen Max Weber erfahren können. Außerdem: Sofern Cassirer von seiner Philosophie der symbolischen Formen her überhaupt zugeben würde, daß „das soziale und politische Handeln“ eine „symbolische Form“ sei, und zwar so, wie „die Wissenschaft“ eine „symbolische Form“ ist und wie „die Kunst“ eine „symbolische Form“ ist, so würde sich der Widersinn dessen, was er in den zuletzt zitierten Sätzen, zuungunsten des „sozialen und po- litischen Handelns“, moniert, offenbaren, denn daß zwei verschiedene „sym- bolische Formen“ eben verschieden sind, d. h. sich nach verschiedenen Form-„Methoden“ formen, macht eben die Verschiedenheit der „symbolischen 44 Ebd., S. 8. 45 Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kul- tur (An Essay on Man, 1944 bei Yale University Press), Hamburg 2007, S. 51: „Der Begriff der Vernunft ist höchst ungeeignet, die Formen der Kultur in ihrer Fülle und Mannigfaltigkeit zu erfassen. Alle diese Formen sind symbolische Formen. Deshalb sollten wir den Menschen nicht als animal rationale, sondern als animal symbolicum definieren.“ Damit gesteht Cassirer, daß hinsichtlich der „symbolischen Formen“ der Rekurs auf „die Vernunft“ oder auf das Prädikat „rational“ schlicht verfehlt sei. Und hier, am Ende der Cassirerschen Arbeit an den „symbolischen Formen“, zeigt sich, daß jener oben angeführte Satz aus der „Einleitung“ der Philosophie der symbolischen Formen (im ersten Band): „Die Kritik der Vernunft wird damit zur Kritik der Kultur“, mit einer Bedeutung schwanger ging, die zunächst nicht ersichtlich war, mit der Be- deutung nämlich, daß „der Begriff der Vernunft [...] höchst ungeeignet [ist]“, um das, was nach Cassirer „Kultur“ heißt, zu erfassen, so daß er fallengelassen bzw. verabschie- det werden muß. Hassan Givsan226 Formen“ aus, ohne daß gesagt werden könnte und dürfte, daß die eine „sym- bolische Form“ eine „bessere“ „symbolische Form“ sei als die andere. Nun zum wunden Punkt: Cassirer macht schlicht vergessen, daß jene „täglich neuen und beispiellosen Siege“ der Naturwissenschaften und der Technik nicht nur auf jenem sozialen und politischen Boden, den er „den vulkanischen Boden“ nennt, errungen werden, sondern geradezu direkt in den Dienst dieses „vulkanischen Bodens“ gestellt werden. Daß Cassirer diesen Zusammenhang in seiner Zeit zwischen 1900 und 1945, insbesondere im Hinblick auf die beiden Weltkriege, nicht zur Kenntnis nahm – das ist aber schon „sündhaft“. Damit zurück zum „politischen“ Mythos. Es ist zunächst auffallend, daß Cassirer in dem Teil, der den Titel „Der Mythus des zwanzigsten Jahrhun- derts“ trägt46, und zwar nachdem er hier in diesem Teil die „Heldenver- ehrung“ und die „Rassentheorie“, also den „Mythos der Rasse“, abgehandelt hat, Hegels politische Philosophie zur Sprache bringt47. Was Cassirer über Hegels politische Philosophie sagt, ist im Kern die Wiederholung dessen, was bei Rudolf Haym zu lesen ist. Cassirerisch neu ist, daß Cassirer eine Stelle (ohne Stellenangabe) anführt: „Die Menschen sind so närrisch, ... in ihrem Enthusiasmus für Gewissensfreiheit und politische Freiheit die Wahr- heit zu vergessen, die in der Macht liegt“ (was Cassirer hier anführt, ist übri- gens kein wörtliches Zitat), um anschließend dazu zu sagen: „Diese Worte, geschrieben vor etwa 150 Jahren, im Jahre 1801, enthalten das klarste und unbarmherzigste Programm des Fascismus, das jemals durch irgendeinen politischen oder philosophischen Schriftsteller vorgetragen wurde.“48 Cassi- rers „Urteil“, daß jene Worte „das klarste und unbarmherzigste Programm des Fascismus enthalten, das jemals durch irgendeinen politischen oder philosophischen Schriftsteller vorgetragen wurde“, läßt daran zweifeln, daß er sich je mit dem „Programm des Fascismus“ beschäftigt hätte. Hier im Kontext des Cassirerschen „Urteils“ müßte auch der Satz angeführt werden: „Kürzlich erhob ein Historiker [Hajo Holborn] die Frage, ob der Kampf zwi- schen den Russen und den eindringenden Deutschen im Jahre 1943 [also im Jahr von Stalingrad] nicht im Grunde ein Kampf zwischen dem linken und rechten Flügel der Schule Hegels sei. Das mag als eine übertriebene Formu- lierung des Problems erscheinen, aber es enthält einen wahren Kern.“49 Dem „wahren Kern“ gemäß also, den Cassirer der Aussage des „Historikers“ atte- stiert, würde der zuvor zitierte Satz Cassirers so erweitert werden müssen, nämlich: daß jene „Worte, geschrieben vor etwa 150 Jahren, im Jahre 1801“ nicht nur „das klarste und unbarmherzigste Programm“ des „Fascismus“, sondern „des totalitären Staates“ überhaupt enthalten, als welcher auch der 46 Ernst Cassirer, Der Mythus des Staates, S. 246-390. 47 Ebd., S. 322-360. 48 Ebd., S. 347. 49 Ebd., S. 323. Cassirers Philosophie der Kultur 227 russische und der deutsche Staat gelten (denn wir werden gleich sehen, daß bei Cassirer der Titel „totalitärer Staat“ für „Bolschewismus, Fascismus und Nationalsozialismus“ steht, woraus zu entnehmen ist, daß er „Fascismus“ und „Nationalsozialismus“ voneinander unterscheidet“). Cassirer wird zwar an einer späteren Stelle, und zwar ein Dutzend Seiten nach der Rede vom „klarsten und unbarmherzigsten Programm des Fascismus“, sagen, daß Hegel „die modernen Auffassungen des ‚totalitären Staates‘ verworfen und verabscheut haben (würde)“50, aber uns interessiert das von Cassirer zuvor Gesagte. Denn wenn jene Worte „das klarste und unbarmherzigste Programm des Fascismus enthalten, das jemals durch irgendeinen politischen oder philosophischen Schriftsteller vorgetragen wurde“, dann bedürfte nicht nur „der Fascismus“ als solcher, sondern auch „der totalitäre Staat“ als solcher des „Mythos der Rasse“ nicht, denn in jenen Worten ist nicht von der „Rasse“ die Rede. Als „totalitäre Staaten“ des 20. Jahrhundert sieht Cassirer an: „Bolschewismus, Fascismus und Nationalsozialismus“51. Daß zum „National- sozialismus“ der „Mythos der Rasse“ gehörte, hat also nach dem zuvor Ge- sagten nicht darin seinen Grund, daß er ein „totalitärer Staat“ war. Befremdlich ist übrigens, daß Cassirer mit Blick auf den „Nationalso- zialismus“ erst von „politischen Ideen“ spricht und sie dann als „politische Mythen“ brandmarkt, und das tut er auf derselben Textseite, wo er vorher von dem platonischen „Reich der Ideen“ spricht. Der Zusammenhang, in dem Cassirer davon redet, ist der, daß er, nachdem er Spenglers Untergang des Abendlandes (1918) der „Kunst der Wahrsagung“ zugeordnet und als „keineswegs ... wissenschaftliches Buch“ abgetan hat52, auf Heideggers Sein und Zeit zu sprechen kommt53 und unter anderem sagt, daß Heidegger nicht zugebe, daß es ein platonisches „Reich der Ideen“ gebe. Dann schreibt Cassirer: „Ich will nicht sagen, daß diese philosophischen Lehren einen direkten Einfluß auf die Entwicklung der politischen Ideen in Deutschland hatten. Die meisten dieser Ideen entsprangen aus ganz anderer Quelle. Sie hatten einen sehr ‚realistischen‘, keinen ‚spekulativen‘ Inhalt. Aber die neue 50 Ebd., S. 359. 51 Ebd., S. 323. 52 Ebd., S. 378ff. Was dabei aber frappiert, ist, daß Cassirer hier schreibt: „Um diese Zeit [d. h. um 1918, als Spenglers Buch erschien] hatten viele, hatten die meisten unter uns erkannt, daß etwas faul war im Staate unserer hochgepriesenen westlichen Zivilisation.“ (Ebd., S. 378. Hervorhebung von mir.) Das frappiert zum einen deshalb, weil ein „Wahr- sager“ mit seinem „keineswegs wissenschaftlichen“ Buch Dinge „wahrsagte“, die „viele“, ja „die meisten ... erkannt“ hatten. Es frappiert zum anderen deshalb, weil Cassirer sich selber offenbar zu den „vielen“ bzw. zu „den meisten“ rechnet, die er- kannt hatten, „daß etwas faul war im Staate unserer hochgepriesenen westlichen Zi- vilisation“. Wenn das aber stimmt, dann ist zu fragen, wie es kommt, daß Cassirer die- ses sein „erkannt haben“ nirgends kundgetan hat. Ja, er tat geradezu so, als wäre in der „westlichen Zivilisation [will heißen: Kultur]“, in der er lebte, alles in bester Ordnung: er schrieb seine Philosophie der symbolischen Formen. 53 Ebd., S. 382ff. Hassan Givsan228 Philosophie schwächte und unterminierte langsam die Kräfte, die den mo- dernen politischen Mythen hätten Widerstand leisten können.“54 (Hervorhe- bungen von mir.) Es ist, wie gesagt, befremdlich, daß Cassirer mit Blick auf „Deutschland“ der dreißiger Jahre erst von „politischen Ideen“ spricht, um sie dann als „politische Mythen“ zu brandmarken. Nicht befremdlich, aber erstaunlich ist auch Cassirers Bekenntnis, daß diese „politischen Ideen in Deutschland“, jedenfalls „die meisten dieser Ideen“, „einen sehr ‚realisti- schen‘ Inhalt“ hatten. Was aber Cassirer mit „sehr ‚realistischem‘ Inhalt“ meint, bleibt allerdings im dunkeln. Abschließend soll noch vermerkt werden, daß Cassirer, während er im Schlußteil, wie gesehen, den „Mythus“ als stehend für „die Finsternis“, für „das alte Chaos“ faßt, im Anfangsteil des Mythus des Staates schreibt: „der Mythus [ist] eine ‚symbolische Form‘“, und fortfährt: „und es ist ein ge- meinsames Charakteristikum aller symbolischen Formen, daß sie auf jeden beliebigen Gegenstand angewendet werden können.“55 Daß der Mythos eine symbolische Form, und zwar eine der symbolischen Formen, ist, das ist von der Philosophie der symbolischen Formen her bekannt. Daß es aber „ein gemeinsames Charakteristikum aller symbolischen Formen ist, daß sie auf jeden beliebigen Gegenstand angewendet werden können“, das ist nicht nur neu, sondern das macht das, was Cassirer bisher, d. h. bis vor dem Mythus des Staates, über „die symbolischen Formen“ zu sagen schien, zunichte. Denn es schien bisher, d. h. bis vor dem Mythus des Staates, so, als würden die symbolischen Formen sich erst aufgrund einer geistigen Formung formen, so daß sie deshalb nicht nur als „Formen“ verschieden sind, sondern auch und vor allem, daß die Rede vom „Gegenstand“, der ein „selbständiges Etwas“ meinte, das unabhängig und außerhalb jener Formung wäre, über- haupt unsinnig wäre. Erinnert sei an „das Prinzip des ‚Primats‘ der Funktion [vor] dem Gegenstand“ und an „die Grundthese des Idealismus“, die „eine ursprüngliche Tat des Geistes“ fordert und nichts zuließe, was nicht in „einer ursprünglichen Tat des Geistes“ gründete. Nach dem zitierten Satz aus dem Mythus des Staates sieht es aber so aus, daß „Gegenstände“ von selbst ge- geben sind und daß auch „symbolische Formen“ von selbst gegeben sind, so daß die von selbst gegebenen „symbolischen Formen“ bloß auf die von selbst gegebenen „Gegenstände“ beliebig angewendet werden können. Ich sagte ausdrücklich: es schien bisher, d. h. bis vor dem Mythus des Staates, so. Denn ich habe schon im Kontext der Philosophie der symbolischen Formen die Frage aufwerfen müssen, in welchem Verhältnis denn die sym- bolische Form zu dem sinnlichen Zeichen stehe, weil es gar nicht geklärt ist, ob „das sinnliche Zeichen“ als solches durch eine Formung geformt sei, oder ob an „das sinnliche Zeichen“ „ein Bedeutungsgehalt“ bloß „ge- knüpft“ werde. 54 Ebd., S. 383f. 55 Ebd., S. 49. Cassirers Philosophie der Kultur 229 Jedenfalls scheint der soeben besprochene Satz aus dem Mythus des Staates –: „es ist ein gemeinsames Charakteristikum aller symbolischen Formen, daß sie auf jeden beliebigen Gegenstand angewendet werden kön- nen“ – Paetzold dazu verleitet zu haben, im Anschluß an seinen oben schon zitierten Satz, daß das Buch The Myth of the State „Cassirers philosophische Verarbeitung des nationalsozialistischen Holocaust“ sei, zu schreiben: „Es gebe nicht nur einen gewissermaßen legitimen Umgang mit den mythischen Energien der menschlichen Erfahrung in der Religion und Kunst. Die tota- litären Regime des 20. Jahrhunderts – allen voran der deutsche Faschismus – machten einen illegitimen, aber darum äußerst wirkungsvollen Gebrauch vom Mythischen. Die totalitären Machthaber setzten den Mythos zu den Zwecken einer affektiven und mentalen Gleichschaltung der Menschen stra- tegisch ein.“56 Dazu einige Bemerkungen. Vorweg: Paetzolds Worte „mythi- sche Energie“ im ersten Satz und „Mythisches“ im zweiten Satz, die – sofern sie etwas anderes meinen wollen als das Wort „Mythos“ im dritten Satz – terminologisch bloß Verwirrung stiften, lasse ich beiseite. Sodann: Von der Philosophie der symbolischen Form her sind Mythos, Religion, Kunst, Sprache usw. verschiedene „symbolische Formen“, so daß vom „Ge- brauch“ der einen „symbolischen Form“ in der anderen „symbolischen Form“ nicht gesprochen werden kann und darf. Deshalb ist die Rede von „legiti- mem“ oder „illegitimen“ Gebrauch (bzw. Umgang) schlechthin unstatthaft, weil leer. Des weiteren: Wenn man aber von Cassirers Satz aus dem An- fangsteil des Mythus des Staates ausgeht, der soeben besprochen wurde und lautet, daß es „ein gemeinsames Charakteristikum aller symbolischen Formen ist, daß sie auf jeden beliebigen Gegenstand angewendet werden können“, dann wird man weder von einem „legitimen“ noch von einem „illegitimen“ „Gebrauch“ irgendeiner „symbolischen Form“, also auch des „Mythos“ sprechen dürfen, sondern nur von deren „Anwendung“, die für „jeden beliebigen Gegenstand“ zulässig ist, weil sie „auf jeden beliebigen Gegenstand angewendet werden“ kann. Schließlich: Wenn man aber vom Schlußteil des Mythus des Staates ausgeht, wo „der Mythos“ für „die Fins- ternis“, für „das alte Chaos“ steht und wo es heißt: „In der Politik leben wir immer auf vulkanischem [!, d. h.: mythischem] Boden. [...] Der Mythus ist nicht wirklich besiegt und unterworfen worden“ – dann liegt der Ausbruch des „Vulkans“, des „vulkanischen Bodens“, des „Mythos“ als „Finsternis“ und „altes Chaos“ in der „Natur der Sache selbst“ und nicht eine Frage des „illegitimen“ Gebrauchs des „Mythos“. Und das ist die unmittelbare Kon- sequenz der Cassirerschen Verzahnung des „Mythos“ und des „Staates“. Ich sagte bereits oben, daß der Titel des Buches Der Mythus des Staates die Fragestellung „präformiert“. 56 Heinz Paetzold, Ernst Cassier zur Einführung, Hamburg 1993, S. 10. Hassan Givsan230 Zu Beginn sagte ich, daß Paetzold der Dank dafür gebührt, daß er nicht darauf aus ist, die geschichtlich wirkliche Welt, in der Cassirer lebte und seine Bücher schrieb, vergessen zu machen. Und ich muß hinzufügen, daß dem Freund Heinz Paetzold auch dafür der Dank gebührt, daß er durch seine Sätze mich zu Fragen provozierte, d. h. nötigte, Fragen bei Cassirer nach- zugehen, die ich vielleicht nicht in der Weise verfolgt hätte. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik Religion als symbolische Form und/oder als Offenbarung 1. Bezug Wir verdanken Heinz Paetzold eine feinsinnige und gründliche Auslegung von Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen1 als umfassender Grundlegung einer Kulturphilosophie. „Ein großangelegter Versuch, die Philosophie als Kulturphilosophie durchzuführen, wurde in unserem Jahrhun- dert von Erst Cassirer unternommen. […] Cassirer [gab] dem Kantischen Kritizismus eine neue Wende, indem er neben die bei Kant favorisierte wissenschaftliche Erkenntnis als Modell aller Erkenntnis andere Weisen menschlicher Welterschließungen stellte. […] Cassirers grundlegende These [lautet], daß aller menschlicher Zugang zur Welt [durch die Kunst, den Mythos, die Sprache, die Religion] stets über symbolische Formen verläuft. Alle unsere Erfahrungen bilden sich in funktionalen symbolischen Form- kreisen. Nur die Totalität der symbolischen Formen garantiert die Erfahrung des ganzen Seins.“2 Doch Heinz Paetzold bleibt bei einer bloßen sensiblen Nachzeichnung des Gedankengangs von Ernst Cassirer nicht stehen, sondern möchte, wie er ausdrücklich hervorhebt, „Cassirers Ansatz an zwei Stellen erweitern. […] Zunächst rechnet Cassirer nicht systematisch mit Verformungen und Depra- vationen der symbolischen Formen. Diesen Punkt möchte ich mit Hilfe der Kulturtheorie der Kritischen Theorie erläutern.“3 Gerade diesen Punkt, der bei Paetzold mit mannigfaltigen Bezügen zur Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno sowie zu Herbert Marcuses Der eindimensionale Mensch4 breiten Raum einnimmt, scheint unser gemeinsamer 1 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. I: Die Sprache (1921), Bd. II: Das mythische Denken (1923), Bd. III: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), Darm- stadt 1956–58. 2 Heinz Paetzold, Die Realität der symbolischen Formen. Die Kulturphilosophie Ernst Cassirers im Kontext, Darmstadt 1994, S. 167f. Vgl. auch Heinz Paetzold, Ernst Cas- sirer. Von Marburg nach New York. Eine philosophische Biographie, Darmstadt 1995, S. 200ff. 3 Paetzold, Die Realität der symbolischen Formen, S. 170. 4 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (1944), Frankfurt a.M. 1969; Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschritten Industriegesellschaft (1964), Neuwied/Berlin 1970. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik232 Freund Hassan Givsan bei seinen Verweisen auf Heinz Paetzold in seinem vorausgehenden Beitrag „Cassirers Philosophie der Kultur als Philosophie der symbolischen Formen“ vollkommen übersehen zu haben. „Außerdem“ – so fährt Heinz Paetzold in der Erläuterung seines Über- schreitens von Cassirer fort – „kann man den Ursprung der symbolischen Formen in tiefsitzenden anthropologischen Subschichten nachweisen und damit ihre Verankerung in der Natur des Menschen plausibel machen. Die- sen Aspekt will ich mit der Philosophischen Anthropologie erklären.“5 Hierauf möchte ich nun, in meinem imaginären Gespräch mit unserem verstorbenen Freund Heinz Paetzold eingehen. Obwohl ich mit Heinz Paetzold in vielen Punkten seiner Ausführungen übereinstimme, glaube ich doch, dass er mit seinem Versuch, Cassirers Philosophie der symbolischen Formen anthropologisch in der menschlichen Erfahrung zu verankern, zu kurz greift. Dies kommt besonders deutlich in Paetzolds Darlegung der Religion als symbolischer Form zum Vorschein. Ganz wie Cassirer6 diskutiert auch Heinz Paetzold die Religion im Zusammenhang der „Dialektik des mythischen Bewußtseins“, durch die sich scheinbar eine Progression von der Unmittel- barkeit des Mythos über die sittliche Katharsis der Religion bis zur mensch- lichen Selbstfindung in der Kunstproduktion ergibt. „In den universalisti- schen Religionen wird nämlich die Bilderwelt der Mythen depotenziert, und doch bleibt in allen Religionen der Zwiespalt von Bild und dem durch es gemeinten Sinn virulent. Die Kunst dagegen verhält sich reflexiv gegenüber dem Mythos, weil sie ein mediales Bewußtsein der eigenen Zeichenstruktur verkörpert.“7 Es fragt sich, ob Heinz Paetzold sich nicht gerade durch diesen Auf- hebungsversuch der Religion die Basis entzieht, die er durch seine anthro- pologische Verankerung zu erreichen trachtet. Denn es geht ihm, wie schon der Titel seiner Cassirer-Auseinandersetzung sagt, um Die Realität der sym- bolischen Formen, diese Realität kann aber nicht schon in der Produktivität 5 Heinz Paetzold, Die Realität der symbolischen Formen, S. 170. 6 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, II, S. 281ff. sowie Ernst Cas- sirer, Versuch über den Menschen (1944), Frankfurt a.M. 1990, S. 116ff. 7 Heinz Paetzold, Die Realität der symbolischen Formen, S. XIV mit Verweis auf Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen: „Auf der einen Seite erweist sich schon die niederste, die primitivste mythische Gestaltung als Sinnträger: denn sie steht schon im Zeichen jener Ur-Teilung, die die Welt des ‚Heiligen‘ aus der des ‚Profanen‘ heraus- arbeitet und sie gegen sie abgrenzt. Und andererseits bleibt auch die höchste ‚Wahr- heit‘ des Religiösen dem sinnlichen Dasein – dem Dasein der Bilder wie dem der Dinge – verhaftet. […] Die religiöse Auffassung strebt von dieser ersten magischen Ansicht zu immer reinerer Vergeistigung fort. […] Das ästhetische Bewußtsein erst läßt dieses Problem wahrhaft hinter sich. […] Denn eben dies bezeichnet die Grund- richtung des Ästhetischen, daß hier das Bild rein als solches anerkannt bleibt, daß es, um seine Funktion zu erfüllen, nichts von sich selbst und seinem Gehalt aufzugeben braucht.“ (Bd. II, S. 310f.) Religion als symbolische Form und/oder als Offenbarung 233 der symbolischen Formen und ihrer Reflexion gründen, wie Paetzold sehr treffend im Anschluss an Helmuth Plessners Ausführungen zur „exzentri- schen Positionalität“ des Menschen und zu Ernst Blochs „konkreter Utopie“8 ausführt: „Das […] Gesetz des utopischen Standorts, hält den Tatbestand fest, daß der Mensch stets auf Absolutes aus ist. Zugleich macht er aber die Erfahrung, daß das Absolute sich als transzendent zur Wirklichkeit erweist. Alle Wirklichkeit bleibt hinter dem Absoluten zurück. Es muß aber dennoch immer wieder angestrebt werden, damit die Verdinglichungen überwunden werden.“9 Dass das Absolute hier gar nicht als transzendent gegenüber dem „Inbe- griff der symbolischen Formen“ verstanden wird, sondern nur als deren ins ‚unendliche‘ verschobene Erfüllung, verrät sich an den Formulierungen, „daß der Mensch stets auf Absolutes aus“ sei und dass es „immer wieder angestrebt werden“ müsse, denn Paetzold hätte schreiben müssen, ‚dass der Mensch stets auf das Absolute bezogen sei‘ und dass er ‚all sein Streben im Angesicht des Absoluten zu vollbringen habe‘. So aber bleibt Paetzold trotz seiner Erweiterungs- und Fundierungsversuche im Idealismus Cassirerscher Prägung verfangen. Demgegenüber möchte ich auf eine Paralleldiskussion eingehen, die am Begriff der Offenbarung unsere Verankerung im Absoluten zu ergründen versucht. Erst als ich vom Tod von Heinz Paetzold erfuhr, entschloss ich mich, den ursprünglich für seine Festschrift zum 70. Geburtstag vorgesehen Beitrag zurückzuziehen und durch diesen bereits als Vortrag10 vorliegenden Beitrag dem Band zum Gedenken an Heinz Paetzold beizugeben, da er näher an die Gespräche heranreicht, die wir in unserem letzten gemeinsamen Seminar „Zum Davoser Disput zwischen Cassirer und Heidegger“ an der Universität Kassel führten. Auf diesen Disput bezogen sprach Franz Rosenzweig in seinem letzten philosophischen Artikel kurz vor seinem Tod 1929 im Hin- blick auf Cassirers philosophischen und seinen religiösen Lehrer Hermann Cohen von „Vertauschten Fronten“.11 Auch unsere Streitgespräche über den Idealismus und seine Kritik gli- chen oftmals „Vertauschten Fronten“, aber sie waren durch unsere über 30 8 Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die phi- losophische Anthropologie (1928), Berlin/New York 1975; Ernst Bloch, Geist der Utopie (21923), Frankfurt a.M. 1973. 9 Heinz Paetzold, Die Realität der symbolischen Formen, S. 173. 10 In etwas veränderter Form erschien der Vortrag in englischer Übersetzung „Philosophy of Revelation: Remarks on Schelling, Jaspers, and Rosenzweig“ in: Helmut Wautischer, Alan M. Olson, Gregory J. Walters (Eds.), Philosophical Faith and the Future of Humanity – To the Memory of Leonard H. Ehrlich – Dordrecht/Heidelberg/London/ New York 2012, S. 147-157. 11 Heinz Paetzold, Ernst Cassirer. Von Marburg nach New York, S. 4ff. und 198. Siehe auch Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Rosenzweig im Gespräch mit Ehrenberg, Cohen und Buber, Freiburg/München 2006, S. 113ff. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik234 Jahre gewachsene Freundschaft immer geprägt von gegenseitiger Anerken- nung und Sympathie. Ich bin sicher, Heinz Paetzold hätte über meine ihm zugedachten Gegenausführungen zur Religion als Offenbarung hinter vorgehaltener Hand – wie es immer seine Art war – augenzwinkernd gelacht und mir bei nächster Gelegenheit mit einem erneuten Gegenentwurf zu einer anthropologisch fundierten Ästhetik als symbolischer Form geantwortet. 2. Einstieg In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts beginnen eine Reihe von jun- gen Denkern – aus ganz verschiedenen Richtungen herkommend – die vor- herrschende Schulphilosophie auf ein neues existentielles Denken hin zu überwinden.12 Zu ihnen gehören Hans Ehrenberg und Franz Rosenzweig, Ernst Bloch und Georg Lukács, Paul Tillich und Eberhard Grisebach, Martin Heidegger und Karl Jaspers. Ihre Denkwege weisen jedoch markante Un- terschiede auf, die nicht nur biographisch bedingt sind, sondern mit ihrer unterschiedlichen Aneignung der philosophischen Tradition zu tun haben, aus denen sich tiefgreifende Konsequenzen für ihr je eigenes Denken ergeben. Auf unser Problem der Religion als symbolische Form und/oder Offen- barung bezogen, möchte ich hier auf die philosophischen Ansätze von Franz Rosenzweig und Karl Jaspers eingehen, die sich ihrerseits mit unterschied- lichen Akzentsetzungen auf Schellings Kritik an Hegels Idealismus rück- beziehen.13 Durch Schellings späte Idealismus- und Hegel-Kritik war die Giganto- machie zwischen den Seins- und den Ideenfreunden, die Platon bereits dialektisch aufgehoben wähnte14, erneut in ungeahnter Differenziertheit und Radikalität entflammt. Eine zeitlang schien Hegel mit seinem philosophischen System des absoluten Idealismus den Sieg für die Ideenfreunde eindeutig und abschließend errungen zu haben. Doch siehe, da erhebt sich sein Ju- gendfreund Schelling, der einst mit ihm gemeinsam den absoluten Systemge- danken verfolgt hatte, und tritt als Idealismuskritiker gegen ihn an. 12 Vgl. Leonard H. Ehrlich, „Neues Denken und Erneuerung der Fundamentalphilosophie“, in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Franz Rosenzweigs „neues Denken“. In- ternationaler Kongreß Kassel 2004, 2 Bde., Bd. I: Selbstbegrenzendes Denken – in philosophos, Bd. II: Erfahrene Offenbarung – in theologos, Freiburg/München 2006, I: 66-78. 13 Siehe Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Bruchstücke zur Dialektik der Philosophie. Stu- dien zur Hegel-Kritik und zum Problem von Theorie und Praxis, Ratingen/Kastellaun/ Düsseldorf 1974; Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Franz Rosenzweig. Existentielles Denken und gelebte Bewährung, Freiburg/München 1991 sowie Wolfdietrich Schmied- Kowarzik, Rosenzweig im Gespräch mit Ehrenberg, Cohen und Buber, Freiburg/Mün- chen 2006. 14 Platon, Sophistes, 246 a ff. Religion als symbolische Form und/oder als Offenbarung 235 Hegel hat – den Grundgedanken des Parmenides dialektisch zu Ende führend – die Einheit von Denken und Sein als die übergreifende Einheit des Denkens über sich selbst und sein Anderes, das Sein, gefasst. Mit diesem absoluten Idealismus glaubt Hegel eine wahrhaft voraussetzungslose Philo- sophie vollendet zu haben, denn sie selbst ist im Nachvollzug aller Gestalten des begriffenen Seins zugleich Selbsterkenntnis des alles durchdringenden absoluten Geistes.15 Aber Hegels Philosophie lebt aus einer Voraussetzung, die sie nicht ein- zuholen vermag, da sie in einer Verleugnung besteht. Denn indem sie sich selbst für voraussetzungslos erklärt, setzt sie voraus, dass nur das Denken sei, das das Sein als seine Prädikation setzt, das es daher auch zu sich als Denken und Sein übergreifenden Geist einzuholen vermag. Damit wird das Sein nicht als das Andere des Denkens, sondern nur als sein Anderes, das vom Denken zu Begreifende und Begriffene gedacht.16 Dieser absolute Idealismus Hegels ist zwar in seiner Dialektik des Übergreifens genial, aber er verleugnet – vom ersten Gedanken an – das Sein in seiner Eigenstän- digkeit des Existierens. Dies eben ist es, worum es Schelling immer schon geht, was er aber erst in seiner Spätphilosophie als Kritik an Hegels ab- solutem Idealismus klar herauszuarbeiten vermag.17 Zwar bleibt das Begreifen der Wirklichkeit in all ihren Gestalten eine wichtige Aufgabe der Philosophie als System, die Schelling als die rein- rationale oder negative Philosophie bezeichnet.18 Aber ein solches Begreifen macht die Wirklichkeit zwangsläufig zu einem Objekt, zu seinem Objekt, d. h. das Denken ist hier von Anfang an das alleinige Subjekt, das alles Seiende als sein Objekt zu sich als umgreifendem Geist einholt – wie dies Hegel durchaus treffend darlegt. Dies kann aber nur eine Umschreibung des Erkennens darstellen, erreicht aber nicht unsere existentiell-praktische Posi- tionsfindung in der geschichtlichen Welt, um die es Schellings positiver Philosophie zu tun ist. Denn als denkende Individuen finden wir uns unvor- denklich in die geschichtliche Existenz geworfen, die sicherlich nicht durch das Denken des Allgemeinen eingefangen werden kann. 15 Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Wissenschaft der Logik, II (Werke 6: 548 ff.), Frank- furt a.M. 1969. 16 G. F. W. Hegel, Wissenschaft der Logik, I (Werke 5: 65 ff.), Frankfurt a.M. 1969. Die Parallelen zu Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen liegen auf der Hand und brauchen daher nicht eigens herausgestellt zu werden. 17 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Zur Geschichte der neueren Philosophie, X: 126 ff. (Sämtliche Werke I-XIV Stuttgart/Augsburg 1856 ff.). Vgl. Wolfdietrich Schmied- Kowarzik, „Von der wirklichen, von der seyenden Natur“. Schellings Ringen um eine Naturphilosophie in Auseinandersetzung mit Kant, Fichte und Hegel, Stuttgart-Bad Cannstatt 1996. 18 F. W. J. Schelling, Philosophische Einleitung in die Philosophie der Mythologie oder Darstellung der reinrationalen Philosophie, XI: 255 ff. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik236 Um dieser unvordenklichen Existenz überhaupt gewahr werden zu kön- nen, muss sich das Denken in einer „Ekstasis“ – wie Schelling sagt – seines vorrangigen Wissen-Wollens begeben, um das Andere der Existenz als das eigentlich absolute Subjekt hervortreten zu lassen und sich von ihm her ver- stehen zu können.19 Erst danach kann sich das Denken wieder erheben und fragen, wie es sein existentielles Sein aus dem Vorrang der Existenz, der sich ereignenden Geschichte, zu erfassen vermag. Dieser positiven Philoso- phie Schellings geht es nicht um ein Begreifen der Welt im Allgemeinen, sondern um unsere je eigene Positionsfindung in der sich ereignenden Geschichte, in der wir uns existentiell vorfinden.20 Beide – Rosenzweig wie Jaspers – sind fasziniert von Schellings Auf- bruch zu einer Existenzphilosophie und verstehen sich durchaus aus der Nachfolge Schellings, doch halten sie Schellings Durchführung seiner posi- tiven Philosophie, die in der Philosophie der Offenbarung21 gipfelt, für miss- lungen, ziehen aber daraus ganz unterschiedliche Konsequenzen. Für Rosen- zweig – hierin seinem Vetter Hans Ehrenberg folgend22 – spielt die Hegel- und Idealismus-Kritik Schellings und damit seine Umkehr von der negativen zur positiven Philosophie die fundierende Rolle in seinem Denken, daher versteht er seinen Stern der Erlösung23 als die Zu-Ende-Führung dessen, was Schellings Philosophie der Offenbarung misslang. Jaspers dagegen würdigt zwar Schellings Anliegen einer positiven Philosophie, die er aber in ihrer Durchführung für gnostische Schwärmerei erachtet, der er eine Philosophie der „Existenzerhellung“ entgegensetzt, die den Offenbarungsglauben auf einen „philosophischen Glauben“ hin zu überwinden versucht.24 19 F. W. J. Schelling, Über die Natur der Philosophie als Wissenschaft, IX: 229 f. 20 Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Sinn und Existenz in der Spätphilosophie Schel- lings, Diss. Wien 1963. 21 F. W. J. Schelling, Philosophie der Offenbarung, XIII und XIV. 22 Hans Ehrenberg, Die Parteiung der Philosophie. Studien wider Hegel und den Kantia- nismus (1911), Essen 1998. 23 Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung (1921), Frankfurt a.M. 1988, seiteniden- tisch mit Band II von Franz Rosenzweig, Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften, Den Haag 1976 sowie Franz Rosenzweig, „Das neue Denken“, in: Franz Rosenzweig, Zweistromland. Kleinere Schriften (Der Mensch und sein Werk. Gesam- melte Schriften, Bd. III) Den Haag 1979. 24 Karl Jaspers, Der philosophische Glaube, München 1948; Karl Jaspers, Der philo- sophische Glaube angesichts der Offenbarung, München 1962 sowie Karl Jaspers, Schelling. Größe und Verhängnis (1955), München 1986. Religion als symbolische Form und/oder als Offenbarung 237 3. Schellings Philosophie der Offenbarung Die positive Philosophie erfüllt sich für Schelling in der Philosophie der Mythologie und der Philosophie der Offenbarung, die Schelling seit 1832 in München und dann ab 1841 in Berlin vorträgt.25 Die Philosophie der Mytho- logie und die Philosophie der Offenbarung stellen Schellings große und großartige Philosophie der Bewusstseinsgeschichte der Menschheit dar, allerdings gleichsam brennpunktartig allein auf das „nothwendig gottset- zende Bewußtsein“ konzentriert. Es geht Schelling hierin um das geschicht- liche Zu-sich-selber-Kommen des menschlichen Bewusstseins, der menschli- chen Freiheit, in seiner Bezogenheit auf das Absolute: im Angesicht Gottes.26 Geschichtliche Philosophie meint hier nicht Vergangenheitserzählung, son- dern Standortfindung für die je eigene gegenwärtige Entschiedenheit mit ihrem Richtungshorizont auf die noch ausständige und in die menschliche Mitverantwortung gestellte Zukunft. Die Philosophie der Mythologie ist von unserer gegenwärtigen Freiheit her gesehen gleichsam als Vorvergangenheit gesetzt. In ihr vergegenwär- tigen wir uns die bewusstlos-naturwüchsige Geschichte menschlichen Be- wusstwerdens, die vorbewusste Geschichte zur Freiheit des Bewusstseins. Die mythologischen Götterwelten und der theogonische Prozess, der sich durch die Mythengeschichte vollzieht, sind keine willkürlichen Erfindungen der Menschen, sondern hier drückt sich ein sehr realer und mächtiger, in seiner Naturwüchsigkeit notwendiger Bewusstseinsprozess aus, in dem die noch nicht zu sich selber gekommenen Bewusstseinspotenzen verselbstän- digt als Götter und Götterkämpfe das menschliche Bewusstsein beherrschen. Nur so ist erklärlich, dass der mythologische Prozess ein kollektives Ge- schehen ist, welches das menschliche Bewusstsein so total okkupiert, dass es zu allen möglichen Formen von Menschenopfern, behexender Magie und religiöser Ekstase getrieben werden kann. Erst in seiner späten Form des Kunstmythos und seiner Verarbeitung in der Tragödie ringt sich das mensch- liche Bewusstsein zur Selbstbewusstwerdung durch, allerdings noch ganz im tragischen Gegensatz zur Übermacht des Schicksals begriffen. Dies ver- deutlicht Schelling an der Gestalt des Prometheus.27 25 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Urfassung der Philosophie der Offenbarung, 2 Bde., hg. v. Walter E. Ehrhardt, Hamburg 1992. 26 F. W. J. Schelling, XII: 119 f. Mit dem „nothwendig gottsetzenden Bewußtsein“ nimmt Schelling nicht nur die Religionskritik von Ludwig Feuerbach vorweg, die er gleich- zeitig kritisch überhöht, sondern bezieht vorwegnehmend auch Ernst Cassirers Be- stimmung der Religion als symbolische Form in seinen Gedankengang ein, gibt ihr aber zugleich eine existentielle Fundierung. Denn alles Bewusstsein ist „nothwendig“ auf ein Existieren bezogen, dem es selbst mit zugehört. Insofern ist das wahrhaft Über- greifende nicht das Denken, sondern die „unvordenkliche Existenz“, in die – ge- schichtlich einbezogen – sich der Mensch denkend und handelnd auszulegen hat. 27 F. W. J. Schelling, Philosophie der Mythologie, XII: 482. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik238 Mit der Philosophie der Offenbarung treten wir in unsere Gegenwart menschlicher Freiheit ein. Die Gestalt, in der uns diese Freiheit bewusst wird, ist – nach Schelling – Jesus von Nazareth.28 In Jesus von Nazareth ist das menschliche Bewusstsein in die völlige Unabhängigkeit seiner Freiheit getreten, und doch setzt es sich dabei nicht absolut, sondern bekennt sich zu seiner Herkunft als Sohn vom Vater. Gerade durch dieses Bekenntnis des Jesus von Nazareth als Freiheitstat, indem er bekennt: ‚nicht ich bin Gott‘, sondern ‚ich bin gesandt vom Vater‘; gerade hierin – so Schelling – wird Jesus zu Christus. „Der Sohn konnte unabhängig von dem Vater in eigener Herrlichkeit existieren, er konnte [...] außer und ohne den Vater Gott, näm- lich Herr des Seins, zwar nicht dem Wesen nach, aber doch actu Gott sein. Diese Herrlichkeit aber, die er unabhängig von dem Vater haben konnte, verschmähte der Sohn, und darin ist er Christus. Das ist die Grundidee des Christentums.“29 Durch diese bleibende Differenz zwischen Vater und Sohn, Gott und Mensch eröffnet sich ein dritter Horizont: der noch ausstehende und uns aufgegebene Horizont der Vereinigung von Vater und Sohn, Gott und Mensch, im Geiste der Liebe. Hiermit treten wir in die Gegenwart unseres Freiheitsbewusstseins ein. Aber es wird noch lange dauern, bis sie wirklich unsere eigene Freiheit sein wird. Dies ist die Geschichte der Nachfolge Christi, d. h. der bewussten Aneignung unserer Freiheit; es ist dies die Geschichte des Christentums, die für Schelling noch nicht abgeschlossen ist. Da ist zunächst einmal die ka- tholische Kirche des Petrus, in der die menschliche Freiheit noch durch die Autorität der Kirche repräsentiert wird und die in ihren Momenten der Christvergessenheit sich selbst als menschliche Institution absolutsetzt und mit grausamen Terror gegen alle ihr nicht Hörigen vorgeht, und da ist zum zweiten die im Protestantismus Gestalt annehmende Kirche des Paulus, in der jeder einzelne für sich in die Freiheit der Nachfolge berufen ist, die in ihren Momenten der Christvergessenheit zur absoluten Selbstherrlichkeit des Menschen mit all seinen Praktiken der Durchsetzung seiner Interessen entartet. In dieser Epoche der Zerrissenheit dieser beiden Gestalten des Christentums stehen wir, aber mit einer Hoffnung und einem Streben auf eine künftige Gemeinde des Johannes hin, die eine philosophische und soli- darische Gemeinschaft der Freiheit und der Liebe sein wird.30 28 Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, „Vom Totalexperiment des Glaubens. Kritisches zur positiven Philosophie Schellings und Rosenzweigs“, in: Wolfdietrich Schmied- Kowarzik, Franz Rosenzweig. Existentielles Denken und gelebte Bewährung, Frei- burg/München 1991. 29 F. W. J. Schelling, Philosophie der Offenbarung, XIV: 37. 30 F. W. J. Schelling, Urfassung der Philosophie der Offenbarung, II: 701ff. Religion als symbolische Form und/oder als Offenbarung 239 4. Jaspers Kritik der Offenbarung Karl Jaspers Kritik an Schellings Philosophie der Offenbarung ist keines- wegs eine Kritik von außen, sondern sie ist eine Kritik, die Schellings Anlie- gen durchaus ernst nimmt, aber deren Misslingen in der Durchführung aufzu- decken versucht. Zunächst unterstreicht Jaspers, dass Schelling keineswegs von einem Offenbarungsglauben ausgehe, also keineswegs als Philosoph eine Wendung zum Theologen des christlichen Glaubens vollzogen habe, um das Christentum nur exegetisch auszulegen. Ausdrücklich betont er viel- mehr, dass die Offenbarung für Schelling nicht als Quelle, sondern als Ge- genstand seines Philosophierens zu verstehen ist.31 Unter Offenbarung als Quelle versteht Jaspers eine „unmittelbare, zeit- lich und räumlich lokalisierte Kundgabe Gottes durch Wort, Forderung, Hand- lung, Ereignis“32. Sie wird begründet und tradiert durch Propheten, Apostel und Priester und sie wird durch Institutionen gesichert, die die religiöse Glau- bensgemeinschaft zusammenhalten. Auf all das beruft sich Schelling nicht, vielmehr strebt er – wie er selber sagt – auf eine noch ausständige „philoso- phische Religion“ hin33, zu der er über seine philosophisch-religionsgeschicht- liche Durchdringung der Mythologie und des christlichen Offenbarungs- glauben zu gelangen hofft. Erst hier setzt die eigentliche Kritik Jaspers’ an, denn so sehr Schellings Philosophie der Mythologie und Philosophie der Offenbarung einerseits eine Pionierleistung für das Verständnis des Mythos und des Christentums dar- stellt, so versteht Schelling doch andererseits die religiösen Aussagen zu sehr als geschichtliche Faktizitäten, anstatt sie als geschichtliche Chiffren für die Transzendenz zu nehmen. Obwohl Schelling selbst seine positive Philosophie als eine „Existentialphilosophie“34 versteht, die über die Ver- nunftwissenschaft der negativen Philosophie hinaus zu einer positiven Sinn- findung des Menschen in seiner geschichtlichen Existenz zu kommen ver- sucht, gelingt es ihm „kaum, aus eigener existentieller Erfahrung eine Chiffer zu finden, die ergriffe“.35 Seine Ausführungen gleiten immer wieder in ein „gnostisches Wissen“ um die „letzten Dinge“ ab. Damit versucht Schelling, wie es ihm bereits als Jüngling – in dem von Franz Rosenzweig 1917 entdeckten „Ältesten Systemprogramm“ (1796) – vorschwebte,36 zur 31 Karl Jaspers, Schelling. Größe und Verhängnis (1955), München 1986, S. 59 und 103. 32 Karl Jaspers, Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, München 1962, S. 49. 33 F. W. J. Schelling, Philosophie der Offenbarung , XIII: 133; Jaspers, Schelling, S. 60, 105. 34 Karl Rosenkranz, Hegels Leben (1844) zit. bei Jaspers, Schelling, S. 98. 35 Karl Jaspers, Schelling, S. 107. 36 „Das ‚älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus’“, in: Christoph Jamme und Helmut Schneider (Hg.), Mythologie der Vernunft, Frankfurt a.M. 1984; siehe Jaspers, Schelling, S. 56. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik240 „Stiftung einer philosophischen Religion“ zu gelangen, die alle Menschen erfasst. Gerade um das Anliegen von Schellings positiver Philosophie zu retten, tritt Jaspers Schellings gnostischer „Stiftung einer philosophischen Reli- gion“37 entschieden entgegen. Eine über die „Vernunftwissenschaft“ bzw. wis- senschaftliche Erkenntnisse hinausgehende existentiell-praktische Positions- findung in der gelebten Geschichte kann nicht wiederum über ein Wissen erreicht werden und führt auch nicht zu einer philosophisch gestifteten Religion. Was ein positives Philosophieren, zu dem Schelling erklärterma- ßen hinstrebt, allein zu leisten vermag, ist eine „Existenzerhellung“ unseres In-der-Welt-Seins, die sich im „philosophischen Glauben“ eines absoluten Sinnzusammenhangs gründend versteht. Beides aber stellt kein Wissen dar, sondern bewegt sich in Chiffren, die zwar unsere Existenz in der Welt und unseren Bezug zur Transzendenz im tiefsten Innern berühren, die wir aber zugleich als schwebende Deutungen einsehen. „Als Existenz denken wir zur Transzendenz hin in Gegenständen, die wir Chiffern nennen. [...] Das Ungenügen aller Chiffern aber zeigt sich darin, daß ich mich an sie nur wie an Bilder oder an Leitfäden im existentiellen Augenblick halten kann, nicht an sie als eine Realität, die als solche mich sichert.“38 In diesem Zusammenhang glaubt Jaspers sich mehr an die Dialektik an- schließen zu müssen, die zwar „bei Hegel am reichsten entwickelt“ ist, sich aber bei ihm zu einem „absolutes Wissen“ versteigt, zu dem die Philosophie jedoch nie zu gelangen vermag, daher bezieht sich Jaspers auf die exis- tentielle Dialektik, wie sie Sören Kierkegaard in Kritik an Hegel entwickelt hat. Gegenüber der vermeintlichen Gewissheit der Offenbarung verbleibt diese dialektische Rede des philosophischen Glaubens in der Schwebe der Chiffren. „Die dialektische Denkweise ist eine Form für die Mitteilung von Chiffern der Transzendenz, die in jener vieldeutigen Schwebe den Men- schen ansprechen, aber ihn nicht sich unterwerfen.“39 Da sich die Philosophie dem Problem der Transzendenz, des Sinnzu- sammenhangs der Existenz, in die wir gestellt sind, nicht entziehen kann, ohne ihr doch habhaft werden zu können, spricht Jaspers von einem „phi- losophischen Glauben“. Aber im Gegensatz zum „Offenbarungsglauben“, 37 Karl Jaspers, Schelling, S. 109 und Karl Jaspers, Der philosophische Glaube ange- sichts der Offenbarung, S. 236. 38 Karl Jaspers, Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung 153 ff. Obwohl Heinz Paetzold nur selten auf Jaspers eingeht, berührt sich sein Anliegen, Cassirers Philosophie der symbolischen Formen stärker anthropologisch zu verankern, durchaus mit Jaspers existenzphilosophischem Ansatz. Dies ließe sich einerseits an den von beiden diskutierten Bereichen der kulturellen „Kommunikation“ und der „Geschicht- lichkeit“ verdeutlichen und andererseits gerade auch an Heinz Paetzolds Bestimmung der Religion als symbolischer Form zeigen, die Jaspers’ Umschreibung der „geschicht- lichen Chiffren“ des Religiösen sehr nahe kommt. 39 Karl Jaspers, Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, S. 181. Religion als symbolische Form und/oder als Offenbarung 241 der „meint, die Handlungen Gottes im Sichoffenbaren zum Heil der Men- schen zu kennen“, weiß dieser philosophische Glaube „nicht von Gott, son- dern hört nur die Sprache der Chiffern. Gott selbst ist ihm eine Chiffer.“40 Für den Philosophen kann es keine Offenbarung als geschichtlich ereig- nende Kundgabe Gottes geben, weder die Selbstbenennung Gottes „Ich werde sein, der ich sein werde“ noch die Menschwerdung Gottes können von der Philosophie anders gedeutet werden als Offenbarwerdungen des Tran- szendenten im Menschen. In diesem Sinne sagt Karl Jaspers: „Die Christus- religion enthält die Wahrheit, daß Gott zum Menschen durch Menschen spricht, aber Gott spricht durch viele Menschen, in der Bibel durch die Reihe der Propheten, in der als letzter Jesus steht; kein Mensch kann Gott sein; Gott spricht durch keinen Menschen ausschließend, durch jeden auch noch vieldeutig.“41 5. Rosenzweigs Neubestimmung der Offenbarung Ganz anders und viel entschiedener knüpft Franz Rosenzweig an Schellings Spätphilosophie an, obwohl auch er betont, dass Schelling die Durchführung seines genialen Projekts nicht gelingt. Mit den beiden ersten Teilen des Stern der Erlösung42 versucht Rosenzweig das einzulösen, was Schelling mit der Umkehr von der negativen zur positiven Philosophie intendierte.43 Ähnlich wie Schelling mit seiner negativen Philosophie führt auch Ro- senzweig im ersten Teil des Stern eine Selbstbegrenzung der Philosophie durch. Diese sich selbst begrenzende Bescheidung philosophischen Denkens führt zu einer Umkehr des gesamten philosophischen Denkens, die Schel- ling als die Wende von der negativen zur positiven Philosophie gekenn- zeichnet hat. Die negative oder „reinrationale Philosophie“ kann immer nur das Strukturell-Allgemeine begreifen, ohne das Natur, Mensch und Gott nicht nicht gedacht werden können, aber die sich existentiell ereignende Wirklichkeit, in die wir selbst geschichtlich mit einbezogen sind, bleibt ihr ein „Wunder“, das sie nicht zu fassen vermag. Im „Übergang“ zum zweiten Teil vollzieht das Denken „eine Wendung [...], eine Umkehr“ von der rein- rationalen Philosophie, die voraussetzungslos alles aus sich heraus ableiten 40 Karl Jaspers, Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, S. 196. 41 Karl Jaspers, Der philosophische Glaube, S. 80. Vgl. Leonard Ehrlich, Karl Jaspers: Philosophy as Faith, Amherst 1975. 42 Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung (1921), Frankfurt a.M. 1988. 43 Franz Rosenzweig, Briefe und Tagebücher, S. 701 sowie Franz Rosenzweig, Stern der Erlösung, S. 19 f.. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik242 will, hin zu einem Denken, das das geschichtliche Ereignen in seinen Sinn- dimensionen verstehend zu ergründen versucht.44 Wenn Rosenzweig in der Einleitung zum zweiten Teil „Über die Mög- lichkeit das Wunder zu erleben – in theologos!“ von einem Wunder spricht, so ist damit nichts gemeint, was der philosophischen Welterkerkenntnis in ihrer strukturellen Allgemeinheit widerspricht, sondern vielmehr dieses vor- gängige Existieren der sich geschichtlich ereignenden Wirklichkeit selbst, in welche wir uns als Denkende unvordenklich einbezogen vorfinden, ist das Wunder. So liegt die Offenbarung im weitesten Wortsinn darin, dass diese geschichtliche Existenz, in die wir einbezogen sind, sich durch unsere Sinn- deutungen hindurch als Sinnzusammenhang offenbart und wir existentiell in ihm zu uns selbst zu finden vermögen.45 Der entscheidende Punkt ist hier- bei, dass die Sinndeutungen zwar als symbolische Formen begriffen, zu- gleich aber in ihrer Ermöglichung als Gaben, als unfassliche Wunder, ver- standen werden müssen. Das Wunder geschichtlicher Wirklichkeit, in das wir existierend gestellt sind und das wir uns in seiner Sinnhaftigkeit zu erschließen versuchen, ist ein dreifaches: das kreatürliche Dasein der Schöpfung, die sprachliche Sinnerschlossenheit der Offenbarung und die sittliche Orientiertheit auf ein Reich der Erlösung hin. In ihnen erschließt sich unsere Existenz dreifach zeitlich: als fortwährende Vergangenheit, als sich erneuernde Gegenwart und als aufgegebene Zukunft.46 So wie das Wunder der Schöpfung an ihrem immerwährenden „Schon-da-sein“ erfahren wird, so ereignet sich das Wun- der der Offenbarung in der „allzeiterneuerten Gegenwart“ der Sprache, im Miteinander-sprechen-Können der Menschen, und das Wunder der Erlösung wird ewig erwartet im „Kommen des Reichs“, der wir durch die Taten der Nächstenliebe zuzustreben suchen, deren Erfüllung jedoch nicht in unserer Macht allein liegt. Nur gemeinsam bilden diese drei Dimensionen die Grund- lage der Geschichtlichkeit der menschlichen Existenz und umreißen die Sinn- horizonte menschlichen Wirkens und Hoffens in der Geschichte. Diesem zeitlichen In-die-Bahn-Gestelltsein begegnet das „neue Denken“ – wie Ro- 44 Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Rosenzweig im Gespräch mit Ehrenberg, Cohen und Buber, Freiburg/München 2006, S. 27ff. 45 Franz Rosenzweig, Stern der Erlösung, S. 174. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Franz Rosenzweig. Existentielles Denken und gelebte Bewährung, Freiburg/München 1991, S. 56ff. 46 Franz Rosenzweig, Stern der Erlösung, S. 134, 194, 269. Vgl. Leonard H. Ehrlich, „Rosenzweigs Begriff der Zeitigung aus den Quellen des Judentums“, in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Der Philosoph Franz Rosenzweig (1886–1929). Internatio- naler Kongreß Kassel 1986, 2 Bde., Bd. I: Die Herausforderung jüdischen Lernens, Bd. II: Das neue Denken und seine Dimensionen, Freiburg/München 1988, Bd. II, S. 731-744. Religion als symbolische Form und/oder als Offenbarung 243 senzweig in Anlehnung an Schelling formuliert – als erfahrendes, als erzäh- lendes und als geschichtliches Denken.47 Im Zentrum der menschlichen Sinnfindung in seiner geschichtlichen Existenz pulsiert die Sprache als lebendige Stätte aller Offenbarung und Offenbarwerdung. „[D]ie Sprache, wie sie von Anfang an ganz da, ganz geschaffen ist, erwacht doch erst in der Offenbarung zur wirklichen Leben- digkeit. Und so ist nichts an dem Offenbarungswunder neu, nichts ein zau- berhafter Eingriff in die erschaffene Schöpfung, sondern ganz ist es Zeichen, ganz Sichtbarmachung und Lautwerdung der ursprünglich in der stummen Nacht der Schöpfung verborgenen Vorsehung, ganz – Offenbarung. […] Das Wort des Menschen ist Sinnbild: jeden Augenblick wird es im Munde des Sprechers neu geschaffen, doch nur, weil es von Anbeginn an ist und jeden Sprecher, der einst das Wunder der Erneuerung an ihm wirkt, schon in seinem Schoße trägt. Aber dies ist mehr als Sinnbild: das Wort Gottes ist die Offenbarung, nur weil es zugleich das Wort der Schöpfung ist. Gott sprach: Es werde Licht – und das Licht Gottes, was ist es? Des Menschen Seele.“48 Damit hat Rosenzweig gefunden, wonach Jaspers vergebens suchte, als er schrieb: „Wäre es möglich Offenbarung als solche zur Chiffer werden zu lassen, dann würde eine Wandlung des Offenbarungsglaubens einsetzen.“49 Dies erfüllt sich jetzt durch Rosenzweig und es gelingt ihm damit nicht nur für sein eigenes Werk Der Stern der Erlösung eine neue philosophisch-theo- logische Ausdrucksform „existentieller Erfahrung“ zu finden, die Jaspers bei Schelling zu Recht vermisste, sondern es wirft auch ein neues Licht auf Schellings Philosophie der Offenbarung, die wir dadurch tiefer verstehen und würdigen können, als dies Jaspers vermochte. 6. Philosophischer Glaube Während es Rosenzweig im zweiten Teil des Stern der Erlösung gelingt, dem Offenbarungsbegriff eine grundlegend philosophisch-theologische Deu- tung zu geben, mit der er Jaspers vorweg zu antworten vermag, so gerät er mit dem dritten Teil des Stern doch wieder in die Schusslinie der Kritik Jaspers’, denn Rosenzweig stellt sich hier in die immanente Gewissheit der jüdischen und der christlichen Glaubensgemeinschaften, d. h. er spricht hier aus dem Selbstverständnis des „Offenbarungsglaubens“ der Juden und Chris- ten, ohne die Chiffrenhaftigkeit seiner Rede mit zu reflektieren. Verschärfend 47 Die Berührungspunkte zwischen Franz Rosenzweig und Karl Jaspers sind frappant. Zu den Differenzen zwischen Franz Rosenzweig und Martin Heidegger siehe Wolf- dietrich Schmied-Kowarzik, Rosenzweig im Gespräch mit Ehrenberg, Cohen und Buber, S. 197ff. 48 Franz Rosenzweig, Stern der Erlösung, S. 122 f. 49 Karl Jaspers, Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, S. 505. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik244 kommt hinzu, dass Rosenzweig nur den Juden und Christen einen Offenba- rungsglauben zubilligt, währende er alle anderen Glaubensgemeinschaften – inklusive der Glaubensgemeinschaft des Islam – als heidnische Religionen abtut, die erst für den Offenbarungsglauben zu gewinnen sind. Im ersten Kapitel dieses dritten Bandes „Das Feuer oder das ewige Le- ben“ – dem Innenbereich des Davidsterns – geht Rosenzweig auf das durch die Zwiesprache mit Gott bestimmte Leben der Juden ein. Dem jüdischen Volk ist durch Gott offenbart, dass es ewig sein Volk ist. Und daraufhin ist auch der Kreislauf der Feste und Gebete bestimmt und durchdrungen von der Verheißung, das eine, das ewige Volk zu sein.50 Dieses Herausgehoben- sein aus dem geschichtlichen Weltlauf drückt sich in der Liturgie der jüdi- schen Jahresfeste aus. Sie alle verweisen auf Offenbarungsereignisse des Volkes Israel, die in ihrer Folge den Bund Gottes mit seinem Volk bezeugen, beschwören und damit als ewigen Bund immer wieder neu besiegeln. Ganz anders ist das Leben und die Liturgie der christlichen Völker be- stimmt, auf die Rosenzweig im zweiten Kapitel „Die Strahlen oder der ewige Weg“ zu sprechen kommt – die äußeren Strahlen des Davidsterns, die in das Dunkel der heidnischen Welt hinausweisen. „Die Christenheit muß missionieren. [...] Ja, das Missionieren ist ihr geradezu die Form der Selbst- erhaltung. Sie pflanzt sich fort, indem sie sich ausbreitet.“51 Anders als das Judentum, das an das ewige Leben eines Volkes gebunden ist, ist das Chris- tentum eine über alle Völker ausgreifende Gemeinschaft der Glaubenden, die an Christus glauben und ihm nachfolgen. Daher wendet sich das Chris- tentum an jeden als Glaubenden, und es kann sich nur durch den Glauben jedes einzelnen und seine zeugnisgebende Weitergabe hindurch fortpflan- zen. Auf Jesu Christi Erdenwandel bezieht sich die Liturgie aller christ- lichen Jahresfeste. Sie verweisen auf Christus als den Vermittler des neuen Bundes der Glaubenden mit Gott. Nach dieser Kennzeichnung der Gegensätze zwischen Juden und Chris- ten aber kommt das Entscheidende: das Angebot einer jüdisch-christlichen Partnerschaft über das unaufhebbar Trennende hinweg. Weder im jüdischen Glauben, der im verheißenen ewigen Leben des jüdischen Volkes wurzelt, noch im christlichen Glauben, dem die Erlösung aus der Nachfolge des ewigen Wegs verheißen wird, liegt bereits die ganze Wahrheit, denn diese liegt allein bei Gott52 – dies ist das Fazit des dritten Kapitels „Der Stern oder die ewige Wahrheit“. Beide – der Jude und der Christ – können aneinander ihre Grenze und ihren Halt erfahren, auch nach jüdischer Lehre kann das Reich der Erlösung erst kommen, wenn alle Welt und alle Völker zurück- gekehrt sind zu Gott, und auch für die christliche Lehre bleibt das Volk Israel bis dahin Zeuge des alten Bundes mit Gott. So sind beide – Juden wie 50 Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, S. 331. 51 Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, S. 374 ff. 52 Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, S. 423. Religion als symbolische Form und/oder als Offenbarung 245 Christen – getrennt in der Erfüllung je ihres Auftrags und doch gegenseitig aufeinander angewiesen, damit sich ihr Auftrag erfülle. Nur wechselweise sind sie Garanten ihrer Verheißungen – nur gemeinsam sind sie der von Gott entzündete, feurig-strahlende Stern der Erlösung.53 Sicherlich findet Rosenzweig hier eine großartige Vision für den jü- disch-christlichen Dialog, wie er zu seiner Zeit nur im kleinen Freundeskreis möglich war und nach der Shoa in Europa zwischen den christlichen Kir- chen und der jüdischen Kultusgemeinde erst schrittweise in Gang gekom- men ist, aber er behandelt dabei die Glaubensinhalte der Juden und Christen – und nur dieser beiden Glaubensgemeinschaften – als Realitäten. Dies aber ist – nach Jaspers – dem Philosophen verwehrt, für ihn können alle Glau- bensbilder immer nur Chiffren sein. Rosenzweigs Aussage, dass nur bei Gott die ganze Wahrheit sei, an der die Juden und die Christen nur je ihren Anteil haben, ist als Chiffre genommen und auf alle Glaubensgemeinschaften be- zogen, eine unglaublich tiefsinnige Einsicht, die mit Jaspers Aussage von der „Unmöglichkeit, Gott zu erkennen, und die Unumgänglichkeit, ihn zu denken“, harmoniert.54 Aber als Realität genommen, die nur den Juden und den Christen offen- bar geworden ist, steckt darin nicht nur eine Provokation für alle ausge- schlossenen Glaubensgemeinschaften, sondern dies zu akzeptieren ist auch für den „philosophischen Glauben“ – wie Jaspers sagen würde – „eine Un- möglichkeit“. Unzweideutig spricht dies Jaspers bezogen auf die Grundfeste des Christentums aus: Jesus ist nicht der Gottmensch Christus. „Der mensch- gewordene Gott Christus ist philosophisch unmöglich, während Jesus als einzigartige Chiffer sprechen kann.“ Jesus als Mensch ist eine Chiffer des Menschseins „Die Wirklichkeit des Menschen Jesus ist eine unvergleich- liche, einzige Chiffer der Möglichkeit des Menschen vor seinem Gott.“ Er ist nicht eine Offenbarung Gottes, aber über ihn kann uns etwas offenbar werden.55 Auf das Judentum übertragen, kann man genauso sagen, dass der Bund, den Gott mit dem Volk Israel schließt, als Realität eine philosophische Un- möglichkeit ist, dass aber in der Auserwähltheit des Volkes Israel eine Chiffre impliziert ist, die darin besteht, dass es das Volk Israel war, in dem geschichtlich die Einzigkeit Gottes offenbar wurde und dass das Volk Israel dieser Chiffre von der Einzigkeit Gottes die Treue hält, bis dereinst alle Menschen und Völker zu diesem Gottesgedanken gefunden haben.56 53 Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, S. 462 f. 54 Karl Jaspers, Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, S. 386. 55 Karl Jaspers, Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, S. 225 ff, 500 ff. 56 Siehe hierzu Hermann Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums (1919), Darmstadt 1966, S. 39; vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Rosenzweig im Gespräch mit Ehrenberg, Cohen und Buber, Freiburg/München 2006, S. 127. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik246 7. Schlussbemerkung Der Philosoph – darauf pochte Jaspers zu Recht – kann sich niemals einer bestimmten Konfession unterwerfen. Er kann sehr wohl die religiösen Chiff- ren des einen oder anderen Glaubens verstehend zu durchdringen versuchen und von daher sich dem einen oder dem anderen Glauben verbundener füh- len, aber sie stellen für ihn niemals Realitäten dar, die vor aller philoso- phischen Reflexion gelten. In diesem Punkt fühlt Jaspers sich Schelling verwandt, der mit seiner Philosophie der Offenbarung die mythologischen und die christlichen Glaubensinhalten philosophisch zu durchdringen versuchte. Allerdings will Schelling sodann doch zu viel, wenn er sich bemüht diese philosophische Einsicht zu einer „philosophischen Religion“ zu verdichten, die zwar an- knüpft an die bestehenden Konfessionen, aber eine alle Menschen errei- chende und erfassende höhere Form von Religion darstellen soll, denn er vermengt hiermit – so Jaspers – philosophisches und religiöses Denken. Rosenzweig dagegen, so würde Jaspers monieren, wenn er den dritten Teil des Stern der Erlösung gekannt hätte, fällt doch wieder, nachdem er im zweiten Teil des Stern in großartiger Weise zu einer neuen philosophisch- theologischen Rede von Schöpfung, Offenbarung und Erlösung gefunden hat, die das, was Jaspers „Existenzerhellung“ nennt, sogar noch an Differen- ziertheit übertrifft, in die Glaubensgewissheit einer Konfession – genauer gesagt: zweier Konfessionen – zurück. Auch hier bei Rosenzweig liegt – von Jaspers her gesehen – ein zu unkritisches Überschreiten der „Schwelle“ von Philosophie zur Theologie vor. Dem philosophischen Glauben, wie ihn Jaspers versteht, ist es verwehrt, die Glaubensinhalte einer Religion anders zu verstehen als Chiffren für die Transzendenz. Die Geborgenheit in der Gewissheit einer geschichtlich ge- wachsenen Glaubensgemeinschaft bleibt dem Philosophen versagt, er kann sich weder aus ihr begreifen noch in sie hinein bewähren, er bleibt mit und vor seinem Gott allein. Hier gibt es durchaus Bezüge zwischen Ernst Cassirer und Karl Jaspers, aber der Bezug zu Gott muss dabei doch als mehr als bloß eine symbolische Form des menschlichen Geistes erfasst werden, denn mit Gott ist das Absolute angesprochen, in dem der menschliche Geist gründet und von dem her er all sein Handeln gerichtet weiß. Dies strebt auch Heinz Paetzold mit seiner über Cassirer hinausgehenden Frage nach der Realität der symbolischen Formen an, aber ohne Rückgriff auf Rosenzweigs Dis- kussion der Offenbarung wird dies – so glaube ich – nicht zu erreichen sein. Auch der Philosoph versteht sein Denken auf eine zu bewährende Praxis bezogen, doch deren Horizont liegt nicht in den Grenzen einer Konfession, sondern in der sittlichen Bewährung des Menschseins, die er mit Blick auf die ganze Menschheit mit allen Gleichgesinnten vor Gott zu bewähren hat. Erstaunt stellt sich der Philosoph angesichts der Begrenzungen der Glau- bensgemeinschaften die Frage: Gehören wir nicht alle als Menschen dem Religion als symbolische Form und/oder als Offenbarung 247 auserwählten Volk an und sind wir nicht alle in die Sohnschaft zu vollbrin- gender Nächstenliebe gerufen? Gerade deshalb fällt dem Philosophen noch eine besondere Aufgabe zu. Jede Glaubensgemeinschaft bleibt im letzten auf sich selbst bezogen und grenzt sich von allen anderen ab. Es waren immer Philosophen, die die Übersetzungsarbeit über die Glaubensgrenzen hinweg leisteten und Verständ- nis und Akzeptanz der Glaubensgemeinschaften füreinander einklagten. In diesem Projekt interkultureller und interreligiöser Verständigung wussten Heinz Paetzold und ich uns verbunden57 und daran wollten wir auch noch in den kommenden Jahren arbeiten. Dies hat sein plötzlicher Tod vereitelt. 57 Heinz Paetzold und Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Interkulturelle Philoso- phie (Philosophische Diskurse 9), Weimar 2007. Anhang Philosophie des operativen Eingriffs Praktische Konsequenzen einer nochmaligen Transformation der transformierten Transzendentalphilosophie Ein Gespräch mit Heinz Paetzold1 Harald Lemke: Zu Deinen Arbeiten zählen zahlreiche Aufsätze und Bücher über Ästhetik und kritische Theorie im weitesten Sinne. Versucht man Dei- nen theoretischen Hintergrund zu erfassen, so finden sich sowohl Bezüge zur Marxistischen Philosophie wie auch zur Philosophie der Postmoderne. Du thematisierst Phänomenologie und Anthropologie genauso wie eine materia- listische Kapitalismuskritik. Gleichzeitig scheinen uns Deine Arbeiten doch einen roten Faden zu haben, der sich seit Deinen Studententagen fort spin- nen lässt; könntest Du dazu etwas Einführendes sagen und uns Deine theo- retische Herkunft verraten? Heinz Paetzold: Mein theoretischer Ausgangspunkt ist Karl-Otto Apels Idee einer Transformation der Transzendentalphilosophie.2 Diese will ich noch ein zweites Mal transformieren. Apel hat die Kantische Transzendentalphilo- sophie transformiert, indem er die traditionelle Subjekt-Objekt-Relation der Erkenntnistheorie durch eine Intersubjektivitätsrelation erweitert hat. Dadurch hat Apel im Kern schon den Schritt zu einer Sozialphilosophie vollzogen, aber mir scheint, dass eine zweite Transformation der transformierten Tran- szendentalphilosophie nötig ist, um das, was man „soziale Lebenswelt“ nennt, genauer bearbeiten zu können; also, vom Subjekt aus gesprochen: die Be- reiche des Emotionalen, des Sensitiven und der Affekte. Kurz das, was man unter dem Stichwort einer anthropologischen und phänomenologischen Fun- dierung der transformierten Transzendentalphilosophie verstehen kann. Damit befinde ich mich in gewisser Weise auch in Übereinstimmung mit früheren Intentionen von Apel. 1 Das Gespräch mit Heinz Paetzold führen Roger Behrens und Harald Lemke am 14. Februar 1992 in Hamburg. 2 Vgl. Heinz Paetzold, Ästhetik der neueren Moderne. Sinnlichkeit und Reflexion in der konzeptionellen Kunst der Gegenwart, Stuttgart 1990, S. 11 ff., sowie Heinz Paetzold, „Der Mensch“, in: Ekkehard Martens/Herbert Schnädelbach (Hg.), Philosophie. Ein Grund- kurs, Reinbek bei Hamburg 1985, S. 473 ff. Philosophie des operativen Eingriffs252 Roger Behrens: Inwiefern siehst Du denn schon beim frühen Apel das, was Du die anthropologische und phänomenologische Fundierung nennst, an- gelegt? Paetzold: Mir geht es hierbei um das, was Apel das Leibapriori nannte. Nach Apel besteht die transformierte Transzendentalphilosophie aus zwei Polen, nämlich aus dem Leibapriori einerseits, womit die Bedingungen der Mög- lichkeit des konkreten Handelns gemeint sind, und dem Bewusstseinsapriori andererseits, was die Bedingung der Möglichkeit von Reflexion von einge- nommenen Handlungsperspektiven bedeutet. Lemke: Dein Interesse ist also, die von Apel vorgenommene Transformation der transzendentalphilosophisch begründeten, theoretischen wie praktischen Vernunft auch unter dem Blickwinkel einer „ästhetischen Vernunft“ zu ver- längern, oder? Paetzold: Richtig, das ist die eine Perspektive, die es eben ästhetisch auf- zuwerten gilt. Die andere zielt darauf, die konkreten Bedingungen des Han- delns besser fassen zu können. Letzteres scheint mir doch ein Punkt zu sein, der bei Apel weitgehend ausgeblendet ist. Hierbei versuche ich, eine Rück- bindung an die Programmatik von Marx wieder herzustellen, und zwar so- wohl in Bezug auf das Mensch-Natur-Verhältnis angeht, wie auch in Bezug auf den daraus resultierenden Arbeitsbegriff: Marx definiert in den Früh- schriften den Menschen ja als ein die ganze Natur ein- und ausatmendes leibliches Wesen, das sich sowohl zu seiner eigenen Natur wie auch der ihm umgebenen Natur in Kontakt bringen muss. Überdies halte ich die Unter- scheidung Marxens von konkreter und abstrakter Arbeit nicht für überholt. Mir scheint nicht, dass das Produktionsparadigma schon vollständig abdan- ken darf, wie es etwa von Habermas behauptet wird. Behrens: Die nochmalige Transformation der Transzendentalphilosophie, die Du nun vorschlägst, vollzieht sich, wie Du es ja schon in der Neomarxisti- schen Ästhetik anvisierst hast, über das Ästhetische. Doch wie sieht denn eine Aktualisierung der Marxschen Theorie durch eine ästhetische Transformation genau aus? Droht hier nicht die Gefahr der Ästhetisierung beziehungsweise Totalisierung der Ästhetik? Paetzold: Ich will keineswegs auf eine Totalisierung der Ästhetik hinaus. Viel- mehr geht es mir darum, die Ästhetik als Konkretionsinstanz für Selbstverstän- digungsprozesse der Kommunikation und der Arbeit einzuführen. Mir scheint, dass die Marxschen Vorstellungen von abstrakter und konkreter Arbeit auch in Hinblick auf das Ästhetische beziehungsweise die ästhetische Erfahrung wichtig ist: Was konkrete Arbeit ist, müsste sich auch unter dem Aspekt der künstlerischen, bildnerischen oder musikalischen Arbeit fassen lassen. Ein Gespräch mit Heinz Paetzold 253 Behrens: Kritisch führt uns das allerdings zu der Frage, welche gesellschaft- lichen Konsequenzen solche um das Ästhetische erweiterte konkrete Arbeit hätte. Diese Frage berührt den Status der heute avancierten Kunst: sie ist kaum noch in den Kategorien des hegelschen Werkbegriffs beschreibbar; vielmehr ist sie konzeptuell in soziale Bewegungen eingebunden. Nichts- destotrotz hat aber auch diese sich ins Soziale einmischende Kunst weiterhin durch Galerien und Museen begrenzten Aktionsraum. Und das ist das alte Problem der Avantgarde. Paetzold: Ja, eine Thematik, die in der Vergangenheit aber auch schon von der Avantgarde selbst bearbeitet wurde; auch von Benjamin, von Marcuse und in bestimmter Weise sogar von Adorno ist das aufgegriffen worden. Interes- sant ist doch, dass wir von der heutigen, sagen wir: postmodernen Kunst aus diesem Problem wieder begegnen; und ich schlage vor, die aktuelle Kunst darauf zu prüfen, inwieweit bei ihr der Produktionsaspekt zum Vorschein kommt. Es gibt die Kunst, bei der dieser Produktionsaspekt ja geradezu ver- schleiert werden soll – glatte Fassaden, glatte Oberflächen und der Gebrauch von Material, dem man nicht mehr ansieht, was es ist –, wo also die Wahrnehmung auf das rein Optische reduziert wird. Aber es gibt auch schon Strömungen, die gerade von dem Produktionsaspekt ausgehen und ihn stark machen – man denke an die Arbeiten von Beuys. Behrens: Allerdings ist Beuys gerade mit seiner Definition der Kunst als soziale Plastik nicht unproblematisch: Abgesehen von den diskutablen po- litischen Intentionen, die sich dahinter verbergen, bleibt auch diese Kunst- Konzeption im Bereich des Kulturbetriebs und vermag eben nicht die ästhe- tische Erfahrung in gesellschaftliche Praxis zu übersetzen. Andererseits lässt sich gerade an solcher Kunst noch einmal grundsätzlich diskutieren, ob nicht das Ästhetische, die ästhetische Erfahrung und die künstlerische Praxis gegen die Gesellschaft und ihre entfremdeten und verdinglichten Handlungsformen verteidigt werden muss. Marcuse macht das stark, aber vor allem Adorno in seiner Ästhetischen Theorie. Paetzold: Adorno hat die moderne Kunst als eine Hermetisierung gedeutet, also gerade als eine Abschirmung gegenüber der Totalität der Gesellschaft. Und er hat gemeint, dass nur in dieser Abschirmung gegenüber der Gesell- schaft die Möglichkeit liegen könnte, dass die Kunst auch Anspruch der Ex- ponierung eines Wahrheitsgehaltes erheben kann. Und das scheint mir aller- dings in der ganzen Postmoderne-Diskussion aufgebrochen zu sein. Wir haben es ja durchaus mit Künstlern zu tun, die im Sinne Benjamins als operative Künstler verstanden werden können,3 die ihre Kunstäußerungen zur sozialen 3 Walter Benjamin entfaltet den Begriff des operierenden Schriftstellers in: „Der Autor als Produzent“, in: Gesammelte Schriften Bd. II.2, Frankfurt a.M. 1991, S. 686. Philosophie des operativen Eingriffs254 Thematik in Beziehung setzen, insofern nämlich der Ort der Vermittlung von Kunst selbst zum Thema gemacht wird: etwa die Dominanz von Museen, von Galerien, wie auch der exklusive Zugang zur Kunst über die Kunstwissen- schaft. Lemke: Das heißt, dass sich die philosophische Theorie der Ästhetik mehr und mehr nicht nur vom Werkbegriff und dessen emphatischen Wahrheitsbegriff zu lösen hat, sondern die gesamte Ästhetik zu einer Ästhetik der Lebens- praxis transformiert werden müsste. Um hier auf Adorno zurückzukommen: Bei der Lektüre seiner Ästhetischen Theorie kann man sich des Eindruckes nicht erwehren, dass Adorno den Werkbegriff autonomer Kunst geradezu hypostasiert. Mit Deiner philosophischen Aufwertung des Ästhetischen scheinst Du, über Adorno hinausgehend, die philosophische Theorie der Äs- thetik wieder für das avantgardistische Programm einer Verwirklichung des Künstlerischen in der Gesellschaft öffnen zu wollen. Das allerdings auf Kos- ten des von Adorno verteidigten Autonomieanspruchs des künstlerischen Werkes. Paetzold: Ich thematisiere das Ästhetische in drei Perspektiven. Die erste verweist auf die unmittelbare Anknüpfung an Adorno und damit auf das Ästhetische, das zu autonomen Werken führt. Sicherlich sind solche Werke über die gesellschaftlichen Institutionen von Galerien und Museen ver- mittelt. Dennoch gibt es mehr oder weniger geglückte Werke und Werkzu- sammenhänge, die eben nicht mehr auf das singuläre Werk beschränkt sind, sondern in Zyklen und größeren Arbeitszusammenhängen operieren. Hierbei wird die zweite Perspektive berührt, nämlich die Sphäre der avantgardisti- schen Kunstäußerungen. Die dritte Perspektive orientiert sich an dem, was ich mit dem Stichwort der Revitalisierung der Urbanität bezeichnen möchte. Behrens: Gleichwohl bündeln sich diese Perspektiven im großen Thema der Urbanität. Lemke: Zumindest zeigt sich in Bezug auf die neuen Tendenzen in der Ar- chitektur, dem partizipatorischen Bauen und dem kritischen Regionalismus ein Zusammentreffen dieser drei Perspektiven. Paetzold: Ja, das stimmt. Im Fokus der Urbanität ist das Ästhetische eine Komponente neben anderen Faktoren, die die Ökonomie, Städteplanung oder politische Strukturen betreffen. Und im „geglückten Fall“ – etwa im Fall des partizipatorischen Bauens – kommt es zu einer Verschränkung von ästheti- schen Gesichtspunkten und Gesichtspunkten der Praxis der Gestaltung der Lebenswelten. Was hier passiert, ist ein Zusammenspiel zwischen dem Ex- pertentum der Architekten mit Aktivitäten von politischen Bewegungen. So haben zum Beispiel Erfahrungen in Amsterdam bei Stadtteilerneuerungen Ein Gespräch mit Heinz Paetzold 255 gezeigt, dass das immer Faktoren sind, die aufeinander abgestimmt sein müs- sen: neben partizipationswilligen Architekten muss auch der Druck von der Straße bestehen. Was sich hier konstituieren kann, sind andere Formen des Dialogs. Gerade wo sich heute die Architektur für den Städtebau wieder öffnet, geht es doch darum anzuerkennen, dass die konkreten Bereiche des urbanen Lebens betroffen sind. Hier würde es eben nicht um eine Ausdiffe- renzierung der Bereiche gehen, mit einer strikt getrennten Expertenkultur und der so genannten Laienkultur, sondern die Überlappung der verschiede- nen Kulturen müsste forciert werden. Behrens: Da siehst Du also eine Möglichkeit, den exklusiven Zugang zur Kunst dadurch zu öffnen, indem das Ästhetische in die Alltagserfahrung im- plementiert wird? Paetzold: Seit Baumgarten liegt ja ein großer Bereich von Fragen der sinn- lichen Erkenntnis vor, der längst nicht mehr auf eine Fachdiskussion be- schränkt bleibt, sondern über Zeitschriften sich an ein großes Publikum wen- det. Das fing seinerzeit schon mit der von Baumgarten herausgegebenen Brie- fen eines Wahrheitsliebenden an,4 mit denen er sich gerade an Menschen wandte, die nicht im akademischen Bereich standen, und das waren zur da- maligen Zeit natürlich Frauen. Behrens: Durchaus nimmt das postmoderne Denken solche aufklärerischen Motive wieder auf: Derart die Frage des Ästhetischen, nämlich durchaus auch übersetzt als eine politische Frage, wieder in den Horizont der alltäglichen Erfahrung geholt zu haben – im Übrigen eben mit Rückgriff auf die Anfänge der philosophischen Ästhetik bei Baumgarten und Burke – ist auch ein Verdienst einer Postmoderne, wie es etwa von Jean-François Lyotard vertei- digt wird. Aber es gibt auch die andere, „schlechte“ Postmoderne, welche die Ideologie der Moderne pervertiert fortführt. Dafür finden sich meines Erach- tens in der so genannten postmodernen Architektur zahlreiche Beispiele: monströse und monumentale Bauten, die erschlagend wirken und in keines- wegs das realisieren, was unter dem Stichwort des kritischen Regionalismus verstanden wird. Vielmehr scheint hier die Maxime des Funktionalismus ver- kehrt worden zu sein, als function follows form. Paetzold: Der kritische Regionalismus, wie er unter anderen von Kenneth Frampton konzeptionell durchdacht wurde, ist gerade eine Antwort auf die Herausforderung der Postmoderne und versucht in der Postmoderne eine Di- mension der Architektur, die sich gegen die regressiven Tendenzen wendet, 4 Baumgarten gab 1741 von Frankfurt an der Oder aus in verschiedenen Städten als Wo- chenblatt die „Philosophischen Briefe des Aletheophilus“ heraus, in denen er auf Deutsch veröffentlichte. Philosophie des operativen Eingriffs256 die mit „erhabenen“ Bauwerken auch verbunden sein können, weil eben die Postmoderne in der Regel nicht vom Gebrauch her denkt. Ein Beispiel ist James Stirlings Museumsbau in Stuttgart, der mehr oder weniger Einschüch- terungsästhetik ist – das Erhabene erfüllt hier also mehr oder weniger eine unterdrückende Funktion. Aber daneben gibt es eben gerade die kritisch-re- gionalistische Konzeption des Museums, oder überhaupt des urbanen Ortes. Gerade die Umstände einer jeweiligen Region werden architektonisch zur Geltung gebracht. Und das heißt die Architekten müssen an Künstleraktivi- täten und Künstlerinitiativen anschließen können. Behrens: Solche Anschlüsse finden sich aber doch auch bei noch-modernen Konzeptionen funktionalistischer Architektur. Du verweist in diesem Zu- sammenhang auf einen labyrinthischen Funktionalismus von Aldo van Eyck. Paetzold: Ja, das ist ein reflektierter Funktionalismus, der die Einseitigkeiten und auch die Hypostasierungen des klassischen Funktionalismus durchschaut und zu vermeiden versucht. Hier geht es darum, dass die architektonische Form unterschiedliche und vielfältige Formen des Gebrauches zulässt, um auszuprobieren, wie Menschen mit den Bauwerken umgehen können. Lemke: Das heißt also praktisch, dass die „neoavantgardistische“ Architek- tur mit der klassischen Avantgarde in dem Sinne bricht, dass sie den Dialog mit dem Adressaten ihrer Architektur sucht. Paetzold: Das ist das Stichwort des partizipatorischen Bauens. Lemke: Wie lässt sich das nun auf soziale Lebenswelt und deren ästhetischer Erfahrung übertragen? Paetzold: Bauen ist eine Form der Gestaltung der Lebenswelt. Und die Fehler der klassischen Avantgarde sind freilich zu vermeiden. Zwar hat schon Le Corbusier gesehen, dass die Architekten immer auch als operative Intellek- tuelle wirken müssen. Das ist auch in die Programmatik der CIAM einge- gangen. Man wusste bereits, dass Architektur politisch durchdacht sein und sich zur Stadt hin öffnen muss. Aber bei Le Corbusier und dem klassischen Funktionalismus ist der Zusammenhang zwischen Architektur und Stadt verkürzt, weil nämlich der Architekt nur in der Gestalt des Experten auftritt und nicht fähig ist, in einen wirklichen Dialog mit den späteren Nutzern der Gebäude einzutreten. Lemke: Das wäre dann, wie Du es einmal formuliert hast, die „Erneuerung der Gesellschaft durch eine ästhetisch gelenkte Praxis“, auch in Bezug auf die Revitalisierung von Sinn und Sinnlichkeit in der Lebenswelt. Doch ich bin da nicht so optimistisch, was ein solches sinnliches Potential der Lebenswelt Ein Gespräch mit Heinz Paetzold 257 angeht: Wir erfahren meines Erachtens permanent das Gegenteil. Wir sind doch völlig depraviert von Sinneserfahrungen, geradezu terrorisiert und umstellt von medialen und künstlich (nicht künstlerisch) erzeugten Sinneseindrücken, die uns systematisch abstumpfen. Wie soll da eine Sensibilisierung, ge- schweige denn eine ästhetisch angeleitete Umwälzung noch möglich sein? Paetzold: Nun, ich denke da an Henri Lefebvre, der in seiner Stadttheorie immer von Residuen ausgegangen ist, die dem System nicht ganz erliegen, dass es also noch Bereiche gibt, die vom politischen oder administrativen System nicht vollständig erfasst werden können. Lemke: Nun kann man mit Foucaults Machtanalyse dem entgegenhalten, dass selbst unsere Sinne und Körper diszipliniert sind. Paetzold: Auch ich gehe davon aus, dass die Sinne verstümmelt sind. Nun könnte es gerade die Funktion der Kunst sein, die Potentiale der Sinne über- haupt erst freizulegen. Das muss sich allerdings mit einem politischen Ge- staltungswillen verknüpfen. Behrens: Marcuse hat unter dem Stichwort „Neue Sensibilität“ in seinem Essay on Liberation ähnlich argumentiert; und einmal mehr finden sich hier auch Berührungspunkte zu Lyotard, der sein Konzept der Intensitäten ja mit dem – von Merlau-Ponty geborgten – „Patchwork der Minderheiten“-Kon- zept verknüpft. Paetzold: Die Stoßrichtung der Überlegung von Lyotard liegt ja darin, dass wir nicht mehr von einem einzigen politischen Zentrum ausgehen dürfen – und können. Vielmehr geht Lyotard davon aus, dass wir heute mit einer Viel- falt nebeneinander bestehender Neuen Sozialen Bewegungen rechnen müs- sen, die sich durch feministische, ökologische oder stadtteilorientierte Be- wegungen kennzeichnen lassen. Gerade mit diesem Potential ist noch etwas zu machen, weil diese Bewegungen die bestehenden politischen Institutio- nen anfechten und nicht mehr darauf setzen, innerhalb der Institutionen zu konsensfähigen Mehrheit zu kommen; sonst landet man bei politischen Kom- promissen oder der üblichen Planungsbürokratie. – Gleichzeitig braucht es aber, um noch einmal auf Lefebvre zu verwiesen, Residuen. Um auf unser Beispiel der Architektur und urbanen Bewegung zurückzukommen: solche Residuen wäre etwa Reste einigermaßen geglückter Stadtstrukturen, welche die Akteure vorfinden müssen, um überhaupt handlungsfähig zu sein. Das bleibt der Ausgangspunkt, und in dieser Hinsicht scheint mir auch die ästhe- tische Dimension wichtig zu sein, nämlich dass ästhetisch sensibilisierte Menschen – das müssen nicht unbedingt Künstler sein – für die Logik einer Situation empfänglich sind. Hierbei geht immer auch um Formen des sozia- len Lernens, um den Abbau von Vorurteilsstrukturen. Ich möchte nur darauf Philosophie des operativen Eingriffs258 verweisen, dass es in der Amsterdamer Hausbesetzer-Szene so etwas wie Ausländerfeindlichkeit gar nicht gibt, weil schon der Impuls ein ganz an- derer ist, indem es immer schon um Integration der sozialen Gruppen unter- schiedlicher Herkunft geht. Das sind operative Eingriffe. Behrens: Hier greift wohl das, was oben auch schon von Dir als „operativer Künstler“ bezeichnet wurde und sich allgemein dann mit dem Begriff des „operativen Intellektuellen“ fassen lässt. Ich sehe in diesem Begriff, ganz im Sinne von Benjamin und Tretjakow, übrigens die Möglichkeit, die Differen- zen zwischen dem „universellen Intellektuellen“, wie er nach Foucaults An- sicht durch Sartre, aber auch Adorno und Horkheimer verkörpert wird, und dem „spezifischen Intellektuellen“, als welchen sich Foucault selbst verortet hat, beizulegen. Paetzold: Der operativ und operationell Handelnde ist erst einmal jemand, der sich in alle möglichen Sachen einmischt, soweit es geht. Eine Katastro- phenperspektive, wie sie bei Adorno und Horkheimer zu verzeichnen ist, ist die eine Seite der Medaille. Was nun die philosophische Perspektive betrifft, so greift hier die ästhetische Sensibilisierung, von der wir eben sprachen: sie ist eine wichtige Voraussetzung für ein anderes Verhalten der äußeren Natur gegenüber und kann unter Umständen auch in eine veränderte praktische Beziehung des Menschen zur äußeren Natur führen. Es ist ja schon bei Marx angesprochen, dass der moderne Kapitalismus seine Basis in der Natur suk- zessive zerstört. Hier haben wir dann auch den Bogen zum Gesprächsaus- gang gefunden, indem jetzt noch einmal der Aspekt der Freisetzung des Leiblichen angesprochen ist. Damit würde man zu einer Verbindung kom- men von Ästhetik zur Naturphilosophie, oder Naturästhetik. Das ist auch ein Punkt, an dem ich arbeite: zunächst einmal von der Ästhetik ausgehend, einen Blick auf alle anderen philosophischen Disziplinen zu werfen. Es geht also um eine Vermittlung der Ästhetik mit der politischen Philosophie, bezie- hungsweise Sozialphilosophie, die sich immanent vollziehen muss. Solche Vermittlung berührt den ästhetischen wie auch politischen Begriff der Kon- zeption. Dieser hat letztlich die Funktion, die Übertragung oder die Vermitt- lung von ästhetischer Erfahrung zur Lebenswelt zu lenken. Was konzeptio- nell durch Kunst erfahrbar wird, ist gleichzeitig auch für die Gestaltung der Lebenswelt, der konkreten Umwelt, ein Transfer. Ich denke, dass heute nicht von der universellen Geltung, wie das die Diskursethik behauptet, ausgegan- gen werden kann, sondern dass von Gruppen Systeme angefochten werden, deren Aktionen lediglich eine Beispielfunktion haben können; und das heißt: Anfechtungen von Systemen also, die ihre Sprengkraft darin finden, dass sie für andere Beispiel sein könnten. Schriftenverzeichnis von Prof. Dr. Heinz Paetzold Bücher Neomarxistische Ästhetik, 2 Bde., Bd. I: Bloch, Benjamin, Bd. II: Adorno, Marcuse (mit einem Vorwort von Karl-Otto Apel), Düsseldorf: Schwann 1974. (Teile des Buches wurden ins Amerikanische übersetzt und in der Zeitschrift International Journal of Sociology 1977, S. 25-75, publiziert. 1993 wurde das Buch ins Chinesische übersetzt. Die Übersetzung eines Teiles des Kapitels über Benjamin ins Polnische erschien in: Anna Zeid- ler-Janieszewka (Hg.), Drobne rysy w ciaglej katastrofie, Warszawa 1993, S. 159-168). Ästhetik des deutschen Idealismus. Zur Idee ästhetischer Rationalität bei Baum- garten, Kant, Schelling, Hegel und Schopenhauer, Wiesbaden: Steiner 1983. Ästhetik der neueren Moderne. Sinnlichkeit und Reflexion in der konzeptio- nellen Kunst der Gegenwart, Stuttgart: Steiner 1990. Profile der Ästhetik. Der Status von Kunst und Architektur in der Postmo- derne, Wien: Passagen Verlag 1990. Ernst Cassirer zur Einführung. Hamburg: Junius Verlag 1993, 2. erweiterte Auflage. Hamburg: Junius Verlag 2003. (Übersetzung ins Koreanische 2000) The Discourse of the Postmodern and the Discourse of the Avant-Garde. A Series of ten Lectures concerning the Link between Social Philosophy and Aesthetics under the Conditions of Postmodernity, Maastricht: Jan Van Eyck Akademie 1994. Die Realität der symbolischen Formen. Die Kulturphilosophie Ernst Cas- sirers im Kontext, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994. Ernst Cassirer – Von Marburg nach New York. Eine philosophische Biogra- phie, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995. The Symbolic Language of Culture, Fine Arts and Architecture, Trondheim: FF Edition 1997. Symbol, Culture, City. Five Exercises in Critical Philosophy of Culture, Maastricht: Jan Van Eyck Akademie 2000. Postfunktionalistischer Urbanismus und gelebter Raum. Zwei Texte von Heinz Paetzold, hg. von Daniel Behrens und Roger Behrens, Hamburg: Kat- zenberg Verlag 2012. Schriftenverzeichnis Heinz Paetzold260 Herausgeber und Mitherausgeber A. G. Baumgarten, Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema perti- nentibus. Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichts, übersetzt und mit einer Einleitung herausgegeben von Heinz Paetzold, Hamburg: Meiner Verlag 1983. Modelle für eine semiotische Rekonstruktion der Geschichte der Ästhetik, herausgegeben und eingeleitet von Heinz Paetzold, Aachen: Rader 1987. Ik geef me zelf de horizon. Kunstenaarsteksten tussen theorie en filosofie, Amsterdam: Uitgeverij Perdue 1992 (zusammen mit K. Aarts, M. Bu- walda, P. de Nijs, A. van Staveren, A. Tilroe). Ornament und Geschichte. Studien zum Strukturwandel des Ornaments in der Moderne. (Beiheft zur Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunst- wissenschaft, Bd. 2), Bonn: Bouvier 1996 (zusammen mit Ursula Franke). City Life: Essays on Urban Culture, Maastricht: Jan Van Eyck Editions 1997. International Yearbook of Aesthetics, im Auftrag der International Asso- ciation for Aesthetics, Volume 3, 1999; Internet: http://davinci.ntu.ac.uk/ iaa/index.htm Issues in Contemporary Culture and Aesthetics, biannual philosophical journal, Maastricht: Jan Van Eyck Akademie 1995–1999 (zusammen mit Nadežda Čačinovič). 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Cassirer, (= Cassirer-Forschungen Band 1), Hamburg: Meiner 1995, S. 156-176. „Kultur und Gesellschaft bei Adorno“, in: Gerhard Schweppenhäuser (Hg.), Soziologie im Spätkapitalismus, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchge- sellschaft 1995, S. 119-133. „Profile und Aktualität der romantischen Kunstphilosophie“, in: JTLA (Jour- nal of the Faculty of Letters, The University of Tokyo, Aesthetics), Vol. 20, 1995, S. 31-42. „Das neue Interesse an einer Ästhetik der Natur“, in: Jörg Zimmermann (Hg.), Ästhetik und Naturerfahrung, Stuttgart-Bad Cannstadt: From- mann-Holzboog 1996, S. 43-58. „Perspectives of an Intercultural Philosophy of Culture with Reference to Said’s ‚Orientalism‘ and Watsuji’s ‚Fudo‘“, in: Issues in Contemporary Culture and Aesthetics, No. 3, 1996, S. 47-57. „The Status of the Image“, in: Jon Thompson (Ed.), Towards a Theory of the Image, Maastricht: Jan Van Eyck Akademie Editions 1996, S. 92-107. „Die Bedeutung von Merleau-Pontys Theorie der Sinne für die Ästhetik“, in: Aesthetics, Nr. 7, 1996, ed. by the Japanese Society for Aesthetics, Tokyo, S. 11-25. „Der Funktionswert des Ornaments in den urbanistischen Diskursen der Renaissance und der Aufklärung“, in: Ursula Franke und Heinz Paetzold (Hg.), Ornament und Geschichte, Bonn. Bouvier 1996, S. 155-171. „Socio-cultural reflections on the ,pure gaze‘: Bourdieu and beyond“, in: Issues in Contemporary Culture and Aesthetics, Nr. 4, 1996, S. 5-15. Schriftenverzeichnis Heinz Paetzold266 „Mythos und Moderne in der Philosophie der symbolischen Formen Ernst Cassirers“, in: A. Zeidler-Janiszewska (Ed.), Epistemology and History. Humanities as a Philosophical Problem and Jerzy Kmita’s Approach to it, Amsterdam, Atlanta, GA: Rodopi 1996, S. 429-439. „Die symbolische Ordnung der Kultur. Ernst Cassirers Beitrag zu einer Theorie der Kulturentwicklung“, in: D. Frede/R. Schmücker (Hg.), Ernst Cassirers Werk und Wirkung. Kultur und Philosophie, Darmstadt: Wis- senschaftliche Buchgesellschaft 1997, S. 163-184. „How to Bridge the Gap Between the Philosophy of Art and the Aesthetics of Nature: A Systematic Approach“, in: Issues in Contemporary Culture and Aesthetics, Nr. 5, 1997, S. 5-16. „The Philosophical Notion of the City“, in: Heinz Paetzold (Ed.), City-Life: Essays on Urban Culture, Maastricht: Jan Van Eyck Editions 1997, S. 8- 37. (Wiederabdruck in: M. Miles, T. Hall and I. Borden (Eds.), The City Cultures Reader, London and New York: Routledge 2000, S. 204-220. „Fiedler und Cassirer“, in: Stefan Majetschak (Hg.), Auge und Hand. Kon- rad Fiedlers Kunsttheorie im Kontext, München: Fink 1997, S. 209-219. „Het belang van het symbolische denken voor een filosofie van de cultuur“, in: De Uil Van Minerva, 1997, Vol. 13, Nr. 3, S. 151-166. „Kunst und Reflexion“, in: Birgit Recki und Lambert Wiesing (Hg.), Bild und Reflexion, München: Fink 1997, S. 193-209. „Multiculturalism. The Politics of Recognition“, in: Issues in Contemporary Culture and Aesthetics, Nr. 6, 1997, S. 25-35. „Adorno’s Notion of Natural Beauty: A Reconsideration“, in: T. Huhn L. Zuidervaart (Eds.), The Semblance of Subjectivity. Essays in Adorno’s Aesthetic Theory, Cambridge Mass., London/England: MIT Press 1997, S. 213-235. „Kulturelle Differenz und Multikulturalität. Ein Kernproblem der Kultur- philosophie“, in: JTLA (Journal of the Faculty of Letters. The University of Tokyo, Aesthetics), No. 7, 1998, S. 15-28. „The City as Labyrinth. Walter Benjamin and Beyond“, in: Issues in Con- temporary Culture and Aesthetics, Nr. 7, 1998, S. 15-28. „Die Frage nach Ernst Cassirers Neukantianismus mit Blick auf Cohen und Natorp“, in: Christian H. Krijnen und Ernst Wolfgang Orth (Hg.), Sinn, Geltung, Wert. Neukantianische Motive in der modernen Kulturphilo- sophie, Würzburg: Königshausen&Neumann 1998, S. 219-235. „The Role of the Intellectual in Postmodern Culture“, in: J. van Toorn (Ed.), Design Beyond Design, Maastricht: Jan Van Eyck Editions 1998, S. 35-47. „(On) Symbolic Matters“, in: Issues in Contemporary Culture and Aesthe- tics, Nr. 8, 1998, S. 13-26. „Perspektiven einer kritischen Kulturphilosophie“, in: Heinz Eidam, Frank Hermenau und Dirk Stederoth (Hg): Kritik und Praxis. Zur Problematik menschlicher Emanzipation. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik zum 60. Geburtstag, Lüneburg: zu Klampen 1998, S. 247-256. Schriftenverzeichnis Heinz Paetzold 267 „The Relevance of the Faculty of Judgment for Political Philosophy“, in: Issues in Contemporary Culture and Aesthetics, Nr. 9, 1999, S. 17-28. „Ästhetische Erfahrung als Einheit von Sinnlichkeit und Reflexion“, in: D. Neuhaus und A. Mertin (Hg.), Wie in einem Spiegel ... Begegnungen von Kunst, Religion, Theologie und Ästhetik, (= Arnoldshainer Texte, Bd. 109), Frankfurt a.M.: Haag und Herchen 1999, S. 87-112. „Die soziale Mentalität von Bildern“, in: Wie in einem Spiegel ... Begegnun- gen von Kunst, Religion, Theologie und Ästhetik, (= Arnoldshainer Texte, Bd. 109), Frankfurt a.M.: Haag und Herchen 1999, S. 113-117. „Ernst Cassirers Theorie der politischen Mythen und Edward W. Saids ‚Orientalism‘“, in: Loccumer Protokolle 30/98, hg. von W. Vögele, Loc- cum 1999, S. 24-48. „Globalisierung und Stadtkultur“, in: Gerhard Schweppenhäuser und Jörg H. Gleiter (Hg.), Paradoxien der Globalisierung, Weimar: Verlag der Bauhaus-Universität Weimar 1999, S. 36-56. „Zentrum, Peripherie, Zone, Globalisierung. Umrisse einer zeitgenössi- schen Kritischen Philosophie der Stadtkultur“, in: Thesis, Wissen- schaftliche Zeitschrift der Bauhaus-Universität Weimar, 4./5. Heft, 2000, 46. Jg, S. 90-103. „Die Bedeutung von Kants Dritter Kritik für die politische Philosophie in der Postmoderne. Zu Hannah Arendts Lektüre der ‚Kritik der Urteils- kraft‘ als Kants Politische Philosophie“, in: Ursula Franke (Hg.), Kants Schlüssel zur Kritik des Geschmacks. Ästhetische Erfahrung heute – Studien zur Aktualität von Kants ‚Kritik der Urteilskraft‘ (Sonderheft des Jahrgangs 2000 der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunst- wissenschaft), Hamburg: Meiner 2000, S. 189-208. „Labyrinth und Ornament in Walter Benjamins ‚Passagen-Werk‘“, in: Gé- rard Raulet und Burghart Schmidt (Hg.), Vom Parergon zum Labyrinth. Untersuchungen zur kritischen Theorie des Ornaments, Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2001, S. 231-241. „Simmels Rahmen und Derridas Parergon. Ein Beitrag zur Kulturphiloso- phie des Ornamentalen in der Moderne“, in: Gérard Raulet und Burghart Schmidt (Hg.), Vom Parergon zum Labyrinth. Untersuchungen zur kriti- schen Theorie des Ornaments, Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2001, S. 243-265. „F. E. Walthers Kunstkonzeption in kulturphilosophischer Perspektive“, in: Roger Behrens, Kai Kresse, Ronnie M. Peplow (Hg.), Symbolisches Flanieren. Kulturphilosophische Streifzüge. Festschrift für Heinz Paetzold zum 60., Hannover: Wehrhahn Verlag 2001, S. 322-329. „Walter Benjamin and the Urban Labyrinth“, in: Filozofski Vestnik, Volume XXII, Number 2, 2001, ed. by A. Erjavec, S. 111-126. „Arendt en Kant. Politieke filosofie in een cultuurfilosofisch kader“, in: A. van den Braembussche en Maurice Weyembergh (red.), Hannah Arendt. Vita activa versus vita contemplativa, Budel: Damon 2002, S. 63-83. Schriftenverzeichnis Heinz Paetzold268 „Von der Multikulturalität zur Interkulturalität“, in: Wolfdietrich Schmied- Kowarzik (Hg.), Verstehen und Verständigung. Ethnologie – Xenologie – Interkulturelle Philosophie. Justin Stagl zum 60. Geburtstag, Würzburg: Königshausen&Neumann 2002, S. 343-358. „Die Religion in der Kultur. Ernst Cassirer und die Idee einer Kritischen Kulturphilosophie“, in: H. Deuser und M. Moxter (Hg.), Rationalität der Religion und Kritik der Kultur. Hermann Cohen und Ernst Cassirer, Würzburg: Echter 2002, S. 155-174. „Symbol and Culture: Cassirer’s Concept“, in: G. Foss and E. Kasa (Eds.), Forms of Knowledge and Sensibility. Ernst Cassirer and the Human Sciences, Kristiansand S. Norwegian Academic Press 2002, S. 33-56. „Culture and Critique: Cassirer and the Frankfurt School“, in: G. Foss and E. Kasa (Eds.), Forms of Knowledge and Sensibility. Ernst Cassirer and the Human Sciences, Kristiansand S.: Norwegian Academic Press 2002, S. 57-77. „Nachwort – Ornament und Moderne?“ In: Jörg H. Gleiter, Rückkehr des Verdrängten. Zur kritischen Theorie des Ornaments in der architektoni- schen Moderne, Weimar: Verlag der Bauhaus-Universität Weimar 2002, S. 372-380. „Adorno and Heidegger in-/outside postmodern culture“, in: Dialogue and Universalism, 11/12, 2003, S. 67-81. „Bataille und die Perspektive einer kritischen Kulturphilosophie“, in: trans- gression/excès. Schauspielprojekt nach Georges Batailles, Hamburg März 2003. „Geschichte und Geschichtsphilosophie in Ernst Cassirers ‚Philosophie der symbolischen Formen‘“, in: Françoise Lartillot et all., Ernst Cassirer Geist und Leben, Paris: L’Harmattan 2003, S. 131-150. „Aesthetics and the Challenge of Globalization“, in: International Yearbook of Aesthetics, Vol. 8, 2004, S. 125-140. „Integrale Stadtkultur. Perspektiven einer kritischen Kulturphilosophie der Stadt“, in: Heinz Paetzold (Hg.), Integrale Stadtkultur (Philosophische Diskurse 7), Weimar: Verlag der Bauhaus-Universität Weimar 2006, S. 4-12. „Phänomenologie der Kultur des Flanierens“, in: Heinz Paetzold (Hg.), Integrale Stadtkultur, (Philosophische Diskurse 7), Weimar: Verlag der Bauhaus-Universität Weimar 2006, S. 48–77. „Die Stadt als Labyrinth“, in: Heinz Paetzold (Hg.), Integrale Stadtkultur (Philosophische Diskurse 7), Weimar: Verlag der Bauhaus-Universität Weimar 2006, S. 78–102 (deutsche Fassung von „The City as Labyrinth. Walter Benjamin and Beyond“, in: Issues in Contemporary Culture and Aesthetics, Nr. 7, 1998, S. 15–28). „Tetsuro Watsujis Fudo und die interkulturelle Philosophie“, in: Heinz Paetzold und Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Interkulturelle Philosophie, (Philosophische Diskurse 9), Weimar: Verlag der Bauhaus-Universität Weimar 2007, S. 178-204. Schriftenverzeichnis Heinz Paetzold 269 „Die Bedeutung von Benjamins Städtebildern für eine Theorie der integralen Stadtkultur“, in: Zeitschrift für kritische Theorie 26/27 (2008), S. 141-157. „Anfänge Hegels in Japan“, in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik und Heinz Eidam (Hg.): Anfänge bei Hegel. Für Helmut Schneider zum 70., (Kas- seler Philosophische Schriften – NF 2), Kassel: kassel university press 2009, 165-179. „Schellings ästhetischer Absolutismus heute“, in: Heinz Paetzold und Hel- mut Schneider (Hg.): Schellings Denken der Freiheit. Wolfdietrich Schmied- Kowarzik zum 70. Geburtstag (Kasseler Philosophische Schriften – NF 3), Kassel: kassel university press 2010, 149-168. „Symbolische Formen als Wissensmedien“, in: U. Büttner, M. Gehring, M. Gatterbarm, L. Herzog, M. Hoch (Hg.), Potentiale der symbolischen For- men, Würzburg 2011. „Phänomenologie der Kultur des Flanierens“, in: Kunstforum International 218 – Der urbane Blick, Ruppichteroth 2012, S. 104-115. „Grundzüge des postfunktionalistischen Urbanismus mit Blick auf die HafenCity“, in: Heinz Paetzold, Postfunktionalistischer Urbanismus und gelebter Raum. Zwei Texte von Heinz Paetzold, hg. von Daniel Behrens und Roger Behrens, Hamubrg: Katzenberg Verlag 2012, S. 3-19. „Gelebter Raum, geometrischer Raum, Raum in der Kunst“, in: Heinz Paetzold, Postfunktionalistischer Urbanismus und gelebter Raum. Zwei Texte von Heinz Paetzold, hg. von Daniel Behrens und Roger Behrens, Hamburg: Katzenberg Verlag 2012, S. 21-40. „Theorie der Erfahrung von Atmosphären offener städtischer Räume“, in: Christiane Heibach (Hg.), Atmosphären. Dimensionen eines diffusen Phä- nomens, München: Fink Verlag 2012, S. 229-246. Lexikonartikel Die Artikel über Erasmus von Rotterdam, Jean Bodin und Claude Adrien Helvétius, in: The Cambridge Dictionary of Philosophy, ed. by R. Audi, Cambridge New York Melbourne: The Cambridge University Press, S. 77f., 238f., 321. Der Artikel über Ernst Cassirer, in: Deutsche Biographische Enzyklopädie, hg. von W. Killy, München New Providence London Paris: K. G. Saur 1995, Band 2, S. 294. „Synästhesie“, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlen- stedt, Burckhart Steinwachs und Friedrich Wolfzettel, Stuttgart: Metzler 2003. Band 5. „Urbanismus“, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sie- ben Bänden, hg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlen- stedt, Burckhart Steinwachs und Friedrich Wolfzettel, Stuttgart: Metzler 2005. Band 6, S. 281-311. Schriftenverzeichnis Heinz Paetzold270 Interviews/Gespräche „Leitmotiv und Warenzeichen. Über die Allegorese des Postmodernen. Ein Philosophengespräch zwischen Josef Haslinger, Heinz Paetzold, Gérard Raulet und Burghart Schmidt“, in: Burghart Schmidt, Postmoderne – Strategien des Vergessens, Berlin, Neuwied 1986; überarbeitete Neuauf- lage Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1994, S. 187-197 „Die Philosophie des Operativen Eingriffs“, Harald Lemke und Roger Beh- rens im Gespräch mit Heinz Paetzold, 1992 [vorgesehen für die Zeit- schrift Spuren, nicht erschienen, aufgenommen in diesem Band] „Die Zweideutigkeit der symbolischen Formen. Ein Gespräch mit dem Philosophen Heinz Paetzold über die Aktualität Ernst Cassirers“, in: [Matthias Schmitz], Frankfurter Rundschau, Nr. 269: 18. November 1995, S. ZB 2 Vorträge (als Audio oder Video verfügbar) „Theorie der Erfahrung von Atmosphären offener städtischer und geschlos- sener Räume“, 3. Juni 2011: ZKM Tagung: Atmosphären erleben. Di- mensionen eines diffusen Phänomens, 3. bis 5. Juni (im Internet: http:// tagung.medienepistemologie.de/14-0-Theorie-der-Erfahrung.html) „Theorie der Erfahrung von Atmosphären offener städtischer und ge- schlossener Räume“, dasselbe als Radiofeature, gesendet am 4. Juli 2012, 14.00 bis 15.00 Uhr, im Rahmen der Freibaduniversität, Freie Sender Kombinat Hamburg (93.00 MHz) Vorträge aus jüngster Zeit „Ästhetik in Japan. Graf Kukis Analyse von Iki als Prinzip einer städtischen Ästhetik“ (7. Dezember 2011, Kunsthochschule Kassel) „Europa…“ (April 2012 in Dubrovnik) „The Concept of Politics in Kant’s Toward Perpetual Peace“ „A New Model of Critical Political Philosophie. Empire and the Question of Democracy“ „Theorizing the Relationship between Individualization and Socialization in such a Way that Both are put on Equal Footing“ (Referring to Tetsuro Watsuji) „Foucault’s Aesthetics of Existence and the Ethics of Authenticity“ „The Origins of Landscape Painting: An Interculturel Perspective“ „The Aesthetics of City Strolling“ „Aesthetics of Urban Design“ „Defining the City“ Schriftenverzeichnis Heinz Paetzold 271 Festschrift für Heinz Paetzold (2001) Symbolisches Flanieren. Kulturphilosophische Streifzüge. Festschrift für Heinz Paetzold zum 60., hg. von Roger Behrens, Kai Kresse, Ronnie M. Peplow, Hannover: Wehrhahn Verlag 2001, 336 S. Mit Beiträgen von Roger Behrens, Gernot Böhme, Hauke Brunkhorst, Nadežda Čačinovič, Reinhard Gerstmeier, Birgit Halgmann, Michaela Hinsch, Heinz Kimmerle, Kai Kresse, Ton Lemaire, Harald Lemke, Michael Lingner, Ram-Adhar Mall, Tanehisa Otabe, Ronnie M. Peplow, Gérard Raulet, Ken-ichi Sasaki, Burghardt Schmidt, Wolfdietrich Schmied- Kowarzik, Gerhard Schweppenhäuser, Hermann Schweppenhäuser, Peter Spielmann, Franz Erhard Walther und mit einem Beitrag von Heinz Paetzold. Zu den Autoren Roger Behrens (*1967), Autor und Lehrbeauftragter an verschiedenen bundesdeut- schen Universitäten. Abschluss des Studiums bei Heinz Paetzold Anfang der neun- ziger Jahre in Hamburg mit einer Arbeit über den Kulturindustrie-Begriff. Zahlreiche Publikationen zur kritischen Theorie der Gesellschaft, Kultur und Ästhetik. Mitheraus- geber der Testcard. Beiträge zur Popgeschichte, Redakteur der Zeitschrift für kriti- sche Theorie, regelmäßige Sendungen beim FSK (Freies Sender Kombinat, Hamburg). Veröffentlichungen (in Auswahl): Pop Kultur Industrie. Zur Philosophie der po- pulären Musik (Würzburg 1996); Die Diktatur der Angepassten. Texte zur kritischen Theorie der Popkultur (Bielefeld 2003); Adorno ABC (Leipzig 2003; türkische Über- setzung: Istanbul 2011); Postmoderne (Hamburg 2004, 22008); Cultural Studies (Ham- burg im Erscheinen); Posturban – Die Stadt nach der Stadt (Mainz im Erscheinen). Prof. Joseph Bien PhD (*1936), professor of philosophy specializing in the writings of Marx, Lukacs and Merleau-Ponty. Counted among his writings are volumes on Marx’s Philosophical Anthropology, Ricoeur's Social and Political Essays, and the English translation of Merleau-Ponty’s Adventures of the Dialectic. He is currently completing a volume on Georg Lukacs’ social ontology. He did his doctoral work 1968 in Paris under the direction of Paul Ricoeur and teaches at the University of Missouri. He has also taught at the Universities of Texas, Texas A&M, Wichita State U, Lille 3 (France), Hubei University (China), Lucien Blaga (Romania), and Univer- sity of the Western Cape (South Africa). Joseph Bien is also a director of the Social Philosophy course held annually in Dubrovnik Croatia. Selected publications: „Politics of the Present: Machiavellian Humanism“ (1981); History, revolution, and human nature: Marx's philosophical anthropology (1984); „Ricoeur as Social Philosopher“ (1995); „Merleau-Ponty on the Intellectual and Action“ (2001); „Hegel’s Need of Philosophy“ (2007); „Sartre on Freedom, Fatalism and the Other“ (2008). Prof. Dr. Hauke Brunkhorst (*1945) Professor für Sociology an der Universität Flens- burg: Institut für Soziologie, Theodor-Heuss-Professor at the New School for Social Research New York/NY 2009–2010. Publikationen (in Auswahl): Legitimationskrisen. Verfassungsprobleme der Welt- gesellschaft (Baden-Baden 2012); La Revoluzione Giuridica Di Hans Kelsen E Altri Saggi (Torino 2010); Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte – Kommentar (Frankfurt a.M. 2007); Solidarity. From Civic Friendship to a Global Legal Community (Cambridge/London 2005); Demokratie in der Weltgesellschaft (Son- derband 18 der Zeitschrift Soziale Welt, Baden-Baden 2009); Habermas Handbuch (zus. mit Regina Kreide und Cristina Lafont, Stuttgart 2009); Rechts-Staat. Hans Kelsens Rechts- und Staatsverständnis (zus. mit Rüdiger Voigt, Baden-Baden 2008). Dr. Sarhan Dhouib (*1974), Studium der Philosophie an der Universität Sfax (Tune- sien) und Paris 1 Panthéon-Sorbonne. 2008 Promotion zu Schellings Identitätsphi- Zu den Autoren 273 losophie an der Universität Bremen. Seit Januar 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie an der Universität Kassel. Forschungsschwerpunkte: Kant und der Deutsche Idealismus, insbesondere Schellings Philosophie, Politische Philo- sophie, Philosophie der Menschenrechte, klassische und moderne arabische Philoso- phie, Interkulturelle Philosophie. Veröffentlichungen (in Auswahl): Arabisch-islamische Philosophie der Gegen- wart (Gasteditor, Concordia. Internationale Zeitschrift für Philosophie, 59/2011); Wege in der Philosophie. Geschichte – Wissen – Recht – Transkulturalität (Hg., mit A. Jür- gens, Velbrück Wissenschaft 2011); Kultur, Identität und Menschenrechte. Transkul- turelle Perspektiven (Hg., 2012, Velbrück Wissenschaft). Prof. Dr. Heinz Eidam (*1959), Gymnasiallehrer in Treysa und apl. Professor an der Universität Kassel. Arbeitsschwerpunkte: Kant und der Deutsche Idealismus, Kri- tische Theorie, Moralphilosophie/Ethik, Sozial- und Geschichtsphilosophie, Bildungs- philosophie/Philosophie der Erziehung, Didaktik der Philosophie. Publikationen (in Auswahl): Discrimen der Zeit. Zur Historiographie der Moderne bei Walter Benjamin (Würzburg 1992); Strumpf und Handschuh. Der Begriff der nicht- existenten und die Gestalt der unkonstruierbaren Frage – Walter Benjamins Verhält- nis zum Geist der Utopie Ernst Blochs (Würzburg 1992); Dasein und Bestimmung. Kants Grund-Problem (Berlin/New York 2000); Moral, Freiheit und Geschichte. As- pekte eines Problemzusammenhangs (Würzburg 2001); Kausalität aus Freiheit. Kant und der Deutsche Idealismus (Würzburg 2007); Moralidade e Educação em Immanuel Kant (zus. mit. C. A. Dalbosco, Sao Paulo 2009). Prof. Dr. Hassan Givsan (*1945), geboren in Teheran, studierte Philosophie, Physik und Germanistik in Mainz und Berlin, Promotion in Berlin, Habilitation in Darm- stadt, lehrt Philosophie an der TU Darmstadt. Arbeitsgebiete: Ontologie, Geschichts- philosophie, Politische Philosophie, Erkenntnistheorie, Religionsphilosophie, Anthro- pologie. Publikationen (in Auswahl): Heidegger – das Denken der Inhumanität. Eine on- tologische Auseinandersetzung mit Heideggers Denken (Würzburg 1998); Eine bestür- zende Geschichte: Warum Philosophen sich durch den Fall Heidegger korrumpieren lassen (Würzburg 1998, französische Übersetzung: Paris 2011); Zu Heidegger. Ein Nachtrag zu „Heidegger – das Denken der Inhumanität“ (Würzburg 2011); Nach Hegel. Kritische Untersuchungen zu Hegels Logik, Schellings „positiver“ Philosophie … und Blochs Ontologie (Würzburg 2011). Prof. Dr. Jörg H. Gleiter (*1960), Architekt und Professor für Architekturtheorie an der Technischen Universität Berlin; Studium der Architektur in Berlin (TU Berlin), Venedig (IUAV) und New York (Columbia University). Nach einigen Jahren der Ar- beit als Architekt Lehrtätigkeit an verschiedenen Universitäten im Fach Philosophie der Architektur, Architekturtheorie und Ästhetik, 2002 Promotion (Kritische Theorie des Ornaments) und 2007 Habilitation (Nietzsche und die Architektur); Gastprofessu- ren in Venedig (2003), Tokio (2003–05), Weimar (2005–07) und Bozen (2005–08); seit 2008 Herausgeber der Reihe ArchitekturDenken. Publikationen (in Auswahl): Rückkehr des Verdrängten. Zur Kritischen Theorie des Ornaments (Weimar 2003); Einfühlung und phänomenologische Reduktion. Grund- lagentexte zu Architektur, Kunst und Design (Hg. mit Thomas Friedrich, Münster 2007); Der philosophische Flaneur. Nietzsche und die Architektur (Würzburg 2009); Zu den Autoren274 Urgeschichte der Moderne. Zur Theorie der Geschichte der Moderne (Bielefeld 2012); Ornament Today. Digital, Material, Structural (Hg., Bozen 2012). Prof. Dr. Dr. h.c. Heinz Kimmerle (*1930), emeritierter Professor für Philosophie an der Erasmus Universität Rotterdam. 1957 promovierte er bei Hans-Georg Gadamer mit einer Dissertation über die Hermeneutik Schleiermachers. Während der letzten fünf Jahre seiner Amtszeit (1991–1995) hatte er einen Stiftungslehrstuhl für ‚Grundlagen der interkulturellen Philosophie, mit Schwerpunkt afrikanische Philosophie‘. An ver- schiedenen Universitäten in Kenia, Ghana und Südafrika war er als Gastprofessor tätig. Seit 1996 ist er Direktor der ‚Stiftung für interkulturelle Philosophie und Kunst‘. 2003 erhielt er ein Ehrendoktorat von der University of South Africa in Pretoria. Seine Veröffentlichungen liegen auf den Gebieten der Hermeneutik und der Dialektik, der Philosophien der Differenz und der interkulturellen Philosophie. Jüngste Veröffentlichungen: Der Philosophiebegriff der interkulturellen Philoso- phie (2009); Philosophie – Geschichte – Philosophiegeschichte. Ein Weg von Hegel zur interkulturellen Philosophie (2009); Vernunft und Glaube im Gleichgewicht. Ein philosophischer Lebensweg (2010). Dr. Harald Lemke (*1965), lehrt Philosophie am Institut für Kulturtheorie, Kultur- forschung und Künste, Universität Lüneburg sowie am Zentrum für Gastrosophie, Universität Salzburg. Seit 2007 ist er Gastprofessor am Departement of Philosophy der East China Normal University Shanghai. Abschluss des Studiums bei Heinz Paetzold Anfang der neunziger Jahre in Hamburg mit einer Arbeit über Hannah Arendts und Jürgen Habermas’ Praxis-Konzeptionen. Heinz Paetzold war zusammen mit Axel Honneth Gutachter seiner Doktorarbeit zur Philosophie der Freundschaft. Publikationen (in Auswahl): Freundschaft. Ein philosophischer Essay (Darmstadt 2000); Ethik des Essens. Zur Einführung in die Gastrosophie (Bielefeld 2007); Kul- tur | Natur. Philosophie und Kunst im Kontext der Stadtentwicklung, herausgegeben zusammen mit Anke Haarmann (Berlin 2009); Politik des Essens. Wovon die Welt von morgen lebt (Bielefeld 2012). Prof. Dr. Tanehisa Otabe (*1958), Studium am Seminar für Geisteswissenschaften der Universität Tokyo; 1987/88 DAAD-Stipendiat an der Universität Hamburg; 1999– 2000 und 2005 Humboldt-Stipendiat an der Universität Hamburg; Assistenzprofessor an der Universität Kobe; seit 2007 Inhaber der Professur für Ästhetik an der Uni- versität Tokyo. Seine Forschungsschwerpunkte sind Ästhetik und Kulturphilosophie. 2005–2009 war er Präsident der Japanischen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts; 2007 wurde ihm der Philipp Franz von Siebold-Preis verliehen. Publikationen (in Auswahl): Onomasticon philosophicum latinoteutonicum et teutonicolatinum (Tokyo 1989); The Great Book of Aesthetics. The 15th International Congress of Aesthetics, Japan 2001 (Tokyo 2003, CD-ROM); Ästhetische Subjektivi- tät. Romantik und Moderne (Würzburg 2005); Kulturelle Identität und Selbstbild. Aufklärung und Moderne in Japan und Deutschland (Hg. zus. mit Lothar Knatz und Norbert Caspar, Berlin 2011). Prof. Dr. Gérard Raulet (*1949), Professor an der Sorbonne (Paris IV, Lehrstuhl für deutsche Ideengeschichte), Direktor des Forschungszentrums „Philosophie politique contemporaine“ am CNRS (1999–2003) und Leiter der Groupe de recherche sur la culture de Weimar am Pariser Maison des Sciences de l’Homme (1982–99, 2003 ff.). Zu den Autoren 275 Publikationen (in Auswahl): Positive Barbarei. Kulturphilosophie und Politik bei Walter Benjamin (Münster 2004); Das Zwischenreich der symbolischen Formen. Ernst Cassirers Erkenntnistheorie, Ethik und Politik im Spannungsfeld von Historismus und Neukantianismus (Frankfurt a.M. 2005); Histoire de la philosophie allemande depuis 1945 (Paris 2006, spanische Übersetzung: Valencia 2009); Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik. Zur politischen Kultur einer Gemengelage (Hg., zus. mit Man- fred Gangl, Frankfurt a.M. 22007); Kulturwissenschaften in Europa – eine grenzüber- schreitende Disziplin? (Hg., zus. mit Andrea Allerkamp, Münster 2010); Walter Ben- jamin, Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe, Bd. XIX: Über den Begriff der Geschichte (Frankfurt a.M. 2010); Republikanische Legitimität und politische Philo- sophie heute (Münster 2012). Prof. Dr. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (*1939), emeritierter Professor für Philoso- phie und Pädagogik an der Universität Kassel (1971–2007). 1963 Promotion in Phi- losophie an der Universität Wien mit einer Dissertation zur Spätphilosophie Schellings; 1970 Habilitation an der Universität Bonn mit einer Arbeit zur Bildungsphilosophie von Richard Hönigswald. 1978–2006 Mitbegründer und Leiter der Interdisziplinären Arbeitsgruppe für philosophische Grundlagenprobleme an der Universität Kassel; 2004 Mitbegründer und Gründungspräsident der Internationalen Rosenzweig-Gesellschaft. Seit 2011 wohnhaft in Wien. Publikationen (in Auswahl): Die Dialektik der gesellschaftlichen Praxis (1981); Das dialektische Verhältnis des Menschen zur Natur (1984); Franz Rosenzweig (1991); Richard Hönigswalds Philosophie der Pädagogik (21995); „Von der wirklichen, von der seyenden Natur“. Schellings Ringen um eine Naturphilosophie (1996); Denken aus geschichtlicher Verantwortung (1999); Rosenzweig im Gespräch mit Ehrenberg, Co- hen und Buber (2006); Das dialektische Verhältnis von Theorie und Praxis in der Pädagogik (22008). Prof. Dr. Helmut Schneider (*1938) promovierte in Philosophie 1967 mit einer Arbeit über Hegel an der Universität München bei Prof. Max Mül1er. Von 1968–2003 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hegel-Archiv der Ruhr-Universität Bochum. 1999 habilitierte er sich für Philosophie an der Universität Wroclaw (Polen) bei Prof. Karol Bal. 2005 erfolgte die Umhabilitation an die Universität Kassel bei Prof. W. Schmied- Kowarzik. Seit 2010 ist er Professor für Philosophie und Sozialwissenschaften an der Grigol Robakidze Universität in Tbilisi (Georgien). Seine Hauptarbeitsgebiete sind die Hegelforschung und die interkulturelle Philosophie, beide mit dem Schwerpunkt Ästhetik. Publikationen in Auswahl: Geist und Geschichte, Frankfurt 1998; zusammen mit Uwe an der Heiden: Hat der Mensch einen freien Willen? Die Antworten der großen Philosophen, Stuttgart 2009; zusammen mit Heinz Paetzold: Schellings Denken der Freiheit. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik zum 70.Geburtstag, Kassel 2010;. Heraus- geber von: Jahrbuch für Hegelforschung (15 Bände); Hegeliana. Studien und Quel- len zu Hegel und dem Hegelianismus (22 Bände); Zusammenhänge. Jahrbuch für Asiatische Philosophie; Hamburg 2007. – Gründer und Leiter der Gesellschaft für Asiatische Philosophie seit 1991. Prof. Dr. Gerhard Schweppenhäuser (* 1960), Professor für Design-, Kommunika- tions- und Medientheorie an der Fakultät Gestaltung der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Würzburg. Studium, Erste Staatsexamensprüfung und Promotion Zu den Autoren276 in Philosophie bei Heinz Paetzold und Herbert Schnädelbach in Hamburg. Nach Tät- igkeiten als Wissenschaftlicher Mitarbeiter in Hannover und als Wissenschaftlicher Assistent in Weimar war er Privatdozent für Philosophie in Kassel, Vertretungspro- fessor für Philosophie und Ästhetik in Dresden, Visiting Professor in Durham (North Carolina) und Professor für Ästhetik in Bozen. Er ist Gründungs- und Mitheraus- geber der Zeitschrift für kritische Theorie. Publikationen (in Auswahl): „Naddel“ gegen ihre Liebhaber verteidigt. Ästhetik und Kommunikation in der Massenkultur (Bielefeld 2004); Die Antinomie des Uni- versalismus. Zum moralphilosophischen Diskurs der Moderne (Würzburg 2005); Grund- begriffe der Ethik (Hamburg 22006); Ästhetik. Philosophische Grundlagen und Schlüs- selbegriffe (Frankfurt a.M., New York 2007); Theodor W. Adorno (Hamburg 52009; japanisch: Tokyo 2000, chinesisch: Peking 2008, englisch: Durham 2009); Bildsemio- tik. Exemplarische Analysen visueller Kommunikation (zus. mit Thomas Friedrich, Basel/Boston/Berlin 2009); Kritische Theorie (Stuttgart 2010); Dr. Marlene Montes de Sommer (*1955) geboren in Lima Peru; Lic. in Kommunika- tionswissenschaften/Universität Lima, Magister in Erziehungswissenschaften und So- ziologie/Universität Kassel, Promotion in Philosophie/Universität Kassel). Dozentin im Fachbereich Hispanistik und im Fachbereich Philosophie an der Universität Kassel. Forschungsschwerpunkte: Andines und lateinamerikanisches Denken, Praktische Philosophie und Interkulturelle Philosophie. Mitgliedschaften: International Associa- tion of Aesthetics IAA, Pensadores Latinoamericanos en Europa, Comité Consultivo de la Cátedra José Carlos Mariátegui und Institut zur interdisziplinären und inter- kulturellen Erforschung von Phänomenen sozialer Exklusion e.V. ISIS. Dr. Dirk Stederoth (*1968), seit 2007 Lehrkraft für besondere Aufgaben am Institut für Philosophie der Universität Kassel. Dort wurde er im Jahre 2000 mit einer Arbeit über Hegels Philosophie des subjektiven Geistes promoviert, das Verfahren seiner Habilation steht kurz vor ihrem Abschluss. Seine Forschungsschwerpunkte sind klas- sische Deutsche Philosophie, Philosophie des Geistes und Interkulturelle Philosophie. Publikationen (in Auswahl): Hegels Philosophie des subjektiven Geistes. Ein kom- paratorischer Kommentar (Berlin 2001), Willensfreiheit als interdisziplinäres Problem (Freiburg i. Br. 2005), Der Mensch in der Medizin. Kulturen und Konzepte (Freiburg i.Br. 2011), Freiheitsgrade. Zur systematischen Differenzierung praktischer Freiheit (Habilitationsschrift, i. V.) Kasseler Philosophische Schriften – Neue Folge herausgegeben von Heinz Eidam und Wolfdietrich Schmied-Kowarzik kassel university press Bd. 1 Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Das dialektische Verhältnis von Theorie und Praxis in der Pädagogik, Kassel 2008, ISBN 978-3- 89958-412-7, 195 S., € 19,- Bd. 2 Heinz Eidam / Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Anfänge bei Hegel. Helmut Schneider zum 70. Geb., Kassel 2009, ISBN 978-3- 89958-488-2, 203 S., € 19,- Bd. 3 Heinz Paetzold / Helmut Schneider (Hg.), Schellings Denken der Freiheit. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik zum 70. Geb., Kassel 2010, ISBN 978-3-89958-539-1, 286 S., € 19,- Bd. 4 Hans Immler / Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Marx und die Natur- frage. Ein Wissenschaftsstreit um die Kritik der politischen Ökono- mie, Kassel 2011, ISBN 978-3-89958-566-7, 207 S., € 19,- Bd. 5 Wolfdietrich Schmied-Kowarzik / Helmut Schneider (Hg.), Zwischen den Kulturen. Im Gedenken an Heinz Paetzold, Kassel 2012, ISBN 978-3-89958-592-6, 276 S., € 19,- Bestellmöglichkeiten: Internet www.upress.uni-kassel.de Fax 0561-804-3429 Mail info@upress.uni-kassel.de Telefon 0561-804-2144 sowie über den Buchhandel Die Lieferung erfolgt auf Rechnung zzgl. Versandkosten. ISBN 978-3-89958-592-6 5 KPS NF W ol fd ie tri ch S ch m ie d- Ko w ar zi k, H el m ut S ch ne id er (H g. ) Zw is ch en d en K ul tu re n 5 Ka ss ele r P hil os op his ch e S ch rift en – Ne ue F olg e Wolfdietrich Schmied-Kowarzik Helmut Schneider (Hg.) Zwischen den Kulturen Im Gedenken an Heinz Paetzold kassel university press