Franz
Rosenzweigs Stern der Erlösung1
Wolfdietrich
Schmied-Kowarzik
Universität
Kassel
Institut für
Philosophie
Vorbemerkungen
In einem Brief vom Januar 1923
schrieb
Franz Rosenzweig an Rudolf Hallo über die künftige Rezeption
seines glaubensphilosophischen Hauptwerks Der Stern der
Erlösung
die geradezu prophetischen Sätze: "Und der Stern wird wohl einmal
und mit Recht als ein Geschenk, das der deutsche Geist seiner
jüdischen
Enklave verdankt, angesehen werden. [...] Unsere Arbeit wird uns von
Deutschland
höchstens posthum honoriert, aber darum tun wir sie doch, solange
wir sie in Deutschland tun, für Deutschland. [... J]e
jüdischer
wir sind, um so realer können wir sein und um so schwerer wiegen
wir.
Dieses Gewicht aber fällt in die Wagschale Deutschlands." (GS I,
887)
Nicht ohne Trauer und Scham
können wir heute in Deutschland diese Sätze lesen, denn
für
uns schwingt in ihnen das Wissen um den grauenvollen Abgrund der
deutschen
Geschichte mit, um die nur wenige Jahre nach Rosenzweigs Tod
einsetzende
Zerstörung der jüdischen Enklave in Deutschland und um die
Ermordung
von Millionen von Juden Europas durch die Deutschen unter dem
Nationalsozialismus.
Der Stern der Erlösung
(1918 geschrieben, 1921 erschienen) ist das Werk eines sich zum
Judentum
bekennenden deutschen Philosophen. Ohne Zweifel gehört der Stern
zu den herausragendsten glaubensphilosophischen Grundlegungen des 20.
Jahrhunderts.
Systematisch erwächst er aus der kritischen Auseinandersetzung mit
der Tradition der klassischen deutschen Philosophie und eröffnet
die
damals gerade erst in Deutschland einsetzende existenzphilosophische
Diskussion.
In der schon über anderthalb Jahrhunderte währenden
Geschichte
des deutschen Judentums seit Moses Mendelssohn tritt in Franz
Rosenzweig
ein jüdischer Denker in souveräner philosophischer
Eigenständigkeit
der christlichen Glaubensphilosophie gegenüber.
Damals, als der Stern der
Erlösung erschien, wurde dieses glaubensphilosophische Werk
außerhalb
der jüdischen Enklave nahezu gar nicht zur Kenntnis genommen -
einzig
der niederländische christliche Theologe Kornelis Heiko Miskotte
nimmt
in seinem Buch Het wezen der
Joodsche Religie (1932) darauf Bezug - und
dies obwohl es wie kaum ein anderes durch seine systematische Strenge
und
sprachliche Kraft philosophisch wie theologisch eine Auseinandersetzung
geradezu herausforderte.
Erst zwanzig Jahre nachdem
das ganze Ausmaß und Grauen der Shoa mit dem Ende des Weltkriegs
öffentlich geworden war und die Mitschuld der deutschen
Universitäten
und auch der christlichen Kirchen daran voll zum Bewusstsein
gekommen
ist, wird der Stern der Erlösung, von den christlichen
Theologien
als die große jüdische Herausforderung gewürdigt und
auch
philosophisch langsam erschlossen. So hat sich zwar zwei Generationen
nach
Rosenzweigs frühem Tod 1929 bereits bewahrheitet, was Rosenzweig
einst
über die Wirkung seines Werkes geweissagt hatte. Doch erfüllt
uns tiefe Beschämung, dass es in Deutschland erst dieses
erschreckten
Erwachens nach der Shoa bedurfte, um dieses Abschiedsgeschenk der
inzwischen
zerstörten jüdischen Enklave in seiner Größe und
Bedeutung
wahrzunehmen und zu würdigen.
Als jüdischer Denker schrieb
Rosenzweig seine glaubensphilosophische Grundlegung vor allem für
die Juden im Zeitalter der Moderne. Und so wird er auch heute rund um
die
Welt als großer Lehrer seines Volkes geehrt. Auch die kleinen,
durch
Zuzüge aus dem Osten neuentstehenden jüdischen Gemeinden in
Deutschland
beginnen Rosenzweig als ihren Lehrer für ein neues Judesein in
Deutschland
zu sehen. Und doch hatte Leo Baeck, der Rabbiner, der im KZ
Theresienstadt
die Shoa überlebte, Recht, als er in seinen Vorlesungen Von
Moses
Mendelssohn zu Franz Rosenzweig Rosenzweig als den letzten
großen
Denker des deutschen Judentums bezeichnete, denn jenes deutsche
Judentum,
das mit Moses Mendelssohn begann und mit Franz Rosenzweig ungewollt
sein
Ende fand, ist unwiederbringlich zerstört - und gleichzeitig mit
ihm
ein mächtiger Quell deutscher Geistesgeschichte.
Auch in der Philosophie müssen
wir allererst versuchen, über den Abgrund unserer Geschichte
hinweg
erneut an Rosenzweigs großes glaubensphilosophisches Werk
anzuknüpfen.
Viele mutwillig verschüttete Spuren, aber auch ungeknüpfte
Bezugnahmen
gilt es hier freizulegen, um dadurch die Herausforderung wieder
lebendig
werden zu lassen, deren Aufnahme von der Philosophen- und
Theologengeneration
vor uns verweigert wurde - mit dieser Aufgabe stehen wir noch ganz am
Anfang.
Einführendes zu Leben und Werk
Durch sein entschiedenes
Bekenntnis
zum Judesein, durch seine Glaubensphilosophie, durch seine
Gründung
des Freien Jüdischen Lehrhauses in Frankfurt a. M. und durch seine
tapfere Bewährung in siebenjähriger Krankheit zum Tode ist
Franz
Rosenzweig in mehrfacher Hinsicht zum Vorbild und Lehrer des Judentums
in der Diaspora geworden.
Franz Rosenzweig wurde am 25.
Dezember
1886 in Kassel geboren. Die Familie Rosenzweig lebte schon seit Beginn
des 19. Jahrhunderts in Kassel. Der Vater Georg Rosenzweig hatte die
von
seinem Großvater aufgebaute Drogerie zu einer florierenden
Farben-
und Lackfabrik erweitert. Er gehörte zu den wohlhabenden und
angesehenen
Großbürgern der Stadt, war Stadtverordneter und später
Stadtrat.
Franz Rosenzweigs Eltern, Georg
Rosenzweig und Adele, geb. Alsberg, gehörten zum emanzipierten,
liberalen
Judentum, das ganz in die moderne bürgerliche Welt integriert war.
Zwar waren sie nicht bereit, die Religion ihrer Väter aufzugeben,
aber religiöse Fragen spielten für sie kaum eine Rolle. Weil
es sich so gehörte, ging man zu den heiligen jüdischen
Feiertagen
in die große Synagoge der liberalen Gemeinde in Kassel, und man
engagierte
sich für sozial-humanitäre jüdische Einrichtungen.
So wuchs Franz Rosenzweig in
Elternhaus
und Schule ganz an den Werten deutscher bürgerlicher Bildung
orientiert
heran. Lediglich von seinem Großonkel Abraham (Adam) Rosenzweig,
der als Künstler und Junggeselle im Haushalt der Familie
Rosenzweig
lebte, wurde der junge Franz angeregt, am traditionellen jüdischen
Leben teilzunehmen und die hebräische Sprache zu erlernen. So
entwickelte
er schon sehr früh ein besonderes Interesse für
religiöse
Fragen.
Auf Wunsch des Vaters studierte
Franz Rosenzweig nach dem Abitur zunächst ab 1905 Medizin in
Göttingen,
München und Freiburg. Aus dieser Zeit stammt seine enge
Freundschaft
zu seinem Vetter Rudolf Ehrenberg und zu Viktor von Weizsäcker.
Nach
Abschluss des Physikums wechselte er 1907 jedoch aus Neigung zum
Studium
der Geschichtswissenschaft und Philosophie und studierte in Berlin und
Freiburg. 1912 wurde er mit einer Arbeit über Hegels Staatslehre
vom
Historiker Friedrich Meinecke in Freiburg promoviert. In den kommenden
Jahren arbeitete Rosenzweig diese Studie zu einer möglichen
Habilitation
aus, die dann nach dem Ersten Weltkrieg zweibändig unter dem Titel
Hegel
und der Staat (1920) erschien. Es war dies die erste umfassende
kritische
Auseinandersetzung mit Hegels politischer Philosophie, die nicht nur
alle
weiteren Auseinandersetzungen mit Hegel in unserem Jahrhundert
geprägt
hat, sondern in ihrer staatskritischen, kulturgeschichtlichen
Grundhaltung
auch heute noch eigene Aussagekraft besitzt.
Ein wichtiger philosophischer Lehrer
war ihm sein dreieinhalb Jahre älterer Vetter Hans Ehrenberg, der
schon als junger Nationalökonom großen Einfluss auf den
Abiturienten Franz Rosenzweig hatte. Nach seiner Promotion in
Philosophie
ließ sich Hans Ehrenberg taufen, um sich in Heidelberg auch noch
habilitieren zu können. Seit 1910 hielt Hans Ehrenberg als
Privatdozent
der Philosophie in Heidelberg Vorlesungen, zu denen Franz Rosenzweig
des
öfteren von Freiburg angereist kam. Philosophisch entscheidend
geprägt
wurde Rosenzweig besonders durch Ehrenbergs Buch Die Parteiung der
Philosophie.
Studien wider Hegel und die Kantianer (1911). Hans Ehrenberg
bestärkte
Rosenzweig nicht nur in seiner grundlegenden Hegel-Kritik, sondern
regte
auch dessen Auseinandersetzung mit Schellings religionsphilosophischem
Spätwerk Die Weltalter (1811 ff.) an.
Nach seiner Promotion und
während
seiner weiteren Ausarbeitung seines Hegel-Buches besuchte Franz
Rosenzweig
im Sommersemester 1913 seinen Vetter Rudolf Ehrenberg in
Leipzig
und hörte dort auch rechtshistorische Vorlesungen bei dem
blutjungen
Privatdozenten Eugen Rosenstock, den er schon aus gemeinsamen
Studienjahren
in Freiburg kannte. Hier kam es nun am 7. Juli 1913 im Elternhaus von
Rudolf
Ehrenberg zu einem Rosenzweigs weiteres Denken und Leben
umwälzenden
Glaubensgespräch zwischen den drei Freunden. Rudolf Ehrenberg war
bereits nach der Geburt getauft und von seinen Eltern protestantisch
geprägt
erzogen worden. Wie sein Vetter Franz hatte er ein besonderes Interesse
für religiöse Fragen - seine diesbezüglichen Reflexionen
veröffentlichte er 1920 unter dem Titel Ebr. 10,25. Ein
Schicksal
in
Predigten. Er konnte
dieses Interesse problemlos mit seinem Medizin- und Biologiestudium
verbinden. Eugen
Rosenstock war aus Überzeugung als 18jähriger zum
Protestantismus
übergetreten. Bei ihm waren seither sein ideenreiches
wissenschaftliches
Forschen mit seinem christlichen Bekenntnis zu einer existentiellen
Einheit
verschmolzen.
Bei diesem Nachtgespräch
gelang
es Eugen Rosenstock, die philosophische Distanziertheit, die bei Franz
Rosenzweig das religiöse Interesse dominierte, gründlich zu
erschüttern.
Rosenzweig war von Rosenstocks existentieller Glaubenshaltung und
seinem
missionarischen Eifer tief beeindruckt. Einem in dieser Weise
existentiell
gelebten Christentum hatte er philosophisch nichts Ebenbürtiges
entgegenzusetzen.
Daher fühlte sich Rosenzweig genötigt, sich selber auch einer
solchen existentiellen Glaubenshaltung stellen zu müssen, und
versprach
den Freunden die Konversion zum Christentum. Allerdings wollte er sich
vorher noch in den jüdischen Glauben und die darauf aufbauende
christliche
Lehre einarbeiten, um nicht als "Heide", sondern bewusst als Jude
Christ zu werden.
Für diese Besinnung nahm Rosenzweig intensive jüdische und christliche Studien auf, dazu begab er sich nach Berlin, wo er auch die Jom Kippur Feierlichkeiten in einer orthodoxen Synagoge erlebte, die ihn tief beeindruckten. Das Ergebnis seiner Selbstprüfung war der Entschluss, Jude zu bleiben, wie Rosenzweig in einem Brief seinem Vetter Rudolf Ehrenberg am 31. Oktober 1913 - in berühmt gewordenen Sätzen - schrieb: "Lieber Rudi, ich muß dir mitteilen, was dich bekümmern und, zunächst mindestens, dir unbegreiflich sein wird: ich bin in langer, wie ich meine, gründlicher Überlegung dazu gekommen, meinen Entschluß zurückzunehmen. Er scheint mir nicht mehr notwendig und daher, in meinem Fall, nicht mehr möglich. Ich bleibe also Jude." (GS I, 132 f.)
Und seine ausführliche
Begründung
auf einen Kerngedanken verdichtend, fügt er hinzu: "Das
Christentum
erkennt den Gott des Judentums an, nicht als Gott aber als den 'Vater
Jesu
Christi' ... Was Christus und seine Kirche in der Welt bedeuten,
darüber
sind wir einig: es kommt niemand zum Vater denn durch ihn [Johannes
14/6].
Es kommt niemand zum Vater - anders aber wenn einer nicht mehr zum
Vater
zu kommen braucht, weil er schon bei ihm ist. Und dies ist nun der Fall
des Volkes Israel." (GS I, 133)
Nachdem die Entscheidung gefallen
war, hörte Rosenzweig bei Hermann Cohen, dem großen neukantianischen Philosophen
aus
Marburg,
der nach
seiner
Emeritierung 1912 als Dozent
an der Hochschule für die
Wissenschaft
des Judentums lehrte. Hermann
Cohen, der Franz Rosenzweig zum vätlichen Freund wurde, trug
im Wintersemester 1913/14 seine
Vorlesung
über den Begriff der Religion
im System der Philosophie vor, die 1915 als Buch erschien. Bei
Ausbruch
des Ersten Weltkriegs meldete sich Rosenzweig als Freiwilliger
zunächst
zum Sanitätsdienst, später zum Dienst bei der Feldartillerie.
Seit März 1916 bis zum Kriegsende war er vornehmlich an der
Balkan-Front
eingesetzt.
1916 kommt es dann zu einem
dramatischen
Briefwechsel zwischen Franz Rosenzweig und Eugen Rosenstock, der zu den
aufregendsten Dokumenten eines von beiden Seiten unnachgiebig
geführten
jüdisch-christlichen Dialogs zählt, wobei Rosenzweig diesmal
der theoretisch Herausfordernde ist. Rosenstock konnte auch jetzt nicht
von seinem missionarischen Eifer lassen. Er akzeptierte zwar
Rosenzweigs
Entschluss, Jude zu bleiben, als existentielle Lebensentscheidung,
vermochte aber nicht zuzugeben, dass die Juden Christus nicht
brauchen.
Rosenzweig dagegen versuchte dem Christen Rosenstock gerade dieses
Zugeständnis
abzutrotzen, wobei er als Jude in seinem Dialogangebot an die Christen
sogar soweit geht, dass er ihnen - aus denselben
Offenbarungsquellen
schöpfend - einen eigenen, von den Juden unabhängigen Bund
mit
Gott und Auftrag von Gott zubilligt.
Keiner von beiden vermochte den
anderen intellektuell niederzuringen, ja sie kehren Christenstolz und
Judenverachtung
sowie Judenstolz und Christenverachtung mit ganzer verbaler Härte
gegeneinander, ohne dadurch ihre persönliche Freundschaft
aufzugeben.
Schließlich wenden sich die Briefe von diesen existentiellen
Glaubensfragen
ab und mehr neutraleren philosophischen Grundproblemen zu. Zu einem
Heimaturlaub
Rosenzweigs im Sommer 1917 kam Eugen Rosenstock mit seiner jungen Frau
Margrit, geb. Hüssi zu Besuch nach Kassel - den Doppelnamen
Rosenstock-Huessy
nahm die Familie 1925 an.
Nun tauschten sie philosophische
Manuskripte
aus und diskutierten sie. So setzte sich Rosenstock für das
Erscheinen
von Rosenzweigs Kommentar zum "Ältesten Systemprogramm des
deutschen
Idealismus" (1917) ein, das Rosenzweig bei seinen Studien zu Hegel
unter
dessen handschriftlichen Manuskripten gefunden, aber als eine Abschrift
eines Entwurfs von Schelling aus dem Jahre 1796 entschlüsselt
hatte.
Rosenstock wiederum gab Rosenzweig das Manuskript seines
"Sprachbriefes"
zu lesen, den er viel später unter dem Titel
Angewandte Seelenkunde
(1924) veröffentlichte. Dieser "Sprachbrief" gab den Anstoß
zu Rosenzweigs existentiellem Sprach- und Dialogdenken, das Rosenzweig
in einem Brief vom 19.10.1917 an Rosenstock so skizzierte: "Vor allem
aber: das
eigentliche
Wunder [...] entsteht gar nicht im Ich, sondern das Ich als die
Substanz
('ante festum') ist durchaus nicht mein
Ich, sondern eben Ich
überhaupt
[...]. Sondern mein Ich entsteht im
Du. Mit dem Du-sagen begreife ich,
daß
der Andre kein 'Ding' ist, sondern 'wie ich'. [...] Und nachdem so am
Du
das
Ich Person geworden ist, bleibt das Substanzhafte des Ich rein
zurück.
[...] Dieses zweite Du (nach jenem ersten am Ende der 'Schöpfung')
ist
die 'Offenbarung'." (GS I, 471)
In den brieflichen
jüdisch-christlichen
Dialog tritt dagegen statt Eugen Rosenstock ab Herbst 1917 Margrit
Rosenstock-Huessy
ein, die, nicht von dem gleichen Missionierungseifer wie ihr Mann
beseelt,
ähnlich einfühlsam wie Rudolf Ehrenberg auf Rosenzweigs
Angebot
eines jüdisch-christlichen Dialogs einzugehen vermag. Daraus
erwächst
ab Februar 1918 eine innige Liebesbeziehung. Mitte 1918 beginnt
Rosenzweig
- noch immer an der Balkanfront eingesetzt - mit der Niederschrift
seines
Werkes Der Stern der Erlösung. Zeitweise berichtet er fast
täglich Margrit Rosenstock-Huessy in Briefen über die
Fortschritte
seiner Arbeit.2
Nach seiner Entlassung aus dem
Militärdienst
beendete Franz Rosenzweig die Niederschrift des Stern der
Erlösung;
die allerletzten Seiten schrieb er zu Besuch in Margrits Elternhaus in
Säckingen in der Schweiz an Margrits Schreibtisch sitzend, wie er
ihr am 16. Februar 1919 brieflich berichtete. "Liebes Gritli, es ist 12
geworden [...]. Und es kamen zwei Briefe von dir, nach Tisch. Und ich
habe
Tor [das Schlusskapitel] fertig. Ich hatte immer gedacht, dies
Fertigwerden
des * [Stern] würde mir ein Telegramm an euch wert sein.
Aber
wie es denn heute kam, war es mir gar nicht zum Telegrafieren. Es
gefiel
mir nicht genug. [...] Aber die richtige erlöste Fertigstimmung
ist
nicht
da." (Gritli-Briefe 239)
Nachdem Der Stern der
Erlösung beendet war (seine drei Teile in einem Band
erschienen
erst 1921), gab Rosenzweig auch noch seinem einst als
Habilitationsschrift
geplanten Hegel und der Staat den letzten Schliff; dies Werk
erschien
in zwei Bänden 1920. Aber an eine Habilitation und eine
Universitätskarriere,
die jetzt in der Weimarer Republik auch für Juden problemlos
möglich
geworden waren, dachte Rosenzweig nun nicht mehr, denn er bemühte
sich jetzt darum, unmittelbar in der jüdischen Bildungsarbeit
tätig
werden zu können. Ein Habilitationsangebot seines Doktorvaters
Friedrich
Meinecke, der inzwischen der führende Historiker an der
Universität
Berlin geworden war, lehnte Rosenzweig in einem Brief vom 30.8.1920 ab:
"Mir ist im Jahre 1913 etwas geschehen, was ich, wenn ich einmal davon
reden soll, nicht anders bezeichnen kann als mit dem Namen:
Zusammenbruch.
Ich fand mich plötzlich auf einem Trümmerfeld oder vielmehr:
Ich merkte, dass der Weg, den ich ging, zwischen Unwirklichkeiten
dahinführt. Es war eben der Weg, den mir nur mein Talent oder
vielmehr
meine Talente wiesen. Ich spürte die Sinnlosigkeit einer solchen
Talentherrschaft
und Selbstdienstbarkeit. [...] Das Wesentliche ist doch, daß mir
die
Wissenschaft überhaupt nicht mehr die zentrale Bedeutung besitzt
und
daß mein Leben seither bestimmt ist von dem 'dunklen Drang', dem
ich mit dem Namen 'mein Judentum' schließlich eben auch nur einen
Namen zu geben, mir freilich bewußt bin." (GS I, 679 f.)
Einen ganz ähnlichen Weg,
diesmal
nicht ganz unbeeinflusst von Franz Rosenzweig, schlug in
christlicher
Parallele Hans Ehrenberg ein. Er, der 1909 unter anderem auch deshalb
zum Protestantismus konvertiert war, um sich in Heidelberg habilitieren
zu können, erfuhr im Krieg und aus Protest
gegen
ihn eine entschiedene christliche Glaubensberufung, deren
Grundzüge er in seinem Buch Die Heimkehr
des
Ketzers (1920) darlegt. Er studierte nach dem Krieg in
einem
dritten Studium Evangelische Theologie, gab seine Professur für
Philosophie
in Heidelberg auf und wurde Pastor in einer Arbeitergemeinde in Bochum.
- Er gehörte später der bekennenden Kirche an, wurde wegen
seiner
jüdischen Herkunft unter den Nationalsozialisten verfolgt, nach
dem
Reichspogrom der Kristallnacht im KZ Sachsenhausen interniert und
konnte
nach seiner Freilassung 1939 noch gerade rechtzeitig nach England
emigrieren.
Bevor Franz Rosenzweig 1920 den
Auftrag erhielt, in Frankfurt a. M. nach seiner Konzeption das Freie
Jüdische
Lehrhaus als eine neuartige jüdische
Erwachsenenbildungsstätte
aufzubauen, hielt er bereits 1919 und 1920 Vorträge, Vorlesungen
und
Kurse zu jüdischen Themen in Kassel. Im März 1920 heiratete
Rosenzweig
nach kurzer Verlobungszeit die jüdische Religionslehrerin Edith
Hahn
aus Berlin, da er als jüdischer Lehrer auch einen jüdisch
geprägten
Hausstand führen wollte. Gemeinsam zogen Franz und Edith
Rosenzweig
nach Frankfurt a. M. Im September 1922 wurde ihr Sohn Rafael geboren.
Mit dem Freien Jüdischen
Lehrhaus
versuchte Franz Rosenzweig ein neues Konzept jüdischer
Erwachsenenbildung
und jüdischer Kulturarbeit zu errichten, um so Wege zu weisen, wie
Juden in der Diaspora und in der Moderne ein bewusstes
jüdisches
Leben führen können. So wurden neben den obligaten
Hebräisch-Kursen
und den großen allgemeinbildenden Vorträgen und Vorlesungen
auch viele Arbeitskreise über religiöse und ethische Fragen
in
Wissenschaft und Alltag angeboten. Zu den großen Vortragenden am
Freien Jüdischen Lehrhaus zählten neben Franz Rosenzweig
selbst
der Frankfurter Rabbiner Nehemia A. Nobel, der Biochemiker Eduard
Strauß,
der Mediziner Richard Koch, der Jurist Eugen Mayer und der
Religionsphilosoph
Martin Buber. Von den jüngeren Lehrenden sind vor allem Siegfried
Kracauer, Rudolf Hallo, Ernst Simon, Nahum N. Glatzer, Martin Goldner
und
Erich Fromm zu nennen.
Wenn auch die großen
Erwartungen,
die Rosenzweig in diese Neukonzeption gesteckt hatte, nicht gleich im
vollem
Umfang in Erfüllung gingen - zumal Rosenzweig nur zwei Jahre die
Leitung
innehatte -, so wurde doch die Initiative und die Konzeption Vorbild
für
eine Reihe von Folgeeinrichtungen nach 1933 in der Zeit der Verfolgung
der Juden in Deutschland. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden nach dem
Vorbild
des Freien Jüdischen Lehrhauses in Frankfurt a. M. ähnliche
Einrichtungen
in den Vereinigten Staaten von Nordamerika und in einigen
europäischen
Ländern aufgebaut.
Obwohl Rosenzweig nach dem
Erscheinen
des Stern der Erlösung keine wissenschaftlichen
Bücher
mehr veröffentlichen, sondern nur noch durch das "lebendige Wort"
wirken wollte, überredeten ihn Freunde 1921 seine Vorlesung als
gemeinverständliche
Hinführung zu seinem glaubensphilosophischen Hauptwerk
herauszubringen.
Das Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand war
kurz vor dem Abschluss, als Rosenzweig Anfang 1922 als
Spätfolge
einer Malariaerkrankung im Krieg von ersten Lähmungserscheinungen
heimgesucht wurde, die sich als eine zum Tode führende amyotrophe
Lateralsklerose herausstellte. Da er im Büchlein den kranken
Menschenverstand
mit einem Gelähmten vergleicht, gab er das Manuskript nicht mehr
zum
Druck frei; es erschien in englischer Übersetzung erstmals 1953 in
den USA und im deutschen Original 1964.
Die totale Lähmung schritt
rasch voran, ab Sommer 1922 konnte Rosenzweig seine Mansardenwohnung
nicht
mehr verlassen. Im Oktober musste er die Leitung des Freien
Jüdischen
Lehrhauses abgeben - zunächst an Rudolf Hallo, später wurde
das
Lehrhaus kollektiv von Eduard Strauß, Richard Koch und Martin
Buber
geführt. Als im Dezember 1922 auch die Schreib- und im Mai 1923
die
Sprachfähigkeit versagte, konnte er eine kurze Zeit noch über
eine eigens hierfür konstruierte Schreibmaschine mit der
Außenwelt
kommunizieren, danach vermochte er sich nur noch über die Augen
und
Augenlider zu verständigen. In Erinnerung daran schreibt Ernst
Simon:
"Rosenzweig hing in einer Schlinge, die ihn in einer halb sitzenden
Haltung
hielt. In den ersten Jahren gelang es ihm noch, auf einer eigens
für
ihn konstruierten Schreibmaschine auf mühsamste Weise einzelne
Buchstaben
anzuschlagen; später war auch das nicht mehr möglich. Seine
Frau
Edith [...] zeigte Rosenzweig auf einer Scheibe die Buchstaben des
Alphabets,
einen nach dem anderen, und Rosenzweig deutete durch ein Senken der
Augenlider
an, welcher Buchstabe zu Papier gebracht werden sollte. Ich weiß,
es ist schwer vorstellbar, aber es gelang Rosenzweig so, auf
lebendigste
Art an Unterhaltungen teilzunehmen und eine beträchtliche
literarische
Produktion zustande zu bringen."
(Zit. nach Schulz-Keil)
Neben einer umfangreichen
Korrespondenz
vornehmlich zu jüdischen Glaubensfragen entstand in dieser Zeit
der
grundlegende philosophische Aufsatz "Das neue Denken. Einige
nachträgliche
Bemerkungen zum 'Stern der Erlösung' " (1925).
Seine
Hauptarbeiten in dieser Zeit waren jedoch seine Übersetzungen der
Hymnen und Gedichte des Jehuda Halevi, des großen hebräischen Dichters und Denkers
(1085-1141),
die 1924 und in erweiterter Auflage 1926 erschienen, sowie die 1924
gemeinsam
mit Martin Buber begonnene "Verdeutschung der Schrift". Die fünf
Bücher
der Weisung erschienen ab 1925; Martin Buber hat nach
Rosenzweigs Tod
die
Übersetzungsarbeit fortgesetzt, bis endlich 1961 die ganze
hebräische
Bibel ins Deutsche übersetzt war.
Gershom Scholem schrieb in
Anspielung
an eine frühere Aussage Rosenzweigs dazu an Buber: "Ihre
Übersetzung
- aus der Verbindung eines Zionisten und eines Nichtzionisten
hervorgegangen
- war etwas wie das Gastgeschenk, das die deutschen Juden dem deutschen
Volk in einem symbolischen Akt der Dankbarkeit noch im Scheiden
hinterlassen
konnten. Und welches Gastgeschenk konnte historisch sinnvoller sein als
eine Übersetzung der Bibel? [...] Historisch gesehen ist sie nicht
mehr
ein Gastgeschenk der Juden an die Deutschen, sondern - und es
fällt
mir nicht leicht, das zu sagen - das Grabmal einer in unsagbarem Grauen
erloschenen Beziehung. Die Juden, für die Sie übersetzt
haben,
gibt es nicht mehr. Die Kinder derer, die diesem Grauen entronnen sind,
werden nicht mehr Deutsch lesen." (Scholem 214 f.)
Im Mai 1923 verlieh der liberale
Rabbiner Leo Baeck auf Vorschlag des inzwischen verstorbenen Rabbiners
Nehmia A. Nobel Franz Rosenzweig die Rabbinerwürde mit dem Titel
Maurenu,
unser Lehrer. Franz Rosenzweig nahm diese Ehrung insbesondere im
Hinblick
auf seinen Sohn Rafael, dessen Lehrer er nicht mehr sein konnte,
gerührt
an. So wurde fast an jedem Shabbat, zu dem zehn jüdische
Gläubige
zusammenkamen, ein Gottesdienst an Rosenzweigs Krankenlager abgehalten.
Mit ungeheurer geistiger Kraft
und
gläubiger Hingabe hat Franz Rosenzweig, gestützt durch die
aufopfernde
Liebe seiner Frau Edith und viele Freunde und Verehrer sieben Jahre
körperlicher
Hilflosigkeit und Leiden ertragen. Am 10. Dezember 1929 ist er zwei
Wochen
vor seinem 43. Geburtstag von diesen Leiden erlöst gestorben.
Der Stern der Erlösung
Der Stern der
Erlösung
ist ein großes glaubensphilosophisches Werk, das in strenger
Systematik
und in eindringlicher Sprache, auf jegliches wissenschaftliches Beiwerk
von Anmerkungen und Verweisen verzichtend, eine grundlegende
philosophisch-theologische
Durchdringung des Glaubens zu geben versucht. Der Stern besteht
aus drei Teilen, die nach Rosenzweigs Selbstverständnis als drei
getrennte
Bände verstanden werden sollten, da sie methodisch von
unterschiedlichen
Problemstellungen ausgehen.
Der erste Band stellt eine
philosophische
Vorklärung dar, die sich zugleich, wie es bereits im Motto der
Einleitung
heißt, "in philosophos" versteht, sich also wider das
absolutsetzende
Denken der idealistischen Philosophie richtet. Der zweite Band
entwickelt
eine theologische Grundlegung, die sich jedoch ebenfalls entschieden
"in
theologos" von der herkömmlichen Theologie abgrenzt. Der dritte
Band
kann als Phänomenologie der jüdischen und der christlichen
Glaubensgemeinschaft
- bezogen auf die göttliche Wahrheit - verstanden werden, die sich
ihrerseits "in tyrannos" gegen jegliche die Freiheit im Glauben
aufhebende
Dogmatik wendet.
Trotz der klaren Trennbarkeit der
drei Bände ist Der Stern in seiner
Argumentationsbewegung
und seinem Darstellungsverlauf ein Werk aus einem Guss, das
insgesamt
als ein philosophisches bezeichnet werden muss. Rosenzweig selbst
hat sein Philosophieren 1925 als "neues Denken" umschrieben, das ihm
aus
Gesprächen mit seinen Freunden - Hans Ehrenberg und Eugen
Rosenstock,
Rudolf Ehrenberg und Viktor von Weizsäcker - erwachsen ist (GS III 151), zu dem
aber auch unabhängig von ihnen Martin Buber und Ferdinand Ebner
vorgedrungen
sind - wenig später hätte er auch noch auf Gabriel Marcel und
auf Eberhard Grisebach hinweisen können.
Unter dem neuen Denken versteht
Rosenzweig eine neue Philosophie, die sich aus theologischen Fragen
begründet,
und eine neue Theologie, die sich auf philosophisches Denken bezogen
weiß.
Sie lässt sich wohl am besten als eine existentielle
Glaubensphilosophie
umschreiben, die sich in die Glaubensgemeinschaft hinein, aus der sie
sich
versteht, praktisch zu bewähren versucht. Nur insofern sich
Rosenzweig
aus dem Bund Gottes mit dem Volk Israel versteht, ist Der Stern
auch ein "jüdisches Buch". Nur der dritte Band handelt explizit
von
der jüdischen Glaubensgemeinschaft, doch auch in ihm - ganz aus
dem
Dialog mit Christen entstanden - findet sich ebensoviel über die
christliche
Glaubensgemeinschaft und über Möglichkeiten und Grenzen eines
jüdisch-christlichen Dialogs.
I. Die Elemente oder die immerwährende Vorwelt
Der erste Band "Die Elemente oder
die immerwährende Vorwelt" klärt gleichsam
transzendentalphilosophisch
die Bedingungen der Möglichkeit menschlichen Denkens schlechthin.
Dies sind die Elemente die in alle Erkenntnis konstituierend eingehen,
die ihr immer schon zugrunde liegen und die in dieser Hinsicht die
immerwährende
Vorwelt der logischen Rationalität gegenüber der wirklichen
Erfahrung
bilden. Schon indem Rosenzweig gleich zu Beginn die logische
Rationalität
als immerwährende Vorwelt untersucht, stellt er sich einerseits in
die Tradition der kantisch-nachkantischen Philosophie, hebt sich aber
andererseits
entschieden von Hegel ab, für den die Logik die Explikation der
Bedingungen
der Möglichkeit des Wirklichen selber sind.
Rosenzweig setzt hier voraus, was
sein Vetter Hans Ehrenberg in Die Parteiung der Philosophie
(1911)
detailliert entfaltet. Ehrenberg legt dort dar, dass das
sich
selbst bedenkende Denken weder die Gegenstände des Denkens
generieren
kann, noch sich aus seinem Selbstbezug selber zu erschaffen vermag,
sondern
immer an ein existierendes Selbstbewusstsein gebunden bleibt, das
sich in die Wirklichkeit gestellt erfährt. Das Denken kann sich
zwar
in seiner eigenen Logik explizieren, aber es setzt dabei den
existentiellen
Vollzug eines denkenden Subjekts unableitbar voraus. Dies nennt
Ehrenberg
die von der Logik her nur in negativer Dialektik aufweisbare Metalogik
der Wirklichkeit.
In ähnlicher Weise hatte
auch
Rosenzweig in Anlehnung an Kierkegaard in einem Brief an seinen Vetter
Rudolf Ehrenberg vom 18.9.1917, der als die "Urzelle des Stern der
Erlösung"
bezeichnet wird, den existentiellen Ausgangspunkt seines Denkens in
Abgrenzung
von Hegels absoluter Vernunft herausgestellt: "[D]ie philosophierende
Vernunft
steht auf ihren eigenen Füßen, sie ist sich selbst genug.
Alle
Dinge sind in ihr begriffen und am Ende begreift sie sich selber [...].
Nachdem
sie also alles in sich aufgenommen und ihre Alleinexistenz proklamiert
hat, entdeckt plötzlich der Mensch, daß er, der doch
längst
philosophisch verdaute, noch da ist. [...] Ich Staub und Asche, Ich bin
noch
da. Und philosophiere, d.h.: ich habee die Unverschämtheit, die
Allherrscherin Philosophie zu philosophie-ren." (GS III, 126 f.)
Auch der erste Band des Stern
der Erlösung setzt dieses existentielle Selbstverständnis
des Denkens voraus, obwohl erst der zweite Band hierfür die
Grundlagen
nachliefern wird. Gleich in den ersten Sätzen der Einleitung
"Über
die Möglichkeit, das All zu erkennen - in philosophos!" macht
Rosenzweig
diesen existentiellen Standort des Denkens an der Erfahrung des Todes
deutlich:
"Vom Tode, von der Furcht des Todes, hebt alles Erkennen des All an.
[...]
Aber die Philosophie leugnet diese Ängste der Erde. [...] Und es
ist
der letzte Schluß dieser Weisheit: der Tod sei - Nichts. Aber in
Wahrheit ist das kein letzter Schluß, sondern ein erster Anfang,
und der Tod ist wahrhaftig nicht, was er scheint, nicht Nichts, sondern
ein unerbittliches, nicht wegzuschaffendes Etwas. [... Diese] nicht aus
der Welt zu bannende Wirklichkeit des Todes, die sich an dem nicht zu
schweigenden
Schrei der Opfer verkündet, sie macht den Grundgedanken der
Philosophie,
den Gedanken des einen und allgemeinen Erkennens des All zur Lüge,
noch ehe er gedacht ist." (GS II 3 ff.)
Der Tod wird nicht dadurch
überwunden,
dass er von der Vernunft begriffen in die Erkenntnis des All
einbezogen
wird; denn für den Menschen in seinem irdischen Dasein verliert er
dadurch keineswegs seinen "Giftstachel". Wo das Denken mit all seinen
Inhalten
sich nicht mehr aus seiner Logik zu erschaffen vermeint, sondern vom
existierenden
Menschen her versteht, da wird der Tod zum nie erlöschenden
Antrieb
des Nachsinnens über Gott und die Welt und sich selber: "Der
Mensch
soll die Angst des Irdischen nicht von sich werfen, er soll in der
Furcht
des Todes - bleiben." (GS II 4)
Rosenzweig nennt dieses hierdurch
sichtbar werdende tatsächliche Dasein jenseits aller
philosophischen
Bestimmungen des Menschen: das metaethische Selbst. Ist einmal dieser
"archimedische
Punkt" jenseits der Allerkenntnis des Idealismus gefunden, so zeigt
sich,
dass auch der tatsächlichen Wirklichkeit jenseits der
logischen
Bestimmungen ein metalogischer Sinn zukommt und schließlich
über
alle immanent weltlichen Bestimmungen hinaus auch Gott ein
metaphysisches
Sein zugesprochen werden kann: "So stößt das Metaethische,
wie
zuvor das Metalogische, das Metaphysische aus sich ab und macht es
gerade
dadurch als göttliche 'Persönlichkeit', als Einheit [...]
sichtbar
[...]. Dem lebendigen Menschen erscheint der lebendige Gott." (GS II 21)
Diese drei der
"Eindimensionalität"
der idealistischen Philosophie nicht ableitbaren Meta-Gegenstände,
dieses dreifach "Tatsächliche", das das Denken zu ergründen
versucht,
haben die Philosophen seit jeher beschäftigt - man denke nur an
das
Daimonion des Sokrates, die Weltseele bei Platon und den unbewegten
Beweger
bei Aristoteles. Aber immer wieder haben Philosophen auch versucht,
diese
drei Meta-Gegenstände unseres Denkens auseinander abzuleiten,
wobei
gerade dadurch das Denken, mit einem der Pole verschmolzen, zu einer
behauptet
absoluten Physik, Logik oder Ethik wird - wie bei Spinoza oder Hegel
oder
Fichte.
Für das nicht-idealistische
Denken erweisen sich diese drei Pole als Tatsächlichkeiten, denen
es sich niemals zu entziehen vermag. Um sich diesen drei Polen je
für
sich annähern zu können, bedient sich das Denken - wie
Rosenzweig
darlegt - der Methode, die Hermann Cohen am Differential in der
Mathematik
dargelegt hat. Das Denken beginnt jeweils beim Nichts des Wissens und
bewegt
sich auf ein Wissen des Tatsächlichen zu. Darin stecken zwei
getrennte
Bewegungselemente, die durch einen dritten Akt verknüpft werden
müssen:
"Zwei Wege erschließt es so vom Nichts zum Etwas, den Weg der
Bejahung
dessen, was nicht Nichts ist, und den Weg der Verneinung des Nichts."
(GS
II 23)
In der Bejahung des Nicht-Nichts
liegt die Zielgerichtetheit, durch die das Denken sich überhaupt
vom
Nichts des Wissens ab- und dem Etwas zuwendet. Aber aus dieser reinen
Hinwendung
kommt ihm noch kein bestimmter Wissensinhalt. Diesen erarbeitet sich
das
Denken aus der beständig fortschreitenden Verneinung des Nichts,
wie
dies Hegel in seiner Dialektik trefflich charakterisiert hat - wiewohl
er nur dieses eine Bewegungsmoment kennt, das er daher
fälschlicherweise
verabsolutiert. Beide Bewegungsmomente bedürfen schließlich
noch der sie vermittelnden Synthesis, die Rosenzweig in betonter
Abgrenzung
vom Idealismus schlicht "Und" nennt. Es ist dies der unabdingbar
notwendige
Akt des Zusammenfügens der beiden ersten Bewegungsmomente, die
sonst
aneinander vorbeilaufen würden.
Obwohl die Methode der
Annäherung
des Denkens an das Tatsächliche immer dieselbe bleibt, da sie
jeweils
beim Nichts des Wissens beginnt - "Von Gott wissen wir nichts" (GS II
25),
"Von der Welt wissen wir nichts" (GS II 45), "Auch vom Menschen also
wissen
wir nichts" (GS II 68) -, ist doch die angezielte Tatsächlichkeit
eine jeweils andere.
So sagt Rosenzweig im ersten Kapitel
"Gott und sein Sein oder Metaphysik": "Wir suchen Gott, wie
späterhin
Welt und Mensch, nicht als einen Begriff unter anderen, sondern
für
sich, auf sich allein gestellt, in seiner [...] absoluten
Tatsächlichkeit,
also gerade in seiner 'Positivität'." (GS II 25) Und ähnlich
zielen das zweite Kapitel "Die Welt und ihr Sinn oder Metalogik" sowie
das dritte Kapitel "Der Mensch und sein Selbst oder Metaethik" jeweils
auf die ganz spezifische Lebendigkeit der Welt und Lebendigkeit des
Menschen.
Dadurch unterscheiden sich Erkenntnisweg und Ergebnis aller
drei
Untersuchungen entschieden von einander, wie Rosenzweig in den drei
Kapiteln
des ersten Bandes strukturell aufzeigt, was sich jedoch auch an der
Geschichte
philosophischer Erkenntnis demonstriert ließe.
Für uns entscheidend ist
hier
nur das Gesamtergebnis: Das philosophische Denken, das sich nicht in
die
eindimensionale Alleinheitslehre des Idealismus verirrt, kann sehr wohl
zur Erkenntnis der lebendigen Gottheit, des lebendigen Kosmos, des
lebendigen
Selbst vordringen, aber diese bleiben für es letztlich
nebeneinander
bestehende Tatsächlichkeiten, die es nicht von sich aus in
Beziehung
zu setzten vermag. Symbolisiert werden die drei Tatsächlichkeiten
- Gott, Welt, Mensch - von Rosenzweig durch das nach oben gerichtete
Dreieck
im Davidstern. "Der mythische Gott, die plastische Welt, der tragische
Mensch - wir halten die Teile in der Hand" (GS II 91), aber es fehlen
"ihre
wechselseitigen Beziehungen" untereinander.
Diese Beziehungen, genauer das
Sich-Ereignen
dieser Beziehungen vermag das philosophische Denken niemals aus
sich
heraus aufzufinden. Um sie zu erfassen, bedarf es, wie Rosenzweig im
zum
zweiten Band hinüberblickenden Kapitel "Übergang"
ausführt,
einer "Umkehr": "Wir stehen an dem Übergang, - dem Übergang
des Geheimnisses in das Wunder." (GS II 99)
II. Die Bahn oder die allzeiterneuerte Welt
Der zweite Band "Die Bahn oder
die
allzeiterneuerte Welt" beginnt mit der einleitenden Frage "Über
die
Möglichkeit, das Wunder zu erleben - in theologos!" Dabei geht es
nicht darum, dieses oder jenes unerklärliche Ereignis als ein
Wunder
zu deuten, sondern um das Wunder des Ereignens sinnhafter Wirklichkeit
selbst. Schellings berühmte, auf Leibniz bezugnehmende
"verzeiflungsvollen Frage: warum
ist überhaupt etwas? warum ist nicht nichts?" (Schelling XIII 7),
bleibt
der rein rationalen, "negativen Philosophie" ein unbeantwortbares
Geheimnis,
erst der "positiven Philosophie", die - wie Schelling in seiner
Philosophie
der Offenbarung ausführte - von dem ihr unvordenklich
vorausliegenden
Existieren anhebt, wird das Wunder der Existenz in ihrem Sinnhorizont
erfahrbar
und auslegbar. Auf diese "Umkehr" von der negativen zur positiven
Philosophie
im Sinne Schellings bezieht sich Rosenzweig im zweiten und zentralen
Band
des Stern der Erlösung ausdrücklich, geht aber dann
in
der weiteren Explikation eigene Wege.
Immer schon - so unterstreicht
Rosenzweig
- wurde die Möglichkeit, das Wunder zu erleben", zunächst an
der "Schöpfung" erfahren (GS II 121), sie ist die "Pforte, durch
die
die Philosophie in das Haus der Theologie eintritt" (GS II 114), denn
das
schlichte Ereignen eines sinnhaften Daseins ist das Wunder, dem sich
die
Erfahrung gar nicht entziehen kann. Und doch liegt in der Erfahrung des
geschöpflichen Daseins nur ein erstes Moment, denn noch viel
zentraler
erweist sich das "Offenbarungswunder" der Sprache, das Sich-Ereignen
von
Sinnhaftigkeit in allem Sprechen selbst. "Denn die Sprache ist
wahrhaftig
die Morgengabe des Schöpfers an die Menschheit und doch zugleich
das
gemeinsame Gut der Menschenkinder, an dem jedes seinen besonderen
Anteil
hat, [...] der Mensch wurde zum Menschen, als er sprach." (GS II
122)
Schließlich aber kommt noch ein drittes Moment hinzu: das
geschichtliche
Ereignen in der Zukunftsgerichtetheit unseres "Wollens auf die
Erlösung"
hin (GS II 122), "die Zuversicht auf das Kommen des sittlichen Reichs
der
endlichen Erlösung" (GS II 114).
Alle drei Momente: das Ereignis
geschöpflichen Daseins, das Ereignis sprachlicher
Verständigung,
das Ereignis geschichtlicher Zukunftsgerichtetheit lassen sich aus der
reinen Logik idealistischen Denkens niemals ableiten, denn sie liegen
allem
Denken im existentiellen Vollzug unseres Denken immer schon voraus. So
bedarf es erst einer "Umkehr" zu einem "neuen Denken", von dem her sich
unsere daseiende, sprachliche, geschichtliche Existenz aus dem Wunder
des
Sinnzusammenhangs von Schöpfung, Offenbarung und Erlösung
erschließt.
Diese drei Ereignismomente - Schöpfung, Offenbarung, Erlösung
-, die die ersten drei Elemente der immerwährenden Vorwelt in eine
zeitlich-geschichtliche Bahn allzeiterneuerter Wirklichkeit bringen,
werden
von Rosenzweig mit dem nach unten gerichteten Dreieck des Davidsterns
symbolisiert.
1. "Schöpfung oder der
immerwährende Grund der Dinge"
Die Philosophie als
Vernunftwissenschaft
kann die Welt immer nur in ihren allgemeinlogischen Strukturen ihres
Begriffenseins
ableiten, nicht aber aus ihrem existentiellen Daseinszusammenhang
erfassen.
"Erst der Gedanke der Schöpfung reißt die Welt aus ihrer
elementaren
Abgeschlossenheit und Unbeweglichkeit in den Strom des Alls hinein,
öffnet
ihre bisher ins Innere gekehrten Augen nach außen, macht ihr
Geheimnis
offenbar." (GS II 131)
Es findet hier zunächst eine
totale Umkehrung statt: nicht unser wissenschaftliches Erkennen
bestimmt
den Gesetzeszusammenhang der Natur, sondern wir erfahren hier das uns
immer
schon vorliegende sinnhafte Dasein des kreatürlichen Zusammenhangs
der Schöpfung: "Die Welt ist vor allem [...] da. Einfach da. Dies
Sein
der Welt ist ihr Schon-da-sein." (GS II 146) Aber mehr noch: Wir
erfahren
auch unser eigenes Einbezogensein ins Dasein, erfahren uns als Kreatur
gleich aller Kreatur. Zwar sind nur wir ein Dasein, das sich auf sein
Dasein
hin befragen kann, aber die Einbezogenheit ins Dasein erfahren wir als
etwas, was wir mit aller Kreatur gemein haben.
Dasein ist nichts Statisches,
sondern bedeutet:
"fortwährend neu werden" - Leben, Wachstum, Produktivität. Es
erfordert das "ständig erneuerte Geschaffenwerden" (GS II 134 f.).
Dies interpretieren wir nicht etwa in die Natur hinein, sondern wir
erfahren
es in allen Prozessen organischen Lebens und - selber einbezogen in den
Gesamtzusammenhang der Kreatur - lebendig an uns selbst.
Im Schon-da-sein liegt
darüber
hinaus eine erste zeitliche Dimension, eine "Verzeitlichung, spezieller
ein [...] Ausgezeichnetsein mit dem Charakter des Vergangenen" (GS II
147).
Damit ist nicht gemeint, dass die kreatürliche Natur etwas
Abgeschlossenes
und Gewesenes sei, vielmehr betont Rosenzweig bereits in der
Kapitelüberschrift,
dass es sich hierbei um den "immerwährenden Grund der Dinge"
handelt. So meint das Schon-da-sein der kreatürlichen Natur nur im
Hinblick auf unsere sprachliche Gegenwart eine ständig sich
erneuernde
Vergangenheit, die niemals Gegenwart war.
Noch deutlicher wird dieser
verzeitlichende
Vergangenheitscharakter allen kreatürlichen Daseins, wenn wir den
Gedanken des Todes hinzuziehen, der unabdingbar zu allem Leben
hinzugehört.
"Der Tod, jedem geschaffenen Ding ein rechter Vollender zu seiner
ganzen
Dinglichkeit, rückt unmerklich die Schöpfung ins Vergangene
und
macht sie so zur stillen, ständigen Voraussage des Wunders ihrer
Erneuerung."
(GS II 173) Alles kreatürliche Leben steht im Zeichen des Todes,
ist
Werden und Vergehen. Der Tod ist stärker als alles Lebendige,
keine
Kreatur kann dem Tod entgehen. Und doch verweist der Tod gerade dadurch
über das Leben und sich selbst hinaus. "Der geschaffene Tod des
Geschöpfs
ist das Vorzeichen auf die Offenbarung des übergeschöpflichen
Lebens." (GS II 173) Das "übergeschöpfliche Leben" liegt
jedoch
nicht jenseits des Lebens und nach dem Tode, sondern erblüht
mitten
im Leben über es hinaus. Es ist dies die Sinndimension der
Sprache,
das Miteinander-sprechen-Können der Menschen, deren
Ermöglichungsgrund
die Liebe ist.
2. "Offenbarung oder die
allzeiterneuerte
Geburt der Seele"
"Stark wie der Tod ist Liebe." So
beginnt Rosenzweig das zweite Kapitel "Offenbarung oder die
allzeiterneuerte
Geburt der Seele", das ein einziger Hymnus auf die Liebe ist. "Dem Tod
[...] sagt die Liebe den Kampf an" (GS II 174). Die Liebe, von der
Rosenzweig
hier spricht, ist zunächst die Liebe, in der Gott sich den
Menschen
offenbart; erst später werden wir noch auf das Liebesgebot der
Menschen
untereinander kommen. Obwohl Rosenzweig in diesem zweiten Kapitel des
zweiten
Bandes, dem Herzstück seines Stern der Erlösung, fast
ausschließlich theologisch spricht, dürfen wir doch nicht
den
philosophischen Kern übersehen, der das ganze Werk von Rosenzweig
trägt. Unter Offenbarung haben wir philosophisch unsere
Sinnerschlossenheit
in der Sprache zu verstehen. Sprache ist dabei keine Gegebenheit,
sondern
ein Ereignis, das sich im Sprechen der Menschen miteinander vollzieht.
Dass das Ich, das wir je selber
sind, nicht aus sich selbst, sondern nur vom Anderen her angesprochen
und
auf den Anderen hin antwortend sich existentiell selber zu finden
vermag,
wird von Rosenzweig zum zentralen Gedanken seiner Grundlegung unseres
existentiellen
und dialogischen in der Sprache-Seins. Rosenzweig erläutert dies
im
Stern
gleichnishaft an der Namensrufung des Menschen durch Gott: Wo bist Du
Adam?
Erst ihr gegenüber vermag der Mensch - eigentlich erst seit
Abraham -, das existentiell bewusste und
entschiedene: "Hier bin ich" zu antworten. Dieses Angerufenwerden ist
kein
einmaliger Akt, sondern ereignet sich in allem Sprechen, in allem
Sinngeschehen.
Es geht Rosenzweig hier um das Wunder des "wirklich Gesprochenwerdens
der
Sprache" (GS II 194), um das gesprochene, gehörte und erwiderte
"wirkliche
Wort".
In diesem Ereignen von
Sinnverständigung
liegt "das Erlebnis einer Gegenwart", ja im "sprechenden Denken"
erschließt
sich dem je Eigensten unserer Seele die neue zeitliche Dimension der
allzeiterneuerten
Gegenwärtigkeit. "Im wirklichen Gespräch geschieht eben
etwas;
ich weiß nicht vorher, was mir der andre sagen wird, weil ich
nämlich
auch noch nicht einmal weiß, was ich selber sagen werde; ja
vielleicht
noch nicht einmal, daß ich überhaupt etwas sagen werde." (GS
III 151) So liegt in der Sprache sowohl das existentielle
"Bedürfnis
des andern" als auch, "was dasselbe ist", ein "Ernstnehmen der Zeit"
(GS
III 151 f.) in ihrem Gegenwärtigsein.
Nun können wir mit Rosenzweig
den Bogen zurückschlagen zur Liebe, denn "die Liebe ist, wie die
Sprache
selbst, sinnlich-übersinnlich" (GS II 224), und die "sprechende
Sprache"
ist die wirkliche, die gegenwärtige Offenbarung, "ja [diese] ist
das
Gegenwärtigsein selbst" (GS II 207). Nun ist der philosophische
Sinn
verständlich, der in der Aussage liegt: "Der Tod ist das Letzte
und
Voll-endende der Schöpfung - und die Liebe ist stark wie er." (GS
II 225) Die ganze Dimension sprechender Sinnverständigung ist kein
Teil der Schöpfung mehr, und sie unterliegt damit auch nicht mehr
dem Gesetz des Todes. Die Sprache ist keine Naturgegebenheit, sie ist
kein
Teil der Schöpfung; aber ebenso wenig ist sie eine Erfindung und
Verabredung
der Menschen, denn jede Verabredung setzt Sprache immer schon voraus.
Zwar
ereignet sich Sprache - wie wir gerade mit Rosenzweig unterstrichen
haben
- immer nur ganz gegenwärtig im wirklichen Sprechen und
Hören,
Antworten und Schweigen, aber deren ermöglichende Sinnstiftung, in
der wir je und je stehen, geht allem Sinnverstehen und aller
Sinnverständigung
grundlegend schon voraus. "[D]as Denken ist stumm in jedem Einzelnen
für
sich und doch allen gemein; durch diese Gemeinsamkeit begründet es
die wirkliche Gemeinsamkeit des Sprechens [...]. Statt der Sprache vor
der
Sprache steht die wirkliche Sprache vor uns. [...] Das Wort des
Menschen
ist
Sinnbild: jeden Augenblick wird es im Munde des Sprechers neu
geschaffen,
doch nur, weil es von Anbeginn an ist und jeden Sprecher, der einst das
Wunder der Erneuerung an ihm wirkt, schon in seinem Schoße
trägt."
(GS II 121 ff.)
Dieses Vorausgehen liegt jedoch
nicht wie das Dasein des kreatürlichen Lebens immerwährend
vor,
sondern ereignet sich allzeiterneuernd als das in den Sinngerufensein
eines
jeden einzelnen in den Akten sprechender Wechselrede und jedes aktualen
Sinngeschehens. Die Anrufung oder besser Einrufung in den Sinn ist die
Offenbarung selbst, sie ereignet sich allzeiterneuert in der
Gegenwärtigkeit
jeder sprechenden Wechselrede. Hierin offenbart sich die dem Menschen
und
ihm allein geltende Liebe Gottes.
3. "Erlösung oder die
ewige Zukunft des Reichs"
"Liebe deinen Nächsten. Das
ist, so versichern Jud und Christ, der Inbegriff der Gebote. Mit diesem
Gebot verläßt die mündig gesprochene Seele das
Vaterhaus
der göttlichen Liebe und wandert hinaus in die Welt." (GS II 229)
So beginnt das dritte und letzte Kapitel des zweiten Bandes
"Erlösung
oder die ewige Zukunft des Reichs". Mit ihm wird eine dritte Dimension
menschlicher Existenz betreten, die der Sittlichkeit, und in ihr
erschließt
sich uns auch die dritte Zeitform, die der Zukunft.
In der Gleichnishaftigkeit seiner
religiösen Sprache drückt Rosenzweig das Problem so aus: "Die
Liebe zum Nächsten ist das, was jene bloße Hingegebenheit in
jedem Augenblick überwindet und dennoch stets voraussetzt. [...]
Die
Liebe zu Gott soll sich äußern in der Liebe zum
Nächsten."
(GS II 238 f.) Das Hineingerufensein in die Sinnverständigung, die
sich
in allem Sprechen mit Anderen ereignet, setzt im Grunde das sittliche
In-die-Verantwortung-Gerufensein
durch den Anderen bereits voraus und treibt zur Verwirklichung dieser
sittlichen
Verantwortung voran. Auf diesen Anspruchshorizont sittlichen
Menschseins
hin kann sich erst die Eigentlichkeit menschlicher Existenz
erfüllen.
Mit Recht hebt Rosenzweig hervor,
dass das Liebesgebot in seiner Urfassung nicht etwa die einem am
nächsten
stehenden Menschen meint, sondern schlechthin den Anderen, der jeweils
der sittlichen Zuwendung bedarf. Dabei kann das Gebot der
Nächstenliebe
sich niemals in der Zuwendung an einen einzelnen erfüllen, denn
immer
wieder neue Nächste, die unserer Zuwendung bedürfen, treten
in
unseren Gesichtskreis. Auch wird es nicht durch die faktische Dominanz
einer unsittlichen Wirklichkeit in seinen Anspruch geschmälert.
"Diese
Erfüllung von Gottes Gebot in der Welt ist ja nun nicht ein
einzelner
Akt, sondern eine ganze Reihe von Akten; die Liebe des Nächsten
bricht
immer neu hervor; sie ist ein Immerwiedervonvornbeginnen; sie
läßt
sich durch keine 'Enttäuschungen' beirren; ja im Gegenteil: sie
bedarf
der Enttäuschungen, damit sie nicht einrostet". (GS II 240)
Als Anspruchshorizont steht sie
in der Zeitdimension der Zukunft, die fortdauernd ausständige ist,
"die, ohne aufzuhören Zukunft zu sein, dennoch gegenwärtig
ist"
(GS II 250). Das Zukünftige - so führt Rosenzweig aus - ist
"nur
zu fassen durch das Mittel der Vorwegnahme. [...] Die Zukunft wird
erlebt
nur in der Erwartung. [...] So ist sie [...] ein Kommen. Sie ist das
was
kommen
soll. Sie ist das Reich." (GS II 244 f.) Aber das Reich kommt nicht von
sich
aus, sondern es muss vielmehr durch die sittliche Tat der
Nächstenliebe
erstrebt und erwirkt werden. "Auf die Welt also ist die Tat gerichtet"
(GS II 243).
Hierauf aufbauend thematisiert
Rosenzweig
die Geschichtlichkeit der menschlichen Existenz, indem er
zusammenfassend
die drei Zeitdimensionen aufeinander bezieht. Vergangenheit, Gegenwart
und Zukunft gehen nicht auseinander hervor und ineinander über:
Alles
Dasein ist grundsätzlich immerwährende Vergangenheit, alles
Sinnverstehen
und alle Sinnverständigung ist allzeiterneuerte Gegenwart, und
aller
sittlicher Anspruch ist fortdauernde ausständige Zukunft, nur
erinnernd
und erzählend bzw. erwartend und vorwegnehmend können wir uns
Vergangenes und Zukünftiges vergegenwärtigen, niemals aber
verändern
dabei Vergangenheit - Gegenwart - Zukunft ihr strukturelles Gefüge
zueinander. Nur gemeinsam bilden diese Zeitdimensionen die Grundlage
menschlicher Geschichte.
Rosenzweigs Geschichtsbegriff steht
ganz im Zeichen der Zukunft. Geschichte darf nicht verwechselt werden
mit
Historie, nach Rosenzweig ist Geschichte das Noch-Ausständige, das
uns Aufgegebene, das, was kommen soll. Schon das kreatürliche
Da-sein
ist trotz des Todes für die einzelne Kreatur ein unablässig
sich
erneuernder Prozess des "Wachsens". Das vom Anspruch der
Nächstenliebe
bestimmte menschliche Handeln ist unablässlich auf das Kommen
des Reichs gerichtetes "Wirken". "Wachsen und Wirken", beide sind in je
ihrer Weise auf eine gemeinsame Erfüllung ausgerichtet, und beide
sind darin unabdingbar aufeinander angewiesen, denn die Schöpfung
kann sich nicht ohne den Menschen und das Reich nicht ohne die
Einbeziehung
aller Geschöpfe erfüllen. Schöpfung und Geschichte,
Wachsen
und Wirken, sie "können sich selber nicht voneinander lösen,
sie können nur miteinander - er-löst werden, erlöst von
einem dritten, der eines am andern, eines durch das andere erlöst
[...], nur Einer kann ihnen Erlöser werden." (GS II 255) Und auf
die
Erlösung bezogen lässt sich sagen, dass sie nicht
nur
so stark wie der Tod ist, sondern stärker als er.
Erlösung ist - wie Rosenzweig
im Übergangskapitel "Schwelle" ausführt - Heimholung von
Schöpfung
und Geschichte in die Ewigkeit Gottes. Sie kann nicht erwirkt und
erstritten
werden, sondern sie ist ein Ereignis, das grundsätzlich von
Außen
an Schöpfung und Geschichte herantritt, ein Ereignis, dass
grundsätzlich
messianisch jeden Augenblick eintreten kann, im Tod eines jeden
einzelnen
von uns, genauso wie im Tod der Menschheit insgesamt und im Tod aller
Kreatur.
Die Ewigkeit der Erlösung ist kein zeitlicher Zustand nach der
Zeit,
sondern schlechthin außer der Zeit. In ihr ist alle Zeit selbst
aufgehoben.
"Von Gott also nimmt die Erlösung ihren Ursprung, und der Mensch
weiß
weder Tag noch Stunde. Er weiß nur, daß er lieben soll und
stets das Nächste und den Nächsten [...]; und ob sich Welt
und
Mensch nun heute finden oder morgen oder wann - die Zeiten sind
unberechenbar,
sie weiß nicht Mensch noch Welt; die Stunde weiß allein Er,
der das Heute jeden Augenblick erlöst zur Ewigkeit. Die
Erlösung
ist also Ende, vor dem alles Angefangene in seinen Anfang
zurücksinkt."
(GS II 269)
III. Die Gestalt oder die ewige Überwelt
Bereits der Titel des dritten
Teils
"Die Gestalt oder die ewige Überwelt" spricht aus, dass es
jetzt
nicht mehr um die zeitlich-geschichtliche Erfahrung, sondern um das
Überzeitliche,
das Ewige geht, und zwar nicht das Ewige an sich, sondern insofern wir
zu ihm in Beziehung stehen. So handelt der ganze dritte Teil von der
Ewigkeit,
die im Ritus einer Glaubensgemeinschaft mitten in die weltlichen
Geschichte
hereinstrahlt, die Gemeinschaft im Kultus aus der Zeit auf die Ewigkeit
hin hinaushebt.
Schon in der Einleitung
"Über
die Möglichkeit, das Reich zu erbeten - in tyrannos!" deutet
Rosenzweig
an, dass die Liebestat am Nächsten, wie sie vorher
grundsätzlich
thematisiert worden war, im je konkreten Lebensvollzug völlig
blind
bleibt, wenn sie nicht durch das Gebet, diesem individuellen
Inbezugtreten
mit Gott, Erleuchtung erfährt. Die Liebestat sieht nicht, wer der
Nächste ist und was als nächstes sie zu tun hat; oft erkennt
sie erst aus den nicht gewollten Folgen, was sie hätte wahrhaft
tun
oder lassen sollen, oder sie erkennt aus Fügungen, dass sie
zu
früh verzagte.
Hier nun liegt die Bedeutung des
Gebets, die immer
Zwiesprache ist; niemals kann das Gebet etwas herbeizwingen, noch
können
die konkreten Umstände den Menschen zwingen von der
Nächstenliebe
zu lassen. "Gott will offenbar nur die Freien zu den Seinen. [...] Und
so
bleibt ihm gar nichts übrig - er muß den Menschen versuchen
[...]. Der Mensch muß also wissen, daß er bisweilen
versucht
wird
um seiner Freiheit willen. [...] Indem [er] sich vor Gottes Versuchung
fürchtet,
weiß [er] doch in sich die Kraft, Gott selber zu versuchen." (GS
II 296 f.)
Aus der Zwiesprache des Gebets
erwächst
dem Menschen nur Erleuchtung, was ihm im Hinblick auf das Gebot der
Nächstenliebe
zu tun oder zu lassen obliegt. "Und so kommt das Gebet, das an sich
keine
magische Kräfte hat, dennoch, indem es der Liebe den Weg
erleuchtet,
zu magischen Wirkungsmöglichkeiten. Es kann in die göttliche
Weltordnung eingreifen. Es kann der Liebe die Richtung geben" (GS II
301),
um dadurch zur "Beschleunigung" der Herbeikunft des Reichs der
Erlösung
beitragen zu können.
Das Gebet soll aber nicht nur
sporadisch
und in Situationen der Anfechtung erfolgen, sondern das ganze Leben
durchdringen
und leiten, es soll den "Dienst der Erde, die Arbeit der 'Kultur' [...]
rhythmisch
regeln" (GS II 324), und dies kann es nur dort, wo es das Leben einer
ganzen
Glaubensgemeinschaft bestimmend erfüllt. Davon nun, wie das Gebet,
der Kultus in unterschiedlicher Weise die jüdische und die
christliche
Glaubensgemeinschaft durch die heiligen Feste leitet, handelt der
dritte
Band des Stern.
Im ersten Kapitel dieses dritten
Bandes "Das Feuer oder das ewige Leben" - dem Innenbereich des
Davidsterns
- geht Rosenzweig auf das durch die Zwiesprache mit Gott bestimmte
Leben
der Juden ein. Dem jüdischen Volk ist durch Gott offenbart,
dass
es ewig Sein Volk ist. Und daraufhin ist auch der Kreislauf der Feste
und
Gebete bestimmt und durchdrungen von der Verheißung, das eine,
das
ewige Volk zu sein. "Gepriesen sei, der ewiges Leben gepflanzt hat
mitten
unter uns. Inmitten des Sterns brennt das Feuer. [...] Das Kernfeuer
muß
brennen ohne Unterlaß. Seine Flamme muß sich ewig aus sich
selber nähren. [...] Es muß sich selbst ewig fortzeugen".
(GS
II, 331)
Aber das jüdische Volk
muss
für seine Treue zum Bund mit Gott, durch den es ewiges Leben
erlangt,
seit fast zwei Jahrtausenden schon mit dem Ausschluss aus der
Weltgeschichte
bezahlen. Dieses Volk besitzt als Volk kein eigenes Land, keine eigene
Sprache, kein eigenes Gesetz mehr. Die Juden wohnen verstreut unter den
Völkern in fremden Ländern, nur in ihrem Herzen brennt die
Sehnsucht
nach ihrem "heiligen Land", sie sprechen die Sprachen fremder
Völker,
nur in der Thora und ihrer Auslegung lebt ihre "heilige Sprache" fort,
sie fügen sich den Gesetzen fremder Staaten, nur in ihren
intimsten
Lebensbereichen halten sie an ihrer "heiligen Gesetzeslehre" fest.
Dieses Herausgehobensein aus dem
geschichtlichen Weltlauf drückt sich in der Liturgie der
jüdischen
Jahresfeste aus, die im Jom Kippur, dem Fest des Erlösungstages
gipfeln.
Sie alle verweisen auf Offenbarungsereignisse des Volkes Israel, die in
ihrer Folge den Bund Gottes mit seinem Volk bezeugen, beschwören
und
damit als ewigen Bund immer wieder neu besiegeln.
Ganz anders ist das Leben der
christlichen
Völker bestimmt, das Rosenzweig im zweiten Kapitel "Die Strahlen
oder
der ewige Weg" behandelt - die äußeren Strahlen des
Davidsterns,
die in das Dunkel der heidnischen Welt hinausweisen. "Aus dem feurigen
Kern des Sterns schießen die Strahlen. Sie suchen sich ihren Weg
durch die lange Nacht der Zeiten. Es muß ein ewiger Weg sein,
kein
zeitlicher, ob er gleich durch die Zeit führt. [...] So bleibt ihm
nur
eins: er muß der Zeit Herr werden ... Das Christentum ist es, das
also die Gegenwart zur Epoche gemacht hat. [...] So wird das
Christentum
[..]
gewaltig über die Zeit. [...] Das Christentum als ewiger Weg
muß
sich immer weiter ausbreiten. [...] Die Christenheit muß
missionieren.
[...] Ja, das Missionieren ist ihr geradezu die Form der
Selbsterhaltung.
Sie pflanzt sich fort, indem sie sich ausbreitet." (GS II, 374 ff.)
Anders als das Judentum, das an
das ewige Leben eines Volkes gebunden ist, ist das Christentum eine
über
alle Völker ausgreifende Gemeinschaft der Glaubenden, derer, die
an
Christus glauben und ihm nachfolgen. Daher wendet sich das Christentum
an jeden als Glaubenden, und es kann sich nur durch den Glauben jedes
einzelnen
und seine zeugnisgebende Weitergabe hindurch fortpflanzen. Über
alle
"Unterschiede der Geschlechter, Alter, Klassen, Rassen hinweg" ist das
Christentum "das Band der Brüderlichkeit" (GS II, 382). Das Band
ihrer
Brüderlichkeit ist der gemeinsame Glaube an Christus den
Gekreuzigten,
ihren Heiland. Auf seinen Erdenwandel bezieht sich die Liturgie aller
christlichen
Jahresfeste. Sie verweisen auf Christus als den Vermittler des neuen
Bundes
der Glaubenden mit Gott. Aus dieser Mittlerrolle erwächst den
Christen
jedoch eine eigentümliche - den Juden unfaßbare -
Gespaltenheit
der christlichen Wegorientierungen, die sich bezogen auf Gott, Mensch
und
Welt in der Trennung von "Vater und Sohn", "Priester und Heiliger"
sowie
"Staat und Kirche" niederschlägt.
Nach dieser Kennzeichnung der
Gegensätze
zwischen Juden und Christen aber kommt das Entscheidende: das Angebot
einer
jüdisch-christlichen Partnerschaft über das unaufhebbar
Trennende
hinweg. Weder im jüdischen Glauben, der im verheißenen
ewigen
Leben des jüdischen Volkes wurzelt, noch im christlichen Glauben,
dem die Erlösung aus der Nachfolge des ewigen Wegs verheißen
wird, liegt bereits die ganze Wahrheit - dies ist das Fazit des dritten
Kapitels "Der Stern oder die ewige Wahrheit". Nur "Gott ist die
Wahrheit" (GS II, 423). Beide - der Jude und der Christ - können
aneinander
ihre Grenze und ihren Halt erfahren, auch nach jüdischer Lehre
kann
das Reich der Erlösung erst kommen, wenn alle Welt und alle
Völker
zurückgekehrt sind zu Gott, und auch für die christliche
Lehre
bleibt das Volk Israel bis dahin Zeuge des alten Bundes mit Gott. So
sind
beide - Juden wie Christen - getrennt in der Erfüllung je ihres
Auftrags
und doch gegenseitig aufeinander angewiesen, damit sich ihr Auftrag
erfülle.
Nur wechselweise sind sie Garanten ihrer Verheißungen - nur
gemeinsam
sind sie der von Gott entzündete, feurig-strahlende Stern der
Erlösung.
"Vor Gott sind so die beiden,
Jude
und Christ, Arbeiter am gleichen Werk. Er kann keinen entbehren.
Zwischen
beiden hat er in aller Zeit Feindschaft gesetzt und doch hat er sie
aufs
engste wechselseitig aneinander gebunden. Uns gab er ewiges Leben,
indem
er uns das Feuer des Sterns seiner Wahrheit in unserem Herzen
entzündete.
Jene stellte er auf den ewigen Weg, indem er sie den Strahlen jenes
Sterns
seiner Wahrheit nacheilen machte in alle Zeit bis hin zum ewigen Ende.
[...]
Die Wahrheit, die ganze Wahrheit, gehört so weder ihnen noch uns.
[...]
Und so haben wir beide an der ganzen Wahrheit nur teil. Wir wissen
aber,
daß es das Wesen der Wahrheit ist, zu teil zu sein, und daß
eine Wahrheit, die niemandes Teil ist, keine Wahrheit wäre [...].
So
sind wir beide, jene wie wir und wir wie jene, Geschöpfe gerade um
dessentwillen, daß wir nicht die ganze Wahrheit schauen ... Aber
Gott [...] ist jenseits von allem, was Teil werden mag, er ist noch
über
dem Ganzen, das bei ihm ja auch nur Teil ist; noch über dem Ganzen
ist er der Eine." (GS II, 462 f.)
Damit sind wir nun endgültig
bei der allerletzten Frage angelangt, bei der Frage nach Gott selbst.
Ihre
von Gott uns geschenkte Beantwortung ist für Rosenzweig der
eigentlich
fundierende Halt der ganzen vorausgehenden Entfaltung seiner
Glaubensphilosophie.
Gott ist die Erlösung selbst, in ihn gehen Welt und Mensch am Ende
der Zeiten auf, so dass Er zum All-Einen wird. "Unmittelbar aber
geschieht
die Erlösung nur Gott selbst. Ihm selbst ist sie die ewige Tat, in
der er sich selbst befreit davon, daß ihm etwas
gegenübersteht,
was nicht er selbst ist. [...] Die Erlösung erlöst Gott,
indem
sie
ihn von seinem offenbarten Namen ['Ich werde sein, der ich sein werde']
löst." (GS II 426) Gerade hierin erweist sich Gott als die
Wahrheit,
er ist die Wahrheit, ihr Ursprung und ihr Zielpunkt. "Gott ist die
Wahrheit
- dieser Satz, mit dem wir ein Äußerstes des Wissens zu
erschwingen
meinten - sehen wir näher zu, was denn Wahrheit sei, so finden
wir,
daß jener Satz nur das innigst Vertraute unserer Erfahrung uns
mit
andrem Wort wiederbringt; [...] daß er Wahrheit ist, sagt uns
zuletzt
doch nichts anderes, als daß er - liebt." (GS II 432)
Hier kehrt der Gedankengang der
positiven Glaubensphilosophie in sein Innerstes, die Offenbarung
zurück,
aber damit endet noch nicht das Buch Der Stern der Erlösung.
Der dritte Band führt noch bis zum "Tor". Dieses Tor führt
nicht,
wie einige Interpreten meinten, bereits ins ewige Leben, denn dann
wäre
es die Erlösung und damit Gott selbst, sondern es führt aus
dem
Buch heraus, d.h. aus dem Sprechen über den Glauben hinaus "INS
LEBEN"
(GS II 472), in den praktizierten Glauben im "Alltag des Lebens".
In seinen späteren
Erläuterungen
zum Stern, der Abhandlung "Das neue Denken" (1925) hat
Rosenzweig
die Absicht des Schlusskapitels nochmals ausdrücklich
unterstrichen.
"Hier schließt das Buch. Denn, was nun kommt, ist schon jenseits
des Buchs, 'Tor' aus ihm heraus ins Nichtmehrbuch." "Das Buch ist kein
erreichtes Ziel, auch kein vorläufiges. Es muß selbst
verantwortet
werden." (GS II 160) "Wahrheit hört so auf, zu sein, was wahr
'ist',
und wird das, was als wahr - bewährt werden will. Der Begriff der
Bewährung der Wahrheit wird zum Grundbegriff dieser neuen
Erkenntnistheorie". (GS III 159 f)
Rosenzweig hat dies nicht nur geschrieben, sondern auch gelebt - durch seine Bildungsarbeit im Freien Jüdischen Lehrhaus und durch seine ausharrende Bewährung in siebenjähriger Todeskrankheit.
2
Von den
über 1000 Briefe von Franz Rosenzweig an Margrit Rosenstock-Huessy
sind die
meisten inzwischen im Buch Franz Rosenzweig, Die "Gritli"-Briefe. Briefe an Margrit
Rosenstock-Huessy, hrsg. von Inken Rühle und Reinhold
Mayer. Bilam Verlag, Tübingen 2002 veröffentlicht. Ein nahezu
vollstündige Edition der Briefe findet sich im Internet im Auftrag
des Eugen Rosenstock-Huessy Fund hrsg. von Michael Gormann-Thelen: http://www.ka-talog.de/fund.htm .
Die Antwortbriefe
von Margrit Rosenstock-Huessy wurden nach dem Tode von Franz Rosenzweig
bedauerlicherweise vernichtet. <zurück>
Die Schriften
Rosenzweigs
werden falls nicht ausdrücklich anders vermerkt nach
Franz Rosenzweig,
Der
Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften I-IV, Den Haag 1976 ff.
zitiert.
Bd. I: Briefe
und Tagebücher (zwei Teilbände)
Bd. II: Der
Stern der Erlösung (seitenidentisch mit der
Taschenbuchausgabe, Frankfurt
a.M. 1988)
Bd. III: Zweistromland.
Kleinere Schriften.
Bd. IV: Sprachdenken
im Übersetzen (Teil 1: Hymnen und Gedichte des Jehuda
Halevi; Teil
2: Arbeitspapiere zur Verdeutschung der Schrift).
Franz Rosenzweig, Hegel
und der Staat (1920), 2 Bde., Aalen 1962.
Franz Rosenzweig, Büchlein
vom gesunden und kranken Menschenverstand (1922/1953),
Königsstein/Ts.
1984.
Franz Rosenzweig, Die
"Gritli"-Briefe. Briefe an Margrit Rosenstock-Huessy, hrsg. von
Inken Rühle und Reinhold Mayer, Tübingen 2002.
Die Schrift, verdeutscht von Martin Buber in Zusammenarbeit mit Franz
Rosenzweig, 4 Bde., Heidelberg 1954 ff.
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Internationaler Kongriß Kassel 2004, 2 Bde.,
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Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Vorlesungen über
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