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Gemeinsam für den Sozialraum: Synergien zwischen Sozialer Arbeit und Freikirchen

Eine qualitative Analyse von Schnittstellen, Potenzialen und Risiken einer möglichen Zusammenarbeit im Sozialraum

Das Problem Die traditionelle Kirche sieht sich einer tiefgreifenden institutionellen Krise gegenüber, die durch diverse Skandale und anhaltende gesellschaftliche Kritik befeuert wird. Dies zeigt sich auch in den hohen Austrittszahlen, die im Jahr 2020 358.205 Menschen bei der katholischen Kirche und 280.000 Menschen bei der evangelischen Kirche betrafen. Dieser Trend scheint sich fortzusetzen, da Reformationsbemühungen – wie der Synodale Weg – vom Papst kritisiert werden. Gleichzeitig befindet sich die Gesellschaft im ständigen Krisenmodus. Die Aneinanderreihung gesellschaftlicher Krisen wie der Finanzkrise, der Flüchtlingskrise, der COVID-19-Pandemie, dem Ukrainekrieg, der Energiekrise und dem Krieg im Nahen Osten hat enormen Einfluss auf das gesellschaftliche Leben. Die zunehmende gesellschaftliche Not erweitert die Zielgruppe der Sozialen Arbeit, die eine Schlüsselrolle in der Bekämpfung gesellschaftlicher Krisen einnimmt. Dennoch bleibt die Profession der Sozialen Arbeit selbst nicht unberührt, sondern steht unter dem Ökonomisierungsdruck und vor weiteren Herausforderungen. Diese Krise hinterlässt ein spirituelles Vakuum, das zunehmend von neuen kirchlichen Bewegungen wie den Freikirchen gefüllt wird. Begonnen als Bewegung in Amerika, breiten sie sich durch eventähnliche Gottesdienste, dynamische Predigten und „familienähnliche“ Strukturen aus (EKD, 2021, S. 117). Der Dachverband „Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden“ in Deutschland verzeichnet ein kontinuierliches Wachstum an Mitgliedern und Gemeindegründungen. Während es im Jahr 2000 690 Pfingstgemeinden in Deutschland gab, stieg ihre Zahl bis 2022 auf 872 an. Gleichzeitig wuchs die Mitgliederzahl von 34.500 im Jahr 2000 auf 64.807 im Jahr 2022, was einen Anstieg um 87,85 % bedeutet. Dies verdeutlicht den Wandel der religiösen Landschaft in Deutschland. Zudem treten die Pfingstkirchen als neue soziale Akteure im Sozialraum auf.

Forschungsfrage Angesichts der gesellschaftlichen Notlage und der enormen Wachstumsdynamik der pfingstlerischen Freikirchen stellt sich die Frage, inwiefern eine Zusammenarbeit zwischen Sozialer Arbeit und Freikirchen im Sozialraum sinnvoll ist. In diesem Zusammenhang stehen die Aspekte der Schnittstellen, Potenziale und Risiken einer solchen Zusammenarbeit im Fokus der Analyse.

Methode Zur Erhebung wurden 20 qualitative, leitfadengestützte Interviews geführt. Unter den Interviewteilnehmern befinden sich 15 regelmäßige Gemeindemitglieder, die im sozialen Bereich tätig sind. Die weiteren 5 Interviewteilnehmer sind leitende Angestellte im Bereich der Freikirche und zählen als Experteninterviews. Untersucht wurden ausschließlich Gemeinden im Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden. Mithilfe der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring wurden die Interviews ausgewertet. Die Kategorien wurden in Tabellen zusammengefasst und abstrahiert, wobei insbesondere Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Vordergrund der Auswertung standen.

Zentrale Ergebnisse Die Analyse zeigt deutlich, dass zwischen den Systemen ‚Freikirche‘ und ‚Soziale Arbeit‘ eine Vielzahl von Schnittstellen und Gemeinsamkeiten existieren, die eine Kooperation sinnvoll erscheinen lassen. Beide Bereiche haben erstens den Menschen im Fokus. Aufgrund ihrer Beziehungsorientierung nehmen sie die Probleme der Menschen wahr und versuchen aktiv, ihre Not zu lindern. Zudem besitzen Soziale Arbeit und Freikirchen zweitens eine ähnliche Wertebasis, die auch die Entstehungsgeschichte der Sozialen Arbeit verdeutlicht. Schließlich verfügen beide Systeme über drittens einen selbstlosen und gemeinnützigen Charakter. Dadurch fokussieren sie gesellschaftliche Randgruppen und möchten mit ihrer Hilfe die Welt zum Positiven verändern. Eine Zusammenarbeit birgt viele mögliche Potenziale. Sie führt zu: erstens größerer Effektivität und Effizienz, zweitens mehr Reichweite, drittens mehr personelle Ressourcen zur Umsetzung von Projekten, viertens mehr Ressourcen für intensive pädagogische Arbeit, fünftens zunehmender Angebotsvielfalt für die Adressaten und sechstens Synergieeffekten zwischen Freikirche und Sozialer Arbeit. Die Adressatenorientierung ist wichtig, um ein Gleichgewicht zwischen den Partnern der Zusammenarbeit zu schaffen. Den Potenzialen stehen auch Gefahren gegenüber: erstens Wertekonflikte, zweitens Machtkonflikte, drittens die theologisch-geistige Komponente der Hilfe, viertens Hemmschwellen für Andersgläubige und fünftens Ausnutzung des freikirchlichen Personals.

Interpretation und Handlungsempfehlung Um die größtmöglichen Vorteile einer Zusammenarbeit zu erzielen, erscheint es sinnvoll, im Format eines „Projekts“ ein gemeinsames Vorhaben im Sozialraum umzusetzen. Dabei kann die interprofessionelle Zusammenarbeit sich am Elberfelder-Modell orientieren und so eine Vernetzung zwischen ehrenamtlichen und hauptamtlichen Fachkräften schaffen. Klare Regeln sowie regelmäßige Reflexionstreffen unterstützen die Zusammenarbeit. Insbesondere im Bereich der Obdachlosenhilfe können im Sozialraum kurzfristig gemeinsame Projekte initiiert werden.

Collections
@phdthesis{doi:10.17170/kobra-2024093010893,
  author    ={Pazer, Hans},
  title    ={Gemeinsam für den Sozialraum: Synergien zwischen Sozialer Arbeit und Freikirchen},
  keywords ={200 and 300 and Freikirche and Sozialarbeit and Diakonie and Sozialraum and Synergie},
  copyright  ={http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/},
  language ={de},
  school={Kassel, Universität Kassel, Fachbereich Geistes- und Kulturwissenschaften},
  year   ={2024}
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