Populationsgenetik und Phylogeographie des Großen Immergrüns (Vinca major L.; Apocynaceae) im autochthonen vs. allochthonen Verbreitungsgebiet
Populationsgenetik und Phylogeographie des Großen Immergrüns (Vinca major L.; Apocynaceae) im autochthonen vs. allochthonen Verbreitungsgebiet
Das Große Immergrün (Vinca major L., Apocynaceae) stammt aus dem Mittelmeerraum und wurde durch den Menschen als Nutz-, Arznei- und Zierpflanze sowie wegen seiner mythologischen Bedeutung in zahlreiche zuvor unbesiedelte Gebiete verschleppt. In einigen Regionen des allochthonen Areals (Australien, Neuseeland, USA) gilt V. major als invasiv und wird massiv bekämpft. Ziel meines Promotionsprojekts war die erstmalige Untersuchung der Populationsgenetik und Phylogeographie von V. major. Die Studie wurde im autochthonen, allochthonen und invasiven Areal dieser Art und im Vergleich zu V. minor (ähnliche Verbreitung wie V. major) sowie V. difformis (mit einer nahezu rein mediterranen Verbreitung) durchgeführt. Folgende Fragen sollten beantwortet werden: • Wie hoch sind die genetische Diversität und die Klonalität von V. major im autochthonen vs. allochthonen Areal? Wie unterscheiden sich V. minor und V. difformis in dieser Hinsicht? • Lässt sich der Grenzverlauf zwischen dem autochthonen und dem allochthonen Areal von V. major ermitteln? • Gibt es genetische Hinweise auf Auswilderungen von Gartenkultivaren? • Unterscheidet sich die Wuchsform der V. major-Individuen in den drei Arealtypen? • Ist eine Rekonstruktion der historischen Ausbreitungswege der drei Vinca-Arten möglich? • Ist die tetraploide Art V. major durch Autopolyploidisierung aus einem V. minor-ähnlichen diploiden Vorfahren hervorgegangen? Für die populationsgenetischen und phylogeographischen Analysen sollten nukleäre und plastidäre Mikrosatellitenmarker eingesetzt werden. Für V. minor standen bereits etablierte Marker zur Verfügung. Von den sechs für V. minor entwickelten plastidären Markern waren fünf sowohl in V. major als auch in V. difformis funktionell, während von den sieben nukleären Markern aus V. minor lediglich zwei auf V. major und keiner auf V. difformis übertragbar waren. Aufgrund dieser geringen Übertragbarkeitsrate wurden neue nukleäre Marker, basierend auf V. major-Sequenzen etabliert. Dafür wurden zwei DNA-Ausgangsdatensätze verwendet, die über ILLUMINA-Sequenzierung generiert wurden. Der erste genomische Datensatz basierte auf der DNA eines einzelnen V. major-Individuums. Der zweite Datensatz wurde anhand von transkriptomischen Sequenzen aus der Datenbank von NCBI erstellt. Insgesamt wurden 82 Mikrosatelliten-flankierende Primerpaare aus V. major-Sequenzen entworfen. Nach diversen Testreihen konnte für jede der drei Vinca-Arten ein individuelles Set aus jeweils acht funktionellen nukleären Markern für die populationsgenetische Analyse zusammengestellt werden.
Das für die populationsgenetischen Studien eingesetzte Pflanzenmaterial umfasste 2399 Individuen von 156 Beständen aus allen drei Arealtypen. Davon stammten 1889 Individuen von 120 V. major-Populationen, 330 Individuen von 26 V. minor-Populationen und 170 Individuen von 10 V. difformis-Populationen. Für die Bestimmung der genetischen und genotypischen Diversität und der Analyse von Multilocus-Genotypen (MLGs) wurden mehrere Standardparameter berechnet und die Ergebnisse auf der Ebene von Populationen, Ländern und Arealtypen ermittelt. Die Strukturierung der genetischen Diversität wurde mit Hilfe einer Bayes´schen STRUCTURE-Analyse, einer AMOVA und einer DAPC-Analyse abgeschätzt. Es wurde jeweils berücksichtigt, dass es sich bei V. major um eine tetraploide Art handelt, bei V. minor und V. difformis hingegen um diploide Arten.
Im autochthonen Areal erwiesen sich 61 % der V. major-, 78 % der V. minor- und 100 % der V. difformis-Populationen als genetisch divers, was auf einen mittleren bis hohen Anteil an generativer Reproduktion schließen lässt. Die restlichen Bestände waren monoklonal. Obwohl V. difformis keine monoklonalen, autochthonen Bestände aufweist, wurde auch hier eine Stolonbildung und somit klonales Wachstum festgestellt. Die STRUCTURE-Analyse und die DAPC stellten eine Strukturierung der genetischen Diversität der autochthonen Vinca-Bestände fest, da jedem Land ein oder mehr individuelle genetische Cluster bzw. Clusterkombinationen zugeordnet wurden.
Im allochthonen Areal erwiesen sich 71 % der V. major-, 75 % der V. minor- und 50 % der V. difformis-Bestände als genetisch divers und lassen auf generative Reproduktion schließen. Die restlichen Bestände waren monoklonal. Ein Diversitätszentrum wurde in Großbritannien festgestellt. Das dort häufige Auftreten in den Gärten, zusammen mit den zahlreichen Züchtungen in Verbindung mit Auswilderungen von Gartenabfällen könnte zu dieser unerwartet hohen Diversität geführt haben. Auch Samenansätze und reife Samen wurden in den britischen Beständen häufiger beobachtet als in anderen allochthonen Populationen. Mögliche Gründe für die verminderte Samenbildung in vielen Regionen könnten ein Befall mit echtem Mehltau, genetische Verarmung und ungünstige Umweltbedingungen sein. Der Grenzverlauf zwischen dem autochthonen und dem allochthonen Areal ließ sich für keine der Vinca-Arten ermitteln. In der STRUCTURE-Analyse und der DAPC zeigten die allochthonen Vinca-Bestände eine deutliche Differenzierung voneinander. Der mangelnde Genfluss ist sicherlich in der geographischen Isolation begründet.
In ihrem invasiven Areal erwiesen sich nur 18 % der V. major- und 33 % der V. minor- Bestände als genetisch divers. Alle übrigen Vorkommen waren monoklonal. Somit war der Anteil an generativer Reproduktion sehr gering. In der STRUCTURE-Analyse und der DAPC wurde eine nur geringe genetische Differenzierung festgestellt, die durch eine Kombination aus genetischer Drift, Gründereffekten und Umweltvariationen zurückzuführen sein kann.
Als mögliche Gründe für den Ursprung genetisch diverser Populationen in allen Arealtypen der drei Vinca-Arten kommen Fremdbestäubung, Geitonogamie und somatische Mutationen in Frage. Inzucht tritt - falls überhaupt - äußerst selten auf.
Die Multilocus-Genotypen (MLGs), welche sich nur anhand von somatischen Mutationen unterscheiden, wurden zu Multilocus-Linien (MLL) zusammengefasst. In allen drei Vinca-Arten wurde dabei ein hoher Anteil an somatischen Mutationen festgestellt. Dies lässt ein hohes Alter der gefundenen Geneten vermuten, da es mit zunehmender Lebensdauer zu einer Akkumulation von somatischen Mutationen kommt.
Die acht untersuchten Vinca major-Gartenkultivare wiesen mit MLG158 und MLG15 nur zwei verschiedene MLGs auf. Während der MLG15 nur bei der Gartenform 'alba' und nicht im Freiland auftrat, wurde der MLG158 sehr häufig gefunden. Es war auch der einzige Genotyp, der in allen drei Arealtypen auftrat. Die unterschiedlichen Phänotypen der sieben Kultivare mit dem MLG158 sind vermutlich auf somatische Mutationen (Sports) zurückzuführen. Interessanterweise wiesen die Gartenkultivare mit dem MLG158 zwei unterschiedliche Plastiden auf, was auf somatische Mutationen oder auf Chloroplastenheterogenität zurückzuführen ist.
Das Pflanzenset für die phylogeographische Analyse umfasste insgesamt 718 Proben von 360 Fundorten aus 23 Ländern (543 Proben von V. major, 130 von V. minor und 45 von V. difformis). Mit fünf plastidären Markern konnten insgesamt 40 Haplotypen detektiert werden. Davon traten 35 Haplotypen in den V. major-Proben auf, während V. difformis-Individuen fünf und V. minor-Individuen nur drei Haplotypen aufwiesen. Somit besitzt V. major von den drei Arten die variabelste Chloroplasten-DNA. Im autochthonen Areal von V. major wurden mit 23 die meisten Haplotypen gefunden, gefolgt vom allochthonen Areal mit 19 und dem invasiven Areal mit einem einzigen Haplotypen (H7). In V. minor-Populationen wurden nur drei Haplotypen (H1, H35 und H40) detektiert, wobei H1 in allen Arealtypen dominant war. Von den fünf für V. difformis gefundenen Haplotypen wurden vier im autochthonen Areal (H22, H25, H37 und H39) und zwei im allochthonen Areal (H15 und H25) gefunden. Zur Ermittlung der Verwandtschaftsbeziehungen wurden vier Haplotypen-Netzwerke berechnet, jeweils eins für jede der drei Arten und ein artübergreifendes Netzwerk. In diesem grenzten sich die Haplotypen von V. minor deutlich von denen der anderen beiden Arten ab. Die Haplotypen von V. major und V. difformis wurden hingegen nicht klar voneinander getrennt; H22, H25 und H37 traten in beiden Arten auf. Die Einführung der drei Vinca-Arten erfolgt vermutlich mehrfach. Eine Rekonstruktion der Ausbreitungswege war jedoch nicht möglich.
In der Literatur wurde bisher angenommen, dass die tetraploide Art V. major aus einer Genomduplikation eines V. minor-ähnlichen Vorfahrens hervorgegangen sei. Sowohl die AMOVA als auch die Haplotypen-Netzwerke zeigten jedoch eine deutliche Differenzierung zwischen V. minor einerseits und V. major und V. difformis andererseits. Während V. minor deutlich von den beiden anderen Arten getrennt ist, erwies sich die Differenzierung zwischen V. major und V. difformis als gering. Dies lässt vermuten, dass V. difformis und nicht V. minor an der Entstehung der vermutlich autotetraploiden Art V. major beteiligt war.
@phdthesis{doi:10.17170/kobra-202308018542, author ={Raus, Hanna}, title ={Populationsgenetik und Phylogeographie des Großen Immergrüns (Vinca major L.; Apocynaceae) im autochthonen vs. allochthonen Verbreitungsgebiet}, keywords ={580 and Hundsgiftgewächse and Populationsgenetik and Marker and Satelliten-DNS and Polyploidie and Phylogeografie}, copyright ={http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/}, language ={de}, school={Kassel, Universität Kassel, Fachbereich Mathematik und Naturwissenschaften, Institut für Biologie}, year ={2023-04-21} }