Die vorliegende Arbeit hat zum Ziel, das Thema Scham in der stationären Altenpflege zu enttabuisieren und besprechbar zu machen. Sie identifiziert individuelle, interaktionelle und organisationale scham-auslösende Aspekte im Pflegealltag aus der Sicht der Bewohner, der Pflegekräfte und von Angehörigen. Sie gibt Antwort auf die Frage, wie die jeweiligen Zielgruppen mit Scham umgehen und welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede es dabei gibt. Die Dissertation leistet einen wissenschaftlichen, praxeologisch ausgerichteten Beitrag zur Anerkennung von Schamgefühlen in der stationären Altenpflege und will damit auch zu einem würdevollen Umgang mit pflegebedürftigen Menschen im Altenheim beitragen. Als Ergebnis der Forschung liegen disziplinübergreifende, theoretische Grundlagen zur Auseinander-setzung mit dem Phänomen Scham vor. Im empirischen Teil werden die Forschungsfragen beantwortet und ein wissenschaftlich begründetes Modell zur Entwicklung von Schamkompetenz bei Pflegekräften skizziert. Abschließend wird die Frage aufgegriffen, welche Bedeutung die Erkenntnisse für Supervision und Coaching haben könnten. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema Scham erfordert zunächst einen Blick auf gesellschaftliche Kontextbedingungen zur demografischen Entwicklung wie beispielsweise die Zunahme pflegebedürftiger Menschen oder den intergenerationellen Unterstützungs-quotient sowie auf die Rahmenbedingungen stationärer Altenpflege. Sie sind gekennzeichnet von Fachkräftemangel, Auswirkungen der Ökonomisierung, Technologisierung und Digitalisierung. Diese Einflussfaktoren wirken sich auf die Frage aus, was aus der Sicht von Beschäftigten ‚gute Arbeit im Sektor Pflege‘ bedeutet. Schamgefühle sind mit gesellschaftlichen Normen und Wertvorstellungen verbunden. Wie nachgewiesen werden kann, ist Alter eine soziale Konstruktion, die mit bestimmten Alter(n)sbildern einhergeht. Diese werden insbesondere unter der Perspektive der kritischen Gerontologie analysiert. Theorie Im Anschluss an die Beschreibung des Forschungskontextes erfolgt eine Annäherung an das Phänomen Scham aus theoretischer Perspektive. Die Auswertung disziplinübergreifender Studien und von Fachbei-trägen ermöglicht es, die Bedeutung von Scham aufzuzeigen und auch ihre konstruktive Funktion zu beschreiben. Sie zeigt sich in ihrer sozialen Dimension, in ihrer Schutzfunktion und als Entwicklungsimpuls. Anschließend erfolgt eine vertiefte, differenzierte Auseinandersetzung mit Scham im Kontext stationärer Altenpflege. Die identifizierten, schamauslösenden Aspekte aus verschiedenen Studien werden den Kategorien ‚Körper, Persönlichkeit und Status‘ zugeordnet. In der Folge sind Schamaffekte im Hinblick auf das individuelle Erleben, auf die Interaktion und die Organisation dargestellt. Dabei wird auch auf das Thema ‚empathische Scham‘, ‚Schamlosigkeit und Schamverlust‘ eingegangen. Am Ende des Theorieteils werden vier Modelle aus der Literatur beschrieben, die einen konstruktiven Ansatz zum Umgang mit Scham aufzeigen. Methode Grundlage der empirischen Forschung ist eine Einzelfalluntersuchung in einer stationären Altenpflege-einrichtung in Süddeutschland. Die praxeologische Ausrichtung der Dissertation begründet die Wahl der Forschungsmethode. Das Forschungsvorgehen, die Auswertung der Daten und die Kategorienbildung erfolgen nach der Methode der Reflexive Grounded Theory (Breuer 2019). Der Forschungsprozess gliedert sich in drei Phasen: teilnehmende Beobachtung (ethnografische Feldforschung), Einzelinterviews (Bewohner, Pflegekräfte, Angehörige) und Gruppendiskussionen. Im Sinne der Interventionsforschung wurden bei den Gruppendiskussionen den Teilnehmern die Ergebnisse der ersten Kodierphase (offene Kodierung) vorgestellt und mit ihnen diskutiert. Die Auswertung der Daten in den jeweiligen Kodierschritten (axiale, selektive Kodierung und Theoretical Coding) ermöglichte die Entwicklung von drei Hauptkategorien, die Auskunft darüber geben, welche Aspekte von Bewohnern, Pflegekräften und Angehörigen als schamauslösend beschrieben werden, welche Auswirkungen sie haben und wie damit umgegangen wird. Die Forschungsmethode Reflexive Grounded Theory (Breuer 2019) berücksichtigt das präkonzeptionelle Verständnis der Forscherin und betont ihre selbstreflexive Haltung im Forschungsprozess. Ergebnisse Die Ergebnisse beschreiben mögliche schamauslösende Aspekte im Alltag einer stationären Altenpflegeein-richtung aus der Sicht von Bewohnern, Pflegekräften und Angehörigen. Sie lassen sich in drei Hauptkategorien untergliedern: ‚Selbstabwertung‘, ‚interaktionelle Auslöser‘ und ‚organisationale Auslöser‘. Zu allen Kategorien gibt es Unterkategorien, die eine differenziertere Perspektive ermöglichen. Die Aussagen können keinesfalls als zwingend kausale Zuordnung interpretiert werden, noch sind sie hierarchisch zu verstehen. Das Entstehen von Schamgefühl ist individuell von der eigenen Lebensgeschichte (Schambiografie) abhängig, ebenso wie von Kontextbedingungen. Die zweite Forschungsfrage gibt Antwort darauf, wie die jeweiligen Zielgruppen auf das Erleben von Scham reagieren. Aufgrund ihrer Bedeutung im Pflegealltag erfahren Kommunikationsstrategien dabei eine besondere Aufmerksamkeit, ebenso wie die Themen ‚Schamverlust und Schamlosigkeit‘. Diskussion Vor dem Hintergrund der demografischen Veränderung und der Zunahme pflegebedürftiger Menschen in Einrichtungen der Altenhilfe, kann die Bedeutung der Emotion Scham für Bewohner, Pflegekräfte und Angehörige nicht hoch genug eingeschätzt werden. Trotz ihrer schwerwiegenden Auswirkung auf das individuelle Erleben und die Interaktion und Kommunikation erfährt sie im Alltag wenig Beachtung. Es ist erforderlich, Scham zu ent-tabuisieren und damit eine Auseinandersetzung zu ermöglichen, die für eine konstruktive Bearbeitung erforderlich ist. Ausblick Zentrales Ergebnis der Arbeit ist die Skizzierung eines Modells zur Entwicklung von „Schamkompetenz für Pflegekräfte“. Es basiert auf der Vermittlung von Wissen zum Thema Scham sowie dem Erwerb perso-naler und sozialer Kompetenzen. Wesentliche Aspekte sind dabei die Selbstreflexion und konstruktive Kommunikationsstrategien in schambesetzen Situationen. Grundlage der Wissensvermittlung sind zen-trale Ergebnisse aus Theorie und Empirie der vorliegenden Dissertation. Der Forschungsprozess selbst spiegelt die persönliche Entwicklung von Schamkompetenz der Forscherin. Supervision und Coaching werden als arbeitsweltliche Beratungsformate betrachtet, die zu einem konstruktiven Umgang mit Scham beitragen können. Abschließend kann formuliert werden, dass dies jedoch vom Supervisor oder Coach selbst einen kompetenten Umgang mit Scham erfordert.
@phdthesis{doi:10.17170/kobra-202006111344, author ={Baatz-Kolbe, Christel}, title ={Scham - die vernachlässigte Emotion in der stationären Altenpflege}, keywords ={300 and Stationäre Altenpflege and Scham}, copyright ={https://rightsstatements.org/page/InC/1.0/}, language ={de}, school={Kassel, Universität Kassel, Fachbereich Humanwissenschaften}, year ={2019-11-26} }