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Wolfgang Seyd

"Pflege" an der Universität-Gesamthochschule Kassel

Zusammenstellung von Materialien und Diskussionsergebnissen zum "seminaristischen Fachgespräch" im Sommersemester 1995

1. Was sollte das "seminaristische Fachgespräch" zu den geplanten Aufbaustudiengängen "Pflegewissenschaft" und "Berufspädagogik in der beruflichen Fachrichtung Pflege" leisten - und was wurde daraus?

Es war eine Idee aus der Präsidialetage der GhK. Wilhelm Ruwe, verantwortlicher Planer für die beiden Aufbaustudiengänge Pflege, trug dem Hamburger Gastprofessor im Februar 1995 an, ein "Kontaktseminar" Theorie/Praxis, Hochschule/Pflegeeinrich-tungen, Pflegeprofessur/Pflegestudieninteressierte einzurichten. Das war eine gute Idee. Ich habe sie spontan aufgegriffen und - nicht nur - für gut befunden, sondern in die Tat umgesetzt. Das inhaltliche Angebot war die eine Seite, das persönliche Kennenlernen die andere.

Doch halt! Zwischen Seminaridee und erster Seminarsitzung hatte die Uni-Verwaltung eine Pressekonferenz gesetzt. Da war zwar nur eine Redakteurin der HNA (Hessisch-Niedersächsische Allgemeine) erschienen (die FAZ und der HR hatten zwar ihre Teilnahme angekündigt, waren aber aus unbekannten Gründen nicht vertreten), doch ihr Artikel fiel auf äußerst fruchtbaren Boden. In der ersten Veranstaltung erschienen 80 TeilnehmerInnen. Drangvolle Enge war das Resultat, denn der Raum (im noch nicht fertiggestellten Gebäude Technik II am Holländischen Platz war lediglich für 46 Personen vorgesehen).

Die TeilnehmerInnen werden sich erinnern: Die Klimaanlage war noch nicht eingeschaltet, die Wandtafeln noch nicht montiert; die Handwerker waren noch am handwerken. Alles gute Zureden nützte nichts: Die Furcht vor der Konventionalstrafe (im Falle nicht rechtzeitiger Fertigstellung) ließ den Polier unsere Bitte auf Beendigung des irritierenden Baulärms zurückweisen. Immerhin war er bereit, die Kreissägenaktivitäten auf jeweils eine Minute zu beschränken. Alle fünf Minuten ertönte denn auch die Säge mit ohrenbetäubendem Lärm für jeweils eine Dreiviertelminute. Anschließend konnten wir wieder informieren und diskutieren...

In der zweiten Veranstaltung waren sogar 90 TeilnehmerInnen anwesend: Rekordbesuch! Stickige Luft, aber hohe Diskussionsbereitschaft. Und die Ernüchterung: Hessen wird die Krankenpflegeschulen nicht in das Duale System überführen, jedenfalls nicht in den nächsten beiden Legislaturperioden. Bleibt in der Pflegeausbildung nun alles beim alten, jedenfalls für die nächsten beiden Legislaturperioden? Hessen vorn?

Die dritte Veranstaltung war von einem Terminhaken geprägt: Sie lag auf dem Vortag des Himmelfahrtstages. Trotzdem fanden rund 50 InteressentInnen den Weg in das Seminargespräch. Sie wurden nicht enttäuscht: Die Sitzung zum Qualitätsmanagement gehört wohl zu den informativsten, so jedenfalls urteilten hernach viele SeminarteilnehmerInnen.

In der vierten Sitzung konnten wir auf den Beitrag eines Teilehmers zurückgreifen: Herr Löwenstein, Pflegedienstleiter in den Städtischen Kliniken, stellte sein Modell der Erfassung von Belastungsfaktoren in der Pflege vor. Das Modell bot Anlaß zu heftigen Auseinandersetzungen. Beide Seiten lernten daraus, schätze ich.

Die fünfte Sitzung widmete sich dem Thema "Duales System - auch für Pflegeberufe?" Nun hatten die Vertreter der Landesregierung schon vor Wochen (präzise: am 8.5.95) eine Delegation der GhK dahingehend beschieden, ein duales System werde es weder in der Alten- noch in der Krankenpflegeausbildung geben, jedenfalls nicht in den kommenden acht Jahren. So war aus diesem Thema eigentlich "die Luft 'raus". Gleichwohl schien ein Vergleich zwischen der Berufsbildung nach Berufsbildungsgesetz und der Pflegeausbildung reizvoll. Sind sie einander eher ähnlich, oder unterscheiden sie sich grundsätzlich? Worin liegen Vor- und Nachteile einer Ausbildung im dualen System nach BBiG? Was können die beiden System voneinander lernen?

In der sechsten Sitzung ging es gleich um drei Themen:

- Handlungsorientierte Gestaltung von Lernsituationen als Maxime der Pflegeausbildung

- Inhaltliche Schwerpunkte des geplanten Aufbaustudiums "Berufspädagogik in der beruflichen Fachrichtung Pflege"

- Beantwortung der in der Eingangssitzung schriftlich erhobenen Fragen der SeminarteilnehmerInnen.

Rückblickend sind zwei Seminarelemente tragend gewesen: die meist sehr lebendigen Diskussionen und die Texte, die wesentliche Informationen, Anregungen und Diskussionsergebnisse aus den Veranstaltungen enthielten. Diese Textsammlung wird hier in der Hoffnung vorgelegt, nicht den Endpunkt einer diskursiven Behandlung der Aufbauaufgabe zu markieren, sondern die erste Etappe einer theorie-praxisverzahnten Entwicklung zweier Aufbaustudiengänge, die mit gutem Grund in der nordhessischen Region, in einer Reformhochschule, angesiedelt werden sollen. Diese Aufbaustudiengänge werden so erfolgreich sein, wie die Menschen, die sie planen und gestalten - und das sind nach meiner Überzeugung nicht nur die Hochschul-angehörigen, sondern ganz besonders auch die Fachleute und InteressentInnen aus Praxisfeldern innerhalb der Region. Dieses Skript stellt mithin einerseits eine Danksagung an ihre bisherige Mitwirkungen, andererseits einen Appell zur weiteren Unterstützung der Aufbauarbeit dar.

Im folgenden wird jeweils zunächst auf die Ankündigung zu den einzelnen Sitzungen zurückgegriffen, sodann schriftliches Material zur Vorbereitung auf die Sitzung wiedergegeben, und anschließend werden zentrale Diskussionspunkte aus deren Verlauf dargetan.

2. Pflegenotstand: Polemisches Schlagwort oder nüchterne Realität?

a. Auszug aus der Seminarankündigung

"Im Jahre 1992 hat die Robert-Bosch-Stiftung eine vielbeachtete Denkschrift veröffentlicht: "Pflege braucht Eliten" lautet der provokative Titel. In dieser Denkschrift dreht sich alles um die Beseitigung des "Pflegenotstands". AltenpflegerInnen kehren ihrem Beruf schon nach kurzer Zeit den Rücken; sie fühlen sich den Belastungen nicht gewachsen, sind unterbezahlt, haben keine Aufstiegsperspektive. Pflegeberufe gelten als "Sackgassenberufe" (Helga Krüger). Schlechte Arbeitsbedingungen gehen mit schlechter Bezahlung einher. Dementsprechend gering erscheinen Motivation und Qualifikation der Pflegefachkräfte. Der Berufsnachwuchs bleibt aus, die Berufsflucht steigt.

Andererseits gibt es nach wie vor eine Vielzahl von SchulabsolventInnen, die Pflegeberufe ergreifen. Und es gibt eine Vielzahl engagierter Lehrkräfte, die den Berufsnachwuchs engagiert und couragiert heranbilden. Und es gibt natürlich viele, viele Pflegefachkräfte in der Kinderkrankenpflege, in der Krankenpflege, in der Entbindungspflege, in der Haus- und Familienpflege und - nicht zuletzt - in der Altenpflege, ohne die Kranke, Behinderte und Alte "aufgeschmissen" wären. Menschen, die tagtäglich Dienst im Sinne von Nächstenliebe leisten, die echte Humanität erbringen.

Was ist nun die Wahrheit: Ist das Gerede vom Pflegenotstand ein Herbeigerede, oder trifft es den Kern der Sache?"

b. Thesenpapier

Der Seminarleiter hatte in der ersten Sitzung ein Thesenpapier verteilt, das Diskussionsgrundlage für die zweite Sitzung abgeben sollte.

1 Es gibt quantitative und qualitative Begründungen für den "Pflegenotstand". Die quantitativen unterstellen einerseits ein Wachstum der Zahlen der Pflegepatienten, andererseits eine nicht hinreichende Zahl an Pflegekräften. Die nicht hinreichende Zahl an Pflegekräften wird zum einen auf die starke "Berufsflucht", zum anderen auf fehlendes Interesse bei der nachwachsenden Generation zurückgeführt.

2 Die qualitativen Begründungen lassen sich auf fünf Kernvorwürfe konzentrieren:

* fehlende Sensibilität für die Patientenbedürfnisse

* unzureichende medizintechnische und pharmakologische Kenntnisse

* Desinteresse an Kommunikation mit Patienten, stattdessen Rückzug auf Gespräche mit Kolleginnen.

* mangelnde eigene Dispositionsfähigkeit der Schwestern, unterwürfiges Verhalten gegenüber dem Arzt statt eigener professioneller Identität

* fehlendes Interesse und/oder fehlende Bereitschaft, mangelhafte Arbeitsbedingungen zu verändern (z.B. hinsichtlich tragbarer räumlicher Bedingungen und patientenfreundlicher Ausstattung von Wartezonen)

3 Die Ursachen für den "Pflegenotstand" werden ebenfalls in einem Bündel - meist historisch erklärbarer - Sachverhalte gesehen:

* Arbeitszeiten (Schichtarbeit), Schwere der Anforderungen, Unterbesetzung in den Stellenplänen, vergleichsweise niedrige Bezahlung kennzeichnen ein Mißverhältnis zwischen den Ansprüchen an das Pflegepersonal und dem dafür erhaltenen Gegenwert.

* Mangelnde Aufstiegsmöglichkeiten machen Pflegeberufe zu "Sackgassenberufen" und mindern ihre Attraktivität für ehrgeizige Jugendliche und junge Erwachsene

* Die ehemals vorbildliche Organisation der systeminternen Ausbildung ist den gewachsenen Qualifikationsanforderungen nicht angepaßt worden; es fehlt den Lehrkräften in Anbetracht ihrer verkürzten Ausbildungszeit gegenüber akademisch qualifizierten BerufsschullehrerInnen vor allem an didaktischen Qualifikationen.

* Infolge der Dominanz naturwissenschaftlich orientierter Medizin konnte "die Pflege" sich nicht (wie beispielsweise in den USA seit etwa 100 Jahren) als selbständige Wissenschaftsdisziplin entwickeln und demzufolge eine eigene Identität ausprägen

4 Von einer Anhebung des Qualifikationsniveaus der Lehr- und Leitungskräfte werden einerseits direkte Auswirkungen auf die Qualität der von diesen geleisteten Arbeit erwartet. Andererseits wird damit eine Sogwirkung hinsichtlich der Attraktivität der Pflegeberufe prognostiziert.

5 Professionalisierung der Ausbildung von Nachwuchskräften und Akademisierung der Ausbildung von Führungskräften werden meist in einem Zuge genannt. Dabei ist das Verhältnis zwischen beiden ungeklärt. Es gibt sowohl die Position, daß beides parallel geschehen müsse, wenn es erfolgreich sein soll (insbesondere die ÖTV fordert eine Überführung der Pflegeausbildung in das duale System und eine Lehrerbildung ausschließlich an den Universitäten); es gibt andere Stimmen, die darauf setzen, daß die inzwischen angelaufene Akademisierung der Lehr- und Leitungskräfteausbildung sich in einer Umgestaltung der Ausbildung von Nachwuchskräften niederschlagen werde.

Dieses Thesenpapier entfachte eine sehr heftige Diskussion über den Vorwurf, Pflegekräften ermangele es hinreichender Sensibilität im Umgang mit PatientInnen. Die Skala der Diskussionsbeiträge reichte dabei von heftiger Ablehnung bis hin zu entschiedener Zustimmung. Von den Ablehnenden wurde behauptet, dieser Vorwurf ließe sich durch empirische Studien nicht belegen; von den Befürwortern wurde hingegen unterstellt, die Sachlage sei hinreichend fundiert. Im folgenden werden Auszüge aus einschlägigen Veröffentlichungen zum Thema "Pflegenotstand" wiedergegeben, die der Seminarleiter zu seiner eigenen Vorbereitung auf die zweite Seminarsitzung zusammengestellt hatte.

c. Einschlägige Auszüge aus Fachzeitschriften und Monographien

Drei Kernfragen spielen im Rahmen der Diskussion um den "Pflegenotstand" eine grundlegende Rolle:

(1) An welchen Defiziten wird der "Pflegenotstand" festgemacht?

(2) Auf welche Gründe wird er zurückgeführt?

(3) Welche Vorschläge werden zu seiner Behebung unterbreitet?

i. An welchen Defiziten wird der "Pflegenotstand" festgemacht?

a) "Mangelnde Aufstiegsmöglichkeiten und ein unklar gewordenes Berufsbild sind nicht die einzigen Ursachen für die Krise im Pflegebereich. Ungünstige Arbeitszeiten, fehlende Kinderbetreuung, zu geringe und vor allem zu wenig differenzierte Vergütung und ein zuweilen belastetes Verhältnis zu anderen Berufen im Gesundheitswesen tragen zu dem Mißverhältnis zusätzlich bei, das sich zwischen dem auch durch die demographische Entwicklung steigenden Bedarf an Pflegekräften und der aus dem gleichen Grund abnehmenden Nachfrage nach Ausbildungsplätzen auftut" (Robert Bosch Stiftung: Pflege braucht Eliten. Denkschrift zur Hochschulausbildung für Lehr- und Leitungskräfte in der Pflege, Gerlingen 1992, S. 11 f.)

b) "Das Berufsbild der Alten- und Krankenpflege hat die Wandlungen der Berufsauffassung und die Erwartungen der Brufsanfänger und Beschäftigten nur ungenügend aufgenommen" (ebenda, S. 12).

c) "Hervorragende persönliche Leistungen in Krankenhäusern, Alternpflegeeinrichtungen, Sozialstationen und Verbänden dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß es den Pflegeberufen in Deutschland heute an einer zahlenmäßig ausreichenden Elite fehlt" (ebenda, S. 12).

d) "Der Sonderweg, den die westdeutsche Krankenpflege im Zeichen der Trägerpluralität mit ihrem verbandsinternen Schul- und Weiterbildungswesen gegangen ist, hat sie in eine Sackgasse geführt und ihr die soziale Anerkennung als gleichberechtigter Partner in der Versorgung des Patienten verwehrt."

e) Der Begriff "Pflegenotstand" "...war insofern irreführend, als er einen allgemein vorhandenen Zustand zu beschreiben vorgab, obwohl es große regionale, fach- und abteilungsabhängige Unterschiede gab." (Arnold, M.: Die Bedeutung der Pflege im Gesundheitswesen, Gerlingen 1993, S. 21)

f) "Der berufliche Spielraum und die fachliche Verantwortung einer District-Nurse in Schweden oder einer Managing Nurse in der USA sind beispielsweise größer als die einer Pflegeperson in dem sehr stark von Ärzten dominierten deutschen Versorgungssystem. Dort haftet der Schwester unverändert die Vorstellung der Helferin und einer Erfüllungsgehilfin des Arztes an" (Arnold, S. 23).

g) "In einer flächendeckenden Untersuchung wies das Bundesinstitut für Berufsbildung Ende der 80er/Anfang der 90er Jahre Defizite auf allen Ebenen nach (Becker/Meifort 1994):

- Die Berufsnachwuchssituation ist geradezu konfus. Kaum jemand vermag die Fülle unterschiedlicher Berufsbezeichnungen und Inhalte in den 16 Bundesländern (zudem gibt es auf Bundesebene weitere Regelungen) zu überblicken (MEIFORT 1987, S. 4).

- Die in Pflegeberufen tätigen Fachkräfte beklagen ihre Arbeitssituation in vielfältiger Hinsicht: problematische Arbeitszeiten (Schichtarbeit), mangelhafte Arbeitsorganisation, unzureichende räumliche und apparative Ausstattung, körperliche Belastung, emotionale Anspannung (Meifort 1991, S. 64), geringes Gehaltsniveau (Wannagat 1994, S. 823). Ein Dispositions- und Entscheidungsspielraum besteht nur in Ausnahmefällen.

- Aufstiegschancen sind sehr begrenzt. Eine Karriereleiter existiert für medizinisches Fachpersonal, nicht aber für Pflegefachkräfte." (Seyd 1995)

h) Faßt man die hauptsächlichen Kritikpunkte an der Qualifikation von Pflegekräften zusammen, schälen sich folgende Defizite heraus:

* fehlender Gestaltungswille hinsichtlich tragbarer räumlicher Bedingungen und patientenfreundlicher Ausstattung von Wartezonen

* fehlende Sensibilität für die Patientenbedürfnisse

* mangelnde eigene Dispositionsfähigkeit der Schwestern, unterwürfiges Verhalten gegenüber dem Arzt statt eigener professioneller Identität

* unzureichende medizintechnische Qualifikation

* Desinteresse an Kommunikation mit Patienten, stattdessen Rückzug auf Gespräche mit Kolleginnen (Seyd 1995).

ii. Auf welche Gründe wird der "Pflegenotstand" zurückgeführt?

a) "Immer größer wird die Zahl chronisch Kranker und Behinderter sowie die Gruppe gebrechlicher und altersverwirrtert Menschen; Menschen, die eine längere Lebenszeit vor sich haben, damit oftmals jedoch über längere Zeit eine Pflegebedürftigkeit in Kauf nehmen müssen" (RBS, S. 19).

b) "Insgesamt steigt die Zahl der stationär behandlungsbedürftigen Patienten stetig. 8,1 Millionen waren es 1965 in der Bundesrepublik und breits 13,4 Millionen im Jahre 1989." (RBS, S. 22). "Die Situation wird sich wegen der demographischen Entwicklung eher noch verschärfen, zumal die Ausbildung qualifizierter Pflegekräfte mit dem wachsenden Bedarf nicht Schritt gehalten hat." (RBS, S. 23).

c) "Der Wandel, den Medizin und Technik eingeleitet haben, mehr aber noch der allgemeine gesellschaftliche Wertewandel führen zu einschneidenden Veränderungen in der Dienstauffassung. War der Dienst am Kranken noch weit bis in die sechziger Jahre dieses Jahrhunderts hinein im wesentlichen religiös oder humanitär motiviert und hatten daher für die Angehörigen der Pflegeberufe der soziale Status und das erreichbare Einkommen eher eine nachgeordnete Bedeutung, so spielen heute die Attraktivität der fachlichen Profession, der Umgang mit Menschen und die Bestätigung, die man daraus erfährt, die Organisation der Arbeit, die Kommunikation in einem Team sowie natürlich auch die Einkommensmöglichkeiten als Motive für Berufswahl und Berufsausübung eine entscheidende Rolle... Dieses Verständnis verträgt sich nicht mehr mit den Erwartungen der anderen Berufe an die Pflege, wonach diese nicht nur dem Patienten, sondern auch den übrigen Professionen im Gesundheitsbereich in untergeordneter Weise zu dienen hat..." (RBS, S. 21).

d) "Ein weiteres Problem ... ist die zunehmende Hierarchisierung unserer Krankenhäuser; hier existieren ja archaische Strukturen sowohl in den einzelnen Leistungsbereichen wie auch im Verhältnis zueinander" (Montgomery, F.: Stellungnahme der Bundesärztekammer zur Denkschrift RBS, 1993, S. 45).

e) "Es sollte nicht nur aus humanen Gründen zu denken geben, daß die deutsche Kranken-, Kinder- und Altenpflege mit Wissens- und Organisationsstrukturen vom Ende des 19. Jahrhunderts die Probleme am Beginn des 21. Jahrhundert bewältigen soll" (Krohwinkel, M.: Stellungnahme des DBVP zur Denkschrift RBS, 1993, S. 49).

f) "...trug die Krankenpflege .. dazu bei, die strukturelle Inhumanität der naturwissenschaftlichen Medizin aufrechzuerhalten, die gerade in dem Ausschluß der subjektiven, emotionalen Anteile aus der Medizin liegt. Das heißt, die Arbeitsteilung zwischen männlich-rationaler Medizin und weiblich-emotionaler Krankenpflege ist eine Ursache von Inhumanität. Sie zwingt die Krankenpflege immer wieder zu einer - unvollkommenen - Kompensation der Medizin" (Bischoff, C.: Frauen in der Krankenpflege, 2. Aufl. Frankfurt/Main 1994, S. 98).

g) "Die Arbeit der Krankenschwester und die Arbeitsabläufe der Krankenpflege wurden um die Arbeit der Medizin - nicht um die Bedürfnisse des Patienten! - herum organisiert...Die Krankenpflege konnte durch ihre Fremdbestimmung kaum ein eigenes Berufswissen entwickeln und auch keine eigene Wissenschaft. Wissenschaft kam allein der Medizin zu" (Bischoff, C., 1994, S. 101 f.)

iii. Welche Vorschläge werden zu seiner Behebung unterbreitet?

a) "Andere Länder haben auf diese Herausforderungen schneller reagiert. Die meisten europäischen Nachbarn haben, genau wie die Vereinigten Staaten, den Krankenschwestern die Universitäten geöffnet" (RBS, S. 13). "Heute gibt es in 16 europäischen Ländern Studiengänge für Pflege mit einem vollen akademischen Abschluß..." (Müller, M.-L.: Präsentation der Denkschrift "Pflege braucht Eliten", Gerlingen 1993, S. 17).

b) "Die berufliche Ausbildung der Pflegekräfte aufgrund des Krankenpflegegesetzes von 1985 soll ihren Platz behalten, aber eine akademische Qualifikation der Lehrer kann und muß die Lehre und damit auch die spätere Berufsausübung nachhaltig verbessern." (RBS, S. 14)

c) "Wir glauben .., daß es in Zukunft auch notwendig sein wird, das Spektrum der Qualifikationen in der Pflege nicht nur nach oben hin zu erweitern, was wir voll unterstützen, sondern daß wir auch zusätzlich Mitarbeiter brauchen, die einfache hauswirtschaftliche Leistungen und einfache Pflegeleistungen unter der Aufsicht von Fachpflegekräften durchführen können" (Petrich, Chr.: Stellungnahme des BMA zur Denkschrift RBS, 1993, S. 40).

d) Erwartet wird von einer Überführung der Pflege in den Geltungsbereich des Berufsbildungsgesetzes die Linderung verschiedener Nöte (vgl. MEIFORT 1991, S. 19 f.):

- Sicherung gleicher Ausbildungsqualität über staatlich anerkannte Ausbildungsordnungen und parallel von der Kultusminister-Konferenz verabschiedete Rahmenlehrpläne. Sie sollen an die Stelle trägerspefizischer Bedarfsqualifizierung rücken.

- Zahlung einer Ausbildungsbeihilfe anstelle der heute noch üblichen Erhebung von Fortbildungsgebühren.

- Geltung der mit dem Berufsbildungsgesetz verbrieften Schutzrechte für Auszubildende des Dualen Systems anstelle der mit dem Tendenzschutz relativ stark eingeschränkten Mitarbeiterrechte bei privaten Schulträgern.

d) "Neben der technisch manuellen Befähigung muß die soziale, ethische, intellektuelle und personale Kompetenz ausgebildet werden" (Müller, M.-L. 1993, S. 14).

e) "Ein besonderes Problem sind die Zugänge zu den Hochschulen. Eine dreijährige pflegerische Berufsausbildung und eine angemessene Zeit der Berufspraxis werden von uns für unverzichtbar gehalten. Damit richtete sich jedoch das Interesse auf eine Zielgruppe, die größtenteiles nur einen mittleren Schulabschluß hat und damit zunächst nicht die Hochschulreife erreichen konnte. Hier besondere Zugangswege zu eröffnen, wird eine wichtige Aufgabe bei der praktsichen Umsetzung der in dieser Denkschrift enthaltenen Vorschläge sein" (Müller, M.-L. 1993, S. 18).

f) Neuerlich schlägt die SPD-Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokraten im Gesundheitsbereich vor, eine mehrstufige schulische Angebotsleiter zu unterbreiten, mit deren Hilfe der berufliche Aufstieg über Weiterbildung angebahnt werden kann. Dazu gehören eine zweijährige Berufsfachschule Pflege (die es als BFS Gesundheit in Hessen bereits gibt), eine Fachoberschule Pflege und ein Berufliches Gymnasium in der Fachrichtung Pflege. Die Fachoberschule kann in ein- und zweijähriger Form angeboten werden: Wer nicht über eine einschlägige Berufsausbildung und -tätigkeit verfügt, muß die zweijährige Form wählen; er erhält mit dem Abschlußzeugnis die Fachhochschulzugangsberechtigung. In die 12. Klasse kann unmittelbar eintreten, wer bereits eine einschlägige Berufsausbildung absolviert hat. Das Berufliche Gymnasium gibt es bereits in verschiedenen Fachrichtungen: Wirtschaft, Sozialwesen, Hauswirtschaft, Technik und Landwirtschaft. Pflege wäre eine weitere Form. Auf dieser beruflichen Schule erwirbt man ein Abitur mit allgemeiner Hochschulzugangsberechtigung. Bislang gibt es in Hessen noch keine FOS Pflege und kein Berufliches Gymnasium Pflege. Die beiden Formen wären aber eigentlich dringend notwendig als Unterbau für den "Hessischen Weg", der - wie weiter unten eingehend beschrieben - die drei Fachhochschulstudiengänge Pflege und die beiden Aufbaustudiengänge Pflegewissenschaft und Berufspädagogik in der beruflichen Fachrichtung an der GhK umfaßt.

3. Institutionen, Professionen, Qualifikationen im Berufsfeld Pflege: Wirrwarr oder Systematik?

a. Auszug aus der Seminarankündigung

"Wer das verbreitete duale System beruflicher Erstausbildung kennt, ist meist verwundert, daß Pflegeausbildung völlig anders, in anderen Institutionen und nach anderen Gesetzesnormen, verläuft. In der Tat ist diese Andersartigkeit wohl nur historisch erklärbar. Beispielsweise ist die Krankenpflege-Ausbildung an das Krankenpflegegesetz gebunden. Und deshalb muß sie in Ausbildungsstätten vorgenommen werden, die direkt mit einem Krankenhaus verbunden sind. Und sie muß 1 600 Stunden Theorie und 3 000 Stunden Praxis umfassen.

Eine solche Vorschrift gibt es in keiner anderen Berufsausbildung in Deutschland. Und die Regelungen in den einzelnen Pflegesparten sind recht unterschiedlich, die Bundesländer-Regelungen sind es auch. Hat das einen Sinn? Wird hier kulturelle Vielfalt gewahrt? Oder handelt es sich schlicht um einen historisch bedingten, traditionell gewachsenen, aber im heutigen Sinne schlicht dysfunktionalen Unsinn?"

b. Basistext für die dritte Seminarsitzung

"Die bildungsrechtliche Situation im Bereich der Ausbildung zu gesundheits- und sozialpflegerischen Berufen ist außerordentlich unübersichtlich:

Die Ausbildung zu Gesundheitsberufen wird überwiegend bundeseinheitlich in einzelnen sog. Berufsgesetzen geregelt, mit Ausnahme der drei ArzthelferInnenberufe, deren Ausbildung zwar ebenfalls bundeseinheitlich, jedoch nach Berufsbildungsgesetz (BBiG) gerecht ist. Ausschließlich die Ausbildung der ArzthelferInnenberufe gilt als duale Ausbildung; alle übrigen Ausbildungsgänge im Berufseld Gesundheit/Soziales sind - unabhängig von ihrer tatsächlichen Organisation - formal als schulische Bildung deklarirert; daher sieht die rechtliche Zuständigkeit für die Durchführung der Ausbildung in den Zuständigkeitsbereich der Länder und fällt dementsprechend unterschiedlich aus.

Neben den zur Zeit 16 bundeseinheitlich geregelten Gesundheitsberufen, wie z.B. Krankenschwester/-pfleger, gibt es noch eine Reihe von Gesundheitsberufen, die weder bundeseinheitlich in Berufsgesetzen geregelt noch in sämtlichen Bundesländern staatlich anerkannt sind, z.B. OrthoptistIn, AudiometristIn...

Die Sozialberufe unterscheiden sich ihrerseits in die klassischen Sozialberufe (SozialarbeiterIn und SozialpädagogIn) mit einer Ausbildung an (Fach-)Hochschulen sowie in sozialpädagogische Berufe (wie z.B. ErzieherIn) und in sozialpflegerische Berufe (wie z.B. Altenpflege, Heilerziehungspflege, Haus- und Familienpflege) mit einer Ausbildung an (Berufs-)Fachschulen. Die Ausbildungsgänge dieser Berufe fallen ausnahmslos in den Zuständigkeitsbereich der Länder." (Meifort 1993, S. 100 f.).

"Das bedeutet, daß die Ausbildungsstätten für gesundheits- und sozialpflegerische Berufe aus dem allgemeinen Bildungssystem herausfallen. Damit hängt auch zusammen, daß die vorhandenen normativen Möglichkeiten zur Qualitätssicherung von Aus- und Weiterbildung, wie bspw. Vorschriften für eine bundeseinheitliche Gestaltung der Ausbildung, Durchführungsvorschriften für die praktische Ausbildung, Vorschriften für die Lehrkräftequalifizierung und für die Qualifzierung des Ausbildungspersonals (Praxisanleitung), wie sie für die berufliche Bildung im Berufsbildungsgesetz (BBiG) und für die schulische Berufsbildung im Schulrecht der Länder verankert sind, für die Berufsbildung der Gesundheits- und Sozialberufe nicht greifen - und dies mit allen Folgen für das Niveau und gesellschaftliche Ansehen der Berufe und ihrer tariflichen Ansprüche." (Meifort 1993, S. 102)

"Die inhaltliche Ausrichtung der Pflegeberufe nach globalen Lebensaltersgruppen "Kinder", "Erwachsene" und "Alte" und globalem Hilfebedarf von "Krankheit", "Pflegebedürftigkeit" und/oder "Behinderung" sowie entsprechenden prototypischen Lösungsmustern ist eine Scheindifferenzierung und führt tatsächlich zu unerträglichen Schematisierungen von Berufshandlungen". (Meifort 1993, S. 115)

Es fehlen systematische Fort- und Weiterbildungskonzepte (ebenda, S. 121).

Zur Bedeutung des Berufsfelds "Gesundheit": "Im Zeitraum von 1970 bis 1982 verdreifachten sich die Ausgaben für Gesundheit von 69,9 Mrd. DM auf 207,8 Mrd. DM. Je Einwohner beliefen sich die Ausgaben 1970 auf 1.152,- DM und 1982 auf 3.372 DM. Der Anteil der Ausgaben für Gesundheit (ohne Einkommensleistungen) am Bruttosozialprodukt vergrößerte sich im gleichen Zeitraum von 6,3 % auf 9,4 %" (Statistisches Bundesamt 1985, S. 1986, zit. in Bals 1993, S. 21).

"So existieren z.B. in den USA über 400 "anerkannte" Gesundheitsberufe mit stark steigender Tendenz". (Bals 1993, S. 28 f.).

"In beinahe allen anderen Ländern der Welt haben dipl. Pflegepersonen den Schritt in den tertiären Bildungsbereich getan. An mehr als 1000 Universitäten kann der Magistergrad in Krankenpflege erworben werden. Der erste Lehrstuhl für Krankenpflege wurde 1907 in New York eingerichtet. 16 europäische Länder weisen Studiengänge in Pflege auf, die für verschiedenste Aufgaben im Pflege- und Gesundheitsbereich universitäre Qualifikationen verleihen." (Schilder 1994, S. 20)

Eine Professionalisierung der Pflege wird nicht allein von der Akademisierung der Ausbildung erwartet, sondern auch von einer stärkeren theoretischen Durchdringung und Systematisierung des Pflegealltags.

Wer einen Beruf ausübt, identifiziert sich in der Regel mit seiner Profession. Berufe lassen sich zu größeren Kategorien zusammenfassen: Handwerksberufe, Handelsberufe, Finanzberufe, "freie" Berufe usw. Das Gesundheitswesen ist offenbar bislang von unterschiedlichen beruflichen Identitäten geprägt gewesen. Schaut man genauer hin, so lassen sich solche auf verschiedenen Ebenen identifizieren:

medizinische Berufe

physiotherapeutische Berufe

HelferInnenberufe

Pflegeberufe

handwerkliche Gesundheitsfachberufe

Die Systematik ist verworren, ebenso sind es die Ausbildungsgänge. Während der Arzt lediglich universitär ausgebildet wird, werden Heilpraktiker an privaten Schulen, die den Status von staatlich anerkannten Berufsfachschulen besitzen, ausgebildet, Arzt-, Zahnarzt- und Tierarzthelferinnen für die Praxen der sogenannten niedergelassenen Ärzte hingegen im dualen System nach Ausbildungsordnung und Rahmenlehrplan, die handwerklichen Gesundheitsberufe ebenfalls (aber nach HwO), während die Pflegeberufe - von Ausnahmen abgesehen - überwiegend nach Krankenpflegegesetz oder landesspezifischen (Alten-)Pflegegesetzen ausgebildet werden.

Aus diesen Überlegungen ergibt sich eine Reihe von Fragen:

(1) Ist die Berufssystematik "systematisch" zu nennen? Entspricht die Vielfalt der Ausbildungsregelungen dem zweckbezogenen Anspruch von Differenzierung in Berufsausübung und Ausbildung?

Nein, das ist sie keineswegs. Es ist überhaupt nicht einzusehen, daß ein relativ stark medizinisch affiner Beruf wie der des Augenoptikers (von dem zwar keine Augenuntersuchungen, wohl aber Brillenglasbestimmungen - "Refraktionen" - vorgenommen werden) nicht einmal auf Fachhochschulebene angesiedelt ist, während physiotherapeutische Berufe diese Ebene inzwischen erreicht haben. Es ist im internationalen Vergleich geradezu beschämend, daß in Deutschland nicht wenigstens ein Teil der Pflegefachkräfte an Fachhochschulen ausgebildet wird, während in anderen Ländern (Irland nun auch) dieses längst zu einer generellen Lösung ausgebaut worden ist.

(2) Sind die im "Berufsfeld" Pflege unterschiedenen Berufe - EntbindungspflegerIn (Hebamme), KinderkrankenpflegerIn, KrankenpflegerIn, AltenpflegerIn, Haus- und FamilienpflegerIn, BehindertenpflegerIn - als eigenständige Berufsgruppe - von den Qualifikationsanforderungen her - identifizierbar?

Die Entscheidung der Kultusminister-Konferenz vom 12.5.95 hat hier einen entscheidenden Schritt vorwärts gebracht. Die KMK verabschiedete an diesem Tag die neuen Rahmenrichtlinien für die Ausbildung von BerufsschullehrerInnen. Dabei benannte sie 16 berufliche Fachrichtungen, in denen diese Berufsgruppe tätig sein wird. In dieser Liste findet sich neben der beruflichen Fachrichtung "Gesundheit" (Position 12) nun eigenständig die berufliche Fachrichtung "Pflege" (Position 16). Wer weiß, welche normierende Wirkung derartige Systematiken in der Berufsbildung besitzen - das gilt für einen der Vorläufer in ganz besonderer Weise, nämlich der Berufsfachschul-Anrechnungsverordnung aus dem Jahre 1978, in der ebenfalls schon einmal Berufsfelder (für die Ausbildung im dualen System) aufgegliedert worden sind - der weiß, daß damit quasi die "Akkreditierung" des Berufsfelds "Pflege" in bildungspolitischer Hinsicht erfolgt ist.

(3) Ist eine eigene "Pflege"-Berufsidentität überhaupt wünschenswert - oder ist sie angesichts der Konvergenz von Berufsanforderungen und der daraus resultierenden Unschärfe von Berufsprofilen anachronistisch?

Die derivative, von der Ärzteschaft definierte Identität der Pflegeberufe als "Heilhilfsberufe" hat bekanntlich nicht zu einer eigenen Identität der Berufsgruppe der Pflegefachkräfte geführt. Pflege ist nicht weniger als Medizin, Pflege ist auch nicht mehr als Medizin. Es gibt Überschneidungen und Spezifikationen. Das gibt es auch bei anderen Berufsfeldern (Metall- und Elektroberufe beispielsweise, ohne daß etwa die Kommunikationselektronik über die Metalltechnik dominierte). Insoweit ist eine Pflege-Berufsidentität nicht nur wünschenswert, sie ist zur Profilbildung, zur Systematik der Berufsanforderungen und zur erweiterten Professionalisierung auch dringend erforderlich.

(4) Welchen Beitrag kann - gegebenenfalls - die Berufspädagogik zur Identitätsstiftung leisten?

Die Berufspädagogik ist die Wissenschaft von der Planung, Initiierung, Gestaltung, Kontrolle und Reflexion von Lernprozessen zur Qualifizierung des Berufsnachwuchses. Sie sucht nach optimalen Wegen zur Erreichung eines höchstmöglichen Qualifikationsniveaus. Dabei greift sie auf Befunde der Berufsforschung zurück, die sich mit der Entwicklung beruflicher Anforderungen und Zuschneidungen beschäftigt (beachtenswert sind hierzu vor allem die Untersuchungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit - kurz: IAB - in Nürnberg). Sie nimmt die Untersuchungen der Arbeits- und Berufssoziologie auf (hier sind vor allem die Arbeiten des Sozialwissenschaftlichen Forschungsinstituts - SOFI - Göttingen um den Leiter Martin Baethge zu beachten). Zudem findet sie in den Untersuchungen und Entscheidungen des Bundesinstituts für Berufsbildung - kurz: BiBB - (Standorte: Berlin und Bonn; demnächst Bonn und Berlin) wesentliche Grundlagen ihres Handelns. In diesem Zusammenhang bezieht sie grundlegende Studien (wie die von Becker/Meifort 1994 aus dem BiBB oder von Dietrich 1995 aus dem IAB) auf die Entwicklung des Berufsfeldes Pflege und sucht nach optimalen Wegen zur Gestaltung des Ausbildungssystems. Das umfaßt Fragen der Eignung von Aus- und Weiterbildungsinstitutionen sowie der inhaltlichen und methodischen Gestaltung der Aus- und Weiterbildung von Pflegefachkräften.

(5) Letztlich: Ist eine Berufspädagogik in der beruflichen Fachrichtung Pflege stärker pragmatisch oder stärker (wissenschafts-)theoretisch anzulegen?

Das ist kein Gegensatz: Die Pragmatik richtet sich auf die Herangehensweise, die wissenschaftstheoretische Fundierung auf die Maßstäbe, die an die Berufspädagogik in der beruflichen Fachrichtung Pflege anzulegen sind. Es ist geradezu selbstverständlich, daß praxislose Theorie ebenso wie theorielose Praxis in einer Zeit zunehmender Abstraktheit beruflicher Anforderungen (man denke an die Rolle der EDV in diesem Zusammenhang) wie zunehmender Verdichtung von Anforderungen an bestehenden (übriggebliebenen) Arbeitsplätzen Rückschritt bedeuten würde. Deshalb noch einmal als Bekenntnis: Praxis über Theorie zu erschließen (d.h. sie zu erfassen, zu strukturieren und zu systematisieren, zu analysieren, zu kritisieren und zu verbessern) und Theorie anhand von Praxis fortzuentwickeln (d.h. ihr Gültigkeits- und Aussagespektrum zu erweitern und ihre Relevanz für die Lösung praktischer Probleme zu erhöhen), muß leitendes Prinzip für die Forschungs- und Lehrtätigkeit im Rahmen der Aufbaustudiengänge "Pflegewissenschaft" und "Berufspädagogik in der beruflichen Fachrichtung Pflege" darstellen.

c. Überlegungen zur Rechtfertigung der Vielfalt an Ausbildungsberufen in den Berufsfeldern "Gesundheit" und "Pflege"

Als die Kultusministerkonferenz im Mai 1995 ihre neuen Richtlinien zur Berufsschullehrerbildung mit einer Liste zierte, in der die verschiedenen beruflichen Fachrichtungen aufgeführt waren, subsumierte sie "Pflege" nicht unter "Gesundheit". Damit lieferte sie einen überraschenden Beitrag zur Identitätsbildung von "Pflege" (ob sie das so weitreichend sah oder nicht, mag dahingestellt bleiben). Auch wenn man die nicht zentral der Pflege zuzuordnenden "Gesundheits(fach-)berufe" in einem engen Blickwinkel ausblenden kann, bleibt es bei einer relativ starken Heterogenität (und damit Unübersichtlichkeit) der Ausbildungen im Berufsfeld Pflege - und damit bei der Frage, ob das historisch Gewachsene auch das aktuell Sinnvolle abgibt.

Die Ausbildungen sind von ihrer Strukturierung her nur mit Blick auf die Entstehungsgeschichte von "Pflege" erklärbar (Bischoff 1994). Sie sind jedenfalls von der "Unsystematik", die eine historisch-pragmatische Generierung mit sich bringt. Zum Teil sind die Berufe entwicklungspsychologisch generiert: Geburt, Kind, Erwachsener, Greis; zum Teil anforderungsorientiert: Haus- und Familienpflege, Behindertenpflege.

Diese Systematik mag unwissenschaftlich genannt werden; gleichwohl ist sie "überschaubar". Die Unterscheidung nach Lebensaltersstufen kennzeichnet jedenfalls typische Anforderungsmuster - und vermutlich auch unterschiedliche Anforderungsprofile. Gleichwohl ist zu vermuten, daß ein noch zu definierendes Set an Qualifikationen einen Schnittmengenbereich definiert, der eine gemeinsame Grundstufe sinnvoll erscheinen läßt.

Jedenfalls läßt sich nicht erkennen, weshalb die Einteilung nach den Kriterien "Lebensabschnitt" und "Defizitsituation" dysfunktional im Hinblick auf die Definition einer eigenständigen Pflegewissenschaft und -didaktik genannt werden sollte.

Pflege ist durch eine Gemeinsamkeit definiert: Sie kompensiert jene menschlichen Funktionen, die vom Betreuten nicht oder nicht mehr selbst ausgeübt werden können. Wer pflegt, ergänzt, füllt aus. Bislang ergänzte er die Leistungen des Arztes; inzwischen füllt er vornehmlich die Funktionen aus, die vom Patienten nicht oder nicht mehr selbst erfüllt werden können. Das ist ein gewaltiger Unterschied.

Im ersten Fall nimmt er lediglich Unterstützungsfunktionen für den Arzt wahr (gelegentlich als "Handlangerdienste" bezeichnet), d.h. seine berufliche Identität wird durch den Mediziner medizinisch definiert; im zweiten Fall ist er Partner des Patienten - und gewinnt sein Selbstverständnis aus dessen Hilfsbedürftigkeit. Die Funktionen, die der Patient nicht oder nicht mehr ausüben kann, definieren den Verhaltensspielraum des Pflegers.

Aber der Pfleger ist kein (psycho-)motorischer oder rein kognitiver Mensch. Er vereint alle drei menschlichen Kategorien in sich - und in seinem beruflichen Wirken: Kognition, Affektivität, Psychomotorik. Die Schwerpunkt haben sich allerdings verschoben: Nicht aus der Grund- oder Funktionspflege, sondern aus der (patientenorientierten) Bezugspflege gewinnt die/der PflegerIn berufliche Identität, berufliches Selbstverständnis. Er/sie ist nicht in erster Linie PartnerIn des Arztes, sondern des Patienten.

Dieser Perspektivenwechsel hat sich offenbar am deutlichsten in der Psychiatrie angedeutet, wo die ärztliche Kunst am ehesten an Grenzen stößt, wird sie nicht von kollegialer und professionaler Pflege begleitet, wenn nicht gesteuert. Hier wurde in den letzten Jahren auch deutlich, wie sehr die beiden Berufsgruppen aufeinander angewiesen sind, wenn bei zunehmend problematischeren Patienten Heilerfolge erzielt werden sollen. Die immer stärker apparateorientierte, DV-gesteuerte Medizin in den allgemeinen Krankenhäusern täte gut daran, sich schon heute stärker an der Entwicklung in den psychiatrischen Kliniken zu orientieren.

4. ISO 9000 ff.: Qualitätssicherung oder Geschäftemacherei?

a. Auszug aus dem Ankündigungstext

"Erst gab es die ISO-Normen nur in den hochtechnisierten Produktionsunternehmen. Dann sprang der Funke auf den Dienstleistungsbereich über. Jetzt zündelt es bei den Bildungseinrichtungen. ISO bedeutet "International Standard Organization" und ist sozusagen die DIN auf Weltebene. Dahinter steckt eine Philosophie.

Wenn ein Produkt fertig ist und man es einer Qualitätsprüfung unterzieht, dann ist es oft zu spät. Das mußte der VW-Audi-Konzern vor 10 Jahren bei der Verwendung mangelhaften russischen Stahls teuer bezahlen. Nach drei Jahren waren Autos dieser Marken schon völlig verrostet. Wer Qualitätssicherung Ernst nimmt, muß also bereits den Prozeß der Produkterstellung einer Qualitätsprüfung unterziehen. Das wollen die Normen ISO 9000 bis 9004.

Die Ford-Werke werben damit, daß ihre Produktentwicklung, ihre Fertigung, ihre Kundenbetreuung und ihr Service nach DIN 9001 zertifiziert worden sind. Mittlerweile gibt es auch Dienstleistungsunternehmen, die ihre Erstellungsprozeß durch eine unabhängige Zertifizierungsgesellschaft prüfen ließen. Bislang wurden Krankenhäuser, ambulante Pflegedienste und Altenpflegeeinrichtungen noch nicht "zertifiziert". Sollen sie diesen Schritt wagen? Was kostet, was bringt eine Zertifizierung? Reichen die Pflegestandards nicht aus?"

b. ISO 9000 ff.: Qualitätssicherung oder Geschäftemacherei? (Basistext für die Veranstaltung unter Verwendung eines Vortragstextes "Seyd: Qualitätsstandards für die berufliche Bildung" im BFZ Essen am 30.1.95)

Die folgenden Ausführungen greifen das Problem systematisch auf:

1 Was ist Qualitätssicherung nach ISO 9000 ff.? Und was ist es nicht?

2 Welche Qualitätssicherungssysteme gibt es gegenwärtig bereits in Einrichtungen des Gesundheitswesens?

3 Was haben die Pflegestandards mit den Qualitätsnormen nach ISO gemein, was unterscheidet sie?

4 Was ist aus alldem zu folgern?

i. Was ist Qualitätssicherung? Und was ist es nicht?

Bis vor wenigen Jahren wurde die Qualität am Produkt, das man kaufte, festgemacht. Das ist nicht verkehrt, solange man es aus Kundensicht betrachtet. Wenn aber das Produkt einen Mangel aufweist, wenn es vom Kunden nicht angenommen wird, dann ist irgendetwas bei der Konzeption des Produkts oder bei seiner Herstellung "schiefgelaufen". Und dann ist es oft zu spät.

Deshalb wurde schon in den dreißiger Jahren darüber nachgedacht, daß eigentlich die Qualitätskontrolle nicht erst beim fertigen Produkt anfangen sollte, sondern bereits im Laufe des Produktionsprozesses. So ist es ja auch bei Bildungsveranstaltungen: Wer erst am Ende einer Seminarwoche prüft, ob das Seminar Akzeptanz erzielt hat, begibt sich der Chance, noch im Prozeß des Seminars Korrekturen vorzunehmen. Das wurde auch als Maxime der Qualitätssicherung ausgegeben: Die Prozeßqualität ist zu kontrollieren, wenn man die Produktqualität verbessern will. Das ist leichter gesagt als getan!

Machen wir einen großen zeitlichen Schritt, dann sehen wir, daß heute die Qualität in Entwicklung, Produktion, Kundenbetreuung und Service per ISO 9000 ff. geprüft und bescheinigt wird. Darin liegen System und Geschäft. System liegt darin, weil in der Tat von einem unabhängigen Gutachter, einem Wirtschaftsprüfer gleich, die Qualität der Erstellung von Produkten bescheinigt wird; Geschäft, weil in der Tat derjenige, der ohnehin Qualität erzeugt, aus marktwirtschaftlichen Erwägungen heraus gezwungen wird, seine - womöglich ohnehin qualitativ hochwertige - Produktion als hochwertig attestieren zu lassen.

Die ISO 9000 ff. haben natürlich noch einen anderen Ursprung. So wie die DIN-Normen Sicherheit und Vergleichbarkeit gewährleisten sollen, so sollen auch die ISO-Normen übernationale Sicherheit und Vergleichbarkeit gewährleisten (Blanke 1995). Wer eine "Phantom" in England mit portugiesischen, französischen und deutschen Zulieferteilen zusammenbauen soll, muß sich auf die Qualität der Vorprodukte verlassen können, wenn er selbst Qualität liefern soll. Also muß er die Normen vorgeben; das geschieht über die Internationale Standardisierungs-Organisation (ISO).

Sie hat 20 QM-Elemente formuliert. Diese sind im Produktionsbereich entwickelt, auf Produktionsvorgänge bezogen. Mittlerweile wurden sie auf den Dienstleistungsbereich heruntergebrochen, jetzt für den Weiterbildungsbereich angepaßt. Passen sie auch auf Krankenhäuser und Altenpflegeeinrichtungen?

Was haben wir überhaupt für eine Evaluationsform vor uns? Es handelt sich um eine

- externe Evaluation, sie ist

- prozeßorientiert, aber

- summativ.

Sie hätte auch

- intern (von den Mitarbeitern des Weiterbildungsträgern selbst initiiert und durchgeführt)

- produktorientiert (auf die Endleistung bezogen) und

- formativ (während des laufenden Produktionsprozesses)

vorgenommen werden können. Die erstgenannte Form sichert, daß die Gütekriterien der Erfolgskontrolle in höchstem Maße eingelöst werden: Objektivität, Validität und Reliabilität (Seyd 1994). Hinzu kommen (nach Lienert 1969) vier Nebenkriterien: Vergleichbarkeit, Normierung, Wirtschaftlichkeit, Nützlichkeit.

Wenn aber die Gütekriterien weitgehend nicht eingehalten werden, dann ist die Tragweite des Urteils über die Prozeßqualität begrenzt:

- für das Management mag es groß sein

- ein relativ hoher Werbewert mag sich einstellen

Auf einer Tagung des Public-Health-Studiengangs der Universität Münster, an der rund 130 Interessiert teilnahmen, referierte ein Mediziner zum Thema "Qualitätsmanagement an Krankenhäusern". Er vertrat die Auffassung, die Krankenhäuser hätten auch bisher schon ihre Qualität definiert und überprüft; ein zusätzliches Qualitätssicherungssystem benötigten sie nicht. Wie steht es um die Pflegestandards? Sind sie hinreichend zur Sicherung der Pflegequalität? Oder müßten sie durch eine externe Evaluation gewonnen werden?

ii. Welche Qualitätssicherungssysteme gibt es gegenwärtig bereits in Einrichtungen des Gesundheitswesens?

Sieht man sich einmal die Standards des Krankenhauses Trier (siehe Anhang) an, so stößt man zunächst auf eine beachtlich präzise Beschreibung der Tätigkeiten, die im Rahmen der sogenannten Grundpflege zu verrichten sind. Bei näherem Hinsehen weist die Beschreibung zwei Defizite auf:

a Es handelt sich lediglich um solche Verrichtungen, die gemeinhin der "Funktionspflege" zugeordnet werden.

b Die sogenannten Standards sind isoliert auf das Tätigwerden der Pflegefachkräfte bezogen, obgleich doch Qualität der Pflege nur im Kontext der Gesamtleistung am Patienten gemessen und bewertet werden kann.

Insofern bieten diese "Pflegestandards" nicht mehr und nicht weniger als eine Deskription von Verrichtungen am Patienten; sie sind aber orientiert an einem traditionellen und heute nicht mehr aktuellen Leitbild von "Pflege": nachrangig und aufgabenorientiert, statt gleichberechtigt und patientenorientiert.

In die entgegengesetzte Richtung weisen die am Psychiatrischen Krankenhaus Merxhausen entwickelten Kategorien (Kunze 1994, S. 58 - 65; Kistner/Oppermann 1994, S. 141 ff.). Dabei wird von zwei Axiomen ausgegangen:

a Pflegequalität ist nur im Kontext der patientenorientierten Gesamtleistung des Krankenhauses herzustellen. Es ist nicht möglich, "Pflegequalität gesondert von der Qualität der psychiatrischen Gesamtbehandlung zu betrachten" (Kistner/Oppermann 1994, S. 132).

b "Erst durch Bezugspflege bekommt die Pflege einen eigenständigen Inhalt" (Kistner/Oppermann 1994, S. 138).

Kistner/Oppermann definierten sieben "strukturelle und konzeptionelle Rahmenbedingungen der Pflege- und Behandlungsqualität":

1. Therapiebezogene Dienstzeitenregelungen

2. hinreichende Besprechungszeiten

3. Organisationsplan, der Mindest- und Regelbesetzung festschreibt

4. Multiprofessionelles Behandlungsteam, bestehend aus Ärzten, Pflegedienst, Psychologen, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten und Sozialarbeitern/päd-agogen

5. Bezugspflege (jeder Patient hat unter den Pflegefachkräften einen bestimmten Ansprechpartner)

6. Klare Zuständigkeits- und Verantwortlichkeitsregelungen/Stationskonzept

7. Teamorientierte Struktur des Informationswesens/Dokumentation (Dokumentationsmappe statt "Hinterkopf des Therapeuten" (Kistner/Oppermann 1994, S. 141)

(Oppermann 1994, S. 5 - 16).

Diese Liste wird aus ärztlicher Sicht noch ergänzt um die Kategorien

8. Kontinuität (Einbindung in die Kette stationär, teilstationär, ambulant; permanente Bezugssicherung mit persönlichem Umfeld)

9. Systematisches Vorgehen: Diagnostik, Problemdefinition, Zieldefinition, Therapieplanung, Behandlung, Erfolgskontrolle

10. patientenfreundliche Rahmenbedingungen: 16 statt 18 Betten pro Station; ausreichende Zeit für sozialpsychologische Betreuung (Kunze 1994).

Die im Krankenhaus Merxhausen formulierten "Qualitätsdimensionen" sind jedenfalls von ihrer Differenziertheit höher einzuschätzen als die 20 QM-Elemente der ISO 9000. Sie sind im folgenden wiedergegeben.

iii. Was haben die Pflegestandards mit den Qualitätsnormen nach ISO gemein, was unterscheidet sie?

Man muß sich zunächst einmal den Vorgang der Qualitätssicherung nach ISO 9000 an einem praktischen Beispiel vergegenwärtigen. Es gibt eine Weiterbildungseinrichtung in Oberösterreich, die bereits vor vier Jahren nach ISO 9004 zertifiziert worden ist: Das Berufsbildungs- und Rehabilitationszentrum (BBRZ) Linz. Über die Erfahrungen berichtet Konrad Mager, pädagogischer Leiter des Zentrums, mit unterschiedlichen Einschätzungen. Ein Jahr lang haben die Abteilungsleiter einen Tag in der Woche für die Definition der Qualitätsmerkmale aufwenden müssen. Das so entwickelte Qualitätshandbuch wurde in einem aufwendigen Audit extern geprüft. Für 1960,- DM pro Tag kommen zwei Prüfer drei Tage lang in den Betrieb, prüfen die Übereinstimmung von schriftlicher Ausarbeitung und tatsächlichen Leistungen. Stimmt alles überein, wird ein Zertifikat vergeben. Ob der Aufwand den Ertrag rechtfertigt, ist eine betriebswirtschaftlich relevante Frage, die schwer zu beurteilen ist. Schließlich sind der Selbstprüfungseffekt in Hinsicht Wirtschaftlichkeitskontrolle und der Werbeeffekt durch verbriefte Kundensicherheit positive Ergebnisse, die Kosten aber nicht zu verachten: Für das Hauptaudit schlagen rund 15 000,- DM zu Buche, das jährliche Zwischenaudit kann man vom Aufwand her fast vernachlässigen, aber die rund 170 000,- DM, die der interne Personalaufwand durch die Abteilungsleiter verschlang, sind schon beachtlich. Die Wegbereiter des Zertifizierungssystems haben sich ihre Pfründe solide gesichert: Das Zertifikat gilt nur für drei Jahre, anschließend muß es komplett erneuert werden. Dieses System ist dem Kraftfahrzeug-TÜV entlehnt. System und Geschäft: wie gesagt.

In vielen Bereichen wird der inhaltliche Wert der externen Qualitätskontrolle heiß diskutiert. Ob es das Krankenhauswesen ist, wo jüngst auf einer vielbeachteten Tagung des Public-Health-Studiengangs der Universität Münster Ärzte und Soziologen wechselseitig den begrenzten Nutzen der ISO 9000 ff. bescheinigten und zugleich auf den Wert interner Qualitätskontrolle verwiesen, ob es die Berufsförderungswerke sind, die im Rahmen ihrer Arbeitsgemeinschaft nach einer gemeinsamen Position insbesondere gegenüber ihren Leistungsträgern (vor allem der Arbeitsverwaltung, den Rentenversicherungsträgern und den Berufsgenossenschaften) suchen, oder ob es - man höre und staune - der Bundesverband der Lehrer an berufsbildenden Schulen ist, der sich die Frage stellt, ob nicht auch die Berufsschulen künftig extern nach ISO 9000 ff. qualitätskontrolliert werden müßten. Bislang überwiegen die Skeptiker, und sie haben solange die besseren Argumente, wie der Zusammenhang zwischen Qualitätsverbesserung und externer Qualitätsprüfung nicht nachgewiesen werden kann.

An dieser Stelle ist eine Gegenüberstellung der 20 QM-Elemente nach ISO 9000 mit den im Krankenhaus Merxhausen entwickelten Pflegestandards hilfreich. Sie umfassen

4.1 Verantwortung der Leitung

4.2 QM-System

4.3 Vertragsprüfung

4.4 Designlenkung

4.5 Lenkung der Dokumente und Daten

4.6 Beschaffung

4.7 Lenkung der vom Kunden bereitgestellten Produkte

4.8 Kennzeichnung und Rückverfolgbarkeit von Produkten

4.9 Prozeßlenkung

4.10 Prüfungen

4.11 Prüfmittelüberwachung

4.12 Prüfstatus

4.13 Lenkung fehlerhafter Produkte

4.14 Korrektur- und Vorbeugungsmaßnahmen

4.15 Handhabung, Lagerung, Verpackung, Konservierung und Versand

4.16 Lenkung von Qualitätsaufzeichnungen

4.17 Interne Qualitätsaudits

4.18 Schulung

4.19 Wartung

4.20 Statistische Methoden

Im psychiatrischen Krankenhaus Merxhausen wurden hingegen folgende Qualitätsdimensionen entwickelt:

1 Einbindung der Klinik in das soziale Umfeld

2 Fachliche Zuständigkeit

3 Milieu

4 Materielle Grundversorgung

5 Stationsorganisation und -verwaltung

6 Zeitmanagement

7 Ausstattung mit technischen Hilfsmitteln

8 Umgang mit den personellen Ressourcen der Behandlung "Mitarbeiterpflege"

9 Informations- und Kommunikationssystem

10 Behandlungsteam

11 Steuerungsmöglichkeit der Therapie für den Patienten

12 Handhabung der rechtlichen Aspekte der Behandlung

13 Außenorientierung der Behandlung

14 Umgang mit den Angehörigen

15 Soziale Schutzfunktion

16 Beziehungsgestaltung

17 Aufnahme

18 Aufnahmemodalitäten

19 Diagnostik

20 Behandlungs- und Pflegeplanung

21 Pflegerisches und therapeutisches Handeln

22 Umgang mit der medikamentösen Behandlung

23 Umgang mit den psychotherapeutischen Elementen der Behandlung

24 Maßnahmen zur Vorbereitung der beruflichen Rehabilitation

25 Reflexion

26 Öffentlichkeitsarbeit

Der Schwerpunkt bei den Pflegestandards wird auf inhaltliche Kategorien gelegt, während bei den ISO-Elementen formale Kategorien überwiegen. Insofern ließen sich die für die Arbeit in der Psychotherapie entwickelten Kategorien auch nicht einfach in die ISO-Systematik einfügen. Andererseits müßten die QM-Elemente - wie übrigens auch für den Dienstleistungs- und darin speziell für den Weiterbildungsbereich - für den Krankenhausbereich vollkommen umgeschrieben werden. Die Mensch-Maschine-Beziehungen in der Produktion lassen sich eben nicht einfach auf die Mensch-Mensch-Beziehungen in der Pflege übertragen - ein Aspekt, der bei den bisherigen Diskussionen um die Qualitätsprüfung im Krankenhausbereich nach ISO 9000 überhaupt noch nicht beachtet worden ist.

Pflegequalität besteht - wenn man es einmal "lernökonomisch" betrachtet - in einem größtmöglichen Betreuungsgewinn bei gegebenem Pflegeaufwand, oder in einem minimalen Pflegeaufwand bei gegebenem Betreuungsresultat. Das wäre einfach zu ermitteln, wenn es einen allgemeingültigen Pflegebegriff gäbe. Aber es gibt die verschiedensten Pflegetheorien mit den unterschiedlichsten Pflegebegriffen, von der optimierten Grundpflege bis zur hauswirtschaftlich und sozialpsychologisch angereicherten Bezugspflege.

Nimmt man die verschiedenen Funktionen externer Evaluation in den Blick, so sind einerseits Selbstrechtfertigung und Kontrolle des Pflegegeschehens auch hier ein wichtiger Hebel für pflegerische Innovationen; andererseits sind es vorwiegend traditionelle und noch dazu wirtschaftliche Kategorien, an denen die Qualität beispielsweise von Weiterbildungsträgern gemessen werden soll. Am Beispiel des BBRZ Linz läßt sich ablesen, daß eine Institution, die sich selbst mit Recht als handlungsorientiert bezeichnet, Gefahr läuft, nach der Zertifizierung ihre innovativen Strukturen zu Routinestrukturen gerinnen zu lassen. Nur wenn man dieser Gefahr entgegentritt und sich Innovationen nicht verschließt, auch wenn der Qualitätsstempel das Erreichte bescheinigt, dann sind pflegerische Qualität und externe Qualitätssicherung kompatibel.

iv. Empfehlung

Der Schlußsatz des vorangegangenen Abschnitts klingt ausgesprochen versöhnlich - jedenfalls, solange man ihn auf eine prinzipielle Betrachtung bezieht. Die Wirklichkeit zeigt jedoch, daß schon über die Kategorie "Bezugspflege" mehr Fehlvorstellungen existieren als präzise Auffassungen. Und deshalb ist Skepsis angebracht, ob in der Pflege mit einer Zertifizierung auf dem - aus verschiedenen Gründen nicht nur wünschenswerten, sondern bitter notwendigen - Weg zur patientenorientierten Pflege vorangekommen werden kann. Die Zertifizierung eines Krankenhauses oder einer Altenpflegeeinrichtung nach ISO 9000 sagt jedenfalls nichts über die pflegerische Qualität ihres Konzeptes aus; sie bescheinigt nur die Übereinstimmung zwischen verfolgter Linie und formuliertem Konzept - und das kann sehr traditionell-funktional sein.

Aus alldem folgt, daß die Maxime, man könne das eine tun kann ohne das andere zu lassen, auch hier greifen sollte. Aber das eine hat eben wegen der unterschiedlichen Zwecksetzungen mit dem anderen so gut wie nichts zu tun. Wer pflegerische Qualität will, der muß multiprofessionellen Teams Raum geben; wer ein werbewirksames Gütesiegel will, um auf dem Markt nicht isoliert zu werden, der soll seine Zertifizierung nach ISO 9000 ff. anstreben. Aber das muß er nach wirtschaftlichen und nicht nach pflegerischen Kategorien entscheiden.

c. Folien für die vierte Sitzung

Ein Teil der Folien enthielt Aufstellungen und Aussagen, die sich im vorangegangen Abschnitt befinden. Ergänzend sind hier weitere Folien, die in der Sitzung eingesetzt worden sind, wiedergegeben.

Qualitätssicherungsmodell nach Carolyn Smith Marker/USA für den Bereich des Pflegemanagements mit neun gleichgewichteten Aktivitäten:

1. Standardentwicklung

2. Bestätigung der fachlichen Kompetenz

3. Bewertung der Durchführung von Pflegemaßnahmen

4. Überprüfung

5. Parallellaufende Überprüfung

6. Risikomanagement

7. aktive Problemdefinition

8. Kontrolle der Inanspruchnahmen von Ressourcen

9. kontinuierliche Fortbildung

(Quelle: Grammer, Ilona: Qualitätssicherung in der Pflege, in: Leben und Weg 6/94 + 1/95, S. 32 - 39, hier: S. 37)

Meinem Kollegen Prof. Dr. Hans Martin, Arbeitswissenschaftler im Fachbereich Berufspädagogik, Polytechnik, Arbeitswissenschaft an der GhK, verdanke ich die folgenden 5 Folien. Sie geben einen Überblick über Struktur, Inhalt, Sinn und Zweck des Qualitätsmanagements.


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Alle Rechte des vorliegenden Textes bleiben beim Verfasser. Bei Zitaten aus diesem Dokument ist die Quelle anzugeben.


Der Text
"Pflege" an der GhK
kann auch als Buch gelesen werden. Die bibliographischen Daten sind:

Wolfgang Seyd: "Pflege" an der GhK.
Kassel: Gesamthochschul-Bibliothek, 1995. - 109 Seiten.
(Universität Gesamthochschule Kassel; Berufs- und Wirtschaftspädagogik; Band 21).
ISBN 3-88122-849-7.


Verantwortlich für den Inhalt: Dr. Wolfgang Seyd

Verantwortlich für die Bereitstellung als HTML-Dokument:

Dr. Karlheinz Fingerle, GhK, Fachbereich 10
E-mail: fingerle@uni-kassel.de

Letzte Änderung: 17. Febr. 1996
Aktualisierung der Angaben zu Fachbereich und E-mail-Adresse: 21. Febr. 1999