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5. Was müssen Pflegerinnen (alles) können?

a. Auszug aus der Seminarankündigung

"`Funktionspflege' ist `out'. Patientenorientierung, Ganzheitlichkeit, handlungsorientierte Pflege etc. sind "in". Ambulante Pflege stellt höhere Qualifikationsanforderungen als stationäre, sagt Frau Meifort vom Bundesinstitut für Berufsbildung. Pflege ist nicht nur Grundpflege, Pflege ist auch Interaktion und Kommunikation, Pflege ist auch Beratung in hauswirtschaftlichen und finanztechnischen u.a. Fragen. Pflege ist umfassend.

Da stellt sich schon die Frage, ob die Pflegerin oder der Pfleger von heute omnipotent sein müssen: Medizinisch, physiologisch, psychologisch, pädagogisch, hauswirtschaftlich und was sonst noch alles beschlagen, müssen sie zum Billigtarif ihrer Arbeit nachgehen. Ist eine solche Qualifikationsanreicherung wirklich vonnöten? Wird sie angemessen honoriert? Oder wird hier gesellschaftlich Wünschbares auf eine Personengruppe projiziert, die gegenwärtig im Brennpunkt der Berufsbildungs- und Sozialpolitik steht?"

b. Qualifikationsbeschreibungen in einschlägigen Untersuchungen

i. allgemein

Für problematisch werden in der Pflegetätigkeit heute folgende Aspekte angesehen:

- die Arbeitsverdichtung durch erhöhte Fallzahlen und verringerte Durchlaufzeiten bei gleichzeitig steigendem Personalmangel

- der hohe Anteil pflegefremder Tätigkeiten in mehreren Bereichen:

--hauswirtschaftlich: Verpflegung, Reinigung

--administrativ: Protokollierung, Dokumentation

- die "ungesunden" Dienstzeiten, insbesondere der "Schaukeldienst" = Wechsel-Schichtdienst

- die Funktionspflege, bei der einzelne Verrichtungen vergleichbar der "Baustellenfertigung" jeweils bei allen PatientInnen nacheinander vollzogen werden.

Es liegt inzwischen umfangreiches Datenmaterial vor. 1988 wurden in Westdeutschland 2,1 Mio. Pflegefälle registriert, davon

-	1,1 Mio. leichte in häuslicher Versorgung

- 420.000 schwere " " "

- 210.000 "schwerst" " "

- 370.000 in Heimen und Krankenhäusern.

82 % aller PflegepatientInnen wurden zuhause versorgt.

Für das Jahr 2000 wird mit einer Zunahme auf etwa 2,4 Mio.,

für 2030 auf etwa 2,9 Mio. PflegepatientInnen gerechnet. (Naegele 1991, S. 62).

ii. Altenpflege

Dieser Bereich ist gegenwärtig von starken Umstrukturierungen geprägt. Die Altersstruktur verschiebt sich nach oben, die zahlenmäßige Besetzung der oberen Altersjahrgänge hat erheblich zugenommen, die Versorgung verschiebt sich mit der Zunahme von ambulanten Pflegediensten und Sozialstationen in den häuslichen Bereich. Die Folge: Wenn ältere Menschen stationäre Einrichtungen aufsuchen, sind sie heute erheblich pflegebedürftiger als noch vor wenigen Jahren. Die stationären Einrichtungen wandeln sich von Altenpflegeeinrichtungen zu medizinisch-pflegerischen und psychiatrisch-pflegerischen (Meifort 1993, S. 113 f.). Daraus resultiert eine erheblich intensivere Inanspruchnahme des Betreuungspersonals.

Meifort unterstellt drei Defizite beruflichen Handelns bei den Altenpflegefachkräften:

* fehlende sachbezogene und damit sinnstiftende Berufsschneidung

* fehlende übergreifende berufliche Handlungskompetenzen, verbunden mit kritikloser Akzeptanz der vorgefundenen Situation und einer "duldenden beruflichen Grundhaltung" (S. 117)

* fehlende "Interpretations- und Deutungskompetenz", kombiniert mit "industriösem beruflichen Handlungsverständnis" (S. 118).

22-23 % aller 65jährigen weisen psychische Störungen auf,

7- 8 % " " sind therapiebedürftig (15 % lt. 4. Familienbericht BMJFFG 1986).

Der Anteil gerontopsychiatrisch erkrankter HeimbewohnerInnen beläuft sich auf 40 - 50 %. Daran gemessen ergibt sich ein personelles Defizit, das 3 - 4mal so hoch liegt wie der gegenwärtige Personalstand (Naegele 1991, S. 67).

In der Altenpflege zeigt sich folgende Häufigkeitsrangliste nach PatientInnengruppen:

1. alte Menschen mit mehreren Schlaganfällen

2. Dementielle Erkrankungen

3. Krebskranke im fortgeschrittenen Stadium

4. Depressive

5. Parkinson-Erkrankte

6. Rheumatiker

iii. Krankenpflege

1970 lagt die durchschnittliche Verweildauer bei ca. 25 Tagen, 1988 hatte sie sich auf 12,5 Tage halbiert (Meyer-ter-Vehn 1994, S. 14).

Die in den 60er Jahren eingeleitete Apparatemedizin hatte eine Reihe von Auswirkungen zur Folge:

- Die Spezialisierung und damit einhergehend die Arbeitsteilung im Krankenhaus nahmen zu

- Die Bedeutung der Grundpflege nahm ab, die der Intensiv-, Anästhesie- und OP-Pflege nahm erheblich zu. (Meyer-ter-Vehn 1994, S. 28) Dementsprechend bildete sich eine von der formellen Hierarchie (Pflegehilfskräfte, Pflegefachkräfte, StationspflegerInnen) unabhängige, auf Spezialisierung gegründete Hierarchie heraus.

Die Arbeitsbedingungen sind gekennzeichnet durch:

- relativ geringe Vergütung, gemessen an der Aufgabenschwere und Verantwortungstiefe

- geringe Aufstiegsmöglichkeiten

- problematische Arbeitszeiten

- physische Belastungen (62% der Pflegekräfte verwenden keine Hebehilfen!)

- verdichtete Arbeitsinhalte

- strikte Hierarchie mit erheblichem Anweisungscharakter: Arzt - Stationsschwester/-pfleger - Schwester/Pfleger.

In einer kritischen Analyse zeigte sich eine Dreiteilung des Handlungsspektrums von Pflegefachkräften:

- Pflegetechnik

- Patientenbeobachtung/-betreuung

- Pflegeorganisation (Meyer-ter-Vehn 1994, S. 29).

Problematisch ist insbesondere, daß Pflege im Krankenhaus negativ definiert wird: Sie umfaßt all das, was andere Berufsgruppen im Krankenhaus nicht tun (und ähnelt damit zumeist der Rollen- und Aufgabenverteilung in der Familie).

Die Arbeitsinhalte "entfernen sich vom Patienten" (ebenda, S. 35), die Arbeitszeiten sind zuwenig flexibel, die Vergütungsspannen zu gering.

c. Verbesserungsvorschläge

In einer PROGNOS-Untersuchung an verschiedenen Kliniken in Rheinland-Pfalz erwiesen sich eine Reihe von Verbesserungsmöglichkeiten für die Arbeitssituation von Pflegefachkräften als sinnvoll und effektiv:

- die hauswirtschaftlichen Anteile an Hauswirtschaftshilfen zu delegieren,

- die administrativen Anteile Stationssekretärinnen zu überlassen,

- die Arbeitszeit zu flexibilisieren (Gleitzeit hat sich allerdings nicht bewährt)

- die Arbeitszeit über EDV steuern zu lassen

- Bereichspflege, Bezugspflege an die Stelle von Funktionspflege zu setzen (ist über Aus- und Weiterbildung abzusichern)

- Pflegeprozeßmodelle einzuführen, Pflegestandards schriftlich festzulegen.

Weitere Vorschläge finden sich in einer Studie über Imageanhebung im Pflegebereich (Meyer-ter-Vehn 1994):

- Der Dienstleistungscharakter des Krankenhauses ist zu betonen, Teamarbeit ist auszuweiten und zu vertiefen, professionelle Standards sind einzuziehen

- Am Gesunden, nicht am Kranken muß sich die Gesundheitsversorgung orientieren

- Das medizinische Versorgungswesen muß sich von der einseitigen Ausrichtung auf (stationäre) Krankenhäuser hin zu teilstationären und ambulanten Angeboten fortentwickeln

- Eine Pflegekammer ist einzurichten (es kann nicht angehen, daß eine "fremde" Kammer, nämlich die Ärztekammer, über die Qualifizierung und die Qualifikationen des Pflege-Berufsnachwuchses wacht)

- Die Arbeitsbedingungen der Pflegefachkräfte sind deutlich zu verbessern (s.o.).

d. In der Pflege nicht zu vernachlässigen: Hebehilfen

Es ist - leider - nicht nur ein technisches Problem. Denn fehlende und nicht genutzte Hebehilfen führen oft zu vorzeitigem Verschleiß der körperlichen Fähigkeiten oder gar zu Schädigungen bei Pflegefachkräften. Insofern ist die Bedeutung dieses Problems nicht zu unterschätzen, lohnt sich die Beschäftigung mit diesem Thema in mehrfacher Hinsicht.

Die Freiburger Forschungsstelle Arbeits- und Sozialmedizin (FFAS) hat jüngst eine Untersuchung zum Einsatz und zur Akzeptanz von Hebehilfen durchgeführt. Dabei befragte sie 3332 Pflegekräfte,

2891 in Allgemein- und Fachkliniken

361 in Altenheimen

54 in Behindertenwohnheimen

26 in Sozialstationen.

Die Ergebnisse sind sehr aufschlußreich:

62 % verwenden keine Hebehilfen

74 % der Mitarbeiter in Krankenhäuser verfügen über keine oder zuwenig Hebehilfen, 19,5 % geben Platz- oder Zeitmangel als Grund dafür an

64 % der Mitarbeiter in Altenheimen und

61 % der Mitarbeiter in Behindertenheimen, aber nur

29 % der Mitarbeiter in Krankenhäusern benutzen Bodensysteme (Lifter).

Als erster Grund für die Benutzung von Hebehilfen wird die Arbeitserleichterung angesehen, als zweiter die Rückenschonung.

e. Folien zur Situation der Schwestern (in früheren Zeiten?)

"Die inhaltliche Ausrichtung der Pflegeberufe nach globalen Lebensaltersgruppen "Kinder", "Erwachsene" und "Alte" und globalem Hilfebedarf von "Krankheit", "Pflegebedürftigkeit" und/oder "Behinderung" sowie entsprechenden prototypischen Lösungsmustern ist eine Scheindifferenzierung und führt tatsächlich zu unerträglichen Schematisierungen von Berufshandlungen". (Meifort 1993, S. 115)

6-stufiges Pflegeprozeßmodell nach Schilder (1994, S. 25):

"Die Ziele des Pflegeprozesses beinhalten:

1. gedankliche Auseinandersetzung mit der inviduellen Situation des Patienten,

2. Vermeiden von pflegerischer Verunsicherung und Fehlern durch mangelnde Information,

3. Schaffen eines Informationssystems, das Pflegepersonen lückenlos über die aktuelle Situation des Patienten Aufschluß gibt und den chronologischen Pflegeverlauf aufzeigt,

4. zielgerichtetes Festlegen und Durchführen der vom Patienten benötigen Pflegeinterventionen,

5. Darstellung der in der Pflege geleisteten Arbeit durch die Pflegedokumentation,

6. Pflegeevaluation und Prüfung der Pflegequalität."

"Die weibliche Natur und der weibliche Geist sind nicht befähigt, die Ideale ärztlicher Praxis und Bildung zu erreichen. Frauen sind daher auf diesem Gebiet nicht zu dulden...Ich halte es für durchaus unnötig, ..., seine Vorzüge gerade in Beziehung auch auf Kranke und Leidende hervorzuheben ... Seine Sittsamkeit, Demut, Geduld, Gutmütigkeit, Aufopferungsfähigkeit, teilnehmende Lebensstimmung, Frömmigkeit sind so viel größer als bei dem männlichen Geschlechte, daß, wo es auf diese ankommt, die Frauen ebenso den Vorzug verdienen als die Männer da, wo Kraft, geistige Produktivität, moralischer Ernst, Mut, Ausdauer, Ehrgeiz erforderlich sind. Es ist also in medizinischer Hinsicht das Gebiet der Krankenpflege, in welchem Frauen jedenfalls vor den Männern sich auszeichnen können, wenn sie sich dazu hinreichend ausbilden" (Bischoff 1872)

Aus einem von einem Arzt verfaßten Lehrbuch für Pflege:

"Wünschenswerte, zum großen Teil unabweisbare Eigenschaften einer guten Krankenpflegerin sind Selbstlosigkeit, Pflichttreue, Folgsamkeit, Ordnungs- und Wahrheitsliebe, Beobachtungsgabe, Taktgefühl, Reinlichkeit, Verschwiegenheit und eigene volle Gesundheit und Rüstigkeit ... Sie ist die unentbehrliche und geschätzte Hilfskraft des behandelnden Arztes und seiner Stellvertreter ... Er muß von der Pflegerin verlangen, daß sie seine Verfügungen kritiklos und unbedenklich nach den Regeln der Wissenschaft und der Schule präzis durchführt und sich durch nichts in der Durchführung beirren läßt ... Nicht nur für den Kranken, auch und in erster Reihe für die Pflegerin ist der Besuch des Arztes, die ärztliche Visite, das Hauptereignis des Tages" (Bum 1917, zit. in Steppe 1994, S. 46).

"Wir Krankenschwestern sind nur Dienerinnen der Ärzte und werden nie etwas anderes sein, und wir sollten gute Dienerinnen sein, glücklich in unserer Abhängigkeit, die mit dazu beiträgt, große Taten zu vollbringen" (Hospital, Londen 1906, zit. nach Garmanikow 1978, in Steppe 1994, S. 46).

"Betrachtet man die historische Entwicklung der Pflege in ihrer Gesamtheit, kristallisieren sich fünf Hauptelemente heraus, die das Grundgerüst des Berufs bildeten:

1. die bewußt gestaltete inhaltliche Diffusität und Unklarheit des pflegerischen Aufgabenbereichs, also die Zuständigkeit für alles und alle,

2. die strikte Unterordnung in der Beziehung zur Medizin als unwissenschaftlicher "medizinischer Heilhilfsberuf",

3. die geschlechtsspezifische Ausrichtung fachlicher Anforderungen in Form einer totalen Vermischung von persönlichen und beruflichen Fähigkeiten, also die Aufgabe der eigenen Identität und die damit verbundene Verleugnung eigener Gefühle und Bedürfnisse, also das Dasein für andere,

4. die Ausprägung gerade berufsfeindlicher Elemente, also Pflege als Berufung und nicht als Beruf, für den die Gesetze der Arbeitswelt gelten,

5. die berufspolitische Zersplitterung, also die nicht ausgebildete Fähigkeit zu solidarischem Handeln."

(Steppe 1994, S. 48).

6. Duales System für die Pflegeausbildung: Heilmittel oder Placebo?

a. Auszug aus der Seminarankündigung

"Für die Experten vom Bundesinstitut für Berufsbildung und die gewerkschaftlich orientierten Pflegeexperten ist der Fall klar: Die Pflegeausbildung sollte nach den Grundsätzen des Berufsbildungsgesetzes ausgerichtet werden; sie sollte der für die bundesrepublikanische Facharbeiter- und Angestellten-Ausbildung typischen Form des "Dualen Systems" unterworfen werden. Aber das duale System steht gegenwärtig im Brennpunkt bildungspolitischer und berufspädagogischer Kritik. Deshalb ist es geradezu halsbrecherisch, heute den Übergang in dieses System zu fordern.

Man muß dieses 200 Jahre lang gewachsene System erst einmal von seinen Vorzügen und Schwächen her kennen. Dann muß man es dem gegenwärtigen Ausbildungssystem im Pflegebereich gegenüberstellen. Dann muß man sich andere, intelligente Ausbildungsmodelle anschauen. Und erst dann kann man sinnvoll und begründet entscheiden, in welche Richtung Pflegeausbildung entwickelt werden soll."

b. Ausbildung des Pflegepersonals im Dualen System - tragfähiger Professionalisierungsansatz oder ungerechtfertigter Optimismus? (Aufsatz des Seminarleiters, der in der Fachzeitschrift PflegePädagogik 4/95 erschienen ist)

Pflege in Deutschland - das bedeutet "Pflegenotstand". So jedenfalls schätzen Experten die Situation an Krankenhäusern, Altenpflegeeinrichtungen, Sozialstationen und ambulanten Pflegediensten ein (z.B. Robert Bosch Stiftung 1992; Becker/Meifort 1994). Als Mängel wurden aufgedeckt:

- "Diffusität und Unklarheit des pflegerischen Aufgabenbereichs" (Steppe 1994, S. 48)

- "fast demütige Gehorsamkeit und die kritiklose Anerkennung der ärztlichen Autorität" (Singel 1994, S. 99)

- "Aufgabe der eigenen Identität" (Steppe 1994, S. 48)

- "Distanz des Pflegepersonals zu Patienten" (Wittneben 1994, S. 1)

- mangelnde fachliche Qualifikation (ebenda, S. 2)

- Fehleranfälligkeit der Pflegeverrichtungen durch falsche Arbeitsorganisation: Funktionspflege statt Patientenorientierung (ebenda).

Diese Problematik scheint historisch bedingt und in der Konstruktion der Pflegetätigkeit als "Heilhilfstätigkeit" angelegt zu sein (Steppe 1994, S. 45 ff.). Die Funktionsbestimmtheit im Krankenhaus definiert den Arbeits- und Entfaltungsspielraum sowie die hierarchische Einbindung des Pflegepersonals in erheblichem Maße und ist offenbar resistent gegen Veränderungsintentionen, die in der Ausbildung vermittelt werden (Singel 1994, S. 105). Jedenfalls scheint von der gegenwärtigen Organisationsform der Nachwuchsbildung kein Impuls zur Linderung des Notstands auszugehen: Die praktische Ausbildung liegt im wesentlichen in den Händen pädagogischer Laien (Hogrefe 1994, S. 59 f.), sie findet überwiegend in der Form der Beistellehre statt: Erfahrene Fachkräfte nehmen den unzureichend theoretisch vorbereiteten Nachwuchs unter ihre Fittiche. Dessen Einsatz wird im Schlüssel 1 : 7 auf den Stellenplan angerechnet. Mithin ist er zur Dienstleistung nicht nur aus pädagogischen, sondern auch aus ökonomischen und verwaltungstechnischen Gründen gezwungen; wenn die zur Ausübung qualifizierter Pflegeleistungen hinreichende Fach-Vorbereitung fehlt, dominieren Aushilfstätigkeiten. Hinzu kommen Zuständigkeitsprobleme und Kooperationsmängel in der Abstimmung zwischen "Schule und Spital" (Dielmann 1993, S. 15).

Es gilt eine Stundenverteilung von 3 000 (Praxis) zu 1 600 (Unterricht in der Krankenpflegeschule; Singel 1994, S. 91). Der Unterricht wird von Fachleuten erteilt, denen zumeist eine solide pädagogische Ausbildung fehlt. Medizinische Inhalte stellen den Löwenanteil im Lehrplan. Die räumliche Nähe zwischen Theorie und Praxis, institutionalisiert in krankenhauseigenen Krankenpflegeschulen, wirkt offenbar nicht immer kooperationsfördernd. Der Bezug zu und die Abstimmung mit den praktischen Anforderungen sind oft nicht gegeben.

Auf zwei Ebenen wird um Abhilfe gerungen: Die Ausbildung von Pflegefachkräften soll in das duale System beruflicher Erstausbildung überführt und in den Geltungsbereich des Berufsbildungsgesetzes einbezogen werden (Meifort 1991 a, S. 19 f.; Bals 1991, S. 115; Becker 1993, S. 183 f.; Becker/Meifort 1994); die Ausbildung von Leitungs- und Lehrkräften soll an Hochschulen erfolgen (Robert Bosch Stiftung 1992, S. 24 ff.[1]; Bischoff 1993 b; 1994, S. 254 f.; Zielinski/Korporal 1994, S 261 ff.). Der zweite Aspekt soll im vorliegenden Beitrag unberücksichtigt bleiben (vgl. dazu Bischoff 1994, S. 249 ff.; Seyd 1995 b), die Ausführungen nehmen die Forderung, die Ausbildung von Pflegefachkräften in das duale System einzubinden, zum Ausgangspunkt der weiteren Überlegungen:

1 Erwartungen an die Integration der Pflegeausbildung in das duale System

2 Das duale System im Meinungsstreit

3 Anforderungen an die künftige Gestaltung des dualen Systems

4 Gestaltungserfordernisse an eine Reform der Pflegeausbildung.

Nicht zu Unrecht wird hervorgehoben, daß die Ausbildungsqualität gerade für Berufe im Gesundheitswesen eminent bedeutsam ist (Stöcker 1993, S. 6). Den Mitgliedstaaten der EU ist gleichwohl - wie am Beispiel der Altenpflegeausbildung nachweisbar - ein großer Gestaltungsspielraum für die Nachwuchsbildung belassen (ebenda).

i. Erwartungen an die Integration der Pflegeausbildung in das duale System

Die oben zitierte Befunde zeigen schon heute erhebliche Defizite in der Arbeitstätigkeit der Pflegefachkräfte. Darüber hinaus wird ein deutlicher Strukturwandel im Gesundheitswesen konstatiert, der zu erheblichen Mehrbelastungen führen dürfte (Robert Bosch Stiftung 1992, S. 19 ff.). Er resultiert einerseits aus organisatorischen Veränderungen (starke Zunahme ambulanter Pflegetätigkeiten, die im Kern einen komplexeren Anforderungsgehalt tragen und eine umfänglichere Qualifikation der Pflegefachkräfte erfordern; Meifort 1991 a, S. 14), andererseits aus steigenden Anforderungen der Patienten im Hinblick auf die Orientierung an ihren sozialen und psychischen Bedürfnissen. Damit verschwimmen offenbar auch die Grenzen zwischen gesundheitspflegerischen, sozialpflegerischen und hauswirtschaftlichen Berufsprofilen (Bischoff 1993 a, S. 40; 1994, S. 254).

Ob nun die gesteigerten Qualifikationsanforderungen durch ein differenzierteres Berufsspektrum aufgefangen werden können (wie Bals 1993, S. 27 vermutet) oder nicht, jedenfalls dürfte sich die Schere zwischen Qualifikationsanforderungen und Qualifikationen bei gegebener Ausbildungssituation eher weiter öffnen.

Von einer Überführung in das duale System kann selbstverständlich nicht die Verbesserung jener Arbeitsbedingungen erwartet werden, die gegenwärtig zu einer hohen Rate von "Berufsflüchtlingen" führen: Etwa die Hälfte der AltenpflegerInnen verlassen ihre Berufstätigkeit innerhalb von drei bis fünf Jahren nach Ausbildungsende. Zu den belastenden Arbeitsbedingungen zählen:

- Schichtarbeit

- unzureichende räumliche Bedingungen, mangelhafte Ausstattung

- körperliche Belastung

- emotionale Anspannung (Meifort 1991 b, S. 64).

Erschöpfung, Depersonalisierung oder reduzierte Leistungsfähigkeit: Eines dieser Burnout-Symptome liegt bei jeder dritten Krankenpflegerin vor, maßgeblich durch institutionelle Gegebenheiten verursacht (Aries/Zuppiger 1993, S. 146 ff.).

Insofern müssen Strategien der Professionalisierung der Pflegeausbildung ergänzt werden um arbeitswissenschaftliche Strategien zur Identifikation und zum Abbau gesundheitsgefährdender Potentiale und zur Ermöglichung menschengerechter Arbeitsgestaltung (orientiert an den Dimensionen "Bewegung", "Empfinden", "Wahrnehmen", "Entfalten"; Martin 1994, S. 41 ff.). Sie müssen sich zudem gründen auf eine "multidimensionale Patientenorientierung" und die sechs Aspekte Verrichtungs-, Symptom-, Krankheits-, Verhaltens- und Erlebnis-, Handlungs-, Interaktions- und Kommunikationsbezug berücksichtigen (Wittneben 1993, S. 204 ff.).

Andernfalls dürften alle Anstrengungen, die Ausbildung von Pflegefachkräften zu optimieren, ihre Wirkung an der Starrheit der dysfunktionalen Arbeitsbedingungen einbüßen. Es mangelt nicht an tragfähigen, theoretisch fundierten Pflegekonzepten (z.B. Krohwinkel 1993, S. 183 ff.); es fehlen vielmehr bildungs- und sozialpolitisch ausdiskutierte Umsetzungsstrategien, die sich einerseits auf einen gemeinsamen Weg der Nachwuchsqualifizierung und andererseits auf allgemeingültige Pflegestandards richten. Aber nicht einmal der sozialwissenschaftlich vorherrschende Pflegebegriff ist im sozialpolitischen Raum aufgegriffen und verbindlich gemacht worden. Wie seine Reduzierung bei der Anspruchsprüfung von Pflegeversicherungsleistungen nachweist, werden dort sozialpflegerische und hauswirtschaftliche Elemente explizit ausgegrenzt.

[[section]] 107 des Berufsbildungsgesetzes gibt den Pflegeschulen und Kliniken Raum für eigenständige Ausbildungsgänge nach Bundes- und Landesrecht. Diese Ausbildungsgänge bergen Nachteile für die Auszubildenden. Ihnen werden angeblich vorenthalten:

- Ausbildungsvergütungen, wie sie in Ausbildungsberufen nach Berufsbildungsgesetz mittlerweile üblich sind (durchschnittlich knapp 1 000,- DM monatlich)

- kostenlose Lehr- und Lernmittel

- dreimonatige Probezeit

- Ausbilder, die eine Eignungsprüfung abgelegt haben müssen

- arbeitsrechtliche Schutzbestimmungen

- Mitbestimmungsrechte (Meifort 1991 a, S. 19 f.).

Nimmt man die Begründungen für die Verabschiedung des Berufsbildungsgesetzes im Jahre 1969 in den Blick (s.a. Raddatz 1994; S. 265 ff.), werden weitere Nachteile deutlich. PflegeschülerInnen partizipieren nicht an der

- Vereinheitlichung der Ausbildungsregelungen und damit an der Vergleichbarkeit der Qualifikationen für Außenstehende und Betroffene (Deutscher Bildungsrat 1969, S. 19)

- Aktualisierung der Ausbildungsinhalte über expertokratisch ermittelte, empirisch fundierte Ausbildungsrahmenpläne und Rahmenlehrpläne (Arbeitsgruppe Bildungsbericht 1994, S. 127)

- Kontrolle des Ausbildungsgeschehens durch eine von privaten und staatlichen Unternehmen unabhängige Instanz (ebenda).

All diese - noch zu prüfenden - Vorzüge von Ausbildungen nach Berufsbildungsgesetz sollen künftig auch den PflegeschülerInnen zugute kommen. Vor allem sollen sie die Chance erhalten, auf der Grundlage ihrer allgemein anzuerkennenden Ausbildung an Weiterbildungsmöglichkeiten teilzunehmen, beispielsweise öffentliche Fachschulen zu besuchen oder an einer der inzwischen 20 Fachhochschulen oder einer der 6 Universitäten ein Studium aufzunehmen. Die Herauslösung des theoretischen Unterrichts aus den institutionsinternen (privaten) Krankenpflegeschulen und ihre Verlagerung in eine staatliche Berufsschule soll zudem die pädagogische Qualität des Unterrichts, orientiert am Standard der Zweiten Staatsprüfung für das Lehramt an Beruflichen Schulen, gewährleisten.

Die Frage ist nun allerdings, ob nicht einem negativ gezeichneten Bild der gegenwärtigen Pflegeausbildung ein Optimalmodell dualer Ausbildung nach BBiG gegenübergestellt wird. Die Enttäuschung könnte groß sein, wenn die mit der Integration verbundenen Verbesserungen sich entweder gar nicht alle einstellen oder von Nebenwirkungen begleitet würden, die sich heute bereits ablesen lassen. Deshalb wird in den nächsten beiden Kapiteln das duale System einer dezidierten Analyse unterzogen, bevor Überlegungen zum weiteren Vorgehen angestellt werden.

ii. Das duale System im Meinungsstreit

Immerhin kann das duale System auf eine gut 200jährige Entwicklungszeit zurückblicken. Sonntags- und Fortbildungsschule galten als Vorläufer der heutigen Berufsschule, die erst im Jahre 1920 ihren Namen erhielt. War die Fortbildungsschule noch in erster Linie eine freiwillig besuchte Schule, die Nachteile der Lehrlinge gegenüber den Gymnasiasten ausgleichen und Grundfertigkeiten mathematischer und zeichnerischer Natur vertiefen sollte, so wurde ihr um die Jahrhundertwende auch eine stark sozialisierende Funktion zugesprochen (Kerschensteiner 1901 vgl. Stratmann 1991, S. 12). Erst 1938 allerdings wurde die Berufsschulpflicht gesetzlich verankert.

Bis heute ist denn auch der betriebliche Teil des dualen Systems dominant geblieben. Das gilt für den zeitlichen Anteil (3-4 Tage gegenüber 1-2 Berufsschultagen), das gilt für das Vertragsverhältnis (die Auszubildenden schließen lediglich mit dem Ausbildungsbetrieb einen Ausbildungsvertrag, in der Berufsschule erfüllen sie ihre Teilzeitschulpflicht), das gilt für das Prüfungswesen (liegt in der Hand der jeweils zuständigen Kammern), und das gilt für die sozialisierende Funktion der Lernorte und der dort tätigen Lehrkräfte. Insofern wundert nicht, wenn sich ein Großteil der heute am dualen System geäußerten Kritik auf die Berufsschule richtet. Diese bietet allerdings auch Anlaß dazu.

In der um 1990 entfachten neuerlichen Diskussion um die Tragfähigkeit des dualen Systems lassen sich mehrere "Lager" unterscheiden, die mit quantitativ und qualitativ ausgerichteten Argumenten aufwarten. Die Spannweite der Verfechter und Gegner reicht von

- bedingungslosen Anhängern des dualen Systems ("... stellt auf absehbare Zeit die bedeutendste und gesellschaftlich weithin anerkannte Ausbildungsform ... dar"; Enquète-Kommission 1990, S. 47), die zwar gewisse Schwächen zugestehen, aber an die Selbstreinigungskräfte des Systems glauben, über

- mahnende Anhänger dieses Systems, "um das uns die ganze Welt beneidet" (BiBB-Generalsekretär Hermann Schmidt; s.a. Schmidt/Benner 1989), die zahlreiche Forderungen zu seiner Reform stellen, und

- skeptische Kritiker wie Wolf-Dietrich Greinert (1993, S. 172), Erich Dauenhauer (1994, S. 399 ff.) und Günter Kutscha (1992, S. 145 ff.), die ein Überleben des Systems an vielfältige Bedingungen knüpfen, bis zu

- radikalen Kritikern, die den unaufhaltsamen Untergang dieses "Auslaufmodells" voraussagen (Geißler 1991 a, b): "Das duale System ... hat seine Zukunft bereits hinter sich".

Quantitative Indikatoren für eine "Krise" lassen sich ablesen an

- den stark rückläufigen Zahlen für neue Vertragsabschlüsse: In den Jahren 1992 und 1993 gingen sie jeweils um mehr als 5 % zurück (WuBE 4/94, S. 100), ergänzt um eine Abbruchquote von (1992) immerhin 26 % (WuBE 8/94, S. 228; Greinert 1993, S. 169); unverhältnismäßig gestiegene Kosten werden für den Abbau als wichtigster Grund angegeben (Degen/Walden 1994, S. 336 f.. Über ein Drittel aller Ausbildungsbetriebe will auch in den nächsten drei Jahren seine Ausbildungsplätze einschränken, nur etwa 10 % wollen sie erhöhen (WuBE 9/1994, S. 261)

- der zunehmenden Distanz in der Anwahl zwischen Ausbildung und Studium (jetzt 1,6 Mio. Auszubildende gegenüber 1,8 Mio. Studierenden; vgl. zu der Alarmwirkung im Jahre 1991 GREINERT 1993, S. 164)

- der gewachsenen Neigung von industriellen Großunternehmen, ihre Ausbildung an selbständige Tochterunternehmen auszugliedern und sich damit von der Verpflichtung zur Ausbildung eigenen Nachwuchses zu befreien, letztlich als Ausdruck stärkerer Berücksichtigung von Kostenaspekten bei der Bereitstellung von Ausbildungsplätzen

- der zunehmenden Strategie von Mittel- und Großunternehmen, qualifizierten Nachwuchs über besondere Bildungsgänge zu rekrutieren, wie bspw. über die Verbindung von Ausbildung und Fach(hoch-)schulbildung über Berufs- und Wirtschaftsakademien, verbunden mit der Ausschaltung der Berufsschulen (Stiel 1995, S. 7).

Insgesamt gesehen wird dem dualen System vorgeworfen, es sei schon heute nicht geeignet, den Facharbeiterbedarf zu decken und werde dies in Zukunft noch weniger leisten können. Andererseits muß man mit dem Blick nach England (als Beispiel für eine betriebsorientierte Ausbildung) und Frankreich (als Beispiel für ein schulisches Ausbildungssystem) konstatieren, daß das duale System relativ geringe Fehlanpassungsraten zeitigt, bemessen an der Jugendarbeitslosigkeit und an dem Anteil Jugendlicher an der Arbeitslosenzahl. Teilweise lassen sich die gesunkenen Einmündungszahlen an der ersten Schwelle (Schule - Ausbildung) auch mit den niedrigeren Geburtenraten Mitte der 70er Jahre erklären und mit der inzwischen vielen als Alternative aussichtsreich erscheinenden beruflichen Erstausbildung an einer Fachhochschule.

Vielfältig ist die Kritik, die am dualen System geübt wird. Meist werden lediglich einzelne Merkmale und ihre - negativen - Ausprägungen herausgegriffen. Im folgenden werden sie einmal aufgelistet, ohne Anspruch auf Vollständigkeit und mit der Warnung versehen, daß es sich nur um eine Auflistung der von verschiedenen Autoren geäußerten Kritikpunkte handelt. Nicht alle Merkmale sind für die Ausbildung im Pflegebereich relevant. Die wesentlichen Merkmale werden in Abschnitt 4 einer differenzierten Kritik unterzogen.

- Nach wie vor mangele es an einer lernzielorientierten Abstimmung zwischen Berufsschule und Ausbildungsbetrieb (Bunk 1989, S. 338 ff.; WuBE 12/94, S. 340; ROSS 1993);

- die Revision der Ordnungsmittel würde viel zu viel Zeit beanspruchen; wenn die Ausbildungsordnung endlich erlassen und der Rahmenlehrplan beschlossen würden, dann seien sie in vielen Inhaltsbereichen schon längst veraltet; im übrigen seien beide zu theorielastig und verführten zum schlichten Einpauken und Dressieren (Bader 1994, S. 297 f.);

- die Lehrkräfte seien mitnichten hinreichend für ihre Tätigkeit qualifiziert: den Ausbildern ermangele es angesichts der völlig ungenügenden pädagogischen Qualifizierung nach AEVO an didaktischer Kompetenz (u.a. Blanke 1993, Ilse 1994, Paffenholz 1994, Seyd 1993, 1994 a); die Berufsschullehrer versänken in Lethargie im Hinblick auf die Aktualisierung ihrer Fachkenntnisse, ein großer Teil von ihnen sei nicht fortbildungswillig und falle hinter den Kenntnisstand der eigenen Berufsschüler weit zurück; personelle und apparative Defizite ergänzen das Negativbild (Zedler 1994, S. 309 f.), handlungsorientierte didaktische Innovationen kommen nicht aus der Berufsschule, sondern erwachsen betrieblichen Initiativen (Greinert 1994, S. 393; Lehmkuhl 1994, S. 377);

- die Herauslösung von Ausbildungsprozessen aus dem Produktionsbereich, ihre Verlagerung in Scheinwirklichkeiten wie Lehrwerkstätten, Lehrecken, Übungsfirmen, in Lehrgänge und Kurse einerseits sowie die vordergründige Praxisorientierung der Berufsschulen über zeitraubende Projekte, Planspiele und Lernbüros andererseits lasse nicht nur den didaktischen Wert von Ausbildung und Unterricht verkümmern, sondern verwische auch die Grenzen zwischen Fachtheorie und Fachpraxis und könne damit keine hinreichende berufliche Identität mehr stiften (Bader 1994, S. 297 f.);

- die mangelnde Anpassungsleistung des Ausbildungssystems an Erfordernisse des Beschäftigungssystems (Stiehl 1994; Arbeitsgruppe Bildungsbericht 1994, S. 627), hohe Schwundquoten durch Berufswechsler (ebenda, S. 628).

Wie ernst weitere Bedenken, daß etwa der EU-Binnenmarkt oder das gewachsene Engagement in betrieblicher Weiterbildung die im dualen System erworbenen Qualifikationen entwerteten, genommen werden müssen, soll hier nicht weiter untersucht werden. Als Fazit mag gelten, daß in der Tat Erosionserscheinungen des dualen Systems in quantitativer und qualitativer Hinsicht auszumachen sind, deren Behebung nur unter größten Anstrengungen möglich sein dürfte. Dabei muß auch beachtet werden, daß nach übereinstimmenden Prognosen renommierter Institute die Ansprüche an die fachlichen, sozialen und psychischen Qualifikationen der Berufstätigen im zweiten Jahrtausend noch erheblich zunehmen dürften (Stooß/Weidig 1990; Seyd 1994 b). Gleichwohl sind gegenwärtig keine Ausbildungsmodelle bekannt, denen größere Erfolgsaussichten für eine nahtlose Integration der nachwachsenden Generation in das Beschäftigungssituation bescheinigt werden könnte. Offensichtlich sind sowohl die Qualifikations- als auch die Allokations- und Integrationsleistung des dualen Systems den bekannten rein schulischen und betrieblichen Systemen um Längen überlegen.

Nimmt man die bestehenden Ausbildungsgänge in den pflegerischen Berufen zum Maßstab, so handelt es sich ebenfalls um duale Ausbildungsgänge. Allerdings unterscheiden sie sich vor allem dadurch, daß sie einem Träger zugeordnet sind, daß die Lehrkräfte nicht eine Zweite Staatsprüfung und ein akademisches Studium aufweisen und die Ausbilder nicht den Regelungen der Ausbilder-Eignungsverordnung unterworfen sind. Hauptamtliche AusbilderInnen kennt das System der Ausbildung von Pflegefachkräften bislang nicht.

An dieser Stelle ist noch einmal hervorzuheben, daß dieser Beitrag nicht auf eine Abwertung des dualen Systems als mögliches Modell einer künftigen Ausbildung von Pflegefachkräften zielt, sondern die ungeprüfte, vorurteilsbeladene Übertragung dieses Systems auf das gewachsene Ausbildungssystem für Fachkräfte in der Kinderkranken-, Kranken-, Entbindungs-, Alten-, Haus- und Familienpflege problematisieren will. Vor diesem Hintergund ist auch die folgende Zusammenstellung von Vorschlägen zu sehen, in welcher Richtung das duale System künftig entwickelt und verbessert werden sollte.

iii. Anforderungen an die künftige Gestaltung des dualen Systems

So erheblich die Vorwürfe gegen das duale System sind, so vielfältig sind auch die Ratschläge zu seiner Reform. Sie können deshalb nur stichwortartig zusammengefaßt werden. Insgesamt dienen sie hier als Bedingungskatalog, der all jenen zu denken geben soll, die relativ unkritisch von einer Einbeziehung der Pflegeausbildung in den Geltungsbereich des Berufsbildungsgesetzes die Lösung der Ausbildungsprobleme bei den Pflegenachwuchskräften erwarten.

Gefordert werden

- die ständige Weiterbildung der Lehrkräfte, sowohl der schulischen (insbesondere in fachlicher Hinsicht) als auch der betrieblichen (insbesondere in pädagogischer Hinsicht);

- der Abbau der Disparität zwischen siebenjähriger Berufsschullehrerausbildung und 120stündiger Ausbilder-Ausbildung;

- die Generierung von Berufsangeboten für "Lernungewohnte", die auch bei besonderen Bedingungen nicht zu einem Abschluß in einem anerkannten Ausbildungsberuf geführt werden können (Pütz 1993; Puhlmann 1994; Beinke 1995, S. 17);

- die völlige Revision des Prüfungssystems, das in seiner Multiple-Choice-Variante mit angegliederter mündlicher Prüfung weder valide noch reliabel noch objektiv genannt werden kann (Lippitz 1993);

- die Erhöhung der Attraktivität durch Zuerkennung einer Hochschulzugangsberechtigung mit der bestandenen Abschlußprüfung (Koalitionsvereinbarung 1994):

- die flexiblere Anpassung der Ordnungsmittel an veränderte Tätigkeitsfelder (siehe z.B. die vom DIHT vorgeschlagen 18 neuen Berufsfelder, unter denen zwei für unseren Interessenkreis relevant sind: Gesundheits- und Pflegewesen, Seniorenbetreuung; FEUCHTHOFEN 1995, S. 3; siehe auch die kritische Selbsteinschätzung durch BENNER/SCHMIDT 1995);

- die Verringerung der Erstausbildungszeit bei gleichzeitiger Verankerung fester Weiterbildungszeiten im Kontext eines Gesamt-Qualifizierungssystems (Alt et al. 1994);

- eine Straffung der überfrachteten Ausbildungsrahmen- und Rahmenlehrpläne;

- die Prüfung der Bildungseinrichtungen anhand des Normen- und Zertifizierungssystems ISO 9000 ff. (Dembski/Lorenz 1994; Kegelmann 1994, S. 181 f.; Fuchs 1994, S. 395 ff.);

- die Verlagerung von Ausbildungs- und Unterrichtselementen in überbetriebliche, außerschulische Bildungswerkstätten (WuBE 3/94, S. 94 f.);

- die Herauslösung der Berufsschulen aus der staatlichen Schulaufsicht und ihre Umwandlung in selbständige, pädagogisch eigenverantwortliche Betriebe mit Etat- und Personalhoheit;

- die Verbindung der Erstausbildung mit Studienanteilen;

- aktivierende, handlungsorientierte Lernformen, die der Entwicklung beruflicher Handlungskompetenz besonders förderlich sind (Schmidt-Hackenberg et al. 1990)

- die Integration von beruflicher Bildung und betrieblicher Organisationsent-wicklung (Dybowski et al. 1993)

- die Revision des öffentlichen Dienstrechts;

- die volle Integration der Erstausbildung in die Sekun8 f.; Greinert 1994, S. 391).

Die Auflistung mag die Skepsis des Verfassers illustrieren, das duale System in seiner gegenwärtigen Verfassung zum Ausgangspunkt der Reform der Pflegeausbildung zu nehmen, ein System, das manche im systemtheoretischen Sinne nicht einmal als solches anerkennen (z.B. Kutscha 1992).

iv. Gestaltungserfordernisse an eine Reform der Pflegeausbildung.

Wollte man es sich einfach machen, müßte man die Integration der Pflegeausbildung in das duale System an die Einlösung der in Kapitel 3 aufgewiesenen Reformvorschläge knüpfen. Damit würde sie - zumindest kurzfristig - illusorisch. Vielmehr ist zu fragen, welche der Bedingungen unverzichtbar sind, damit die Hoffnung, mit der Überführung in das duale System würden sich die Mängel und Schwächen der jetzigen Ausbildung beseitigen lassen, aussichtsreich wird.

Die Erwartungen

- höherer Ausbildungsvergütungen

- kostenloser Lehr- und Lernmittel

- dreimonatiger Probezeit

- arbeitsrechtlicher Schutzbestimmungen

sind zunächst einmal darauf zu befragen, wieweit sie nicht ohnehin bereits bei einer größeren Zahl von Ausbildungsträgern eingelöst sind. Die durchschnittliche Ausbildungsvergütung von knapp 1 000,- DM bei Ausbildungen nach BBiG wird bei staatlichen Ausbildungsträgern im Regelfall leicht übertroffen. Kostenlose Lehrmittel werden in der staatlichen Berufsschule ausgehändigt, kostenlose Lernmittel nicht. Die Erwartung verbesserter Mitbestimmungsrechte muß eingehender betrachtet werden; da wird seit Jahrzehnten über eine mangelnde Beteiligung der Schüler im Rahmen der sogenannten "Schülermitverwaltung" geklagt. Zwar sind seit den 20er Jahren dieses Jahrhunderts interessante Modelle einer stärkeren Partizipation (bis hin zur Selbstbestimmung durch die Schüler) bekannt (Seyd 1984), geändert aber am Subjekt-Objekt-Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern haben sie wenig. Berufsschüler bestimmen bei relativ belanglosen Rahmenbedingungen mit; in die didaktisch relevanten Entscheidungen sind sie - in der Regel - nach wie vor nicht einbezogen. Auch die Rolle und Funktion der Jugend- und Auszubildendenvertretung (JAV) nach Betriebsverfassungsgesetz ist zumindest umstritten; sie ist überwiegend auf Informations- und Anhörungsrechte reduziert. Aber auch hier gilt, daß bei vielen Ausbildungsträgern relativ großzügige Mitwirkungsrechte vorhanden sind, die von einer engagierten Interessenvertretung durchaus genutzt werden können.

Die Vereinheitlichung der Ausbildungsregelungen und damit Vergleichbarkeit der Qualifikationen für Außenstehende und Betroffene war ein Grundanliegen des Berufsbildungsgesetzes. Hier könnte eine Integration in der Tat eine deutliche Verbesserung erbringen, indem Berechtigungen und Qualifikationen überregional vergleichbar würden.

Bislang liegt die Aufsicht über die Krankenpflegeausbildung bei einer staatlichen Behörde, in der Regel dem Arbeits- und Sozialministerium des jeweiligen Bundeslandes. Daran wird sich auch bei Überführung in den Geltungsbereich des BBiG nichts ändern.

Die Verlagerung des fachtheoretischen und des allgemeinbildenden Unterrichts aus den Krankenpflegeschulen in staatliche Berufsschulen würde den Anteil der fachtheoretischen Ausbildung von 1 600 Stunden übernehmen. Von den 12 Stunden Berufsschulunterricht müßten laut KMK-Vereinbarung mindestens 4 allgemeinbildenden Inhalts sein. Dieser Unterricht dürfte von Lehrkräften mit der Fakultas in Deutsch, Mathematik, Gemeinschaftskunde/Politik erteilt werden. Es steht zu befürchten, daß gegenwärtig noch nicht die akademisch qualifizierten Fachkräfte vorhanden sind, von denen der Fachkundeunterricht auf hohem Niveau erteilt werden könnte. Die Berufsschulen würden auf jene Lehrkräfte zurückgreifen, die auch jetzt in den Krankenpflegeschulen tätig sind, und sie als Honorarkräfte beschäftigen. Zudem würde sich ein Teil der in den Klassen für andere Gesundheitsfachberufe (Arzthelferinnen, Zahnarzthelferinnen) tätigen Lehrkräfte umorientieren.

Die mittlerweile zunehmende Kritik an der Erstarrung der fachlichen, aber auch der methodischen Qualifikation würde keineswegs ausgeräumt. Die Berufsschule bedarf nach Auffassung des Verfassers einer grundlegenden Reform, in organisatorischer, intentionaler, inhaltlicher, methodischer, materialer, evaluativer, kommunikativer und rollentheoretischer Hinsicht, wie das beispielsweise im Modellversuch "Neue Büroberufe" (Seyd 1994 c) erprobt und zu einem Reformmodell "handlungsorientierter Gestaltung von Lernsituationen" ausformuliert worden ist (Seyd 1994 d; 1995 a).

So verdienstvoll die Arbeit des Bundesinstituts für Berufsbildung in Sachen Neuordnung auch sein mag, es wird zunehmend schwerer, Neuordnungsverfahren in angemessenen Zeiträumen abzuschließen. Die angestrebte Dauer von 15 Monaten wird bei den größeren Revisionen weit überschritten. Die erfahrungswissenschaftliche Fundierung der Curriculumelemente über Arbeitsplatz- und Tätigkeitsanalysen ist vorbildlich, die Begleitung und Unterstützung der Neuordnungen nach ihrer Verabschiedung durch Handreichungen und Modellversuche ist ebenfalls sehr hilfreich; aber das Verfahren müßte rationalisiert werden. Es sind offenbar zuviele divergierende Verbandsinteressen, die Stolpersteine abgeben und zu unangemessenen Verzögerungen führen. Im übrigen deutet sich eine Abhebung des Expertenkreises von den eigentlich Praktizierenden und Betroffenen an. Über die Zusammensetzung der Entscheidungsgremien müßte nachgedacht werden: Die Stimme der Ausbilder, Lehrer und Auszubildenden/Schüler müßte mehr Gewicht gegenüber den bildungspolitisch orientierten Verbandsinteressen bekommen.

Ein trauriges Kapitel bundesdeutscher Reformpolitik stellt bislang die Qualifizierung betrieblicher Ausbilder dar. Ihre Abgrenzung ist umstritten (die nebenamtlichen Ausbilder werden nicht einbezogen, auch wenn sie ein Großteil der Lernprozesse initiieren), der Qualifikationskatalog ebenso wie die Organisation, erst recht aber die Eignungsprüfung selbst bieten keine valide Handhabe für die Rekrutierung und Qualifizierung geeigneter Fachkräfte. Zwar wird vom BiBB erneut eine Revision des Rahmenstoffplans und der AEVO in Aussicht gestellt (Hensge 1994), aber nach aller Erfahrung ist die Anspruchsminimierungspolitik der Unternehmerverbände auch fürderhin erfolgreich und wird alle Aussicht auf eine durchgreifende Reform etwa im Sinne der BDBA[2]-Position (anderthalbjährige Fortbildung mit staatlichem Abschluß) verhindern.

Das Fazit mag desillusionieren, entmutigen soll es nicht: Zum gegenwärtigen Zeitpunkt bieten Zustand und Reformchancen des dualen Systems beileibe keine Gewähr für eine Verbesserung der didaktischen Qualität der Ausbildung von Pflegefachkräften. Wenn mit dem Ringen um eine Integration der bisherigen Pflegeausbildung in das duale System nicht auch eine durchgreifende Revision in den markantesten Punkten (Neuordnung, Lehrkräftequalifizierung) erfolgt, wird sich der Reformansatz auf die Gewinnung verbesserter Rahmenbedingungen (Ausbildungsvergütungen, Lehr- und Lernmittel, Probezeit, arbeitsrechtliche Schutzbestimmungen) reduzieren. Das wäre außerordentlich bedauerlich angesichts des hohen Aufwandes, der mit dieser Reformabsicht verbunden ist, und angesichts der zunehmenden Anforderungen, die an das Gesundheitssystem in den nächsten Jahren und Jahrzehnten gestellt werden.

Selbstverständlich gibt es Kranken- und Altenpflegeschulen, an denen gründliche und sorgfältige didaktische Arbeit geleistet wird, und AusbilderInnen, von denen der Nachwuchs bestens auf eine "patientenorientierte, ganzheitliche" Pflegepraxis (Meifort 1987, S. 127; Schilder 1994, S. 24 ff.) vorbereitet wird. Sie stellen die Norm, hinter der eine etwaige Integration in das duale System nicht zurückbleiben darf[3]. An diesem Maßstab müssen sich auch die Bestrebungen zur Reform des dualen Systems messen lassen.

Insofern ist nicht die undifferenzierte Übernahme der obsolet gewordenen Normen und Bedingungen des dualen Systems zu fordern, sondern eine differenzierte Analyse

- des Zusammenhangs von Qualifikationszielen und -strukturen (z.B. Bildung einer gemeinsamen Grundstufe für die Gesundheitsberufe, Formulierung übergreifender Sockelqualifikationen);

- der Qualifizierungsbedingungen (z.B. Finanzierung der institutionellen und individuellen Förderung; Angleichung der Ausbildungsvergütungen an die Regelungen der BBiG-Berufe, deren Durchschnittssatz gegenwärtig knapp 1.000,- DM beträgt;

- Kompetenzverteilung in der Lehr- und Leitungskräftebildung (Lehrerbildung an Universitäten - auch dies hat bei der Pflege Tradition, wenn auch in der ehemaligen DDR; s. BEIER 1994, S. 130 ff. - und nicht an Fachhochschulen; Qualifizierung von Leitungs-, Planungs-, Beratungs-, Forschungs- und Organisationsfachkräften an Fachhochschulen und Universitäten) (s.a. Rosenau 1994, S. 418 f.).

Bei aller differenzierten Betrachtung ist allerdings das bildungs- und sozialpolitische Ziel einer Vergleichbarkeit und Transparenz der Ausbildungen im Pflegebereich, ihre Aufwertung, die Ermöglichung beruflichen Aufstiegs nicht aus dem Auge zu verlieren. Insofern dürfen sich Bedenken gegen eine ungeprüfte Übernahme des dualen Systems nicht gegen die bildungs- und sozialpolitisch erwünschte Zielrichtung wenden, über eine Professionalisierung der Ausbildung und eine Akademisierung der Leitungs- und Lehrkräfteausbildung insgesamt der Kinderkranken-, Kranken-, Entbindungs-, Alten- und Familienpflege zu einer präziseren Identität und fundierteren Qualifikation zu verhelfen.

Nicht gegen die gewachsenen Strukturen, sondern mit reformorientierten Partnern ist die Professionalisierung der Pflege voranzutreiben. Dogmatische Positionen sind wenig hilfreich; systematisch vorbereitete Kooperationen in fest zu verankernden Strukturen sind allemal aussichtsreicher.

7. Neuere didaktische Konzepte in der Pflegebildung

Dieses Thema stand zwar nicht in der Seminarankündigung, aber da die Landesregierung erklärt hat, daß die Altenpflegeausbildung nach dem bewährten Muster der Krankenpflegeausbildung strukturiert (und damit zumindest in den nächsten beiden Legislaturperioden nicht in den Geltungsbereich des Berufsbildungsgesetzes überführt) werden soll, schien es geboten, die Thematik "Duales System - auch für Pflegeberufe?" nicht allzusehr auszuweiten, dafür stärker auf die inhaltliche und methodische Gestaltung der Ausbildung einzugehen. Zu diesem Thema liegt ein Aufsatz des Seminarleiters vor, der von der Fachzeitschrift PflegePädagogik zur Veröffentlichung in Heft 6/95 angenommen worden ist. Er ist im folgenden wiedergegeben.

Handlungsorientierung in der Pflege-Ausbildung. Ein didaktisches Konzept auf dem Prüfstand.

In der beruflichen Rehabilitation richtet sich das Augenmerk gegenwärtig in besonderer Weise auf "Handlungsorientierung". Die Debatte über "Schlüsselqualifikationen" ist noch nicht einmal verklungen, da wird ein weiteres pädagogisches Schlüsselwort in die Diskussion geworfen. Ein großer Teil der Direktoren und Geschäftsführer der 27 Berufsförderungswerke hat jedenfalls gegenwärtig ein besonderes Interesse an diesem Begriff - oder ist es gar ein Konzept? BerufsschuldirektorInnen sehen sich ebenfalls mit diesem neuen Begriff - oder ist es ein besonderer pädagogischer Anspruch? - konfrontiert. Der Bereich der Pflegeausbildung dürfte mithin gut beraten sein, sich ebenfalls mit der Thematik zu beschäftigen. Dazu will der folgende Beitrag Grundlagen bieten.

Bei vielen Berufsbildungseinrichtungen steht das Thema ganz oben auf der Tagesordnung pädagogischer Konferenzen. Und es spaltet die Lehrkräfte in vier Gruppen: Ein Teil von ihnen hält gar nichts von "Handlungsorientierung", andere sind skeptisch, haben aber nichts gegen einen Versuch, ein dritter Teil möchte sich erwärmen, wenigstens für ein Projekt, ein vierter hingegen hält "Handlungsorientierung" für das didaktische Non-plus-ultra.

Gegenwärtig ist in der Ausbildung von Pflegefachkräften eine derartige Debatte noch nicht in Gang gekommen. Das ist erstaunlich, denn der Vorwurf vom "Pflegenotstand", der auch den Mangel an hinreichend qualifizierten Fachkräften betrifft, gehört zum geläufigen Vokabular aller, die sich - wie beispielsweise jüngst auf einer vielbesuchten und -beachteten Tagung an der Universität Bremen - um eine Professionalisierung der Pflege bemühen (z.B. ROBERT BOSCH STIFTUNG 1992; BECKER/MEIFORT 1994). Dabei werden bislang vor allem alternative Organisationskonzepte der Ausbildung diskutiert. Während von den einen das duale System favorisiert wird (MEIFORT 1991, DIELMANN 1993, BECKER/MEIFORT 1994), streben die anderen eher eine Berufsfachschul-Ausbildung an (so beispielsweise dem Beitrag der Berliner Referentin BEIKIRCH auf der Bremer Tagung zufolge für die Bundeshauptstadt vorgesehen).

Die folgenden Ausführungen gehen auf diese Kontroverse nicht ein. Sie nehmen sich der didaktischen Fragestellung an, ob das Konzept der "Handlungsorientierung" geeignet sein könnte, die Situation an Kranken- und Altenpflegeschulen entscheidend zu verbessern. Sie wollen zunächst informieren, was sich hinter dem Begriff verbirgt, sodann erklären, weshalb er derzeit so intensiv diskutiert wird, und schließlich zeigen, anhand welcher pädagogischer Maßnahmen "Handlungsorientierung" eingelöst werden kann.

a. "Handlungsorientierung": nur ein neues Schlagwort?

Kaum, daß die Debatte über "Schlüsselqualifikationen" ihren Zenith überschritten hatte, rangen "Ganzheitlichkeit" und "Handlungsorientierung" um den Primat in reformerisch gestimmten Didaktik-Diskussionen. Das Erstaunliche daran ist allerdings, daß die Beweggründe und Zielorientierung sich nicht generell unterscheiden: Unzufriedenheit mit herkömmlichen Inhalten und Methoden beruflicher Bildung, vor allem mit überfrachteten Stoffkatalogen und frontalen Lehrverfahren, sei es der Tafel-und-Kreide-gestützte Lehrgesprächsunterricht, sei es die Vier-Stufen-Methode betrieblicher Unterweisung, und - natürlich - deren Überwindung.

Die folgenden Überlegungen könnten fast ebenso "Schlüsselqualifikationen", "berufliche Handlungskompetenz" oder "Ganzheitlichkeit" thematisieren wie "Handlungsorientierte Gestaltung von Lernsituationen". Es wird jeweils nur ein anderer Aspekt didaktischer Reflexion hervorgehoben und zur Definitionsgrundlage gemacht.

Für die einen ist es "wieder so eine pädagogische Modeerscheinung, die sich in wenigen Jahren totgelaufen haben wird", für die anderen ist dies die Formel, mit der sich die einzig wahre pädagogische Grundkonzeption treffend auf den Begriff bringen läßt. Was ist es denn nun wirklich?

Von "Schlüsselqualifikationen" sprach vor allem Dieter MERTENS, der damalige Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit, im Jahre 1974. Er fürchtete um die Spitzenposition der bundesdeutschen Wirtschaft; diese drohe sie zu verlieren, wenn sie sich nicht auf ihren einzig tragfähigen Produktionsfaktor besinne, nämlich das "Know how". Die rohstoffarme Bundesrepublik sei wie kein anderes Land auf die bestmögliche Qualifizierung ihrer Erwerbspersonen angewiesen, und die erschöpfe sich nun einmal nicht in der Anhäufung von Wissenspotentialen und Fertigkeitsbündeln. Dazu sei die Entwicklung des beruflichen Wissens allzu eilig einer Veralterung ausgesetzt, seien die Produktionsprozesse von einer außerordentlichen Komplexität, die Transfer- und Problemlösefähigkeit, Abstraktions- und Entscheidungsfähigkeit bei der großen Mehrheit der Erwerbstätigen verlange. Der Arbeitstätige von heute müsse Basisqualifikationen und Transferqualifikationen, Vintagefaktoren und Horizontalqualifikationen besitzen und ihre Vertiefung pflegen.

Sieben Jahre zuvor hatte der Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, Saul B. ROBINSOHN, die berufspädagogische Fachwelt mit seinem Beitrag "Bildungsreform als Revision des Curriculum" aufgeschreckt und zugleich inspiriert (1967). Darin hatte er Bildung als "Ausstattung zum Verhalten in der Welt" definiert und gefordert, die Situationen zu identifizieren, in die Schulabsolventen künftig gestellt sein würden, um die in ihnen geforderten Funktionen und daraus wiederum die zu ihrer Bewältigung nötigen Qualifikationen zu identifizieren. Diese müßten nicht bloß aus der Situationsanalyse gewonnen, sondern unter Grundlegung sogenannter Bezugswissenschaften bestimmt werden.

Man kann schon an dieser Stelle feststellen, daß die Grundpositionen von ROBINSOHN und MERTENS nicht entscheidend voneinander abweichen. Beide mahnen "Höherqualifizierung" an, beide geben sich nicht mit Wissensanhäufung und Fertigkeitsdichte zufrieden.

Damit gab sich auch Volker HACKER nicht zufrieden. Der Dresdner Hochschullehrer entwickelte Anfang der 70er Jahre sein Konzept der vollständigen Handlung vor allem unter dem Einfluß der sowjetischen Lernpsychologen GALPERIN und LEONTJEW. Arbeit ist in der MARX'schen Gesellschaftsauffassung "befreite Arbeit", die nicht "entfremdet", sondern "selbstbestimmt" ist. Das ist sie nur dann, wenn dem Arbeiter Gestaltungsmöglichkeiten zugebilligt werden. Arbeiten und Lernen sind kein Gegensatz, wenn Lernen nötig ist, um Arbeit aus der Fremdbestimmung zu befreien. Also wird über Arbeit gelernt. Daraus entwickelte HACKER sein Konzept der "vollständigen Handlung". Es umfaßt mehrere Schritte von der gedanklichen Vorwegnahme des Arbeitsergebnisses über die konkrete Planung des Arbeitsablaufs bis zur Ausführung, Kontrolle und Bewertung des Arbeitshandelns (HÖPFNER 1991).

Wir können festhalten, daß sich die Konzepte von ROBINSOHN (1967), HACKER (1970) und MERTENS (1974) in ihren Grundzügen nicht widersprechen. Sie lassen sich als Konkretisierung des im jeweils anderen Konzept unbestimmt oder unpräzisiert Gebliebenen auffassen.

In seiner "pädagogischen Anthropologie" hatte der Erziehungswissenschaftler Heinrich ROTH 1971 den Menschen als Träger von Kompetenzen beschrieben. Die Fülle einzelner Fähigkeiten und Fertigkeiten lassen sich dabei auf drei grundlegende Kompetenzen verdichten: Sachkompetenz, Sozialkompetenz (als Fähigkeit, mit anderen zu kommunizieren und zu interagieren) und Selbstkompetenz (als Fähigkeit, mit der eigenen Persönlichkeit, denen eigenen Bedürfnissen und Ansprüchen adäquat umzugehen). Bildung bedeutet in diesem Konzept, nicht bloß Sachkompetenz hervorzubringen, sondern wesentlich zur Entwicklung von Sozial- und Selbstkompetenz beizutragen.

Auch die Position des Heinrich ROTH läßt sich nicht als Gegensatz zu den beschriebenen Positionen von ROBINSOHN, HACKER und MERTENS deuten. Sie betont allerdings die Persönlichkeit des Lernenden gegenüber Konzepten, in denen das Schwergewicht auf den gesellschaftlich-beruflichen Anforderungen an den Lernenden gelegt wird. Gleichwohl ist daraus nicht unbedingt ein Gegensatzpaar zu konstruieren (vgl. auch MEYER 1994).

Auf den ersten Blick konträr zu den bislang behandelten Positionen erscheint die Auffassung der amerikanischen Lernpsychologen um B.S.BLOOM. Er hatte 1948 von einem Psychologen-Kongreß den Auftrag mitgenommen, über Taxonomien für die Vergleichbarkeit von Examensleistungen zu sorgen. Dazu waren drei analytische Kategorien von pädagogischen Zielen bestimmt worden: kognitive, affektive und psycho-motorische. Die von BLOOM und Mitarbeitern entwickelten Klassifikationen sortieren menschliche Fähigkeiten und Fertigkeiten hierarchisch nach ihrer Komplexität. Über Jahre hinweg beeinflußten sie den Auftrag von Lehrplanausschüssen und Curriculumarbeitskreisen. Die Lernzielsammlungen wurden präziser und schufen größere Transparenz und Vergleichbarkeit von Bildungsgängen; gleichzeitig rigidisierten sie die Anforderungen an Bildungsmaßnahmen und beraubten sie ihrer Individualität. Vor allem verhinderten sie nicht, daß wahre Stoffhalden angehäuft wurden, die immer weniger Zeit zur Vertiefung und Reflexion übrig und Lernorganisation immer mehr zu Dressurakten verkommen ließen.

Schaut man sich Ausbildungsordnung und Rahmenlehrplan für Sozialversicherungsfachangestellte aus dem Jahre 1978 an, so erkennt man deutlich die Spuren der BLOOM'schen Klassifikationsvorgaben. Vermutlich hat die Mehrzahl der Lernzielautoren sich niemals intensiv mit der Intention der MAGER und BLOOM beschäftigt, sonst wären derartig rigide Fehlentwicklungen (wie sie sich damals leider auch in berufspädagogischen Beiträgen finden; siehe z.B. MANSTETTEN u.a. 1977) nicht möglich gewesen.

Erst mit der Besinnung darauf, daß die Analyse von Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten und ihre systematische Sammlung, Sichtung und Bündelung nicht zugleich auch eine bildungsgerechte Synthese liefern, wurde die Möglichkeit erschlossen, zum eigentlichen Ziel beruflicher Bildung zurückzukehren. Die Forderung nach "Ganzheitlichkeit" steht der Zerstückelung in Inhaltskataloge, aufgeteilt in verschiedene Fächer, unterrichtet von verschiedenen Fachleuten, diametral entgegen. Sie nimmt sich der Persönlichkeit des Lernenden an und fragt nach den kognitiven, emotionalen und motorischen Aspekten des Lernvorgangs, ohne ihn analytisch in Lernzielhäppchen zu zerlegen.

Insofern steht das Konzept "ganzheitlichen Lernens" den bisher besprochenen Konzepten der "Schlüsselqualifikationen" (MERTENS), der "Kompetenzentwicklung" (ROTH), "vollständigen Handlung" (HACKER) und "Situationsorientierung" (ROBINSOHN) nicht entgegen, sondern ergänzt es in einem integrativen Sinne.

Das läßt sich an einer graphischen Darstellung verdeutlichen, die von der Zielsetzung beruflicher Bildung als "Ausstattung zum Verhalten in der Welt" ausgeht und Situations-, Wissenschafts-, Persönlichkeits- und Gesellschaftsorientierung als Bezugspunkte für die Gestaltung von Lernprozessen nimmt.

(1) Situationsprinzip
(3) Persönlichkeitsprinzip Berufliche Bildung (4) Gesellschaftsprinzip
(2) Wissenschaftsprinzip

(1) Das Situationsprinzip wird eingelöst, indem künftige Anforderungssituationen des Auszubildenden/Schülers/Teilnehmers aufgespürt, die von ihm geforderten Funktionen identifiziert und zu curricularen Vorgaben in der Form präziser Verhaltensziele ausformuliert worden sind (ROBINSOHN 1967; REETZ/SEYD 1983; 1995).

(2) Um nicht auf dem Stand gegenwärtiger Arbeitsplatzanforderungen zu verharren, sondern künftige Entwicklungen antizipieren und Qualifizierungsprozesse optimieren zu können, sind Bezugswissenschaften wie Betriebs- und Volkswirtschaftslehre, Arbeitswissenschaft, Erziehungswissenschaft, Kommunikationswissenschaft, Psychologie, Soziologie u.v.m. auf thematisch relevante Aussagen zu sichten.

(3) In den beiden genannten Prinzipien kommt insbesondere der Anspruch des Wirtschaftssystems an Auszubildende, Schüler und Umschüler zur Geltung. Dieser Außenanspruch ist jedoch nach übereinstimmendem Bildungsverständnis zu konfrontieren mit den individuellen Voraussetzungen und Interessen: Die Erfahrungen der Lernenden sind einzufangen und aufzugreifen; es ist eine individuelle Handlungsperspektive für jeden Teilnehmer zu entwickeln. Sie läßt sich an der von Heinrich ROTH entwickelten Trias von Sach-, Sozial- und Selbstkompetenz ausrichten (1971).

(4) Der Mensch ist Individuum wie Gesellschaftsglied; mithin sind individuelle Perspektiven mit gesellschaftlichen abzugleichen (SCHLEIERMACHER 1835). Folgerichtig sucht das BiBB in den neueren Ausbildungsordnungen diesem Anspruch durch Berücksichtigung ökonomischer, ökologischer, arbeitsorganisatorischer, ergonomischer und sozialer Aspekte Rechnung zu tragen (STILLER/HILL 1991).

Fazit: Geht man von der Zweckbestimmung beruflicher Bildung als "Ausstattung zum Verhalten in der Welt" aus, dann ist den vier Prinzipien der Entwicklung und Gestaltung von Berufsbildungsmaßnahmen Rechnung zu tragen; dann sind auch die einer Evaluation zugrundezulegenden Qualitätskriterien an der Einlösung dieser Prinzipien auszurichten. Eine einseitige Betonung des Disziplin- oder Situationsprinzips ist im Sinne einer umfassenden didaktischen Qualifizierung inakzeptabel. Insoweit sind Recherchen über den in Frage kommenden Personenkreis (bspw. AbsolventInnen der Fachhochschulstudiengänge Pflegewissenschaft) und Gespräche mit allen an der Akademisierung der Pflegelehrerbildung perspektivisch und konzeptionell interessierten gesellschaftlichen Gruppen dringend notwendig.

So läßt sich das Konzept "handlungsorientierten Lernens" präziser bestimmen und von "Nicht-Handlungsorientierung" abgrenzen: Wer in Unterricht und Ausbildung

- Wissen vermittelt, ohne Gelegenheit zur selbständigen Auseinandersetzung mit diesem Wissen zu geben,

- Transfermöglichkeiten beiseite läßt,

- Lernende nicht mitentscheiden läßt bei der Auswahl und Vermittlung der Lerninhalte,

- ihre Vorkenntnisse, Bedürfnisse, Interessen, Begabungen, aber auch Kenntnisdefizite und Leistungsschwächen nicht beachtet und berücksichtigt,

- wer sich fachwissenschaftlich nicht orientiert und weiterentwickelt,

- wer gesellschaftliche Erfordernisse in ökologischer, sozialer, ergonomischer etc. Hinsicht außen vor läßt,

der verstößt zugleich gegen die Grundsätze ganzheitlicher, kompetenzbezogener, schlüsselqualifizierender, situativer und handlungsorientierter Bildung. Um davon abzukommen, muß er sich nicht mit den Konzepten der genannten Wissenschaftler beschäftigen (obwohl das nicht schädlich wäre), er sollte sich aber von dem Vorurteil lösen, Pädagogik sei eine Wissenschaft der Wellenbewegungen und der Modeerscheinungen. Sie ist vielmehr eine Wissenschaft, die die Optimierung von Lernprozessen in inhaltlicher wie formaler Hinsicht zum Gegenstand nimmt und deren Beiträge - anders als ungenügend informierte Kritiker manchmal Glauben machen wollen - zur Zielperspektive sehr wohl Züge kontinuierlicher Auseinandersetzung mit ihrem zentralen Gegenstand aufweisen[4]

Handlungsorientierte Gestaltung von Lernsituationen stellt den Menschen in den Mittelpunkt didaktischer Planung, fragt nach seiner künftigen Lebenssituation und den damit verbundenen Qualifikationen, bezieht den Erkenntnisstand relevanter Bezugswissenschaften (Wirtschaftswissenschaft, Psychologie, Soziologie, Pädagogik etc.) ein und berücksichtigt gesellschaftliche Ansprüche an den Menschen als Sozialwesen.

b. Warum wird Handlungsorientierung gegenwärtig so intensiv diskutiert und gefordert?

Nach dem Schnelldurchgang durch "Highlights" erziehungswissenschaftlich relevanter Theorieansätze mag es verwundern, daß ein Begriff, dessen Ursprung sich in den arbeitspsychologischen Konzepten der frühen 70er Jahre nachweisen läßt und der bei Reformbemühungen in eben diesen 70er Jahren auch in der beruflichen Rehabilitation bereits eine besondere Rolle gespielt hat (z.B. SEYD 1976), gegenwärtig so populär ist. Der Schlüsselqualifikationsbegriff erlebte Ende der 80er Jahre eine ähnliche Renaissance, als Modellversuche des Bundesinstituts für Berufsbildung vor allem mit dieser Zielkategorie verknüpft wurden[5].

Der Schlüsselqualifikationsbegriff ist in der berufspädagogischen Diskussion im gleichen Maße obsolet geworden, wie sich zeigte, daß er - nicht zuletzt durch die allzu eilfertige Aufnahme und den inflationären Gebrauch in der Ausbildungspraxis - sich für die Projektion aller möglicher Absichten eignete. Seine Unschärfe und sein willkürlicher Gebrauch verhinderten, daß er jene Klärungen herbeiführte, die schon mit dem Bildungsbegriff nicht hatten erfolgen können.

Der Rekurs auf den Begriff "Handlungsorientierung" ist von dieser Gefahr keineswegs frei. Aber ihm liegt ein theoretisches Konzept zugrunde, das auf die selbständige Planung und Gestaltung von Lernsituationen unter größtmöglicher Beteiligung des Lernenden setzt, das den Dualismus von Denken (als intellektuelle Vorwegnahme von Tätigkeiten und Ergebnissen) und Handeln (als reflektiertes Ausführen vorgedachter Projekte) ernstnimmt und das Eingang in die neueren Ausbildungsordnungen gefunden hat. Dort ist nämlich die Forderung enthalten, insbesondere "berufliche Handlungsfähigkeit" sei zu entwickeln, operationalisiert in der Befähigung, Arbeitsaufträge selbständig planen, durchführen und kontrollieren zu können.

Dabei schwingen immer drei grundlegende Begründungen mit:

- lerntheoretisch ist hinreichend nachgewiesen, daß selbständig erworbenes Wissen und selbständig ausgeprägte Fertigkeiten am deutlichsten verstanden und behalten bzw. in das Verhaltensrepertoire aufgenommen werden,

- arbeitsorganisatorisch ist nach übereinstimmenden Befunden der Qualifikationsforschung (KERN/SCHUMANN 1974, BAETHGE/OBERBECK 1976, LEHNER/WIDMAIER 1992) nachgewiesen, daß Ausführungswissen und automatisiertes Routinehandeln immer weniger, systematisches, transfer- und problemorientiertes Denken und Handeln immer stärker gefragt sind,

- bildungsökonomisch ist geradezu Standardaussage, daß die wirtschaftliche Position der Bundesrepublik Deutschland nur auf der Grundlage überragender Handlungskompetenzen der Erwerbsbevölkerung (Produktivitätsniveau muß Lohnkostenniveau übersteigen) gehalten und damit Wohlstand und soziale Versorgung der Bevölkerung gesichert werden kann.

Im Grunde handelt es sich um einen notwendigen Anpassungsvorgang: Gesellschaftliche Entwicklungen machen ihren Einfluß im Bildungswesen, vor allem in der beruflichen Bildung als Vorbereitung auf die Arbeitswelt, geltend. Berufliche Bildung, die nicht die erforderlichen Qualifikationen vermittelt, gefährdet die Basis wirtschaftlicher Prosperität und sozialer Sicherheit. Oder kürzer: Wissenskumulierende Frontalerziehung ist lerntheoretisch, arbeitsorganisatorisch und damit letztlich auch bildungsökonomisch dysfunktional!

c. Wie "macht" man Handlungsorientierung?

Aktivität hält wach. Und wer wach ist, kann lernen. Und wer gelernt hat, gilt als "wacher" (oder "aufgeweckter") Mensch. Aber Aktivität macht noch keine Handlungsorientierung aus. Viele verwechseln Handeln mit Aktivität. Das sollten wir klären.

Wenn ich mit Lehrkräften über handlungsorientiertes Lernen spreche, höre ich als Widerspruch oft folgende 5 Varianten, von denen eine so übel ist wie die andere:

* Wir machen das schon immer!

* Wir machen das schon immer!

* Wir machen das schon immer!

* Wir machen das schon immer!

* Wir machen das schon immer!

Befragt, was in ihren Augen "handlungsorientiertes Lernen" darstellt, nennen sie eben jene Aktivität des Lernenden als einziges Merkmal. Die Lernenden bekommen Aufgaben vorgegeben, die sie lösen müssen. Das mag zwar - im Sinne etwa der operanten Konditionierung - Lernprozesse ermöglichen, aber es hat mit "Handlungsorientierung" noch nichts zu tun. Schauen wir uns einmal ein paar ausschlaggebende Merkmale von Lernprozessen an:

* Aktivität

* Disposition

* Interaktion

* Entscheidung

* Anwendungsbezug

* Authentizität.

Spielräume braucht der Lernende, wenn er in die Lage versetzt werden soll, selbständig Aufgaben zu analysieren, zu planen und schließlich zu lösen (KÜHNIS 1987, S. 40). Hat er nicht die nötigen Aktivitäts-, Dispositions-, Interaktions- und Entscheidungsspielräume (oder werden ihm die Spielräume jeweils rigide vorgegeben), fehlt der nötige Anwendungsbezug; gebricht es der Aufgabe an Authentizität, so fehlen Motivationsfaktoren, fehlen auch Erfahrungsmöglichkeiten, kann also nicht "handlungsorientiert" gelernt werden. So einfach ist das. Wie aber "macht" man "Handlungsorientierung"?

Aus Seminaren wissen wir, daß viele "handlungsorientiertes Lernen" als Methode ansehen. Fallstudien, Planspiele, Rollenspiele, Brainstorming sind willkommene Methoden, Mind map, Auflockerungsspiele, Strukturlegetechniken, Metaplan etc. willkommene Aktivierungstechniken für denjenigen, der Lernsituationen handlungsorientiert gestalten will. Aber sie machen nur die eine Hälfte der Handlungsorientierung aus!

Die andere Hälfte besteht in der Einstellung zum Lernstoff (echtes Sachinteresse), in der Einstellung zu den Lernenden (echtes didaktisches Interesse) und in der Einstellung zu sich selbst. Besonders das letztere ist problematisch. Lehrer bekommen vor allem in der Referendariatszeit ein überkommenes Lehrerbild vom vor der Klasse stehenden Dirigenten eingebleut, das ihnen einerseits die Manegensicherheit eines Dompteurs vermittelt, ihnen andererseits den Weg aus dem Käfig Frontalunterricht zu handlungsorientiertem Lernen versperrt. Wer als Lehrkraft sich nicht zurücknehmen kann, wer die pädagogische Ungeduld nicht bremst, wer als Regisseur selbst der Hauptdarsteller sein will, bekommt nie ein eigenständig, ideenreich und kreativ wirkendes Ensemble zusammen.

Da war schon der später vielgescholtene B.S.BLOOM weiter, dem wir die Lernzieltaxonomien verdanken. Er hat nie davon geschrieben, daß wir sie als Ausgangspunkt eben jener Dressurakte, die viele heute Unterricht nennen, nehmen sollen. Sein Verständnis von Lernen war vielmehr ein handlungsorientiertes: Grundlage ist das Wissen, unterschieden in Kenntnis von Sachverhalten, von Begriffen, von Gesetzmäßigkeiten, von Theorien; darauf bauen intellektuelle Operationen auf: Verständnis, Anwendung, Analyse, Synthese und - Sie werden es kaum glauben - Kreativität. Der Deutsche Bildungsrat hat diese geniale Stufung in eine Vierer-Skala mit der Hochform "Problemlösendes Denken und entdeckendes Handeln" eingedeutscht. Leider wurde seine differenzierte Betrachtung auf "Problemlösung" reduziert. Mit der Forderung "Taxonomien müssen handhabbar sein" wurde der Anfang vom Ende des gutgemeinten (weil Transparenz und kritische Auseinandersetzung provozierenden) Ansatzes der Lernzielorientierung gemacht. Wir sollten sie wiederentdecken, die Kreativität!

d. "Handlungsorientierung" in der Pflegeausbildung

Was wir heute - ausgehend von einem Modellversuch in den "Neuen Büroberufen" - in der Umschulung arbeitsloser Frauen und (weniger) Männer zu Kaufleuten für Bürokommunikation und Bürokaufleuten bestätigt gefunden haben, läßt sich mühelos auf die Gestaltung handlungsorientierter Lernsituationen in der Pflegeausbildung übertragen:

(1) sind räumliche und apparative Bedingungen zu schaffen, die einen Wechsel von Plenum-, Gruppen- und Einzelarbeit ermöglichen. Die Lernenden müssen Gelegenheit erhalten, ihre Lernstrategien selbst zu bestimmen und ihre Lernweisen in die eigene Hand zu nehmen. Einprägsame Visualisierungsmaterialien und anregende, zum Lernen herausfordernde Medien müssen zur Verfügung stehen.

(2) Die grundlegenden Ziele sollten mit den Lernenden besprochen und gemeinsam "verabschiedet" werden. Die Lernenden sollten somit in die Lage versetzt werden, ständig anhand einer Gegenüberstellung von Zielen und bereits Gelerntem ihren Lernstand selbst festzustellen.

(3) Natürlich muß sich Ausbildung an inhaltliche Vorgaben halten, wie sie in Rahmenlehrplänen und Stoffkatalogen ausgewiesen sind. Aber es müssen Spielräume ausgelotet werden, in denen sich Inhalte nach Interesse gemeinsam auswählen lassen.

(4) Im Rahmen des Modellversuchs haben wir die TeilnehmerInnen schriftlich u.a. nach ihren methodischen Vorlieben gefragt. Frontale Methoden wie Lehrervortrag und Lehrgespräch schnitten erheblich schlechter in der Gunst der Befragten ab als aktivierende wie Gruppenarbeit, Fallstudie, Projekt und Computer based training. Daraus haben wir gefolgert, daß erwachsene Lernende erstens dezidierte Vorstellungen davon haben, auf welche Weise sie etwas lernen möchten, und daß sich diese Vorstellungen in den meisten Fällen von der Fehlvorstellung der Lehrkräfte unterscheidet, die bekanntermaßen zu über 80 % frontale Unterrichtsmethoden wählen (MEYER 1994, S. 134 f.).

(5) Die Wandtafel ist bekanntlich das gängigste didaktische Medium, der Overhead-Projektor (Lichtschreiber, Polylux) folgt an zweiter Stelle. Beide sind wenig geeignet, um Lernende zu Aktivität, Disposition, Entscheidung und Interaktion anzuregen. Dazu kennen wir Strukturlegetechniken (WAHL u.a. 1992), Metaplan und Mind map (SEYD 1994, S. 208 f.). Nicht die Veranschaulichung sollte im Vordergrund der Materialauswahl stehen, sondern der Charakter als Strukturierungs-, Analyse-, Entscheidungsvorbereitungs- und Problemlösehandwerkszeug.

(6) Wer kontrolliert den Lernerfolg? Natürlich LehrerIn oder AusbilderIn. Nein, das muß nicht so sein! Wer das Ziel des Lernens kennt, wer die Wege zur Lernzielkontrolle kennt, der braucht keinen Aufpasser, der das Erreichen mißt und bewertet. Lernkontrollen, die von SchülerInnen selbständig eingesetzt werden, sind allemal lernwirksamer als fremdbestimmte Leistungsnachweise. Im übrigen ist das authentisches Vorgehen: Im Berufsleben gibt es nicht immer einen greifbaren Kontrolleur, und auch der aufgeklärte Vorgesetzte sieht sich nicht als permanenter Meßwart der Leistung seiner MitarbeiterInnen.

(7) "Wenn alles schweigt, und einer spricht, dann nennt man dieses Unterricht", heißt es bei Wilhelm BUSCH. Daß damit nicht Kommunikation gemeint sein kann, liegt auf der Hand. Aber die Schule des 19. Jahrhunderts, der man vorwerfen muß, mit ihrer autoritären Struktur auf die Verführung durch falsche Autoritäten vorbereitet zu haben, darf nicht die Schule des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts sein. Längst haben Untersuchungsbefunde die Überlegenheit partnerschaftlicher Führung im Hinblick auf den Lernerfolg nachgewiesen (z.B. TAUSCH und TAUSCH 1979). "Voneinander lernen" ist nicht nur ein für die Beziehung zwischen Behinderten und Nichtbehinderten sinnvoller Slogan, sondern kennzeichnet auch die Maxime sinnvollen Miteinander-Arbeitens in Ausbildung und Unterricht.

(8) LehrerInnen und AusbilderInnen, die ihre Autorität auf den Wissensvorsprung gründen, müssen zur Kenntnis nehmen, daß niemand heute auch nur einen nennenswerten Teil allen Wissens kennen und beherrschen kann. Deshalb ist es unsinnig, sein Selbstverständnis an die Rolle des Informanden zu knüpfen. Vortragskünste sind kaum gefragt, Beratung und Anleitung, gemeinsame Recherche und gedankliche Auseinandersetzung rücken an ihre Stelle. Das Selbstverständnis des Moderators/Lernberaters/Lernpartners, das besprochen und über das sich verständigt worden ist, prägt das LehrerInnenbild der Zukunft.

e. Zusammenfassende Thesen

(1) An der handlungsorientierten Gestaltung von Lernsituationen führt auch in der Ausbildung von Pflegefachkräften kein Weg, der didaktisch sinnvoll genannt werden könnte, vorbei.

(2) Frontalunterricht und Vier-Stufen-Methode betrieblicher Unterweisung haben nicht ausgedient. Sie sind in ein Konzept "handlungsorientierten Lernens" zu integrieren.

(3) Fallstudien, Rollenspiele, Leittext-Bearbeitung, Planspiele, Lernstudio, Auftragsbearbeitung und Projekte ersetzen herkömmliche Lernformen (Lehrgespräch, Gruppenarbeit, Einzelarbeit) nicht, sondern ersetzen und ergänzen sie dort, wo jene nicht hinreichend Spielräume für Aktivität, Disposition, Entscheidungsfindung und Interaktion gewähren und wo sie nicht Authentizität und Anwendungsbezug sichern.

(4) Lehrkräfte müssen selbst die im handlungsorientierten Lernen geforderten Fähigkeiten besitzen oder erwerben; ein Großteil von ihnen ist nicht hinreichend teamfähig, zu weit weg von der praktischen Entwicklung, verfügt nicht sicher über didaktisches Handwerkszeug. Mithin muß ein umfassendes Weiterbildungskonzept für Lehrkräfte alle Ebenen vom Fach- und Methodenwissen bis hinauf zur sachgerechten didaktischen Planung und Problemlösung umschließen.

(5) "Handlungsorientierung" ist keine modische begriffliche Variante vom "immer schon Dagewesenen". Sie greift lediglich den aktuellen Stand der erziehungswissenschaftlichen Diskussion um eine bestmögliche berufliche Bildung auf, einer Diskussion, die ihre Wurzeln in den Schriften der pädagogischen Reformer seit Ratichius und Comenius besitzt.

(6) Wer seinen Unterricht oder seine Unterweisung handlungsorientiert gestalten will, kann sich nicht darauf beschränken, eine aktivierende Methode wie etwa die Fallmethode oder die Bearbeitung von Ernstaufträgen einzusetzen; er muß sich vor allem von der Vorstellung lösen, er allein sei für die Initiierung und Steuerung aller Lernprozesse der ihm anvertrauten Lernenden verantwortlich.

(7) Pflegeschulen sind keine öffentlichen Schulen; sie sind deshalb nicht schlechter geeignet für die handlungsorientierte Gestaltung von Lernsituationen. Vielfach haben die Lehrkräfte hier ein größeres Zeitbudget für die individuelle Betreuung der SchülerInnen. Das sollten sie zur Gestaltung handlungsorientierter Lernsituationen nutzen.

(8) In aller Regel ist ein grundlegender Perspektivenwechsel nötig; das fällt nicht nur schwer, das ist nach aller Erfahrung ein Prozeß, der von Teilerfolgen und -mißerfolgen begleitet wird, und der nur gelingt, wenn Lehrende und Lernende gemeinsam recherchierend und interagierend lernen wollen.


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Alle Rechte des vorliegenden Textes bleiben beim Verfasser. Bei Zitaten aus diesem Dokument ist die Quelle anzugeben.


Der Text
"Pflege" an der GhK
kann auch als Buch gelesen werden. Die bibliographischen Daten sind:

Wolfgang Seyd: "Pflege" an der GhK.
Kassel: Gesamthochschul-Bibliothek, 1995. - 109 Seiten.
(Universität Gesamthochschule Kassel; Berufs- und Wirtschaftspädagogik; Band 21).
ISBN 3-88122-849-7.


Verantwortlich für den Inhalt: Dr. Wolfgang Seyd

Verantwortlich für die Bereitstellung als HTML-Dokument:

Dr. Karlheinz Fingerle, GhK, Fachbereich 10
E-mail: fingerle@uni-kassel.de

Letzte Änderung: 17. Febr. 1996
Aktualisierung der Angaben zu Fachbereich und E-mail: 21. Febr. 1999