Dissertation
Schauder – Zur Dekonstruktion eines Spürens
Zusammenfassung
Zusammenfassung: Ziel der Arbeit ist den Sinn von Schauder philosophisch zu erhellen. An einem Einzelphänomen, wie es so bisher nicht behandelt wurde, wird zugleich das Geflecht von Affekt/Emotion/Gefühl, gestützt auf Hegel, Heidegger, Husserl, Freud und Lacan, in immer neuen Ansätzen kritisch reflektiert und Zug um Zug mit Derrida dekonstruiert. In einem Textverfahren, das sich auch grafisch durch gegenübergestellte Kolumnen auszeichnet, werden heterogene Ansätze zum Sinn von Schauder mit dekonstruktivistischen Einsichten konfrontiert. Die Ansätze, Schauder über Datum, Begriff, Phänomen oder Strukturelement bestimmen zu wollen, durchdringen sich dabei mit denjenigen, die sich einer solchen Bestimmung entziehen (Hegels Negativität, Heideggers Seinsentzug oder Lacans Signifikantenmangel). Am Fokus Schauder, an dem sich das Fiktive einer mit sich selbst identischen Präsenz besonders eindringlich darstellt, werden so spezifische Aporien der Metaphysik der Präsenz entfaltet und die Geschlossenheit logozentristischer Systeme in die Bewegung einer anderen Öffnung und Schließung im Sinn der Schrift bzw. des allgemeinen Textes transformiert. Neben der différance, dem Entzug der Metapher, dem Supplement und dem Gespenstischen stützt sich die Arbeit auf die Iterabilität, bei der im selben Zug die Identität des Sinns gestiftet und zerstreut wird (Dissemination). Im Kapitel Piloerection werden Ambivalenzen und Paradoxien des Schauders am Beispiel von computergestützten empirisch-psychologischen Studien aufgezeigt. Im Kapitel Atopologie des Schauders prädikative, propositionale und topologische Bedingungen zum Sinn von Schauder analysiert und dekonstruiert. Ebenso, im Folgekapitel Etymon, etymologische und technisch-mediale Bedingungen. Im Schlußkapitel Maß, Anmaß, Unmaß der Empfindung des Schauders wird am Beispiel der konkreten Beiträge zum Schauder von Aristoteles, Kant, Fechner, Otto, Klages, Lorenz und Adorno aufgezeigt, dass (1) ein Schauder nicht von einem Außen aus an-gemessen werden kann, (2) sich im Schauder die metaphysische Opposition von Fiktion und Realität in einer Unentscheidbarkeit zerstreut, (3) dass trotz der Heterogenität der Ansätze in diesen Beiträgen eine Komplizenschaft zum Ausdruck kommt: ein Begehren nach Präsenz, das durch den Ausschluß des Anderen zugleich die Gewalt des Einen produziert, (4) dass der Signifikant Schauder, der selbst in Abwesenheit eines Referenten, eines bestimmten Signifikats, einer aktuellen Bedeutungsintention, eines Senders oder Empfängers funktioniert, als verändertes Zurückbleiben eines differenzieller Zeichens betrachtet werden muss, als Effekt von Spuren, die sich nur in ihrem eigenen Auslöschen ereignen. Die Arbeit schließt mit dem Vorschlag, Spüren jenseits von Arché, Telos oder Eschaton, jenseits eines Phallogozentrismus in der derridaschen Spur zu denken. Nicht zuletzt über diese Pfropfung, wie sie im Französischen [trace] so nicht möglich ist, schließt sie als deutschsprachiger Beitrag an sein Werk an.
Abstract: The thesis aims to provide a philosophical elucidation of chills. The work takes a novel approach to this singular phenomenon by using the works of Hegel, Heidegger, Husserl, Freud, and Lacan to critically reflect on how affect, emotion, and feeling are intertwined, while Derrida’s works allow for a deconstruction of these approaches. By doing so, attempts to quantify the sensation of chills, define it as a concept, as a phenomenon, or as an element in a structure are to be gradually interpenetrated by those that escape such univocal definitions, such as Hegel’s conception of negativity, Heidegger’s notion of the withdrawal of being, or Lacan’s notion of the lack of the signifier. The fiction of a self-identical presence is often associated with chills. But it is precisely for this reason that chills serve as a focal point for allowing the aporias of the metaphysics of presence to unfold. The deconstructive approach punctuates the openings and closures of self-contained logocentric systems anew by keying in on the dimensions of scripture or textuality. The work draws on the concepts of différance, supplement, the retrait of metaphor, and spectrality, as well as on the notion of iterability, a concept that helps us see that the identity of sense and its dissolution are accomplished in a single stroke (dissemination). In the chapter titled Piloerection, computer-aided empirical-psychological studies are criticized with the aim of revealing paradoxes and ambivalences bound up with chills. The chapter Atopology of Chills analyses and deconstructs the propositional, predicative, and topological dimensions of chills, while the chapter Etymon does the same with the etymological and technological-medial aspects. The final chapter, Measure, Presumption, Ill Measure of the Sensation of Chills, develops four theses by drawing on texts dealing with chills by Aristotle, Kant, Fechner, Otto, Klages, Lorenz, and Adorno. First, it shows that chills cannot simply be measured from an “outside”; second, that chills dissolve the metaphysical opposition of fiction and reality, leaving behind a residue of irreducible undecidability; third, that despite the heterogeneity of the these approaches, there is complicity among them: the desire for presence, which institutes the violence of the One at the expense of the exclusion of the Other. Finally, it emphasizes the fact that the signifier chills maintains its function even in the absence of a fixed referent, a univocal signified, an intended meaning, or an addressor or addressee. As such, it shows that the signifier chills must be seen as the residual effect of a differential sign, an effect of traces that only arise in their very erasure. The work concludes by suggesting that thinking about chills in terms of the Derridean trace will allow our understanding of it to go beyond the bounds of phallogocentric thought, beyond arché, telos, and eschaton. Not least of all, the dissertation aligns itself with Derrida’s work by thinking sensation [Spüren] as a trace [Spur], a citation of the concept of trace that would not be possible in the French [trace].
Zitieren
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In einem Textverfahren, das sich auch grafisch durch gegenübergestellte Kolumnen auszeichnet, werden heterogene Ansätze zum Sinn von Schauder mit dekonstruktivistischen Einsichten konfrontiert. Die Ansätze, Schauder über Datum, Begriff, Phänomen oder Strukturelement bestimmen zu wollen, durchdringen sich dabei mit denjenigen, die sich einer solchen Bestimmung entziehen (Hegels Negativität, Heideggers Seinsentzug oder Lacans Signifikantenmangel). Am Fokus Schauder, an dem sich das Fiktive einer mit sich selbst identischen Präsenz besonders eindringlich darstellt, werden so spezifische Aporien der Metaphysik der Präsenz entfaltet und die Geschlossenheit logozentristischer Systeme in die Bewegung einer anderen Öffnung und Schließung im Sinn der Schrift bzw. des allgemeinen Textes transformiert. Neben der différance, dem Entzug der Metapher, dem Supplement und dem Gespenstischen stützt sich die Arbeit auf die Iterabilität, bei der im selben Zug die Identität des Sinns gestiftet und zerstreut wird (Dissemination). Im Kapitel Piloerection werden Ambivalenzen und Paradoxien des Schauders am Beispiel von computergestützten empirisch-psychologischen Studien aufgezeigt. Im Kapitel Atopologie des Schauders prädikative, propositionale und topologische Bedingungen zum Sinn von Schauder analysiert und dekonstruiert. Ebenso, im Folgekapitel Etymon, etymologische und technisch-mediale Bedingungen. Im Schlußkapitel Maß, Anmaß, Unmaß der Empfindung des Schauders wird am Beispiel der konkreten Beiträge zum Schauder von Aristoteles, Kant, Fechner, Otto, Klages, Lorenz und Adorno aufgezeigt, dass (1) ein Schauder nicht von einem Außen aus an-gemessen werden kann, (2) sich im Schauder die metaphysische Opposition von Fiktion und Realität in einer Unentscheidbarkeit zerstreut, (3) dass trotz der Heterogenität der Ansätze in diesen Beiträgen eine Komplizenschaft zum Ausdruck kommt: ein Begehren nach Präsenz, das durch den Ausschluß des Anderen zugleich die Gewalt des Einen produziert, (4) dass der Signifikant Schauder, der selbst in Abwesenheit eines Referenten, eines bestimmten Signifikats, einer aktuellen Bedeutungsintention, eines Senders oder Empfängers funktioniert, als verändertes Zurückbleiben eines differenzieller Zeichens betrachtet werden muss, als Effekt von Spuren, die sich nur in ihrem eigenen Auslöschen ereignen. Die Arbeit schließt mit dem Vorschlag, Spüren jenseits von Arché, Telos oder Eschaton, jenseits eines Phallogozentrismus in der derridaschen Spur zu denken. Nicht zuletzt über diese Pfropfung, wie sie im Französischen [trace] so nicht möglich ist, schließt sie als deutschsprachiger Beitrag an sein Werk an. Abstract: The thesis aims to provide a philosophical elucidation of chills. The work takes a novel approach to this singular phenomenon by using the works of Hegel, Heidegger, Husserl, Freud, and Lacan to critically reflect on how affect, emotion, and feeling are intertwined, while Derrida’s works allow for a deconstruction of these approaches. By doing so, attempts to quantify the sensation of chills, define it as a concept, as a phenomenon, or as an element in a structure are to be gradually interpenetrated by those that escape such univocal definitions, such as Hegel’s conception of negativity, Heidegger’s notion of the withdrawal of being, or Lacan’s notion of the lack of the signifier. The fiction of a self-identical presence is often associated with chills. But it is precisely for this reason that chills serve as a focal point for allowing the aporias of the metaphysics of presence to unfold. The deconstructive approach punctuates the openings and closures of self-contained logocentric systems anew by keying in on the dimensions of scripture or textuality. The work draws on the concepts of différance, supplement, the retrait of metaphor, and spectrality, as well as on the notion of iterability, a concept that helps us see that the identity of sense and its dissolution are accomplished in a single stroke (dissemination). In the chapter titled Piloerection, computer-aided empirical-psychological studies are criticized with the aim of revealing paradoxes and ambivalences bound up with chills. The chapter Atopology of Chills analyses and deconstructs the propositional, predicative, and topological dimensions of chills, while the chapter Etymon does the same with the etymological and technological-medial aspects. The final chapter, Measure, Presumption, Ill Measure of the Sensation of Chills, develops four theses by drawing on texts dealing with chills by Aristotle, Kant, Fechner, Otto, Klages, Lorenz, and Adorno. First, it shows that chills cannot simply be measured from an “outside”; second, that chills dissolve the metaphysical opposition of fiction and reality, leaving behind a residue of irreducible undecidability; third, that despite the heterogeneity of the these approaches, there is complicity among them: the desire for presence, which institutes the violence of the One at the expense of the exclusion of the Other. Finally, it emphasizes the fact that the signifier chills maintains its function even in the absence of a fixed referent, a univocal signified, an intended meaning, or an addressor or addressee. As such, it shows that the signifier chills must be seen as the residual effect of a differential sign, an effect of traces that only arise in their very erasure. The work concludes by suggesting that thinking about chills in terms of the Derridean trace will allow our understanding of it to go beyond the bounds of phallogocentric thought, beyond arché, telos, and eschaton. Not least of all, the dissertation aligns itself with Derrida’s work by thinking sensation [Spüren] as a trace [Spur], a citation of the concept of trace that would not be possible in the French [trace]. open access Zarbock, Gerhard Kassel, Universität Kassel, Fachbereich Geistes- und Kulturwissenschaften, Institut für Philosophie Warsitz, Rolf-Peter (Prof. Dr.) Schmied-Kowarzik, Wolfdietrich (Prof. Dr.) Affekt Dekonstruktion 2015-04-14
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